Herbsttag

Herr es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.

Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,

und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;

gib ihnen noch zwei südlichere Tage,

dränge sie zur Vollendung hin und jage

die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.

Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,

wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben

und wird in den Alleen hin und her

unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Rainer Maria Rilke

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

herausgegeben durch das Literaturpodium, Dorante Edition

Berlin 2017, www.literaturpodium.de

ISBN 9783744842280

Foto auf der Vorderseite: Anna B. Lippmann

Fotos auf der Rückseite: Reinhard Lehmitz, Sieglinde Seiler, Thomas Schiffer, Peter Luyendyk (von rechts nach links)

Alle Nachdrucke sowie Verwertung in Film, Funk und Fernsehen und auf jeder Art von Bild-, Wort-, und Tonträgern sind honorar- und genehmigungspflichtig. Alle Rechte vorbehalten. Das Urheberrecht liegt bei den Autorinnen und Autoren.

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

Gabriele Nakhosteen

Seelenherbst

Emily trat hinaus ins Freie und setzte sich auf den Stumpf einer Eiche, deren Holz James im Laufe von Wochen gehackt und für den Winter im Stall aufgeschichtet hatte. Von hier aus bot sich ihr der beste Blick auf die grandiose Natur. Links die Weite des Atlantiks mit dem nie endenden Wechsel der Gezeiten, rechts das faszinierende Farbenspiel der herbstlichen Wälder. Das Laub von Zucker-Ahorn, Erlen, Ulmen, Ebereschen und Buchen glich einem lodernden Flammenmeer. Wein- und scharlachrote, rostbraune, fahlgelbe, ocker und orange gefärbte Tönungen ergaben ein surreales Bild von derartiger Intensität, wie es kein Maler hätte schaffen können.

Mit beiden Händen umfasste Emily ihren arg verbeulten Henkelbecher und nippte am frisch gebrühten Tee. Sein aromatischer Duft mit der süßlich-fruchtigen Note wirkte besänftigend. Sie hatte viel durchgemacht, wie alle Passagiere der Mayflower, die ein Jahr zuvor an diesen Flecken, an die Ostküste der Neuen Welt, gespült worden waren. Fast die Hälfte von ihnen war im ersten Winter gestorben, verhungert oder durch plötzliche Krankheit dahingerafft worden. Ihr Mann James und sie hatten überlebt, nicht aber ihre beiden kleinen Söhne, deren sterbliche Überreste unter einem jener Bäume mit ihrer explodierenden Farbenpracht ruhten.

Die milde Septembersonne wärmte angenehm. Emily schloss die Augen und lauschte der Musik des Ozeans, dem Rauschen der Wellen, dem Kreischen und Rufen von Möwen, Fischadlern und Papageientauchern. Die Schönheit der Natur berührte ihr Herz, war tröstlich und stimmte sie hoffnungsvoll, wenn auch die Erinnerungen an das letzte Jahr nur langsam verblassten.

Zum ungünstigsten Zeitpunkt, auf dem Höhepunkt der Herbststürme, hatte der Dreimaster, der sie in eine friedliche Zukunft tragen sollte, den Ozean überquert. Orkanartige Stürme hatten die Wellen aufgepeitscht, das Schiff in die Höhe geschleudert und zurück in die Tiefe gerissen, es zum Spielzeug der Naturgewalten gemacht. In der qualvollen, stickigen Enge mit Ziegen, Hühnern, Gänsen und Enten hatten die Passagiere verzweifelt ausgeharrt und Todesangst ausgestanden. Erschöpft vor Hunger und Kälte, gezeichnet von Krankheit waren sie nach zwei Monaten voller Ungewissheit fernab des vorgesehenen Kurses vor Anker gegangen, in einer öden Gegend, die, so schien es, von Menschen aufgegeben worden war. Reste verlassener, hölzerner Wigwams, brachliegende, verwildete Felder und Gräber zeugten davon, dass einst dort ein Dorf gewesen sein musste. Ist dies das herbeigesehnte gelobte Land, hatte sich Emily ungläubig gefragt.

Schmerzliche Bilder waren geblieben, drängten sich immer wieder in ihr Bewusstsein, die bleichen, ausgemergelten Körper ihrer Söhne, ihre fiebrigen Augen, ihr leiser werdender Atem. Wenn Emily daran dachte, haderte sie mit ihrem Schicksal. Sie war nicht glaubensstark wie ihr Mann, der diese fremde, unwirtliche Scholle bedingungslos als die von Gott gegebene neue Heimat ansah.

*

„Welch angenehmer Duft.“ James hatte sich unbemerkt genähert, begrüßte seine Frau mit einer liebevollen Umarmung und setzte sich neben sie auf die Erde.

„Ein Getränk der Wampanoag“, antwortete Emily, „ich hole dir einen Becher.“ Sie lief in ihr immer noch provisorisches Siedlungshäuschen und kam mit einem zweiten Becher zurück.

„Tut gut“, nahm sie das Gespräch wieder auf. „Die Indianerfrauen haben mir gezeigt, wie man den Tee kocht. Stell dir vor, er wird aus den getrockneten Blättern der Pflanzen zubereitet, deren scharlachrote Blüten wir unten am Fluss bewundert haben.“

„Köstlich“, bestätigte James.

„Wir haben den Wampanoag viel zu verdanken“, fuhr Emily fort. „Aus eigenen Kräften hätten wir dieses Jahr nicht überlebt.“

James nickte zustimmend. Er war Puritaner, religiös und sittenstreng, aber kein engstirniger, intoleranter Sektierer wie viele seiner Glaubensgenossen, die die Indianer als unzivilisierte, heidnische Barbaren ohne jegliche Rechte sahen. James dagegen respektierte sie und wollte in Frieden mit ihnen leben.

Die Wampanoag, die seit mehr als zweitausend Jahren das östliche Neuengland besiedelten, waren im Frühjahr aus ihren landeinwärts gelegenen Winterquartieren in die Nähe des Ortes zurückgekehrt, an dem sich die Mayflower-Überlebenden niedergelassen hatten. Ihr Häuptling Wasamegin war über die Neuankömmlinge nicht erfreut gewesen. Zu häufig hatten Rauchzeichen anderer Stämme signalisiert, dass Siedler an anderen Orten unrechtmäßig Weideflächen in Besitz genommen, Felder niedergebrannt und Wälder gerodet hatten. Indes dieses elende Häufchen war zu schwach und kränklich, um ihm und den Seinen gefährlich zu werden, andererseits konnte es von Nutzen sein. Im Tausch gegen Waffen, die ihm Vorteile bringen würden im Kampf mit den kriegerischen Stämmen der Umgebung, insbesondere den übermächtigen Narragansett, hatte er den Siedlern Hilfe angeboten, damit sie in der neuen Umgebung überlebten.

