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herausgegeben von Marko Ferst

© Edition Zeitsprung, Berlin 2019, 2. Auflage

ISBN 9783749491629

Coverfoto: Marko Ferst

Alle Nachdrucke sowie Verwertung in Film, Funk und Fernsehen und auf jeder Art von Bild-, Wort-, und Tonträgern honorar- und genehmigungspflichtig. Alle Rechte vorbehalten.

Herstellung und Vertrieb: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

Andreas Erdmann

Wolfsjagd

Firndorf/Lappland, 2. Mai 1969

1.

Warm war der Schnee ... und rot, leuchtend rot ... getränkt von dem Blut, das sich verströmte und in der kalten Luft dampfte. „Der Bærgelak war‘s!“, sagte mein Vater und beugte sich über das Ren, welches leblos, den Kopf zur Seite geknickt, mit zerrissener Kehle im Harsch lag.

„Welcher Bærgelak?“, fragte ich.

„Na, der Grauhund.“

„Herrje!“, seufzte Mutter, als sie herbeigeeilt kam: „Grauenhaft ... Und schon wieder ein Jungtier.“ Fassungslos starrte sie auf das braune Kälbchen mit den langen Zotteln: Wie ein Bärenkind schaute es aus.

„Sein drittes Opfer im Lauf von zwei Wochen.“ Vater erhob sich und blickte der Spur nach, die sich als Abdruck von Pfoten den weißverschneiten Hang hinaufzog: „Doch diesmal schlug Matis ihn in die Flucht!“

„Matis!?“ Sie sah mich aus großen Augen an: „Ist das wahr, mein Kind? Bist du so mutig gewesen?“

„O ja, Mutter“, gab ich zurück. „Ich lief an den Zaun. Kaum sah mich der Graue, ist er schon auf und davon wie der Blitz.“

2.

Großvater spannte die Rentiere an und sprach ihnen zu: „Ruhig Blut, ruhig Blut.“ Denn die Hirsche scheuten, wie immer, die Lenka.

Derweil schabte Mutter mit scharfem Knochen den Raureif vom Schlitten. Und jetzt kam Vater, in seiner Kufte aus Sämischleder; er trug ein Lasso über der Schulter und brachte die Gewehre zur Lade. „Aslak“, sagte die Frau zu ihm, „werdet ihr heute den Reißer erwischen?“

„Bestimmt. Er kann nicht weit sein, und wir brauchen ja nur seiner Fährte zu folgen.“

„Darf ..., darf ich ... mitkommen?“, fragte ich zögernd.

„Unsinn“, gab Mutter zurück.

Vater hingegen meinte: „Hm, warum nicht? Du bist bald erwachsen und groß genug für die Jagd.“

„Erwachsen!? Assi, der Junge ist nicht mal neun Jahre alt!“

„Och, Mutter, bitte!“, drängelte ich.

„Nein, mein Sohn“, sagte sie noch, jedoch aus dem Ton ihrer Stimme vernahm ich bereits ein ‚Vielleicht‘. Und als Großvater ihr dann erklärte, auf einer Wolfsjagd könne ich etwas fürs Leben lernen, willigte sie schließlich ein: „Nun gut, Väterchen, aber gebt auf ihn acht und lasst ihn mir nicht aus den Augen!“

Jetzt aber schnell! Ich stürzte ins Haus und schlüpfte in meine Fellbeinlinge. Im Nu zurrte ich mir die Skaller, meine Fellschuhe, mit rotem Band an den Bellingern fest, verschnürte den Pelz und setzte mir meine neue Vier-Winde-Mütze auf.

„Johee! Männer, seid ihr zur Abfahrt bereit?“, tönte Großvater vorn auf dem Rentierschlitten.

„Jawohl!“, rief Vater, der hinter mir saß.

„Jawohl!“, rief auch ich.

„Oi oi hoooh!“ Es gab einen Ruck: Die vier Zugtiere setzten sich in Bewegung, und wir, ihren wippenden Geweihen hernach, fuhren voran auf dem Schlitten. Mutter winkte zum Abschied: „Manne dærvan! Fahrt in Gesundheit!“

„Bacce dærvan!“ Ich winkte zurück und sah die Frau am Tor zunehmend kleiner und kleiner werden. Bald schrumpfte das Blockhaus hinter ihr zu einem grünen Tupfer zusammen, und um sie herum schrumpften die anderen Hütten und Häuser: Gelb, rot und blau ... Das ganze Dorf, das damals aus gut einem Dutzend Gebäuden bestand, erschien nur mehr wie eine Anzahl von bunten Punkten auf einer papierweißen Fläche.

„Siehst du den Grauen?“, rief ich nach vorne.

„I lae, noch nicht“, bekam ich zu hören, „aber wir sind ihm rasch auf den Fersen.“ - Rasch waren wir, ja wir rauschten nur so den fliegenden Rentieren nach. Auf sausenden Kufen schnellte der Schlitten mit uns zwischen Birken einher, durch eine kalte und kühlende Luft, hinaus in die Weite der Vidda. Hier erschien mir der Himmel auf einmal so groß und die Erde so klein und gedrungen. Am Horizont zog eine Raide dahin, und als die letzten umzäunten Weiden der Herden hinter uns lagen, vernahmen wir vor uns, aus einiger Ferne, den hohen Ton einer Joike. Dem johlenden Ruf folgte ein heiseres Hundegebell. Dann tauchten die dunklen, erdfarbenen Zelte ziehender Lappen im milchweißen Firn auf.

„Dort steht der Gubbe!“ Großpapa zeigte zum Rand des Zeltdorfs, wo ein kleiner, knubbliger Greis vor einer verfallenen Gamme lehnte. Dies war er also ... Von diesem Mann, den alle nur Gubbe, den Alten, nannten, hatte ich schon gehört: Man erzählte in Firndorf, dass er ursprünglich aus Norwegen stamme - und an die 130 Jahre alt sei!

Mich erinnerte er, wie er jetzt, in seiner rotgrünen Tracht mit der hohen Spitzmütze, durch den schmatzenden Sulz auf uns zugeschlurft kam, an einen urigen Feldtroll: „Mikkel Mikkelsen!“, krächzte er Großvater zu, kam näher und grüßte mit heiserer Stimme: „Buore bæive, guten Tag!“

„Ibmel addel“, erwiderte Großvater, „Gott gebe den guten Tag!“

„Wollen‘s hoffen.“

„Gubbe, sagt, habt Ihr den Grauhund gesehen?“

„Jei, vor zehn Minuten schlich er am Torf lang.“

„Vor zehn Minuten erst?“

„Jei. Jedoch ... jagt das Tier besser nicht“, sagte der Alte, sowie er jetzt die Gewehre erblickte, „der Wolf ist ein Freund des Menschen.“

„Ein Freund? Er riss uns drei Rentiere!“

Dies sei beklagenswert. „Aber vergesst nicht, wir Menschen nahmen dem Wolf seinen Lebensraum und beraubten ihn seiner Beute. So ist er gezwungen, sich wiederzuholen, was ihm gehört.“

„N‘ ja ...“

„Wenn ihr dennoch hinausfahrt“, raunte der Gubbe und kniff die Augen zu furchigen Schlitzen zusammen, „nehmt euch in acht vor dem Sturranoaivi!“

„Ach!?“, machte Großvater, wirkte erschrocken.

„Wovon spricht der Mann?“, fragte ich Vater.

