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Shulamit Volkov

Deutschland aus jüdischer Sicht

Eine andere Geschichte
vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart

Aus dem Englischen von Ulla Höber

C.H.Beck

Zum Buch

Juden in Deutschland haben Revolutionen und Kriege, nationale und demokratische Bewegungen, Reichsgründung und Wiedervereinigung oft anders erlebt als ihre nichtjüdischen Zeitgenossen. Die israelische Historikerin Shulamit Volkov verwebt meisterhaft verschiedene jüdische Perspektiven auf Revolutionen und Kriege, politische Bewegungen und Ideologien, soziale und wirtschaftliche Verhältnisse zu einem neuen Bild von der deutschen Geschichte. Sie lässt uns die Aufklärung mit den Augen Moses Mendelssohns sehen, den Wiener Kongress aus der Perspektive jüdischer Delegationen und die Revolution von 1848 aus Sicht der Opfer antijüdischer Ausschreitungen. Die Familien Liebermann und Rathenau haben Kaiserzeit, Ersten Weltkrieg und den Beginn der Weimarer Zeit anders erlebt als nichtjüdische Deutsche. Bertha Pappenheim, Käte Frankenthal und Hannah Arendt geben der Zwischenkriegszeit eigene Konturen. Besonderes Augenmerk gilt dem Holocaust, dem Zweiten Weltkrieg und den Jahrzehnten danach, in denen Fritz Bauer oder Ignatz Bubis kritisch auf die Zeit von Wirtschaftswunder und deutscher Einheit blickten. In ihrem konzisen Buch führt Shulamit Volkov die deutsche und die deutsch-jüdische Geschichte so zusammen, dass sie am Ende untrennbar erscheinen.

Über die Autorin

Shulamit Volkov ist emeritierte Professorin für Vergleichende Europäische Geschichte an der Universität Tel Aviv und Mitglied der israelischen Akademie der Wissenschaften. Gastprofessuren und Fellowships führten sie nach München, Berlin, Oxford und New York. Sie wurde mit dem Friedrich-Gundolf-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie mit dem Humboldt-Forschungspreis der Alexander-von-Humboldt-Stiftung ausgezeichnet. Bei C. H.Beck erschien von ihr zuletzt «Walter Rathenau. Ein jüdisches Leben in Deutschland» (2012).

Inhalt

Einleitung: Ein jüdischer Blick – Plural und Singular

Erster Teil: Deutschland kennenlernen – 1780–1840

1. Aufklärung ohne Toleranz

I.

II.

III.

IV.

2. Wohlwollende Autokratie

I.

II.

III.

IV.

3. Die nur halb geöffnete Gesellschaft

I.

II.

III.

IV.

Zweiter Teil: Freiheit und Einheit – 1840–1870

4. Pogrome und Revolution

I.

II.

III.

IV.

5. Multiple, verwobene Modernen

I.

II.

III.

6. Einheit als Bruch

I.

II.

III.

IV.

Dritter Teil: Leben in Deutschland – 1870–1930

7. Errungenschaften und Selbstzufriedenheit

I.

II.

III.

IV.

V.

8. Im Krieg vereint und getrennt

I.

II.

III.

IV.

9. Hoffnungen – erfüllt und zerstört

I.

II.

III.

IV.

Vierter Teil: Eine verlorene Heimat – 1930–2000

10. Der Abgrund

I.

II.

III.

IV.

11. Opfer, Zeugen, Kläger

I.

II.

III.

IV.

V.

12. Fremd und daheim zugleich

I.

II.

III.

IV.