„Ja“, antwortete James, „diesen Winter braucht niemand zu hungern. Wir haben alle reichlich Vorrat. Zeit, um wieder ein Erntedankfest zu feiern wie in der alten Heimat.“

„Wir sollten es zusammen mit den Wampanoag begehen“, meinte Emily.

„Gute Idee“, erwiderte James. „Ich werde es dem Rat der Gemeinde vorschlagen.“ Er trank den Rest seines Tees und erhob sich.

„Die Arbeit ruft. Ich muss die Lehmschicht unserer Hauswände verstärken. Der Winter mag wieder bitter kalt werden.“

Bevor er ging, zeigte er auf die kräftigen, breitrunden Gewächse, die mit ihrem leuchtenden Orangerot den kleinen Garten vor dem Haus übersäten.

„Und du, meine Liebe“, er zwinkerte Emily zu, „du kannst zum Fest eine ganze Kompanie mit Kürbiskuchen versorgen.“

*

Emily hatte im Sommer einen Gemüsegarten angelegt. Die Samen und Wurzeln, die sie aus der alten Heimat mitgebracht hatte, Sauerampfer und Guter Heinrich, Schwarzwurz und Schafgarbe, Kamille, Huflattich, Seifenkraut, sowie Spinat und verschiedene Kohlarten gediehen gut und waren durch einheimische Pflanzen wie Mais, Bohnen, vor allem aber Kürbisse, die Hauptnahrungsquelle im Herbst, ergänzt worden. Eine große Hilfe war ihr dabei Odakotah gewesen, ein schlanker und hochgewachsener Indianer mit bronzebrauner Haut, hohen, hervortretenden Wangenknochen und pechschwarzem, glattem Haar. Emily mochte ihn. Noch ahnte sie nicht, dass dieser scheue, zurückhaltende junge Mann bald ihr Komplize werden würde.

Emily hatte früh gemerkt, dass seinen dunklen, melancholischen Augen eine Traurigkeit innewohnte, die ihrer nicht unähnlich zu sein schien. Es hatte einige Zeit gedauert, bis ihr Odakotah den Schmerz seines Herzens offenbart hatte. Mittels Zeichensprache, Gestik und Mimik. Und doch herzergreifender als Worte es hätten ausdrücken können. Drei Jahre zuvor hatte eine unbekannte Krankheit, eingeschleppt durch europäische Abenteurer, fast seine gesamte Sippe ausgelöscht, darunter seine Frau und seinen kleinen Sohn. Sein Heimatdorf war jener verlassene Ort, auf den die Mayflower-Passagiere bei ihrer Ankunft gestoßen waren und den sie für sich vereinnahmt hatten.

Emily blickte hinüber auf die Farbenpracht der Bäume. Sie sahen mächtig, kraftvoll und mutig aus. Das gab ihr Zuversicht. So wollte sie auch sein, stark und tapfer. Dann ging sie zurück ins Haus, um James beim Verputzen der Hauswände zu helfen.

*

Entlang der Atlantikküste gab es ganze Landstriche, an denen Bäume mit ungewöhnlichem Duft wuchsen. Die Wampanoag nannten sie Pavane. Im Herbst leuchteten ihre Blätter intensiv purpurfarben. Emily kannte die Baumart nicht, hatte aber bald gelernt, dass sie den Indianern heilig war. Die Einheimischen glaubten, dass die Bäume heilende Kraft besäßen. Alle Teile der Pflanze, die dunkelblauen, eiförmigen Früchte, die gelappten Blätter, die rotbraune, dicke Borke und die Wurzeln wurden von ihnen als Allheilmittel genutzt. Sei vorsichtig mit den Extrakten der Wurzelrinde, hatte Odakotah ihr zu verstehen gegeben. Emily hatte bei den Wampanoagfrauen nachgeforscht, was es damit auf sich habe. Die Indianerinnen legten Zeigefinger und Daumen dicht aufeinander, so dass nur ein hauchdünner Spalt zwischen ihnen war, rollten verklärt mit den Augen und gestikulierten verzückt wie in Trance, zum Zeichen, dass kleinste Mengen des Extraktes eine aphrodisische Wirkung hätten. Große Mengen jedoch, angezeigt durch das Auseinandergehen der Finger und furchtsam blickende, tellergroße Augen, würden zum Tode führen. Es war vielleicht jugendliche Neugier gewesen, die Emily dazu gebracht hatte, an so einem Cocktail, der ihr von den Frauen angeboten worden war, zu nippen. Nur ein wenig. Keinen Sekundenbruchteil hätte sie damals an eine größere Menge gedacht.

Ende Oktober ging die Royal Discovery, ein englisches Handelsschiff, in der Bucht des Siedlungsgebietes vor Anker. Es war beladen mit langersehnten Gegenständen für den täglichen Bedarf. Doch das allein war nicht der Grund, warum Emily beschwingt den Waldweg vom Rande des Dorfes hinunter zum Hafen eilte, wo James mit dem Löschen der Fracht half. Die Schwingungen ihres Herzens klimperten leichtfüßig und fröhlich eine beglückende Melodie, eine musikalische Ode an das Leben. Die Natur schien Emilys Gefühle widerzuspiegeln. Kecke Strahlen der schon tieferstehenden Sonne blinzelten verzückt durch das Laub der mächtigen Bäume, brachten Millionen zarter Spinnweben ein letztes Mal zum Funkeln und tanzten mit Schatten auf dem von unzähligen, glänzend braunen Kastanien und ihren aufgeplatzten, stacheligen Hüllen bedeckten Pfad. Emily fühlte sich so glücklich wie seit langem nicht mehr. Ihre Gedanken eilten ihr voraus, zu James. Wie sehr würde er sich freuen, dass Emily guter Hoffnung war.

*

Die Royal Discovery hatte nicht nur Möbel, Hausrat, Nahrungsmittel und Waffen geladen. Der Bauch des Schiffes spülte eine weitere Welle streng gläubiger Puritaner an Land. Die meisten von ihnen waren Handwerker, Bauern oder Tagelöhner, schlecht ausgebildet, mit geringem sozialen Ansehen, bettelarm. Sie suchten für sich und ihre Familien nicht nur in religiöser Hinsicht ein besseres Leben. Das Streben nach materiellem Wohlstand war bei ihnen stark ausgeprägt und die Weite des dünn besiedelten Kontinents versprach unbegrenzte Möglichkeiten.