„Vom Sturranoaivi, dem Großen Kopf“, erklärte er mir, „unsere Vorfahren nannten ihn Schneegeist.“

„Jei, jei, der Schneegeist ... man hat ihn draußen im Eisfeld gesichtet“, griente der Greis. Er stapfte im matschigen Faulschnee herum, bevor er sich jäh zu mir aufreckte und mich aus weit aufgerissenen Augen anstarrte: „Oo, mein Junge, weißt du denn nicht, dass der Schneegeist die weiße Wildnis beherrscht? Gigantisch ist er, weder Mensch noch Tier, und wem er zürnt, dem bringt er den Tod!“

„So ein Unfug, Gubbe!“, fuhr Vater ihn an, „erzählt dem Jungen kein Schauermärchen!“

„Im Märchen wohnt Wahrheit“, erwiderte er.

Und Großvater drängte zum Aufbruch: „Wir müssen los! Boris, Boris.“

„Friede!“, wünschte der Gubbe uns noch auf den Weg - was in unserer Sprache ‚Friede vor Wölfen‘ bedeutet.

„Ja, Friede!“

„Friede!“, wünschten auch wir. Großpapa schnalzte den Rentieren zu, und wir zogen hinaus in die Wildmark.

3.

Nicht lange, und uns empfing ein heller, fast greller und gleißender Neuschnee. „Merkwürdig“, hörte ich Vater, „hier hat der Winter kein Ende genommen.“ Ja, die Landschaft umher erstrahlte noch immer schlohweiß: Alles erschien so weit und so licht in dieser Jahreszeit zwischen Polarnacht und Mitternachtssonne - man wurde schneeblind und sah sich geblendet.

Nach einer Weile, als sich die Augen ans Helle gewöhnten, ließen sich einige rötliche Inseln im Lichtmeer erkennen. Waren dies Spuren von Blut? Hatte ein Fuchs, ein Schakal oder Bär auf der Flur eine Beute zerrissen? Oder etwa ... „Der Schneegeist!?“

„Hör auf damit!“, knurrte Vater mich an, „den gibt es bloß in der Legende. Es ist ein Geist, ein Gespenst - bloß ein Hirngespinst, Junge!“

„Und die roten Flecken?“

„Blutschnee ... Roter Staub, den der Wind herantrug.“

„Da bin ich beruhigt“, erwiderte ich. Der Schlitten zog an; wir glitten hinunter ins Flusstal.

Huiii! ging es jetzt auf das Eis des gefrorenen Flusses hinaus: „Hier ist der Wolf hergelaufen“, bemerkte Großvater, „der Länge nach über das Wasser.“

Nun harschte der Schnee nicht fest auf dem Eis, und die Hirsche sträubten sich, scheuten das Pulver. Sie warfen die Stangen auf und scherten aus, woraufhin der Schlitten zu schlenkern begann: „Oi oi oi hooooh!“, schwang der alte Mann seine Peitsche.

„Ik galga mendu roatta herginad vuoddjet!“ rief Vater von hinten: Großvater solle die Rentiere nicht zu hart antreiben.

„Olet väärässä!“, rief der auf Finnisch zurück, obschon er wusste, dass Vater nur Sämisch verstand.

„Hör sofort auf, die Tiere zu schlagen!“

„Ich will sie ermutigen.“

„Väterchen, nein, du hetzt sie auf! Ein Ren bleibt ein Wildtier, selbst wenn es gezähmt ist.“

„Aber ein Rentier ist auch ein Renntier.“

„Mensch!“, wurde Vater jetzt laut, „dürfte ich dich an Enare erinnern!?“

„Hach! Hast ja recht, mein Sohn“, raunzte Großvater, senkte die Gerte und lenkte die Tiere vom Eis in das knirschende Gras.

Alsbald ging es schleppend am Ufer entlang, durch ein buschiges, unwegsames Gelände. Dabei spähten wir ständig zum Fluss, wo wir, nach einer Biegung, die Wolfsfährte aus dem Blick verloren.

„Aiooh!“ Wir hielten an.

Die Männer stiegen vom Schlitten, schlüpften in ihre Felljacken. Sie zogen sich Schneeschuhe über und stapften umher.

„Sonderbar“, hörte ich Vater vom Rand des Schneebruchs, „hier endet der Abdruck der Pfoten.“

„Das kann nicht sein, Aslak!“ Großvater tappte durch ein Gesträuch. Er näherte sich einer Gruppe verkrüppelter Kiefern, hinter denen, steil und zerklüftet, eine Moräne mit Wächten aufragte. Mit einem Mal brüllte er: „Da ... da ... das Wolfstier!“

Ich fahre zusammen, falle dabei fast vom Schlitten, wie ich ein Rascheln vernehme und jetzt das riesige Monstrum hinter dem Felsen hervorstampfen sehe: „Himmel! So große Wölfe gibt es!?“ Wuchtig stampft der Koloss ins Gehölz. Knackende Äste. Schwirrender Schnee, und vor ihm, im Unterholz, wildes Geschnatter: Flatternd fliegt ein Schwarm Schneegänse auf.

Vater johlte: „Oho, welch ein Brocken von einem Wolf! Er trägt sogar ein Geweih!“

„Ein Geweih?“

„Ja, welch ein Geäst! Nein, ein Elch ist‘s!“

Wahrhaftig, ein Elch war‘s! Ein prächtiges Elchtier, das sich mit stechenden Schritten ins freie Gelände davonmachte.

„Unser Tier ist wohl um einiges kleiner“, grinste Großvater, sichtlich erleichtert, „allerdings nahm es den gleichen Weg: Dorthinaus verläuft die Wolfsspur!“

Flott ging es weiter. Wir bogen vom Fluss ab und zogen gen Nord in die Finnmark. Die Hirsche im Trab - der Grund stieg leicht an. Die Kiefern umher wuchsen auf. Immer mehr Stämme flogen vorbei. Es gab Zweige mit glasigen Zapfen und feines Geriesel aus flockigen Kissen, als wir in schlängelnden Windungen durch einen dichteren Wald dahinglitten: Hier war ich noch nie gewesen. Oh nein, ich hatte mich niemals so weit von zu Hause entfernt! So groß war die Welt und so fremd: Dort eine Lichtung mit hohen Wehen und Weben wie im tiefsten Winter, und drüben die stämmigen Bäume, die wie menschliche Hünen auf stelzigen Beinen dastanden: „Aak! Aak, aak!“, krähte ein Vogeltier von einer Art, die ich nicht kannte. Ein springender Hase, dann schnellten die Bäume zurück in das Holz. Sogleich stoben wir einen geschwungenen Hügel hinab, hinauf und wieder hinunter, und vor uns warf sich das Land zu einer kahlen, blau schimmernden, mächtigen Anhöhe auf: „Das ist der Walrücken“, sagte mir Vater.

„Walrücken?“

„Ja, so nennt sich der Berg - nach einer Sage: Es heißt, in der Vorzeit wäre hier ein Polarwal gestrandet.“

„Ein Polarwal ... so riesig!?“

„Nun, man sagt, Schneeschicht um Schneeschicht deckten ihn über Jahrtausende ein.“

„Wal oder nicht, wir müssen da rauf!“, hörten wir Großvater. „Die Fährte verläuft in einer Linie nach oben, gradewegs auf die Kuppe!“

4.

Weiß. Weiß war alles weithin, so weit das Aug reichte: Eingeschneit lag das Hochland vor uns, und der Blick verlor sich die Flanken des Berges hinunter und über den Fjell von Schnee und Eis, der sich scheinbar endlos vor uns erstreckte und am Horizont mit einem weißen, von Wolken verschwommenen Himmel in eins überging.