Epilog: Berlin ist nicht Weimar

Dank

Anmerkungen

Einleitung
Ein jüdischer Blick – Plural und Singular

Erster Teil
Deutschland kennenlernen, 1780–1840

Zweiter Teil
Freiheit und Einheit, 1840–1870

Dritter Teil
Leben in Deutschland, 1870–1930

Vierter Teil
Eine verlorene Heimat, 1930–2000

Epilog
Berlin ist nicht Weimar

Personenregister

Einleitung

Ein jüdischer Blick – Plural und Singular

Die Geschichte der in Deutschland lebenden Juden könnte sowohl als ein Kapitel der jüdischen Geschichte als auch als eines der deutschen Geschichte geschrieben werden. Diese zweite Möglichkeit wurde jedoch nur selten realisiert. Obwohl sich die Geschichtsschreibung, welche die Juden in der deutschsprachigen Welt Mitteleuropas zum Gegenstand hatte, von Beginn an parallel zur allgemeinen Historiographie dieses Teils Europas entwickelte, gab es nur vereinzelte Versuche, die beiden Erzählstränge über einen längeren Zeitraum zusammenzuführen. Diese Stränge entwickelten ihre akademische, wissenschaftliche Form in den frühen Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts unter dem methodologischen Einfluss Leopold von Rankes und der philosophischen Autorität Georg Wilhelm Friedrich Hegels. Bald wurde die jüdische Geschichte jedoch zu einer unabhängigen Disziplin innerhalb der Wissenschaft des Judenthums und blieb lange eine mehr oder weniger ausschließlich jüdische Domäne. Während sich die deutsche Geschichte im Rahmen einer neuen Disziplin weiterentwickelte, die sich mit Machtpolitik, Diplomatie, allgemeiner Staatsführung und insbesondere dem Nationalstaat beschäftigte, war die jüdische Geschichte in Ermangelung einer politischen Machtsphäre nicht in der Lage, dieselben Interessen zu entfalten, und wurde zunehmend marginal. Wer über deutsche Geschichte schrieb, stieß meist auf Themen, die dringlicher und bedeutsamer erschienen.

Als man mit der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung begann, interessierte das diejenigen, deren Leben sich außerhalb der akademischen Sphäre bewegte, eher wenig, und das galt für Juden ebenso wie für Nichtjuden. Geschichte wurde noch nicht als ein Mittel betrachtet, das Selbstverständnis und Selbstbestimmung fördert. Tatsächlich war die wichtigste Quelle der jüdischen Identität, wie auch die der meisten Nichtjuden, seit Generationen die Religion gewesen. Nur allmählich, in einem keineswegs linear verlaufenden Prozess, lernten die Europäer, sich nicht nur als Angehörige einer bestimmten religiösen Gruppe wahrzunehmen, sondern auch und vor allem als Teil einer bestimmten Ethnie, eines Volkes, sogar einer Nation. In Deutschland dauerte dieser Prozess besonders lang und war auch besonders kompliziert. Man fühlte sich aus einer Vielzahl von Gründen weiterhin und manchmal zunehmend den relativ kleinen, partikularen politischen Einheiten verbunden. Die Menschen verstanden sich beispielsweise primär als Preußen, Bayern oder Hannoveraner und erst sekundär, falls jemals, als Deutsche. Im späten achtzehnten Jahrhundert konnten noch Goethe und Schiller fragen: «Deutschland? aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden, wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf.»1 Tatsächlich, die meisten deutschsprachigen Bewohner dieses Teils der Welt waren lange unsicher, wo Deutschland lag und ob sie zu diesem Land überhaupt stehen könnten.

Und doch festigte sich mit der Zeit ihr Gefühl der Zugehörigkeit zur deutschen Nation, während Fragen der jüdischen Identität, die in der Vergangenheit eher einfach und selbstverständlich schienen, zunehmend komplex wurden. Selbst im Mittelalter, als alle Gruppendefinitionen mit einer religiösen Bildsprache unterlegt waren, wurden Juden als ethnisch definierbare Gruppe betrachtet, die soziale und kulturelle Charakteristika besaß, die sich nicht auf die Religion und die mit ihr verbundenen moralischen Normen und Verhaltensregeln beschränkten. Schließlich war die biblische Auffassung, dass die Hebräer ein Volk seien, tief im Bewusstsein der Juden und des christlichen Europa verankert. Obwohl keine allgemeine Übereinkunft darüber bestand, ob es eine klare Verbindung zwischen dem biblischen Volk Israel und den zeitgenössischen Juden gab, hatte man eine solche Verbindung stets angenommen. In der frühen Moderne interessierten sich deutsche Theologen – manchmal nannte man sie Orientalisten oder, genauer, sogar Hebraisten – zunehmend für die Juden ihrer Zeit, für ihren Alltag und ihre Sprachen. So wurde das Leben der zeitgenössischen europäischen Juden oft zur Informationsquelle über die alten Hebräer und umgekehrt.