Der Nachschub an gesunden und tatkräftigen Glaubensbrüdern war durchaus erwünscht, denn der Handel mit der alten Welt nahm Fahrt auf. In Europa begehrt waren Pelze von Bibern, Waschbären, Füchsen, Mardern und Ottern. Mit den neuen Siedlern platzte zwar die junge Kolonie aus allen Nähten, aber Land war genug vorhanden. Hatten die ersten Pilger für ihren Besitz bezahlt, meist in Form von Waffen und Alkohol, steckten die Passagiere der Royal Discovery selbstredend Grundstücke für sich ab, ohne auch nur daran zu denken, die Ureinwohner zu fragen, geschweige denn sie zu entschädigen. Es war James, der gegen diese Praktiken wetterte.

„Es ist das Land der Wampanoag“, sagte er.

„Es ist God’s own country, Gottes eigenes Land“, war die anmaßende und selbstgerechte Antwort. „Uns, den Auserwählten, von Gott gegeben.”

„Es ist besser für uns alle, friedlich mit den Indianern zu leben“, forderte James. Doch er stieß auf Unverständnis.

„Mit heidnischen Wilden?“, fragten die religiösen Fanatiker. „Das glaubst du doch selbst nicht, Bruder.“

*

Die Nächte wurden kühler. Der Wind wuselte durch das Laub der Bäume, ließ die Blätter zur Erde schweben. Der Spätherbst kündigte unverhohlen seinen Abschied an.

Aus Rücksichtnahme erzählte James seiner Frau nichts von den schärfer werdenden Auseinandersetzungen zwischen ihm und anderen Gemeindemitgliedern. Emily war mit Vorbereitungen für das Erntedankfest beschäftigt. Ihre Vorfreude war groß, denn James hatte bereits vor Eintreffen der Royal Discovery im Gemeinderat durchsetzen können, dass die Wampanoag eingeladen wurden. Auch bei ihnen war es üblich, für eine reiche Ernte zu danken, bevor sie für den Winter wieder in mildere Regionen zogen. Emily konnte nicht nur Kürbiskuchen und Kürbissuppe zum Essen beisteuern, sondern jede Menge schmackhafter Maisplätzchen.

Die Luft roch bereits nach Winter, als Häuptling Wasamegin mit neunzig Stammesbrüdern an den Festlichkeiten teilnahm. Sie hatten das Fleisch von Hirschen, Truthähnen und Kleinwild mitgebracht, eine großzügige Geste als Zeichen für ein friedliches Miteinander. Wasamegin ahnte nicht, dass die weißen Siedler das Fest nutzten, um ihre Strategie für die Vertreibung seines Stammes aus dem wachsenden Koloniegebiet zu planen. Er merkte auch nicht, dass James seinen Zorn über die Habgier seiner Landsleute und deren Skrupellosigkeit kaum verbergen konnte, dass er mit seinen Glaubensbrüdern heftig aneinander geriet.

*

Bevor die Wampanoag mit dem Essen begannen, zündeten sie ein Feuer an, um das sie im Kreis tanzten. Sie beendeten dieses Ritual, indem sie getrocknete Cranberries, Früchte, die sie als Nahrungsmittel und Medizin nutzten, zusammen mit Getreidesamen vier Mal um den Rand des Feuers warfen, so dass sie brannten und dadurch in die Luft und die vier Himmelsrichtungen getragen wurden. Diese Nahrung war für die Geister ihrer Verstorbenen gedacht. Erst dann begannen sie selbst zu essen.

Drei Tage und zwei Nächte verbrachten Wampanoags und Siedler miteinander und maßen sich in Wettkämpfen und auf der Jagd. Während die Kolonisten von ihren Gewehren Gebrauch machten und damit die Tiere oft aufscheuchten und vertrieben, benutzten die Wampanoags zum Jagen Pfeil und Bogen oder Speere. Der Schaft ihrer Geschosse war aus dem Holz des Holunders gefertigt, an dem an einem Ende eine Pfeilspitze mit Sehnen befestigt wurde. Gejagt wurden Hasen, Streifenhörnchen, Kaninchen, Weißwedel- und Maultierhirsche sowie die großen Wapitis. Wenn die Indianer sich an große Tiere heranpirschten, bedeckten sie sich mit einem Tierfell und machten die Bewegungen des zu jagenden Tieres nach. Dadurch kamen sie ihm nah genug, um es erlegen zu können.

Als die letzte Jagd beendet war, versammelten sich Ureinwohner und Siedler nochmals für eine Mahlzeit um das Feuer. Einer fehlte. James war nicht zurückgekommen.

Es dunkelte bereits, als sich Emily, besorgt und ängstlich, mit den Wampanoags auf den Weg machte, um James zu suchen. Zunächst bemerkte sie kaum, dass Odakotah sie zielsicher in das Waldgebiet führte, wo ihre Kinder begraben waren. Das Laub raschelte unter ihren Füßen, durch die lichten Baumkronen tat sich die Weite des sich verdunkelnden Firmaments auf. Abrupt stoppte der Trupp. Unter einer mächtigen Roteiche, die ihre Äste schützend über die Gräber von Emilys Kindern breitete, lag James. Ungläubig starrte Emily auf ihren toten Mann. Er war rücklings erschossen worden.

*

Emilys Trauer war kaum zu beschreiben. Alles Hoffen, ihre Gebete, ihr Glaube waren umsonst gewesen. Trost fand sie nicht, wohl aber den Namen des Mörders und den Grund für seine Tat. Odakotah hatte während der Jagd von weitem beobachtet, wer James gnadenlos hingerichtet hatte. Den Konflikt, den er mit seinen fanatischen Glaubensbrüdern ausgefochten hatte, wurde ihr erst angesichts seines Todes langsam bewusst. Es war unfassbar, dass der Mörder seine Tat wohlmöglich auf Geheiß anderer Gemeindemitglieder begangen hatte.

Die bigotten Trauerreden nahmen Emily den Rest ihrer Frömmigkeit. Ihre Traurigkeit schlug um in Abscheu und blanke Wut. Rache war ein unchristlicher Gedanke, doch der einzige, den Emily zuließ. Es gab nur einen, der ihr helfen konnte, Odakotah. Ihre Blicke verstanden sich. Es bedurfte keiner Worte, damit Odakotah, der Indianer mit den dunklen, melancholischen Augen, aus der Wurzelrinde eines Baumes mit ungewöhnlichem Duft einen potenten Extrakt herstellte und die helle Flüssigkeit vermischt mit gesundem Cranberry-Saft beim Leichenschmaus unbemerkt auf den Tisch des Mörders stellte. Am nächsten Morgen war ein weiterer Toter zu beklagen. Die Ursache seines plötzlichen Hinscheidens konnte nicht geklärt werden.