Vater stand bis zu den Knien in einer Schneewehe. Er stellte den Kragen der Felljacke auf, zog sich den Pelz bis unter das Kinn und die zottige Mütze tief ins Gesicht: „Und?“, fragte ich in die klirrende Kälte hinein, „kannst du den Grauhund erkennen?“

„Nein. Er scheint verschwunden.“

„Und der Abdruck der Pfoten?“

„Vom Wind verweht.“

Ich vergrub meine Fäustlinge tief in den Taschen: „So kehren wir um? Fahren heim?“

„Im diede“, erwiderte er - was so viel heißt wie: ‚Ich weiß nicht‘. In dem Moment löste sich Großvater von unsrer Seite. Er schob seinen Fuß mit dem Robbenfellstiefel einen Schritt weit nach vorn, hob den Arm mit der Flinte und wies rechterhand die Flanke hinunter: „Dort ist er! Seht ihr ihn? Seht ihr den gräulichen Schatten am Bergfuß?“

„Ja!“, sagte Vater, und plötzlich sah ich ihn auch, den grauen Tupfer fernab in der Senke.

„Der Wolf“, wisperte Vater, „steht einfach da, als erwarte er uns.“

„Der Wolf, der Wolf!“, rief ich, aufgeregt, aus.

„Stille! Beweg‘ dich nicht, Matis!“, bat mich Großvater. Er ging in die Knie und hob langsam den Lauf seiner Flinte.

Ich sah auf den alten Mann und das Gewehr - in dem Moment fiel mir ein, was der Gubbe uns vorhin gesagt hatte: ‚Jagt das Tier besser nicht. Der Wolf ist ein Freund des Menschen ...‘

„Großpapa, warte!“

„Pscht!“, machte er, ohne den Blick vom Visier abzuwenden.

Laut bellte der Schuss auf und schallte hinaus in die Landschaft. Was geschah drunten am Berg? „Du hast ihn doch nicht getroffen?“

„Sicherlich.“

„Nein, Großpapa, schau! Jetzt springt der Wolf auf. Er prescht drauflos und zischt uns davon!“

„Na, ich gebe ihm Zunder!“ Hastig, mit zitternder Hand, lud er eine Patrone nach. Er hob das Gewehr, legte an - und feuerte auf den fliehenden Schatten. Das Tier aber schlug einen Haken und jagte hinaus in das glänzende Feld, in dem es vor unseren Blicken entschwand.

„Verdammt!“, fluchte Großvater, „hab ihn verfehlt!“ Er lud abermals, riss die Flinte nach oben und feuerte blindlings zum Himmel.

„Verscheucht hast du ihn“, graunzte Vater.

„Iwo, er war viel zu weit weg. Hättest du ihn denn auf die Entfernung getroffen? Im Übrigen“, fragte er mit scharfer Stimme, „Aslak, wo warst du mit deiner Flinte!?“

„Ich ließ sie zurück... auf dem Schlitten.“

„Oha, auf dem Schlitten! Du bist mir ein feiner Jäger, mein Sohn!“, schrie ihn Großvater an, schnappte nach Luft, brüllte auf Finnisch: „Sinä olet päästäsi sekaisin!“

„Und jetzt?“, ging ich, zaghaft, dazwischen, „der Wolf ist fort. Fahren wir wieder nach Hause?“

„Im diede“, gab Vater zurück. Doch der alte Mann - „Hrr, von wegen nach Hause!“ - zog schon mit stiefelnden Schritten zum Schlitten, kehrte sich noch einmal um und winkte uns zu, ihm zu folgen: „Vorwärts, Männer! Dem Wolf nach!“

5.

Vereinzelte Flocken schwebten vom Himmel, als wir auf dem Fahrzeug den Berghang herunter, hinaus auf die Ebene kamen: „Da sind sie ja wieder, die Tapfen der Tatzen!“, sagte Großvater, griff in die Zügel und lenkte die Tiere den Tapfen im Schnee nach.

„Was meinte der Gubbe“, gab ich nach vorn, „als er sagte, der Wolf ist ein Freund ...?“

„Er sprach wohl vom Hund.“

„O nein, vom Wolf! Er hat auch gesagt, dass wir Menschen dem Wolf den Lebensraum nahmen.“

„Hat er das?“

„Ja, und dass wir ihm seine Beute abjagten. So muss er doch unsre Rentiere schlagen!?“

Daraufhin sagte Großvater nichts.

Die Flocken mehrten sich. Ich schob den Kopf in den Nacken und hob meinen Blick zu den bauschigen Wolken: „Sag bloß, du fürchtest dich vor dem bisschen Schnee?“, meinte Vater.

„I lae, ach was! Ich mag die Schneeflocken. Sie kommen wie winzige Sterne herunter.“

„Wie winzige Sterne, ja ha“, lachte er, „wunderbar schauen sie aus, die feinen Kristalle.“

Doch nach einiger Zeit, wir waren ein gutes Stück auf den Fjell rausgefahren, zog das Gewölk immer dichter und dichter über uns auf; und die flauschigen Sterne, die uns umtanzten, trübten die Luft und nahmen die Sicht.

„Väterchen!“, rief Vater herüber, „siehst du noch die Tapfen?“

„Schwerlich“, rief es zurück. „Wenn es so weitergeht, wird uns der Schneefall die Fährte verwischen.“

„Zudem wird‘s bald Abend“, ließ Vater verlauten. „Dem Ren, als Nachttier, macht die Dämmerung ja nichts aus ...“

„Aber uns! Wir müssen uns sputen, den Wolf einzuholen.“

Der Schneefall nahm zu, und die Hirsche fielen aus dem Galopp in den Trab. Immer langsamer ging es voran. Die Tundra, die an uns vorbeizog, erschien mir bald grau. Wir fuhren im Windschatten; aber auf einmal drehte der Wind, heulte auf und wirbelte uns eine Menge von Pulverschnee, wie eine Wolke von Federn, entgegen. - „Aioooohh!“, tönte der Mann an den Zügeln. Die Rentiere trabten sich aus. Wir kamen zum Stehen - und standen in einem fädelnden Griesel.

„Der Niederschlag ... Dazu graut der Abend“, Großvater kehrte sich um. „Es macht keinen Sinn, weiterzufahren.“

„Also fahren wir heim?“

„Ja, Matis, ja“, lächelte er und Vater bekräftigte: „Wenden wir um! und lassen den Wolf für heute Wolf sein.“