Der einflussreichste Interpret der Geschichte der alten Hebräer war der Philosoph und Theologe Johann Gottfried Herder. Er zweifelte zwar nie ihre Leistung an, als Volk einen so gewichtigen literarischen Schatz hervorgebracht zu haben, verachtete aber trotzdem, wie Voltaire auf der anderen Seite des Rheins, die zeitgenössischen Juden, ihre vermeintlichen Eigenheiten und ihre Art von Gemeinschaftsleben. Etwa zur selben Zeit beharrte Johann David Michaelis, ein hoch geschätzter Orientalist an der Universität Göttingen, darauf, dass sich die unter der brennenden Sonne der riesigen Wüsten des Nahen Ostens entstandenen Charakteristika der Juden niemals ändern könnten. Die Juden könnten sich auch niemals in das Europa der Aufklärung einfügen oder an die sich damals schnell herausbildende deutsche Nationalkultur anpassen.2

Interessanterweise glaubten Juden oft selbst, singuläre Eigenschaften zu besitzen, jenseits ihrer Religion und über diese hinaus. Schließlich lebten sie gemäß einer gemeinsamen halachischen Ordnung in einer strengen Endogamie und einem umfangreichen System sozialen Zusammenhalts. Obwohl sie seit jeher eine weit verstreute Diaspora bildeten, waren sie immer sowohl eine Religionsgemeinschaft als auch eine Nation.

Im neunzehnten Jahrhundert, im Zeitalter der Emanzipation, voranschreitender Säkularisierung und der Umwälzungen durch Revolution und Industrialisierung, suchten auch sie nach neuen Quellen für ihre Identität, einer neuen Definition ihrer selbst – als Gruppe und als Einzelne. Sie brauchten, ebenso wie die Nichtjuden dieser Zeit, eine neue Interpretation ihrer Vergangenheit, von der man sich eine bessere Zukunft versprechen konnte. Beide erforschten nun jeweils ihre eigene Geschichte, und so vergrößerte sich allmählich die Kluft zwischen jüdischer und nichtjüdischer Geschichte. In beiden Fällen reichte der bloße, über Generationen durch vorgeschriebene Rituale und heilige Texte tradierte Erinnerungsschatz nicht mehr aus. Die gemeinsame Erinnerung an vergangene Ereignisse musste nun durch ein wissenschaftlich beglaubigtes Narrativ gestützt oder sogar ersetzt werden.3 Sowohl Christen als auch Juden suchten nach einer Geschichte, die einerseits wissenschaftlichen Standards entsprechen sollte, andererseits aber ihren Interessen entsprach, die in den passenden «Quellen» verankert war und zugleich der Stimmungslage der Moderne entgegenkam.

Nicht einmal die nach 1945 vor allem in Westdeutschland wieder auflebende jüdische Geschichtsschreibung konnte diese jahrhundertalte Spaltung überwinden. Man hätte vermuten können, dass die deutsche Geschichtsschreibung nach dem Zweiten Weltkrieg jüdische Themen nicht mehr ignorieren könnte. Die Ungeheuerlichkeit der Katastrophe, die europäische Juden durch die Nationalsozialisten, ihre Helfer und Helfershelfer erleiden mussten, würde nicht erlauben, dieses Thema zu übergehen. Doch dies war nicht der Fall.

Karl Dietrich Bracher verfasste die erste historische Abhandlung über Aufstieg und Fall des Nationalsozialismus. Lediglich ein kurzer Abschnitt seines berühmten Buches Die deutsche Diktatur (1969) handelte von den sechs Weltkriegsjahren und ein noch kürzerer – 12 von 550 Seiten – von der sogenannten Endlösung. Und das war kein rein deutsches Phänomen. Eines der brauchbarsten und viel gelesenen Bücher über das moderne Europa damals, Europe Since Napoleon (1961) des englischen Historikers David Thomson, erwähnt die europäischen Juden so gut wie überhaupt nicht und geht nur ganz kurz über die elementarsten Fakten zum Holocaust hinaus. In den ersten Nachkriegspublikationen blieb die jüdische Erfahrung während der NS-Zeit bestenfalls ein separates Thema; fast nie wurde sie zum integralen Teil dieser extensiv und intensiv erforschten Periode. Erst später näherten sich die jüdische und die nichtjüdische Geschichte in Deutschland und anderswo einander an. Jüngere Historiker begannen, über das Schicksal der Juden in Friedens- und Kriegszeiten zu arbeiten, und versuchten jetzt, deren Geschichte in ihre Darstellung zu integrieren.