Die Bäume hatten ihr Laub verloren. Fast gespenstig ragten die schwarzen Äste in den frostig-kalten Himmel. Von Bord der Royal Discovery blickte Emily noch einmal hinüber zu dem Ort, an dem sie Kinder und Mann zurückließ.

„Die Neue Welt ist keine bessere Welt“, sagte sie, als sie God’s own country den Rücken kehrte.

Gudrun Baruschka

Rügenherbst

Wie Fremde liefen sie nebeneinander im lichten Kiefernforst, vermieden Berührungen und Blicke. Über die Wipfel ging der Wind. Karen wusste: sie mussten sich endlich aussprechen. Gut war, dass Lutz sie begleitete und sie nicht, wie unzählige Male vorher, allein mit den Kindern zum Strand hatte gehen lassen. Sein Gesicht aber war gleichgültig wie seit Wochen. Vielleicht täuschte sie sich, wenn sie annahm, dass er heute mit sich reden ließ. Wie zugeschnürt war ihr die Kehle, und alle Argumente schienen sich heillos in ihrem Hirn verkeilt zu haben. Sie schluckte heftig und setzte sich eine letzte Frist: Wenn wir die Dünen erreichen, fange ich an.

Lutz spürte die Unruhe seiner Frau seit sie mit den Kindern nach dem Frühstück losgezogen waren; er mochte jedoch nicht fragen, geschweige denn reden. Ihm war nur danach, diesen frischen, reifen Oktobertag mit Haut und Haaren in sich aufzunehmen, sich sattzusehen an nebligen Wiesen, fruchtbaren Äckern, an stillen Buchten und schimmerndem Feuersteingeröll. Eventuell schafften sie es auch bis zum steil aufragenden Hochufer, aber ganz sicher erreichten sie bald flachen Sandstrand mit tosender Meeresbrandung. Er war lange nicht mehr mitgegangen, wenn Karen und die Kinder Inselspaziergänge unternommen hatten, und merkte jetzt, dass er sich selbst damit wehgetan hatte. Er liebte die Insel seit ihrer Hochzeitsreise hierher. Hier zu leben, diesen Traum hatte er sich verwirklicht seit dem Mauerfall. Aber um welchen Preis ... Dumpfe Bitterkeit spürte er aufsteigen. Er ballte die Hand in der Hosentasche zur Faust. Dabei berührte er ein Stückchen Papier und unterdrückte ein Stöhnen. Nein, Karen sollte nicht merken, wie es wirklich stand. Er hatte alles verloren; es blieb ihm nichts! Seinen stummen Schrei riss ihm der Wind fort. Die wenigen Buchen seitwärts schützten nicht mehr. Die Kinder tobten längst in den Dünen. Er sah Kai wie ein übermütiges Fohlen durch den hüfthohen Strandhafer jagen und Jenny haschte nach ihm und hielt sich lachend die wehenden Haare aus der Stirn. Leiser Zweifel zerfraß seine schweren Gedanken. Die beiden und Karen gehörten ja zu ihm; war ihr Leben nicht auch irgendwie seines?

‚Jetzt‘, befahl sich Karen trotzig. Ihre Schuhe sanken in den hellen weichen Dünensand. Es lief sich nun viel schwerer als auf erdigem Waldboden. Der auflandige Wind fuhr einem ins Gesicht und zerrte an der Kleidung. Karen fühlte sich seltsam atemlos, als hätten ihr Sand und Wind schon in den wenigen Minuten alle Kraft und allen Mut genommen. Sie beobachtete die fröhlichen Kinder und sagte endlich: „Schön, dass wir uns heute die Zeit füreinander nehmen können ... Lass uns reden über alles ... und wenn du‘s nicht willst, so höre mir bitte zu und versuch mal, ehrlich darüber nachzudenken.“

Karen fürchtete sich vor der Antwort ihres Mannes, die vielleicht hässlich sein und schmerzen oder ausweichend gleichgültig sein würde. Je länger er schwieg, umso mehr war sie auf alles gefasst. Sie starrte in die wogenden Dünenwellen und spürte tief drinnen und dunkel die plötzliche Erkenntnis, dass sich nun wohl auch das letzte Band zwischen ihr und Lutz lösen würde, wenn er jetzt nicht zu sich kam.

Lutz durchwühlte sein blondes Haar. Er hatte sich abgewandt und suchte mit heißen Augen am Horizont hinter den Dünen nach dem Anblick der See. Doch sie waren zu weit entfernt stehengeblieben. Von hier aus hörte man noch nicht einmal das Rauschen der Brandung. Aber stolze, schöne Möwen segelten im Grauhimmel. Karen kam ihnen gleich, fiel ihm auf. Sie ließ sich anscheinend von keinen Widrigkeiten schrecken. Im Auf und Ab ihrer zwanzig gemeinsamen Jahre hatte er erfahren, dass er ihr unterlegen war, wenn sie über Probleme diskutierten, dann blieb ihm oft ein schaler Beigeschmack, gegen sie verloren zu haben. Sollte er es wieder darauf ankommen lassen? Wenn er aber nicht aufgeben wollte, musste er kämpfen, und dazu gehörte reden und vielleicht auch verstehen. Er atmete tief durch. „Gut, versuchen wir‘s.“

Karen war sehr erleichtert, obwohl nun das Schwerste kam ...

Im stillen Einvernehmen durchquerten sie langsam die Weißdünen, griffen nach dem biegsamen Strandhafer und unterhielten sich zögernd, vorsichtig nach Worten suchend, um den anderen nicht durch unbedachte Vorwürfe zu reizen. Kai und Jenny spielten schon am Strand; sie konnten ihr Jauchzen hören. Karen hatte ihnen erlaubt, mit den Beinen ins Wasser zu gehen, fürs Baden wurde es nun zu kalt.

„Weißt du noch, wie die Ostsee stürmte, als wir zum ersten Mal mit den Kindern hier waren?“

Lutz nickte. „Meterhohe schäumende Wellen ... und im Wind ‘ne Menge kreischender Möwen“, erinnerte er sich.

„Weißt du noch, was wir uns damals geschworen haben?“

Lutz nickte wieder. „Wenn solch ein Sturm in unser Leben bricht, überstehen wir ihn gemeinsam, Rücken an Rücken, Hand in Hand, Herz an Herz.“ Die letzten Worte flüsterte er nur.

„Dein Zettel“, sagte er dann, „Ich hab ihn noch.“

Er zog das abgegriffene Papier hervor, das er vorhin im Kiefernwald in seiner Tasche gespürt hatte. Ihre Finger berührten sich, als Karen es glattstrich.