Großvater suchte, die Tiere zurückzulenken. Doch augenblicklich, als ob der Wind mit uns kreiste, schlug eine frostige Böe auf uns ein und überfiel uns mit heftigem Flockengestöber: „Ich fürchte, es gibt einen Schneesturm!“, rief Vater aus. Rasch zog ich mir meine Vierzipfelmütze tief in die Stirn, bedeckte die Ohren und schob die Kapuze herüber. Schon war es, als ob ein Gewölk voller Schnee, vom Sturmwind gepeitscht, aus dem Himmel hernieder zur Erde fegte und wir uns mitten darinnen befänden: Schroff flatterte uns ein Vorhang von Eisschnee und Graupel entgegen. Das Wetter, so bitterkalt, eisig, verschlug uns den Atem und stach ins Gesicht. Wir sahen nichts mehr. Sahen nichts. - „Väterchen, halt‘ nur die Tiere im Zaum!“, hörte ich Vaters keuchende Stimme im Nacken. - „Ich versuch‘s ja ... versuch‘s!“, kam es ächzend zurück: „Das Zugren gehorcht mir nicht!“ - Über uns schwirrender Hagel. Die Hirsche begannen zu röhren und rissen wie wild an der hölzernen Gabel. Die Stangen knarschten. Ruckartig zog uns der Schlitten voran. - „Festhalten, Männer!“, schrie Großvater auf: „Festhalten, festha---“ Da preschten die Rentiere los. Sie warfen sich mitsamt dem Schlitten nach vorn und rasten hinein in den tobenden Schnee. Wir stürmten ins Eis und stürzten bald hierhin, bald dorthin: Aus allen Richtungen peitschte der Sturm auf uns ein, kam mit Körnern von Hagel, mit Grau- und Braunschnee und Schlacker und Schloßen. - Blitzte es etwa? Ich riss meinen Kopf herum und sah im prasselnden Dunkel, in einiger Höhe schräg über dem Schlitten, so etwas wie ein riesiges, feuerrot flammendes Auge aufblitzen! - ‚Nehmt euch in acht vor dem Sturranoaivi!‘ klingt mir auf einmal die warnende Stimme des Gubben im Ohr. ‚Gigantisch ist er, weder Mensch noch Tier, und wem er zürnt, dem bringt er den Tod!‘ - Urplötzlich, ich erschrecke zutiefst, vernehme ich in der Höhe ein Fauchen! Ist es der Sturm? Oder ist es der Schneegeist, der über uns wütet? Ich starre nach oben, in einen brausenden, pechschwarzen Schlacker, und schlagartig ist mir, als blicke ich geradewegs in einen weit aufgerissenen Rachen! Der Schneegeist! Da! Sind das nicht seine fletschenden Zähne!? Die scharfen, blinkenden Reißzähne, ja! ... Zähne wie von einem Untier, so ungeheuerlich groß, dass es uns mit dem Schlitten zerreißen und uns allesamt in einem einzigen Bissen verschlingen könnte! Hrrrr, mich packt die Angst. - Nei- neinein, sag ich mir, bibbernd: ‚Es ist ein Geist‘, hat Vater gesagt, ‚ein Gespenst - bloß ein Hirngespinst.‘ - „So lass mich in Ruhe!“, schreie ich lauthals drauflos: „Verschwinde, verschwinde!“ Doch lauter, viel lauter als meine, im Schrei sich überschlagende Stimme, ja ohrenzerberstend ertönt das Fauchen rings um uns her. Es ist ein einziges Tosen und Toben - jetzt wieder ein Lichtblitz! Abermals, wie im flackernden Feuer, das riesige, flammende Auge! Gleich darauf rollt in der Höhe ein Donner heran und zieht grollend und dröhnend über uns hin. Ich verstumme. Ich presse die Augen zusammen, kralle mich mit beiden Händen ans Sitzbrett und drücke mich fest in Großvaters Rücken. Derweil hält mich Vater von hinterrücks mit beiden Armen umschlungen. Ich spüre sein Zittern und Beben aus nächster Nähe und höre ihn wimmern: „Ibmel, oh Gott, steh uns bei!“

6.

Ich weiß nicht, wie lange die Höllenfahrt ging. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis der Eissturm erstarb und das Lärmen sich legte. Abrupt kam das Fahrzeug zum Stehen. Ich atmete auf, schälte den Kopf mitsamt der Mütze aus der vereisten Kapuze, spitzte die Ohren und horchte - hörte vorn am Gespann das Schnauben und Schnaufen der Tiere. Großvater keuchte, und Vater drückte mich an sich und hauchte: „Gottlob, das Kind ist gerettet!“

Ich wischte den Schnee aus meinen verfrorenen Augen, öffnete langsam die Lider: Im ersten Moment war ich erschrocken, als ich bemerkte, dass uns die Nacht ereilt hatte: Die Erde ringsum dämmerte finster; nur ferne am Horizont, wo der Tag abgetaucht war, brannte die Sonne noch rötliche Schlieren in den schwarzen Schnee. Über uns waren die Wolken zerrissen: Wie durch ein himmlisches Fenster sah ich nun Sterne um Sterne aufblinzeln.

„Vater, wo sind wir hier?“

„Weiß nicht, mein Junge.“ Er löste sich von meinem Rücken und stieg vom Schlitten, klopfte den Schnee von sich ab. Dann schlurfte er nach vorn zu den Tieren, die völlig verstört in der sternendurchfunkelten Nacht herumstanden.

Auch Großvater schälte sich von der Decke, erhob sich und meinte: „Ich schätze, es hat uns weit in den Norden verschlagen.“

„Wie weit?“, wollte ich wissen.

„Wer weiß, vielleicht bis ans Nordmeer?“

Ans Nordmeer. Ach was! Großvater flunkerte ...? Während er sich Vater zuwandte, rutschte ich bis zum hinteren Ende des Schlittens vor und spähte hinaus in die nächtliche Landschaft. Da war mir, als ob ich, in einiger Ferne, zwischen zwei schattigen Felsen ein Schimmern gewahrte: Rührte es von einem Wasser? Erstreckte sich hinter den Klippen das Meer? Ich stemmte mich auf und entdeckte, wie dort, an der felsigen Kante, hellschimmernd der Mond aus seiner himmlischen Tiefe auftauchte. Und vor dem steigenden Mondlicht erkannte ich jetzt einen pechschwarzen Umriss: Das war ... das war doch ... ein Wolf!!!

Ich fuhr herum zu den Männern: „Pst! Dort steht der Grauhund!“

„Matis--!“

„Vater, beweg dich nicht!“

„Boatte deiki! Komm her!“

Nein, das sei zu gefährlich, hörte ich Großvater: „Bleib besser da, wo du bist, Junge! Nimm dir, vorsichtig, ein Gewehr von der Lade!“

Ein Gewehr? Sollte ich etwa ...? Ich streifte die Handschuhe ab, fingerte über das Brett in die Kiste, bekam etwas Hartes zu packen und zog es langsam hervor: Großvaters uralte Schrotflinte.

„Prima! Mach es so, wie ich‘s dich lehrte!“, fisperte Großvater.

Daraufhin lud ich eine Patrone, entsperrte den Riegel, schaute auf - sah, wie sich der Wolf auf dem Felsen regte: Er stellte sich auf die Vorderläufe, streckte den Hals und reckte sein Haupt: Befremdlich, beinahe gespenstisch kam er mir vor, wie er über der runden Scheibe des Mondes aufragte. Warum läuft er nicht fort? dachte ich. Er müsste längst meine Witterung aufnehmen. Ob er mich beobachtet?

„Worauf wartest du?“, zischte mir Großvater zu. „Pirsch dich heran!“

„Ja, überwinde dich, Matis!“, flüsterte Vater. „Irgendwann ist es für jeden Jäger das erste Mal ...“

Ich schob mich hinter den Schlitten. Dann robbte ich bäuchlings, die Flinte umklammert, durch den schwarzen Schnee. Dabei bewegte ich mich, auf dem Pelz und den Fellhosen, nahezu lautlos. Wie ein Raubtier, das sich an eine Beute ranpirscht, kam ich näher - und hielt plötzlich inne, verharrte im Dunkel. Mir stockte der Atem, als der Wolf mit dem Kopf in die Höhe schnellte. Er schüttelte kurz seine Lefzen, sperrte das Maul auf und fing an zu heulen. Unheimlich war dieser langanhaltende Laut, der wie ein Klagelied in die Nacht hinaus tönte.