In den letzten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts entstand besonders in Nordamerika eine neue jüdische Geschichtsschreibung. Als man sich allmählich von der einst so zentralen Vorstellung von den USA als melting pot distanzierte, gewannen die ethnischen Minderheiten, die sich über ihre sogenannte Bindestrich-Identität definierten, an Bedeutung. Man schrieb über irische, italienische oder polnische Amerikaner, und so konnte man nun auch über die jüdischen Amerikaner, bald auch über die jüdischen Deutschen oder die jüdischen Russen schreiben, wenn auch immer noch weniger über jüdische Marokkaner oder jüdische Iraker – Themen, die erst später wichtig wurden. Juden wurden jetzt als Teil der verschiedenen Nationalgeschichten gesehen und beschrieben. Gleichzeitig ermutigte auch diese Herangehensweise die Historiker, neue historische Methoden anzuwenden, die hauptsächlich aus den Sozialwissenschaften übernommen wurden. In der Tat trug die wachsende Bedeutung der Sozialgeschichte mehr als alles andere dazu bei, bisherige Muster der Erforschung der jüdischen Diaspora zu verändern. Man fragte nun mehr nach den lokalen Zusammenhängen und erkannte Ähnlichkeiten zwischen Juden und Nichtjuden an ihren Wohnorten, die oft bedeutender erschienen als eine generelle Ähnlichkeit der Juden untereinander. Die Sozialgeschichte führte nahezu zwangsläufig dazu, das jüdische Narrativ in das nichtjüdische zu integrieren.

Mit der Wende zur Postmoderne in den Literatur- und Kulturwissenschaften in den 1980er Jahren hörte man aber immer wieder, dass alle modernen historischen Narrative viel zu eindimensional seien und eigentlich nur Erzählungen des Establishments repräsentierten. Geschichte beschränke sich auf den weißen, männlichen, ökonomisch und politisch erfolgreichen Teil der Bevölkerung, hieß es nun. Kolonialvölker und andere nichteuropäische Nationen würden nur am Rande berücksichtigt – obwohl viele eine reiche, bewegte, oft mit den zentralen Ereignissen der europäischen Geschichte verschränkte Vergangenheit hatten. Frauen spielten in solchen «his-stories» gar keine Rolle, es sei denn, es handelte sich um mächtige Königinnen, Ehefrauen von mächtigen Königen oder um andere Ausnahmefiguren.

Die Gendergeschichte könnte durchaus als Modell für die Analyse der Marginalisierung der Juden in der Geschichtsschreibung dienen. Sie begann als Frauengeschichte, und das Ziel dieses neuen Forschungszweigs war vor allem, Frauen mit der Erzählung ihrer Geschichte vor dem Vergessenwerden zu bewahren. Man hoffte darüber hinaus, damit «die Art und Weise, wie Geschichte überhaupt geschrieben wird, zu verändern».4 Das erinnert an Eric Hobsbawms bereits früher formulierten Anspruch, die neue Sozialgeschichte nicht nur zur Forschungsplattform für Studien über Arbeiterklasse und Unterschichten zu machen, sondern auch die Geschichtsschreibung als Ganze zu verändern durch eine radikale, allgemeine Neufassung der Art und Weise, wie sie betrieben wurde.5

Ein solches Projekt war zuvor nur ein einziges Mal gelungen, und zwar im Werk von Karl Marx. Indem er den Fokus darauf richtete, dass die Arbeiterklasse und der Klassenkampf ein zentrales Phänomen waren, wurden nicht nur neue Aspekte in vorhandene historische Darstellungen eingefügt, sondern es wurde ein gänzlich neues Narrativ konstruiert, eine umfassende Alternative zu der Geschichtsdarstellung, die bis dato geschrieben und propagiert worden war. Die von Hobsbawm ein Jahrhundert später verbreitete Sozialgeschichte war zwar keine Farce, um mit Marx zu sprechen, doch sie war gewiss wenig umfassend und, wie ich befürchte, auch wenig erfolgreich.