„Ich konnte nicht auf dich zugehen, konnte nicht damit fertigwerden, was uns passiert ist. Ich bin ja schuld an allem“, sagte Lutz rau. „Ich hatte die Idee, nach Rügen zu ziehen und das alte Bauernhaus zu kaufen und umzubauen. Ich habe den Bankkredit aufgenommen, weil die Firmen zu bezahlen waren, denn allein mit unserer Hände Arbeit wären wir heut noch nicht fertig ... und dann hab ich meine Arbeit verloren ... ich, ich, ich!“

Wütend stieß er seine Schuhspitze in den Sand, der aufstäubte und davonwehte. Karen legte ihm die Hand auf den Arm und schaute in sein finsteres Gesicht.

„Beruhige dich doch. Du siehst das ganz falsch. Dass wir auf Rügen leben, ist auch meine Entscheidung. Und sie war richtig. Schau doch, wie glücklich die Kinder aufwachsen, wie frei von Großstadtzwängen und naturverbunden wir hier jeden Tag verbringen im Gegensatz zur Neubauwohnung damals in der fünften Etage, mit zehn Mietparteien, zugigen Neubauvierteln und den wenigen Straßenbäumen.“

„Aber wir hatten beide Arbeit! Steckten finanziell nicht in der Klemme!“

„Lutz, dass wir uns mit dem Umzug und dem Umbau finanziell und nervlich arg belasten würden, das hatten wir doch einkalkuliert. Der Kredit läuft ja auch auf meinen Namen. Bis letztes Jahr haben wir noch alle Schwierigkeiten gemeinsam getragen und uns an jedem Stück, das fertig wurde, gemeinsam gefreut; neues Dach, neue Fenster, ein richtiges Bad, die Etagenheizung ... Hast du das Gefühl der Genugtuung und Freude vergessen? Jeder Ziegelstein, jedes Holzbrett ist mit unserem Schweiß getränkt ... Eh, ich bin so stolz darauf!“

„Aber im Februar“, Lutz brach ab, ließ Karen stehen und stürmte voran. Sie holte ihn ein und versuchte schrittzuhalten. Die Dünen hatten sich geöffnet, waren lang ausgelaufen. Ein fast steinfreier Strand lag vor ihnen und eine graugrüne See, die mit weißen Schaumkämmen heranrollte, sich widerwillig zurückzog, um erneut aufs Ufer vorzustoßen. Sie sahen Kai und Jenny mit aufgekrempelten, doch mittlerweile bespritzten Jeans im Wasser waten. Aus ihren erhobenen Händen rannen Tropfen; es blieb faseriger Tang, mit dem sie den Eltern zuwinkten. Karen winkte ebenfalls, Lutz aber fuhr aufgebracht fort: „Als ich die Kündigung bekam, ging nichts mehr ... Du weißt ja nicht, wie das ist, wenn du plötzlich nicht mehr gebraucht wirst und sie dich fortwerfen, wie einen nutzlosen alten Lappen!“

Es stimmte. Karen hatte ihre Arbeit sofort nach dem Umzug wieder aufnehmen können. Lutz hingegen hatte ganz neu anfangen müssen in einer Baufirma. Die hatte ihn wegen angeblichen Auftragsmangels noch nicht einmal ein Jahr lang behalten. Karen erinnerte sich fast minutiös an diese Wochen. „Du bist früh wortlos aus dem Haus gegangen und erst spät in der Nacht ebenso wortlos heimgekehrt. Und deine stumme Bitternis wuchs an, je mehr Absagen du auf deine Anfragen hin erhieltest und die Jahreszeiten wechselten...“

„Braucht denn einfach keine der Firmen hier einen kräftigen zupackenden Mann?! Nicht nur für zwei, drei Wochen mal, sondern der wieder zum festen Personal gehört! Weil man sich auf ihn verlassen kann?! Ich hab‘s noch nicht einmal richtig beweisen können!“ Lutz schrie es verzweifelt, starrte in den wolkendurchzogenen Himmel. Und nach einer ganzen Weile: „Anscheinend nicht!“

„Aber ich brauche dich. Die Kinder brauchen doch“, flüsterte Karen am Rande der Tränen. „Du hast uns so alleingelassen, Lutz.“

Jenny und Kai bauten währenddessen Sandburgen und störten das Gespräch ihrer Eltern nicht.

„Glaubst du, dass sie sich wieder vertragen?“, fragte der Junge halblaut. „Ich weiß nicht“, murmelte Jenny beklommen, „ich hab Angst, dass sie sich scheiden lassen.“

Inzwischen saßen sich Karen und Lutz auf einem verästelten rindenlosen Baumstamm gegenüber, den man im Sommer hierhergetragen hatte, damit Urlauberkinder darin umherklettern konnten. Karen sah aus den Augenwinkeln das ernste Gesicht ihrer Tochter und wusste wieder, dass es richtig war, mit Lutz zu reden, egal, wie es ausgehen würde.

„Alleingelassen? Ich war doch immer zu Hause!“, höhnte er.

„Das schon, aber du hast ja nur vor dem Fernseher gehockt. Arbeiten in Haus und Hof sind liegengeblieben. Wenn ich aus dem Büro kam, habe ich eingekauft... die Küche aufgeräumt ... die Betten gemacht ... nach den Schulaufgaben der Kinder gesehen ...“ Sie weinte nun wirklich leise. „Ich war so ohnmächtig. Du hast dich so verändert ... bist so fremd ...“

„Am Boden zerstört, Karen, einfach fertig mit der Welt. Fernsehen hat nur abgelenkt, war wie eine Droge für mich ... musste nicht mehr nachdenken. Und du warst so geschäftig und beansprucht, bist gegangen und gekommen, da kam ich mir so überflüssig vor ... und was sollte ich reden, du weißt, dass ich mich nie so ausdrücken kann wie du ...“

„Mensch Lutz, ich hab mich doch nur bemüht, unseren familiären Alltag im Auge zu haben, unseren Weg, unsere Ziele ... aber ohne dich schaffe ich‘s nicht ... bitte komm zurück in unser Leben, egal, wie schwer es jetzt ist ... wird ... wir bieten die Stirn, stemmen uns dagegen, gemeinsam, dann schaffen wir alles ...“

Lutz hörte ihre Angst und Verzweiflung, sah ihren Kummer, ihre Entschlossenheit. Verglich sie unwillkürlich wieder mit den Möwen. So wild. So frei. Wenn sie fortwollte. Hatte er fortgewollt? Er beugte sich zu Karen hinüber und fasste nach ihren Händen. Sie waren kalt. Seine Gedanken und Gefühle wirbelten durcheinander, ließen ihn abwechselnd schwitzen und erschauern, so als schmelze in seiner Brust ein Eispanzer und er begänne, wieder sein Herz zu spüren und das, was es ihm sagte. Antworten konnte er noch nicht. Schloss Karen nur fest in seine Arme.