Ich löste mich, hob mich auf die Knie, nahm die Waffe und hievte sie mir an die Schulter. Ich sah durch den Sucher, peilte auf Kimme und Korn an: Wie prächtig er war ... ein herrliches Tier! Sein Fell glänzte silbern im fahlen, flimmernden Mondlicht. Ob es ein Silberwolf war? - Ich spürte, wie mein Finger am Abzug zu zittern anhob: Nein, ich will nicht abdrücken! sagte ich mir: Der Wolf ist ein Freund. Man muss ihn schützen.

„Jetzt, Junge!“ - „Nutz die Gelegenheit“, hörte ich die beiden Männer. Und ehe ich mich versah, löste sich der Schuss wie von selbst. Ein gellender Knall. Ich verspürte den Rückstoß der Flinte. Der Schuss hallte noch von den Steinen wider - das Heulen war jäh verstummt. Der silbrige Schatten schnellte herum und sprang nach hinten weg in das Licht, hinein in den leuchtenden Mond. Ich hatte ihn nicht getroffen! Jedoch vor dem gähnenden Dunkel der Felskluft regten sich auf einmal weitere Schatten! Das war ja ... ein Rudel von drei, vier, sechs Wölfen! Eines der Tiere bäumte sich auf. Es taumelte, während die anderen flohen - kippte nach vorne, stürzte vom Felsen hernieder und schlug, wenige Schritte vor mir, auf das Eis.

Ich war erstarrt. Ich saß wie versteinert, vernahm noch ein flüsterndes Säuseln des Windes und dann die Stimmen der beiden Männer, die jubelnd und joikend auf mich und den toten Wolf zugerannt kamen. In mir aber war eine furchtbare Stille.

7.

Die Heimfahrt schien kein Ende zu nehmen. Die Hirsche trotteten durch die arktische Nacht, und wir, auf dem Holz, hockten fröstelnd und schlotternd unter den Decken.

Irgendwann tanzte das Nordlicht über die Vidda. Es flackerte uns mit seinen gelblichen, grün bis bläulich umrandeten Bögen entgegen, die von links nach rechts über den Horizont huschten und hinter sich die Sterne verschluckten. Mal flammte es auf, mal schien es in sich zusammenzufallen. Dann näherte sich uns ein anderes Feuer - es rührte von einer lodernden Fackel: „Da seid ihr ja endlich!“, rief Mutter uns zu, als sie uns auf dem Dorfweg entgegeneilte. Mit ihr kamen Männer des Dorfes gelaufen: „Wo bleibt ihr!?“ - „Was fahrt ihr so spät durch die Nacht?“

Großvater bremste das Rentiergespann. Wir stiegen vom Schlitten, woraufhin sich die Leute im Kreis um uns scharten: „Habt ihr den Grauhund erwischt?“

„Ja, seht ihn euch an!“ Vater zeigte nach hinten. Da sah man das Tier, mit dem Lasso verschnürt, rücklings auf dem Brett und alle Viere von sich gestreckt: Die buschigen Ohren, die rundliche Spitze der Schnauze. Das Maul mit der hängenden Zunge zwischen den scharfen, kantigen Zähnen. Dazu ein Augenpaar, das mich erschauern machte: Der Blick ging mir durch und durch.

„Der ist aber mager!“, bekam man zu hören. „Mickrig!“ - „Ein schmächtiges Kerlchen!“

„Ja, aber ... ratet mal, wer ihn erlegt hat!“

„Sag es schon, Mikkelsen!“

„Na, unser Matis!“, verkündete Vater jetzt stolz und nahm meinen Arm, riss ihn in die Höhe wie bei einem Helden.

„O mein großer Sohn!“, strahlte Mutter mich an: „Nun ist er ein starker und mutiger Jäger!“

„Bravo! Bravo!“, gaben die Männer Applaus. Ich aber senkte mein Haupt vor den Leuten und starrte zu Boden: Junge, du hast ein Tierkind getötet! schoss es mir durch den Kopf, bevor mir die Tränen aufs Fell hinabtropften. Und leise, so leise, dass mich wohl niemand verstand, hörte ich jetzt meine Stimme aufschluchzen: „Er war unser Freund ... ein kleiner Wolfsjunge, fast noch ein Kind, so wie ich.“

Nachbemerkung

Heute ist Matis A. Mikkelsen Vorsitzender einer namhaften Tierschutz- Organisation. Er kämpft für den Fortbestand der Wildtierpopulation im skandinavischen Großraum, insbesondere für ein striktes Abschussverbot für die wenigen, in diesen Tagen noch freilebenden Wölfe.

Marko Ferst

Der Freund und das Fensterkreuz

Zwischen einigen Hügeln und einem See eingebettet und von mehreren Seiten durch morastige Seggewiesen und kleine Erlenwäldchen begrenzt, lag das heimatliche Dorf. Hinter Ziegeldächern stieg langsam die wärmende Morgensonne empor.

Reinholt Domke schloß die Eingangstür seiner Tischlerei auf und ließ sie weit aufgesperrt stehen. Außerdem öffnete er mehrere Fenster, damit die stickig warme Luft vom Vortag angenehmer Kühle wich. Dann ging er in sein Büro und zog sich Arbeitskleidung an.

Verborgen in halbhohen Tannen, einer Gruppe ausgewachsener Birken, auf Stromleitungen sitzend und anderswo zwitscherten Vögel unentwegt. Eine Schwalbenmutter flatterte zurück zu ihrem Kugelnest unter der Dachrinne der Werkstatt neben der Tür und brachte ihren mit weit aufgerissenen Schnäbeln schniependen Jungen Futter.

Fast gleichzeitig kamen der Altgeselle mit seinem hellblauen Trabant und der Lehrling auf dem Fahrrad durch das Tor gefahren. Etwas später, kurz vor Arbeitsbeginn, raste Heinz, der jüngere Geselle, mit seinem Motorrad durch die Einfahrt auf den Holzplatz. Er drehte eine scharfe Kurve, eine aufgewühlte Spur blieb zurück, abrupt bremste er, stieg ab und stellte sein Fahrzeug unter das Vordach neben den Trabant des Altgesellen. Als Heinz dem Meister die Hand gab, meinte dieser zu ihm: „Nächstens werde ich dir eine Harke in die Pfote drücken, wenn du so wie eine besengte Sau fährst!“ Heinz verzog keine Miene.

Nach der Frühstückspause besprach der Meister mit dem Altgesellen den Bau in der Friedrichstraße Nummer neun. Dort sollten sämtliche Fenster ausgewechselt werden. Den Lehrling wollte er ihm mitschicken. Bald darauf luden der Meister und der Junggeselle die Fenster auf den Autoanhänger und verschnürten sie mit Stricken. Stephan, der Lehrling, packte das fehlende Werkzeug in die Baukiste, schnitt Keile an der Bandsäge, füllte sie in ein kleines Säckchen und legte alles in den Kofferraum des dunkelgrünen Lada. Alle stiegen ein, nachdem der Meister alte Decken über die Sitze gelegt hatte. Reinholt Domke fuhr recht langsam, denn auf der holprigen Straße konnte es leicht passieren, die Fenster verrutschen und könnten beschädigt werden. Der Lada glitt an den Dorfeichen vorüber. Gesprenkelt flutete das Sonnenlicht unter den Baumkronen auf die schmutzige Frontscheibe, glitt wie ein reißender Strom über das Fahrzeug hinweg. Binnen weniger Minuten erreichten sie das betreffende Haus. Der Meister gab Heinz und Stephan noch ein paar Hinweise, koppelte dann den Hänger ab und fuhr seinen Wagen eilig zur Werkstatt zurück.