Für die Frauengeschichte gab es nun ebenfalls zwei Zielvorstellungen. Man wollte sie in das allgemeine Narrativ integrieren und dieses Narrativ auf diese Weise transformieren. Seine Voraussetzungen, seine Methoden und seine allgemeine Ausrichtung sollten erneuert werden. Aber obwohl die Frauengeschichte die vernachlässigte Hälfte der Menschheit tatsächlich etwas mehr in den Mittelpunkt rückte, veränderte sie letztlich wenig an der Art und Weise, wie Geschichte in ihrer Gesamtheit erzählt wurde. Um eine derartige Transformation zu bewirken, war offensichtlich mehr erforderlich. Die Wende zur Kulturgeschichte gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts half zweifellos, auch die Konjunktur der Globalgeschichte zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts erwies sich als wichtig. Doch erst die Kombination beider veränderte grundsätzlich die Geschichtsschreibung. Auch die jüdische Geschichtsschreibung ändert sich jetzt allmählich.

Eine Zwischenbilanz stellten die vier Bände der Deutsch-jüdischen Geschichte in der Neuzeit dar, Mitte der 1990er Jahre vom Leo Baeck Institut initiiert und meisterhaft von Michael A. Meyer herausgegeben. Ein fünfter Band, herausgebracht von Michael Brenner, der die Geschichte bis zur Gegenwart darstellt, erschien 2012. Die deutsch-jüdische Geschichte bekam hier ein modernes Format, ein festes Fundament für weitere Forschungen. Könnte dann der Stellenwert der Juden in der allgemeinen Geschichtsschreibung ebenfalls geändert werden? Könnten wir nun, nachdem durch die Erforschung der Geschichte der deutschen Juden als solche so vieles erreicht wurde, voranschreiten und sie in den deutschen Kontext noch intensiver integrieren, so dass wir beide Narrative auf neue Weise erzählen können?

Das vorliegende Buch unternimmt diesen Versuch. Es schlägt vor, eine neue Perspektive auf die deutsche Geschichte einzunehmen, nun aus jüdischer Sicht.6 Schließlich machen wir die Erfahrung öfter, dass veraltete Darstellungen neu entworfen werden können und bekannten Themen neue Dimensionen hinzugefügt werden müssen. Man denke an Dan Diners Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, die er, wie er selbst erklärt, aus einer ganz konkreten, ungewöhnlichen Perspektive betrachtet. In seinem Buch wird Europa nicht von Paris, Berlin, London oder Rom aus gesehen, sondern von der berühmten Treppe in Odessa aus, dem Schauplatz der gescheiterten russischen Revolution von 1905.7 Dies hat den klaren Vorteil, dass ein einzelner vorgestellter Betrachter auf diesen berühmten Stufen in Odessa zu sitzen scheint, der seinen singulären Blick auf das Europa seiner Zeit richtet.

Frauen, und auch Juden, sind allerdings verschieden und haben unterschiedliche Blickwinkel. Frauen können aus der Arbeiterklasse oder aus der Mittelschicht kommen. Ihre Perspektive kann ihre Geschlechtszugehörigkeit sicherlich widerspiegeln, aber sie könnten sich auch davon gelöst haben, völlig oder teilweise, und stärker durch ihre ökonomische Situation, das Ausbildungsniveau oder ihre singuläre kulturelle Situation bestimmt sein. Auch Juden hatten niemals eine einheitliche Sichtweise oder nur einen Blickwinkel. Ihre Perspektive kann durch das Leben im ländlichen oder städtischen Umfeld definiert sein und gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts zunehmend auch durch das Leben in den Metropolen. Sie konnten arm oder reich sein, religiös, sogar orthodox, traditional oder säkular. Jüdische Frauen hatten gewiss eine andere Perspektive als jüdische Männer, und mit jedem neuen Zeitabschnitt änderte sich bestimmt auch der Beobachtungsstandpunkt. Bisweilen war wohl nicht einmal klar, wer wen beobachtete, wo die Randposition nun tatsächlich war und worin das Jüdische an dieser oder jener speziellen Art von Beobachtung bestand.