Sehr viel später wurde ihnen beiden bewusst, dass sich auch Kai und Jenny in ihre Umarmung gekuschelt hatten.

Peter Lechler

Renten-Zirkus

Petras Prozess gegen die Deutsche Rentenversicherung (DRV) vor dem Sozialgericht in Speyer war im Frühjahr 2016 verloren. Das Gericht sah ihr berufliches Leistungsvermögen zwar als „mannigfaltig und erheblich eingeschränkt“ an, aber nicht so gravierend, dass ihr nicht Arbeit als „einfacher Pförtner“ zugemutet werden könne. So einen Job zu ergattern, kam für sie als 63jährige mit Handicaps der Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen gleich. Dafür jedoch war die DRV nicht zuständig. Ihr ging es allein um Art und Ausmaß von Petras Einbußen, und die ließen dem Urteil zufolge noch leichte Tätigkeiten sogar ganztags zu. Wiederholtes Heben und Tragen von fünf bis zehn Kilo schweren Lasten, ständige Arbeit in Kälte, über Kopf und auf Leitern, Spätschicht sowie vermehrte psychische Belastung seien dagegen nicht mehr zumutbar. Zur Vermittlung von Jobs aber war die Agentur für Arbeit (weiter meist nur Agentur genannt) verpflichtet, die sich nunmehr um ihre Eingliederung zu kümmern hätte.

Diesen Ausgang erfuhr Petra zwar nicht als niederschmetternd, wenn er sie auch enttäuschte und ihr zu allem Übel noch suggerierte, Beschwerden aufgebauscht zu haben, obschon die ja jeden Tag präsent und für sie absolut real waren. Zweimal hatte sie gar in die Notfallambulanz gemusst, weil sie ihren Kopf nicht mehr drehen konnte und höllisch darunter litt. Vielleicht wäre der Prozess anders ausgefallen, hätte das Gericht keinen auf objektive Daten fixierten Orthopäden, sondern einen Schmerztherapeuten als Gutachter bestellt, aber sei’s drum, jetzt würde sie sich auf die neue Lage einstellen.

Sie hatte alles versucht, ihre Beschwerden an der ganzen Wirbelsäule, Schlüsselbein, Hüfte und Bein in den Griff zu kriegen, dass sie ihre Arbeit möglichst dauerhaft wieder bewältigen könnte: Spritzen, Pillen, Strahlen, Nadeln, Physio- und Stoßwellen-Therapie, letztere auf ihre Kosten, wie auch stationäre Behandlung in der orthopädischen Klinik, das ganze Programm eben. Der Erfolg war mäßig, die Prognose bei gewohnter Belastung schlecht, so dass ihr der Orthopäde schließlich empfohlen hatte, Rente wegen Arbeitsunfähigkeit, wie es früher hieß, zu beantragen.

Dem wohlmeinenden Rat zu folgen, hatte ihr Fremdes und Schwieriges abverlangt, vor allem sich hartnäckig zur Wehr zu setzen, und das obwohl Petras Nacken doch lädiert war! Ihr Antrag auf „Erwerbsminderungsrente“ von der DRV abgelehnt, hatte sie Widerspruch eingelegt und als auch der abgewiesen wurde, Klage vor dem Sozialgericht erhoben. Vorsorglich - es war ja nicht ausgemacht, dass sie die Rente bekäme - hatte sie noch im Dezember 2015 rechtzeitig den Antrag auf Arbeitslosengeld bei der Agentur in Neustadt gestellt, da sie am 25. März 2016 ausgesteuert würde. Mit Erhalt dieser Leistung wäre sie dann auch weiterhin krankenversichert.

Da lauerte auch schon das nächste Problem: Sie würde von der Agentur kein Geld kriegen, solange nicht feststand, ob sie dem Arbeitsmarkt, wenn auch eingeschränkt, wieder zur Verfügung stand. Wenn sie jedoch voll arbeitsunfähig wäre, müsste sie nach Vorschrift des Sozialgesetzes (SGB III, § 145) Arbeitslosengeld als „Nahtlosigkeitsleistung“ erhalten, bis der weitere Verlauf geklärt wäre. Die Arbeitsvermittlerin der Agentur empfahl Petra, sich besser gleich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen, dann gäbe es mit dem Geld keine Komplikationen. Die Anwältin jedoch drängte sie, die Nahtlosigkeitsleistung zu beantragen, solange der Prozess noch lief. Auf volle Erwerbsminderung zu klagen und sich gleichzeitig dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen, passe wie die Faust aufs Auge!

Gesagt, getan. Nun aber wollte die Arbeitsagentur selbst überprüfen, ob Petra wirklich arbeitsunfähig war, und verlangte die Beantwortung eines Gesundheitsfragebogens, ärztliche Nachweise und eine Vorstellung bei ihrem medizinischen Dienst. Ein Termin bei dem könne dauern, unkte die Arbeitsvermittlerin, obwohl doch bis zur Aussteuerung, dem 25. März 2016, die Frage ihrer Arbeitsfähigkeit geklärt sein müsste, dass Petras Unterhalt und Weiterversicherung garantiert wären. Es war nun schon Anfang März und ein Gutachten des Arbeitsamtsarztes nicht abzusehen. Da platzte Jonny der Kragen. Er rief bei der vorgesetzten Agentur in Mainz an und haute kräftig auf den Putz. Neustadt solle sich gefälligst mit der Prüfung beeilen, sonst würde seine Frau in der Luft hängen und er müsse der Agentur für Arbeit Untätigkeit vorhalten.

Auf einmal lief alles wie am Schnürchen, Petra wurde kurzfristig zum ärztlichen Dienst nach Landau - Neustadt hatte keinen eigenen - bestellt, das nötige Gutachten könnte also doch noch rechtzeitig fertig werden. Sie atmeten auf! Nach freundlichem Empfang und Anhörung kam der Schock: „Ich werde kein eigenes Urteil abgeben, ich will mich ja nicht in ihren Prozess einmischen. Das Sozialgericht entscheidet sowieso bald über ihre Arbeitsfähigkeit und das anhand unabhängiger Gutachten.“

Das Kämpfen und Bangen hätten sie sich sparen können, sie waren keinen Schritt weiter gekommen. Der Agentur fehlte ein verbindliches Vorgehen, wie ihr Problem gesetzeskonform zu lösen war, oder die Mitarbeiter hatten keine Ahnung! In dieser Sackgasse bat Jonny Petras Krankenkasse um Hilfe. Die sagte ihm unbürokratisch zu, dass Petras Versicherung bis zum Prozess-Ausgang weiterlaufen könne, der sei ja absehbar. Für die Beiträge müsse sie vorerst selbst aufkommen, da er privat versichert sei, bekomme die aber nach Klärung ihres Falls zurück erstattet. Das ging ja nochmal gut aus!