Heinz meinte salopp zum Lehrling: „Ich dachte schon, der Alte will mit einbauen helfen. Hat aber glücklicherweise noch wat besseret zu tun und det is och gut so. Der kann bleiben, wo der Pfeffer wächst, nich.“

Stephan nickte zustimmend.

An der Fassade des grauen Hauses hatte sich hier und da der Putz gelöst, rotes Mauerwerk lugte hervor. Das Glas der Hoflampe war zerbrochen. Von den Fenstern blätterte überall die dreckig weiße Farbe ab. Nur der Vorgarten war gepflegt.

Mit zwei der Fenster, die sie jetzt auswechseln würden, verband sich eine unheilvolle Geschichte. Stephans Freund hatte einst in diesem Haus gewohnt. Karsten hieß er. Fast versunkene Erinnerungen trieben Stephan ins Bewußtsein. Mühsam versuchte er sich sein Gesicht vorzustellen. Er wußte zwar noch, strohblonde Haare und braune Augen hatte er, aber die einzelnen Züge wollten kein Bild mehr ergeben.

Als Karsten und Stephan in die dritte Klasse gingen, ist das damals passiert, in der Nacht nach dem Abschlußfest des Schuljahres. Karsten kam danach nicht mehr zur Schule. Stephan dachte, er sei krank, bis seine Mutter ihm erzählte, was sich zugetragen hatte. Nachts konnte Stephan damals keinen Schlaf finden, drehte sich von einer Seite zur anderen im Bett und träumte davon, wie er Karsten der Gefahr entriß.

Schrill läutete die Schulklingel, die jetzt den Unterrichtsschluß ankündigte. Die Lehrerin verabschiedete sich von den Schülern, nahm das Klassenbuch unter den Arm, griff ihren rotbraunen Aktenkoffer und verließ den Raum. Die Schüler packten ihre Sachen ein, stellten die Stühle hoch, nahmen ihre Taschen und griffen ihre Jacken auf dem Flur. Wie eine bunte Herde strömten die Kinder von den Klassenräumen zum Schulgebäude hinaus. Einige gingen zum Hort, andere nach Hause. Die im Nachbarort wohnten und nicht den Hort besuchten, liefen zur Bushaltestelle hinüber.

Karsten war in dieser Woche für den Ordnungsdienst eingeteilt. Er wischte die Tafel ab, fegte den Klassenraum aus und entleerte den vollen Papierkorb in den Container. Dabei ließ er sich Zeit, denn der Bus fuhr erst in einer halben Stunde. Stephan hatte inzwischen seine Schulmappe an den Zaun gestellt und wartete auf den Schulbus. Auf den Boden blickend träumte er vor sich hin.

Plötzlich kamen Swen und Marcel auf ihn zu. Er wich zurück. Swen nahm Stephans Mappe und schleuderte sie auf die Straße. Ingo rannte herbei, hakte den Riemen aus und schleifte sie hinter sich her. Stephan lief auf Ingo zu. Dabei verpaßte ihm Swen von hinten einen kräftigen Fußtritt und schubste Stephan danach so, daß er vornüber auf den Bürgersteig stürzte. Ingo lachte laut. Langsam stand Stephan wieder auf. An seinem rechten Ellenbogen sickerte Blut hervor. In ihm kochte alles vor Wut.

Marcel schritt auf Stephan zu und meinte übermütig zu ihm: „Haste schon mal jesehen, wie meine Faust mit Überschallgeschwindigkeit in deinen Mund rutscht, du Scheißhausfliege!“

Stephan entgegnete deutlich aber halblaut: „Laß mich in Ruhe!“

Er hatte es noch nicht ausgesprochen, da schlang Marcel schon den Arm um seinen Kopf und drückte ihn an seinen Körper. Stephan stieß mit seinem Fuß leicht gegen Marcels Wade. Darauf schrie dieser: „Na warte, dir werde ich´s schon zeigen, du Mistvieh!“

Mit seiner körperlichen Masse hatte er es leicht, Stephan auf den Boden zu zwingen. Beide sühlten sich im Dreck. Schnell gewann Marcel die Oberhand und drehte Stephan den Arm auf den Rücken. Keuchend zischte Marcel zu Stephan: „Wir werden schon unseren Spaß an dir haben!“

Stephan schwieg. Sein Herz klopfte wild.

„Los steh auf“, kommandierte Marcel ihn. Zögernd erhob er sich. Gedanken stürzten ihm wild durch den Kopf. Mit einem Ruck versuchte er sich loszureißen, doch Marcel hielt ihn sicher im Griff. Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig lief die Mathelehrerin vorbei. „Wenn die dusslige Zicke weg is, geht’s weiter“, raunte ihm Marcel mit lächelndem Gesichtsausdruck zu.

Kurz darauf sprach Swen zynisch: „So, jetzt wirst du schön ein bißchen Medizin schlucken. Komm schön her! Rizinusöl schmeckt ausgezeichnet! Komm lecker, lecker!“

Marcel und Ingo drängten Stephan im Wartehäuschen an die Wand. Swen schraubte den Deckel des braunen Fläschchens auf. Ingo versuchte Stephans Mund zu öffnen. Hartnäckig wehrte sich Stephan.

„Machst du deine Fresse bald auf“, fauchte Marcel.

Nach einigen Fehlversuchen schaffte es Ingo. Langsam gluckerte ein wenig Rizinusöl in Stephans Mund. Mit aller Kraft versuchte sich Stephan noch einmal loszureißen. Dabei biß er Swen in den Unterarm. Das Fläschchen fiel ihm aus der Hand und zerbrach dumpf klirrend auf dem Betonfußboden.

„Ach, du Scheißer du“, stöhnte er wütend. Blitzschnell boxte er Stephan mehrmals in den Bauch. Stephan krümmte sich. Er bekam keine Luft. Als er sich erholt hatte, gelang es ihm zu entwischen.

„Das ist vielleicht ein Feigling“, rief Swen ihm hinterher.

„Feigling, ein Feigling“, stimmten auch die anderen beiden ein.

Swen ergänzte grinsend: „Verjeß nicht dir nen Privatklo zu mieten!“

Stephan machte, daß er davonkam. Angst und Eckel spürte er in sich. Die Knie zitterten. Er versuchte sich zu übergeben. Es kam nichts. Aus der Abschürfung trat immer noch neues Blut hervor. Als er sich kurz umdrehte, sah er, wie sie seine Mappe in eine Mülltonne stopften. Schnell rannte er weiter zur Schule hin. Nachdem sie ihn nicht mehr sehen konnten, wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht.

Karsten malte mit einem fast aufgebrauchten Kreidestück Fratzen an die Tafel. Er hörte Schritte. Hoffentlich ist es kein Lehrer, dachte Karsten. Aufmerksam lauschte er. Dann kam Stephan durch die Tür herein.

„Hast du mich erschreckt, ich dachte schon, jetzt ist die nächste rote Eintragung im Hausaufgabenheft fällig.“

Karsten nahm den Schwamm, machte ihn unter dem Wasserhahn naß und wischte die Tafel ab.

„Weshalb bist du eigentlich gekommen?“ wandte er sich zu Stephan.

„Hab mal wieder Ärger“, antwortete er gedämpft.