Trotz dieser komplizierten Gemengelage möchte ich davon ausgehen, dass die deutschen Juden die Ereignisse stets aus einer singulären Perspektive betrachteten. Für einige Aspekte der Gesellschaft, in der sie lebten, waren sie besonders sensibilisiert, zumindest für eine bestimmte Seite dieser Geschichte, nämlich die Ambivalenz der Zeit und den janusköpfigen Subtext, mit dem viele Themen damals behandelt wurden. Bisweilen verspürte man eine fortschrittliche Tendenz, das Versprechen einer besseren Zukunft. Dann wiederum wendete sich das Blatt, und die Atmosphäre wurde reaktionär, manchmal hasserfüllt, sogar gefährlich, und schließlich kam es zur Katastrophe. Gewiss, nicht nur Juden konnten diese Zwiespältigkeit spüren, doch über lange Zeiträume hatte sie auf Juden besondere Auswirkungen, und aus ihrem Blickwinkel war sie krasser und markanter. So sahen sie oft das andere Gesicht Deutschlands, und wenn wir dieser Perspektive folgen, hoffe ich, können auch wir die deutsche Geschichte besser verstehen.

Wahr ist, dass selbst die singuläre jüdische Position «am Rande» bisweilen problematisch scheint. Anders als vielen anderen Minderheiten gelang es den Juden nämlich schnell, die Position der relativen Isolation aus vormodernen Zeiten zu überwinden und in der Moderne eine zunehmend zentrale Stelle einzunehmen. Ihr ökonomischer Erfolg in Deutschland und etwas später ihre bemerkenswerten kulturellen Leistungen sind oft mit unverhohlener Bewunderung kommentiert worden. Dies konnte die Perspektive jedoch verzerren, wenn man dabei die Mehrheit der Juden übersieht, die überall in diesem zwiespältigen, vielschichtigen Land lebten. Während einzelne Juden zweifellos ungewöhnlich erfolgreich waren und schon Mitte des neunzehnten Jahrhunderts nur noch wenige Juden von Armut geplagt waren, blieb die meist im kleinen Handel beschäftigte Mehrheit in der unteren Mittelschicht verhaftet. Wer war also im Zentrum? Wer am Rand?

Der amerikanische Soziologe Thorstein Veblen hat versucht, die Leistungen herausragender Juden mit vermeintlichen Vorteilen ihrer Marginalität zu erklären.8 Sigmund Freud sah das offensichtlich auch so: «Weil ich Jude war», schrieb er, «fand ich mich frei von vielen Vorurteilen, die andere im Gebrauch des Intellekts beschränken.»9 Doch viele erfolgreiche Juden in Deutschland empfanden sich überhaupt nicht als marginal und hätten die Unterstellung möglicher Vorteile einer solchen Position nicht als positiv bewertet. Doch womöglich mussten auch sie die Dinge anders sehen als andere Deutsche, ob es ihnen nun bewusst war oder nicht. Auch sie hatten einen anderen Blickwinkel, von dem aus sie die Ereignisse erlebten und wahrnahmen, und ihr besonderer Standpunkt ermöglicht auch uns am Ende, bekannte Ereignisse, Strukturen und Langzeitentwicklungen in einem anderen Licht zu sehen.

Das Buch bietet keine vollständige, detaillierte deutsche Geschichte an. Ich habe zwölf chronologisch angeordnete Kapitel der deutschen Geschichte ausgewählt, die ich aus der jüdischen Perspektive neu darstelle. Wenn mehrere verschiedene jüdische Perspektiven in einer bestimmten Periode eine Rolle spielten, versuchte ich dieses Spektrum zu bewahren und wiederzugeben. Vielleicht hat mir bereits der bloße Versuch die Möglichkeit verschafft, eine andere Geschichte zu erzählen, verwoben mit einem anderen Kontext. So werde ich zumindest meine eigene jüdische Sicht auf Deutschland bieten. Sollte mir dieser Versuch gelingen, kann ich die beiden Erzählungen, die deutsche und die deutsch-jüdische, womöglich zusammenführen und sie so verknüpfen, dass sie am Ende untrennbar erscheinen.

Erster Teil

Deutschland kennenlernen

1780–1840

1. Aufklärung ohne Toleranz

I.

Wir beginnen mit der Aufklärung. Was spräche dagegen? Wann beginnt die Ära der Moderne? Wo und wann ist ein klarer Bruch und eine Zeitenwende zu erkennen? Wo könnte man eine Konstellation von Ereignissen ausmachen, bedeutsam genug, um ein neues Zeitalter zu markieren? Und darüber hinaus – beginnt ein neues Zeitalter für die Europäer im Allgemeinen zur selben Zeit wie für die Deutschen im Zentrum des Kontinents im Besonderen? Oder für die Deutschen im Allgemeinen und für die Juden, die mit ihnen lebten, im Besonderen?