Wenig später, kurz nach Petras Aussteuerung, teilte das Sozialgericht mit, dass es ihre Klage abweisen werde und eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung beabsichtige, wenn die Klägerin nichts dagegen einzuwenden hätte. Auf die Möglichkeit, noch einen Gutachter, diesmal einen ihrer Wahl, hinzuzuziehen, was das Verfahren zuließ, verzichtete Petra, da dies Jonny wie ihre Anwältin für vergeblich hielten. Zudem würde es die Sache weiterhin in der Schwebe halten, und davon hatte sie nach 14 Monaten Streit mit der DRV die Nase voll. Petra gab sich geschlagen.

Wenigstens war jetzt klar, dass sie, für arbeitsfähig befunden, ganz normal Arbeitslosengeld bekomme. Umgehend die Agentur Neustadt informiert, erhielt sie einen Eiltermin, um mit der Arbeitsvermittlerin ihre Wiedereingliederung ins Erwerbsleben anzubahnen. Dabei stellte sich Petra dem Arbeitsmarkt für leichte Tätigkeiten mit 15 Wochenstunden zur Verfügung, mehr traute sie sich nicht zu - der verlorene Prozess hatte sie ja physisch nicht aufgepeppt. Sie unterschrieb eine dem entsprechende Vereinbarung und wurde darauf hingewiesen, dass mit Stellenvorschlägen der Agentur zu rechnen sei, auf die sie zeitnah reagieren müsse. Zudem habe sie sich auch selbstinitiativ zu bewerben, mindestens viermal bis zum nächsten Termin in acht Wochen. Ein Formular für „Eigenbemühungen“ werde ihr zugeschickt.

Petra geriet ins Grübeln: Nunmehr fast eineinhalb Jahre krank, wollte sie endlich Klarheit haben, wie es in punkto Arbeit mit ihr weitergehe. Ihre Hoffnung auf Erwerbsminderungsrente gestorben, die Suche nach einer „leidensgerechten“ Stelle aussichtslos und die Rückkehr in ihren Job zwar möglich - man hatte ihr nicht gekündigt -, aber gesundheitlich nicht zumutbar, beschloss sie, dann eben mit 63 in Rente zu gehen und den Abschlag in Kauf zu nehmen, 9,3 %, wie der Rentenberater der DRV vor Ort erklärte. Der Riesenvorteil, sich nicht mehr quälen zu müssen, machte den Abschlag allemal wett. Es war Frühjahr und im Herbst schon könne die Rente beginnen, das war doch überschaubar. Der rührige DRV-Berater machte gleich den Antrag fertig und sie fackelte nicht lange, sondern unterschrieb. Das halbe Jahr unter der Fuchtel der Arbeitsagentur würde sie schon rumkriegen.

Der Gedanke ans Ende der Arbeitsbelastung machte Petra froh, obschon sie gerne gearbeitet hatte und ihren Betrieb sicher vermissen würde, aber alles konnte man halt nicht haben. Vor ihrer Erkrankung hatte sie 26 Jahre im Verkauf gearbeitet und sich dort alles in allem wohl gefühlt. Bei den Kunden, für die sie immer ein offenes Ohr hatte, war sie besonders beliebt. Ihre Fragen „Zu welchem Produkt würden Sie mir raten?“, „Wo find ich dies, wo jenes?“ half sie stets lösen, selbst wenn sie die Ratsuchenden quer durch den Markt führen musste. Nur wenige Kolleginnen machten das. „Schön, dass Sie da sind!“, hörte sie nicht selten. Manchmal wurde sie gar ins Vertrauen gezogen und nahm so an Wohl und Wehe von Kunden Anteil. Wenn nur die körperlich schwere Seite ihrer Arbeit nicht gewesen wäre. Neben Kassieren und Beraten war sie für Präsentation und Ordnung eines langen Gangs mit seinen Produkten vom Salz bis zum Reis verantwortlich. Säcke und Eimer bis zu 15 Kilo mussten immer wieder von den Paletten ins Regal geräumt werden, oft von der Leiter aus. Gerne hätte sie sich im Betrieb umsetzen lassen, aber der zuständige Personaler hatte ihr nach Rücksprache mit dem Chef schriftlich mitgeteilt, dass eine an ihre Belastbarkeit angepasste Tätigkeit nicht möglich sei. Ob es am Willen oder an Ideen fehlte, ihr entgegen zu kommen, war unklar, es ging halt nicht.

Auch der Kontakt zu den Kolleginnen und Kollegen würde ihr fehlen, obwohl sie den im Grunde zwiespältig empfand. Einerseits war der recht nett, andererseits spürte sie auch Neid, weil sie viel jünger und noch recht adrett aussah und einen gut situierten Mann geheiratet hatte. Vielleicht fände sie ja einen Minijob im Verkauf in Wohnort-Nähe, das wäre mehrfach attraktiv: wegen des Zubrots, des Gefühls, noch gebraucht zu werden, nicht zuletzt der Sozialkontakte wegen.

Nach der Entscheidung, mit 63 in Rente zu gehen, und der Bestätigung der DRV, die ab dem 1. Oktober 2016 auch zu kriegen, hatte sie umgehend ein Kündigungsschreiben aufgesetzt, um ihren Chef über den neusten Stand zu informieren. Der sollte endlich ihre Planstelle neu besetzen können, statt mit Vertretungen hantieren zu müssen. Auf Anraten ihres Mannes gab sie den Brief persönlich ab.

„Was steht da drin?“, fragte der hinter seinem Schreibtisch.

„Lies es, bitte!“

Sehr geehrter Herr Hammer, hallo Chef,

nach langer Krankheit und ungünstig verlaufenem Rechtsstreit mit der DRV habe ich heute beim Rentenberater die Entscheidung getroffen, mit 63 Jahren in Rente zu gehen. Bis dahin stehe ich dem Arbeitsmarkt nur noch in qualitativen Grenzen zur Verfügung, da schwere körperliche Arbeit nicht mehr möglich ist.