Karsten nahm die Abschürfung wahr und kratzte sich am Hinterkopf. „Geh doch zu nem Lehrer.“

„Lieber nich.“

„Na ja, das mußt du selbst wissen. Eigentlich hast du ja recht, das nützt eh nix.“

Stephan erzählte ihm, daß sie seine Mappe in die Mülltonne befördert hatten. Als beide den Klassenraum verließen, sagte Karsten: „Paß auf, wir werden folgendes machen. Ich gehe zur Haltestelle. Wenn der Schulbus kommt, hole ich die Mappe aus der Tonne und du kommst hingeflitzt. Oder warte mal, ich hab noch eine bessere Idee.“ Sie tuschelten miteinander und heckten einen anderen Plan aus.

Stephan ging vom Schulhof. Ihm fingen die Knie schon wieder an zu zittern. Langsam schritt er auf die Haltestelle zu.

Swen grölte schon von weitem: „Ach wer kommt denn da, unser kleiner Toilettentieftaucher, Freund Milchtüte!“

Stephan entgegnete ihm barsch: „Halt deine Fresse, du Arschloch!“

Swen hielt sich eine Hand vor die Stirn: „Wir werden dir dein großes Maul schon stopfen! Hier Muskeln müßte man haben, Muckis“, und wies auf seinen rechten Oberarm. „Aber beißen tuste wie en Weib, du dreckige Mistsau!“

Zusammen mit Dirk und Mirko, die gerade von der Essenhalle zurückgekommen waren, schwatzten die Drei. Auf einmal blickten sich alle zu Stephan um und rannten auf ihn los. Stephan flüchtete so schnell er konnte, bog in die Bungalowsiedlung ein, rannte den staubigen Weg entlang, bis er zu der mannshohen Kiefernschonung kam und verschwand in ihr. Er stürmte durch einen ganzen Waldabschnitt, überquerte einen Weg und kauerte sich unter einem dichten Holundergebüsch zusammen.

Die fünf Jungen hatten Stephan gerade noch in das Waldstück flitzen sehen. Am Waldrand wies Swen an, jeder solle ein Stück weiter das Dickicht durchkämmen. Wir werden dich schon kriegen, dachte Swen erregt.

Es verging eine ganze Weile, bis Stephan in der Nähe trockene Zweige knacken hörte. Er schmiegte sich dicht an den Moosboden. Eine Ameise krabbelte an seinem Arm hinauf. Mit seinem Zeigefinger schnippte er sie weg. Grashalme kitzelten an seinem Hals.

Ingo kam aus dem Wald heraus. Kurz darauf erschienen auch die anderen. Stephan spürte, wie sein Herz laut pochte und die Wangen heißer wurden. Es schien ihm, als ob Swen vom Weg aus direkt auf ihn zulief. Immer näher und näher ... doch er ging vorbei. Stephan war erleichtert.

Karsten holte die Schultasche aus der Mülltonne und versteckte sie, währenddessen Stephan verfolgt wurde. Behend griff er zwei andere Mappen, öffnete den Mülltonnendeckel und stopfte sie hinein. Zwei andere schmiß er in den Blumengarten eines angrenzenden Grundstücks. Eine landete mitten auf einer Rosenstaude. Sie brach auseinander. Die letzte schleuderte er auf das Asbestdach des Wartehäuschens. Ungesehen stahl er sich zum Schulhof zurück.

Die Mädchen, die vor der Essenhalle Gummihopse spielten, gingen, kurz bevor der Bus kam, zur Haltestelle. Als er zischend und schniefend hielt, huschten zwei Lehrer eilig von der Schule zum Bus hinüber. In den Bus eingestiegen fragte sie der Fahrer, ob noch jemand kommen würde. Einer der Lehrer antwortete: „Wer jetzt nicht da ist, hat Pech gehabt.“

Der Fahrer drückte auf einen Knopf, und die Türen schlossen sich. Der Bus fuhr an, aus dem Auspuff stieb eine schwarze Rußwolke. Swen, Marcel, Ingo, Dirk und Mirko liefen gerade den Weg zurück, als sie den Bus vorbeifahren sahen. „Scheiße“, meinte Ingo, „jetzt ist der Bus weg.“

Swen regte sich lautstark auf: „Wenn wir das Schwein morgen kriegen, machen wa kurzen Prozeß, denn weß er nich mehr wat vorne und hinten is!“

An der Haltestelle trauten sie ihren Augen nicht, die Mappen waren weg. Fluchend suchten sie sie.

Ob der den Bus etwa trotzdem erreicht hat, dachte Swen bei sich. Darauf spie er: „Der soll sich bloß morgen nicht zur Schule trauen, denn isa dran und kricht die Fresse poliert.“ Die anderen schwiegen. Zügig gingen sie die Strecke zu Fuß nach Hause. Als sie außer Sichtweise waren, folgten ihnen Karsten und Stephan.

An manchen Tagen fühlte sich Stephan schon beim Aufstehen schlecht. In der Schule war er froh, wenn er wieder eine große Pause auf dem Hof überstanden hatte, ohne daß irgend jemand ihn ärgerte. Weder Lehrer noch seine Eltern konnten ihm wirklich helfen. Maßregeln half immer nur zeitweise. Seit Stephan sich mit Karsten hielt, war es nicht mehr ganz so schlimm. Nur noch selten wurde er schikaniert.

Die Fenster im Flur, im Bad, in der Schlafstube und im Kinderzimmer hatten Heinz und Stephan fertig eingesetzt.

Heinz stöhnte: „Puh, ist das eine Hitze heute.“ Ungeschickt kramte er aus seiner Hosentasche nach seiner Uhr. „Kurz vor halb eins, komm wir machen erst mal Pause“, meinte er zu Stephan und ließ die Uhr zurück in die Tasche gleiten. Die Mieterin, die ihnen in den letzten Minuten zugesehen hatte, bot ihnen Platz in der Küche an. Beide holten ihre Brotbüchsen hervor.

Die Mieterin fragte: „Wollen Sie etwas trinken – Cola, Limo, Bier oder Kaffee?“

Heinz und Stephan antworten fast gleichzeitig: „Cola.“ Heinz fügte hinzu: „Aber kühl, wenn möglich.“

„Noch irgendwelche Sonderwünsche?“

Heinz erwiderte: „Eigentlich nicht.“

Sie stieg in den Keller hinunter und brachte die Cola.

Nach der Mittagspause wechselte Heinz das Fenster in der Wohnstube und Stephan das in der Küche aus. Stück für Stück meißelte Stephan das Fenster aus dem Mauerwerk frei, bis es sich endlich entfernen ließ. Dann löste er die Verankerungen des alten Rahmens und schlug sie mit dem Hammer krumm. Auf seinem Kopf juckten Körnchen von abgeschlagenem Putz, und unter seinen Achselhöhlen spürte er frischen Schweiß. Die brütende Hitze machte jeden Handgriff zur Qual.

Stephan nahm den alten Fensterrahmen heraus. Dreck rieselte ihm unter dem Hemd den Rücken hinunter. Für einige Augenblicke starrte er auf das Fensterkreuz und dachte über Karsten nach. Hier war es also. Was mochte Karstens Mutter Veronika Febarn in die Enge getrieben haben? Was mag durch ihren Kopf gegangen sein, überlegte er?

Stephan brachte den Rahmen aus dem Haus und stellte ihn zu den anderen an einen halb verfallenen Schuppen. Danach trug er die alten Fensterflügel hinaus.