Der Beginn der modernen europäischen Geschichte wird gemeinhin mit der Französischen Revolution verbunden. Zweifellos war sie ein Ereignis, das die Welt erschütterte. Das sahen auch die Revolutionäre so, und aus der zeitlichen Distanz scheint sich der Eindruck zu bestätigen. Die Amerikaner würden wohl eher mit ihrer eigenen Revolution und der Gründung der Vereinigten Staaten beginnen, während die britischen Historiker, die gewöhnlich ihre eigene Geschichte von der des kontinentalen Europa trennen, die Geschichte der Moderne mit der Schlacht bei Waterloo und dem Sieg über Napoleon beginnen. Sie könnten die neue Epoche auch mit dem einen oder anderen Ereignis im Prozess der Industrialisierung beginnen lassen, also etwa in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts. Aber wo und wann sollten Historiker heute ansetzen, die versuchen, eine Geschichte des modernen Deutschland zu schreiben?

«Am Anfang war Napoleon.» So lautet der berühmte erste Satz des ersten Bandes von Thomas Nipperdeys Geschichte des modernen Deutschland. «Am Anfang war keine Revolution», schrieb Hans-Ulrich Wehler. Er wies mit diesem ersten Satz auf seine grundsätzliche Kritik an Nipperdey hin und betonte seine eigene, ganz andere Herangehensweise.1 Interessant ist, dass er dies in der Einleitung des zweiten Bandes seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte schrieb, der allerdings zuerst erschien, während der erste Band ganz unspektakulär mit 1700 einsetzt, also einen verlängerten, historisch nicht exakt festzulegenden Beginn der modernen deutschen Geschichte unterstellt. In einem vielsagenden Untertitel des Bandes wird eine Annäherung versucht: «Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformära». Man fühlt sich erinnert an Heinrich von Treitschkes Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Eine längere Einleitung führt den Leser zurück zum Westfälischen Frieden von 1648, zu Treitschkes Ausgangspunkt, der mehr als einhundertfünfzig Jahre früher angesiedelt ist. Tatsächlich beginnt Treitschkes Text sogar noch früher, indem er die Geschichte Deutschlands seit der lutherischen Reformation erzählt.

Die deutsche Geschichte wurde von Nipperdey, Wehler und Treitschke aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet; jeder wählte den Anfangspunkt, der zu seinem ideologischen Konzept passte. Für Treitschke, der die deutsche Einigung unter Bismarck und der preußischen Krone zu legitimieren suchte, musste der Anfang in den Kontext des norddeutschen Protestantismus und der Erfolgsgeschichte Preußens gestellt werden. Wer danach, wie Nipperdey, von der Bildung des deutschen Nationalstaats erzählte und sich nach dem Ersten beziehungsweise nach dem Zweiten Weltkrieg aufgerufen fühlte, den Nationalstaat zu rehabilitieren, sah im Zusammenbruch des alten «Heiligen Römischen Reiches» und in den frühen Bemühungen um einen neuen gesamtdeutschen Bund einen geeigneteren Anfang. Da der Modernisierungsprozess schon immer als entscheidendes Merkmal der Ära galt, die wir «modern» nennen, suchte man, wie Wehler, einen passenden Ausgangspunkt dort, wo dieser Prozess entstand. Einen überzeugenden Start für die Ära der Moderne zu finden war stets alles andere als selbstverständlich.

Die Berliner Aufklärung, an der Friedrich II. persönlich interessiert und beteiligt war, konnte jedenfalls in seiner Ära, zur Zeit seiner Siege in den Schlesischen Kriegen und seiner erfolgreichen Konsolidierung der territorialen, militärischen und politischen Macht Preußens, noch nicht als bedeutender Wendepunkt in der deutschen Geschichte gesehen werden. Vielleicht war die Berliner Aufklärung immer zu ambivalent, ja nahezu ängstlich gewesen, so dass sich manche der frühen Darstellungen der deutschen Geschichte vor allem und nur auf die literarischen Leistungen jener Zeit bezogen. Georg Gottfried Gervinus veröffentlichte seine Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen zwischen 1835 und 1842, kurz bevor die Hauptwerke der sogenannten borussischen Schule der Geschichtsschreibung erschienen, und in den folgenden Jahren überragte das Werk alle anderen historischen Darstellungen.

Es ist aufschlussreich, sich an die Tatsache zu erinnern, dass sogar die französische Aufklärung, gewiss diejenige in Europa, die besonders intensiv analysiert wurde, mit der Zeit ihre Stellung als wahrer Wegbereiter der Französischen Revolution und als intellektuelle Basis der damit verbundenen welterschütternden Ereignisse verloren hat. Die Bedeutung dieser Revolution war und blieb Gegenstand von Kontroversen, aber seit etwa fünfzig Jahren hat sie mit der Veröffentlichung der bahnbrechenden Aufsätze des britischen Historikers Alfred Cobban viel von ihrem Glanz verloren. Der Einfluss der Aufklärung auf die Revolution, stellte Cobban unmissverständlich fest, könne nicht gänzlich außer Acht gelassen werden, aber «die Revolutionäre handelten nie gemäß ihren Prinzipien» und fanden keine «klaren Handlungsanweisungen in ihnen».2 Einige Jahrzehnte später gelang es Robert Darnton, unsere Aufmerksamkeit von den Werken der berühmten Aufklärer weg zu den «verbotenen Bestsellern des vorrevolutionären Frankreich» zu lenken, auf die «Literaten im Untergrund» des Ancien Régime.3 Die Wendung zur politischen Aktion im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts rückte einen großen Teil des zuvor entstandenen intellektuellen Gerüsts in den Hintergrund, neue und meist radikalere Ideale von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wurden nun propagiert.

Die Kontroverse für oder wider die Aufklärung verstummte im ganzen neunzehnten Jahrhundert nicht und setzte sich weit bis ins zwanzigste fort, wobei sie nur selten im Kontext der reinen Historiographie verblieb.4 Der Philosoph Ernst Cassirer, selbst ein deutscher Jude, publizierte sein Buch über Die Philosophie der Aufklärung im verhängnisvollen Jahr 1932. Er stellt darin die Spannung zwischen der Vernunft als Werkzeug der Kritik und der Vernunft als Instrument der praktischen Politik ins Zentrum seiner Interpretation. Andere Wissenschaftler, darunter auch einige deutsche Juden, neigten eher dazu, in der Aufklärung nach Quellen der alten Bildungsideale zu suchen: Individualismus, Humanismus und moralische Integrität. Nur zwölf Jahre später warfen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno ihr Buch Dialektik der Aufklärung in die Debatte. Sie hatten die Gewalt des Nationalsozialismus erlebt und befanden sich nun auf dem amerikanischen Kontinent im Exil in einem völlig anderen intellektuellen Milieu. Sie fügten dem zuvor streng akademischen Diskurs einen explizit moralischen Ton hinzu.5 Die Aufklärung diente beiden Autoren zwar als Ausgangspunkt, aber nicht allein für Fortschritt und Befreiung, sondern auch, und das womöglich primär, für alle modernen Formen von Unterdrückung. Der Diskurs der Aufklärung ziele vor allem darauf ab, Kontrolle auszuüben, erst über die Natur, dann über den Menschen. Sie könnte und könne als manipulative Weltsicht missbraucht werden, die zu Entfremdung und gesellschaftlicher Desintegration, zu moralischem Verfall und schließlich zu Totalitarismus führe.

In den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wurde diese Kritik ins postmoderne Idiom übersetzt, zum Beispiel durch den Soziologen Zygmunt Bauman. Während Historiker wie Peter Gay weiter in der Aufklärung den glorreichen Anfang der Moderne sahen, wie so oft im neunzehnten Jahrhundert, ließ sich aus Sicht Baumans immer schwerer sagen, was denn die positive Seite der einst so bewunderten Aufklärung sein sollte.6 Ihm zufolge ist es schwierig, in dieser den Ausgangspunkt für einen Prozess der Befreiung zu finden, der fortlaufend Verbesserungen, «Fortschritt» genannt, zur Folge hat. Sowohl für ihn als auch vor ihm für Horkheimer und Adorno hatte die Aufklärung zwar positive, progressive Aspekte, aber am Ende waren ihre verhängnisvollen Konsequenzen wichtiger. Im Vergleich mit der französischen Aufklärung verlor die deutsche Aufklärung ihren noch verbliebenen Glanz erst recht. Oft stellte sich auch heraus, dass sie kaum dazu taugte, eine Epochenschwelle zu begründen.