Als Stephan die neuen Rahmen in der Küche einsetzte, half ihm Heinz beim Verkeilen. Anschließend bohrte Stephan die Löcher für die Moniereisen in den Fensterrahmen. Einmal traf er nicht genau die Fuge zwischen den Steinen in der Wand. Außerdem schnitt er die Eisenstifte mit dem Bolzenschneider etwas zu lang ab. Nur mit Mühe verschwanden die Stifte im Holz, ohne daß sichtbare Abdrücke verfehlter Hammerschläge zurückblieben. Endlich fertig verkittete er die Bohrlöcher und setzte die Flügel ein. An einem Falz mußte er noch einmal etwas nachhobeln. Dann paßte alles. Zuletzt setzte er noch das Fensterbrett ein. Nur schleppend langsam näherten sich die Zeiger seiner Uhr der Feierabendstellung, so als ob eine unsichtbare Kraft sie beständig aufhielte.

Vier Jahre nach dem Krieg kam Veronika zur Welt, und es dauerte nicht lange bis ihr Vater gen Westen in den anderen Teil Deutschlands entschwunden war. Seit dieser Zeit hatte sie nie wieder etwas von ihm gehört. So wurde sie von ihrer Mutter allein großgezogen. Dabei hatte diese allerlei Mühen zu überstehen, denn Veronika setzte zumeist ihren eigenen Kopf mit Erfolg durch. Ihr nicht gerade ungelenkes Mundwerk leistete dabei oft gute Dienste.

Nach der Schule begann Veronika eine Lehre als Verkäuferin, doch bevor sie diese beenden konnte, zog sie zu ihrem Freund nach Berlin und brach die Lehre ab. Kurze Zeit später heiratete sie ihn und brachte ihr erstes Kind zur Welt, ein Mädchen. Sie nannte es Claudia. Doch um ihre Ehe war es nicht zum Besten bestellt. Immer öfter blieb ihr Mann bei Saufgelagen hängen, das Geld wurde knapp und zuweilen kam es sogar vor, daß er sie im Elan seines Rausches verprügelte. So nahm sie Gelegenheitsarbeiten an, um zunächst erstmal an eigenes Geld zu gelangen. Viel verdiente sie nicht. Erst durch eine Halbtagsstelle in der nahegelegenen Kaufhalle konnte sie die unmittelbare Finanznot etwas dämpfen. Dort lernte sie auch Moni kennen. Wenn Veronikas Mann mal wieder über die Stränge schlug, wohnte sie oft für etliche Tage bei Moni in der Wohnung. Ihre Freundin hatte es geräumig und sich gemütlich eingerichtet. Sie konnte es sich leisten. Ihre Arbeit in der Kaufhalle war das eine, das Geld, das sie im Hotel verdiente, das andere. Mit den Männern ließ sich dort ein guter Schnitt machen, besonders das westliche Geld rechnete sich.

Es ergab sich die Gelegenheit, daß Moni und Veronika zusammen zum Hotel gingen. Es fanden sich Wege, auch für Veronika Einlaß zu erhalten. Der Barkeeper bekam seinen Obolus. Nach und nach wurde es auch für Veronika üblich, die Haushaltskasse auf diese Weise kräftig aufzustocken. Sie nahm sich eine eigene Wohnung und ließ sich von ihrem Mann scheiden, doch sein horrender Alkoholgenuß hinterließ selbst bei ihr Spuren. Auch sie fand Gefallen an diesen und jenen Getränken alkoholischer Art, in ihrem lukrativen Hotelnebenverdienst hatte sie ständig eine gute Auswahl.

In einem Tanzlokal lernte sie ihren zweiten Mann kennen. Um ihre neue Liebe nicht aufs Spiel zu setzten, beschränkte sie sich darauf, hin und wieder den ein oder anderen Stammfreier zu besuchen, natürlich ohne Wissen ihres Freundes. Erst als ihre heimliche Nebenarbeit beinahe einmal aufzufliegen drohte, ließ sie von ihr ab. Es dauerte nicht lange, und sie heiratete Herbert Febarn. Kurz danach zogen sie hinaus aus der Stadt. Sie begann als Frisöse ganztags zu arbeiten, setzte jedoch bald eine Zeit lang aus, weil Karsten, ihr zweites Kind, auf die Welt kam. Für etliche Jahre zog ganz normaler Familienalltag ein.

Irgendwann hatte es dann begonnen. Immer wieder schlichen sich kleine Streitereien in den Alltag ein. Im Betrieb wollte man Herbert auf Montagearbeit schikken, und er selbst wollte es auch, weil er dabei weitaus mehr verdienen konnte als bisher. Veronika paßte das nicht, sie sagte es nicht direkt, ließ es ihn aber spüren. Allmählich lebten sie sich auseinander. Herbert fing an, mehr seine eigenen Wege zu gehen. Er traf sich mit alten Freunden, die er lange nicht gesehen hatte, und kam auch mal ein Wochenende gar nicht nach Hause. Sie fing an, wieder stärker zu trinken. Er konnte das nicht ausstehen. Später kamen dann Seitensprünge dazu, beide hatten ihre Affären, und es ließ sich am Ende nicht mal sagen, wer den Stein ins Rollen brachte. Zwar blieben sie weiter verheiratet, doch Herbert suchte sich in der nahegelegenen Kreisstadt eine eigene Wohnung, und sie sahen sich nur noch selten.

Veronika begann wieder ihrem lukrativen Gewerbe nachzugehen. Jedoch lief es nicht mehr so gut wie vor Jahren. Jetzt nahm sie auch Freier, die sie vormals brüsk abgewiesen hätte. Ihr Körper hatte die jugendliche Anziehungskraft längst verloren. In ihrem alten Hotel bekam sie keinen Zutritt mehr, sie war zu alt. Nach und nach schaffte sie es aber dennoch, sich einen Stamm von Freiern aufzubauen. Die meisten lernte sie auf der Oranienburger Straße in Berlin kennen. Die Stammfreier, die sie zu Hause besuchte oder die in ihre Wohnung kamen, waren ihr die angenehmsten. Man wußte, mit wem man es zu tun bekam, und war aufeinander eingespielt.

An einem Sonnabend hatte Veronika ein guter Kunde aus dem Westteil Berlins zum Essen eingeladen. Sie trafen sich wie verabredet. Er war ein wenig jünger als sie und trat äußerlich gepflegt auf. Um außerhalb Berlins von der Polizei unbehelligt zu bleiben, fuhren sie mit Veronikas Wartburg zu ihrer Wohnung. Nachdem die finanziellen Angelegenheiten geklärt waren, zogen sie sich aus, badeten gemeinsam in der Wanne und überließen sich danach sexuellen Freuden.

Kurz vor Mitternacht klackte die Wohnungstür. Claudia, die Tochter von Veronika, kam von der Disko nach Hause. Sie zählte inzwischen vierzehn Lebensjahre. Wie es der Zufall so will, Veronikas Freier kam gerade aus dem Bad, nur mit einem Handtuch umschlungen, als Claudia sich im Flur ihre Jacke auszog. Daß jemand gekommen war, hatte er im Bad nicht registriert.

„Guten Abend“, entgegnete er ihr und verzog sich ins Schlafzimmer. Sie hatte ihn nur ironisch angelächelt.

„Deine Tochter, nicht wahr“, meinte er zu Veronika.

„Ja, die kommt mal wieder reichlich spät.“

„Sie wird eben erwachsen“, entgegnete er. „Im übrigen kommt sie von ihrem Aussehen her ganz nach der Mutter.“

„Kann schon sein“, meinte sie darauf und goß sich einen Likör ins Glas.

„Du auch?“

„Ja, gerne.“

Sie stießen an und tranken.