Wie Du weißt, hatte ich mich bereit erklärt, eine leichtere Tätigkeit im Betrieb auszuüben, aber nach Auskunft des Personalchefs, der Rücksprache mit Dir gehalten hat, war keine Umsetzung möglich. Das fand ich sehr schade und für mich als 26jährige Kraft, die immer ihr Bestes gegeben hat, sehr unschön. Ich hatte mir wahrlich einen anderen Abgang vorgestellt. Offenbar klaffen Geschäftsinteressen und Mitarbeiterfürsorge auseinander.

Folglich beantrage ich hiermit, mein Arbeitsverhältnis zum 30.09.2016 aus gesundheitlichen Gründen aufzulösen.

Mit freundlichem Gruß

Petra Pendel

PS: Ich bitte um Ausstellung eines Zeugnisses

Während er las, legte sich seine Stirn in grimmige Falten: „Das Gesülze mit der Fürsorge hättest du dir sparen können! Warum hast du nicht mit mir geredet?“ Mit Petras Kündigung hatte der wohl nicht gerechnet!

„Was hätte das genützt? Der Personalchef hat mir ja dein Urteil vermittelt, dass es keine leichtere Arbeit für mich im Markt gibt.“ Jetzt wollte der ihr noch ein schlechtes Gefühl machen, ihr gar Schuld an der Situation geben. Wenn er eine Möglichkeit gesehen hätte, sie zu entlasten, hätte er doch den Mund aufmachen können. Nein, den Schuh würde sie sich nicht anziehen!

„Hast du auch den Nachsatz gelesen?“

Genervt erhob sich der Chef und bellte: „Ob ich dir ein Zeugnis ausstelle, werd’ ich mir noch überlegen.“

Petra war wie vor den Kopf geschlagen. Sie drehte sich auf dem Absatz herum und ließ den bissigen Hund wortlos stehen. Dass die Begegnung nicht leicht werden würde, hatte sie geahnt, nicht umsonst hätte sie die Kündigung lieber per Post geschickt. Aber dass der eingeschnappt war und so patzig, geradezu fies reagierte, übertraf ihre Befürchtung noch. Da hatte sie sich für den Betrieb krumm gelegt, hatte in den Jahren einiges „mitgemacht“, zum Beispiel wenn sich der Chef, frustriert, mit dem Stapler in den Warengängen abreagierte und dabei so manches zu Bruch ging - „Petra, putz das mal auf!“ -, wenn er ihr gut gelaunt „Petra-Schnucki“ zurief, dass die Kunden lachten und sie sich am liebsten in einem Loch verkrochen hätte, wenn er ihr auf der Leiter heimlich zu nahe kam - fast schämte sie sich dafür und verdrängte die Vorfälle gleich wieder. Trotz alledem mochte sie ihren Chef, mit der Zeit waren sie irgendwie zusammengewachsen. Nach einem Schicksalsschlag mit langem Arbeitsausfall hatte er sie nicht entlassen, auf Fortbildung für den Betrieb hatte er sie geschickt - Zielvereinbarungen mit dem Personal, eigentlich sein Thema - und so weiter. Zum letzten Betriebsfest hatte sie Mut gefasst und mit ihrem Mann zusammen ein launiges Gedicht auf ihn verfasst und es nach einem Glas Sekt gegen das Lampenfieber selbst vorgetragen, eine verkappte Laudatio gewissermaßen.

Dann kam die Erkrankung. Natürlich hatte sie ihre Rechte als Arbeitnehmerin gewahrt und dem Chef nicht alles offenbart, was sie in punkto Erwerbsminderung versuchte, obwohl er über ihre Pläne zeitnah ins Bild gesetzt werden wollte. Als sie ihn einmal im Betrieb aufsuchte und ihre Beschwerden ansprach, war er kurz angebunden. Zwei seiner Sätze waren bei ihr hängen geblieben: „Jeder hat was“ und „Das interessiert mich alles nicht, ich will nur wissen, ob du wiederkommst!“ Anteilnahme Fehlanzeige! Und jetzt ließ er sie abfahren und benahm sich wie die Axt im Walde, verstieg sich sogar dazu, ihr Recht auf ein Zeugnis infrage zu stellen wie ein Gutsherr, der über Anliegen von Knecht und Magd nach Belieben entschied. Sie hätte wahrlich einen anderen Abgang verdient. Wehmut, ja Traurigkeit wollte von ihr Besitz ergreifen. Sie müsste das alles verdrängen, besser noch loslassen, sonst würde es sie immer weiter nach unten ziehen.

Jedenfalls stand sie dem Arbeitsmarkt nun wieder zur Verfügung, wenn auch nur eingeschränkt, mit 15 Wochenstunden und lediglich für ein halbes Jahr. Ihre Arbeitsvermittlerin hatte betont, dass sie sich natürlich nicht so um sie kümmern könne wie um einen Familienvater. Das hatte Petra auch gar nicht erwartet, musste doch allen Beteiligten klar sein, dass sich kein Betrieb um eine behinderte Frau Ü 60 reißen würde, die nach sechs Monaten sowieso in Rente ginge! Ihr kam das vielmehr gelegen, ehrlich gesagt war sie gar nicht scharf darauf, vor dem Herbst noch einmal zu arbeiten.

Als der Bescheid der Agentur eintraf, stellte Jonny fest, dass Petras Arbeitslosengeld gekürzt war. Da sie bis zu ihrer Erkrankung 24,7 Wochenstunden gearbeitet hatte, sich künftig aber nur für 15 Stunden zur Verfügung stellte, wurde ihr dafür fast ein Drittel der Leistung gestrichen. Diese Konsequenz hatte die Arbeitsvermittlerin bei ihrer Beratung geflissentlich unter den Tisch fallen lassen, dem Spruch gemäss „Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing“. Erneut half Jonny seiner Frau dabei, die Kürzung nicht hinzunehmen, sondern Widerspruch einzulegen und sich nach dem jüngst ergangenen Urteil wieder für einen 24,7-Stunden-Job zu bewerben. Darauf stellte die Agentur Petra einen Änderungsbescheid zu, der ihr Geld entsprechend erhöhte, aber erst ab dem Datum ihres Widerspruchs. Für die 14 Tage davor bekam sie nur die gekürzte Leistung, immerhin ein Minus von knapp neunzig Euro. Die Sache so „bereinigt“, hielt die Agentur Petras Widerspruch für hinfällig.

Nach dem ganzen Stress war den beiden nach Erholung zumute, die sie sich am Meer erhofften. Also stellte Petra den Antrag auf zwei Wochen Urlaub mit Verweis auf ihre seelische Verfassung nach dem erschöpfenden Auf und Ab der letzten Monate und bedankte sich im Voraus für das erhoffte Verständnis. Die Antwort erfolgte sofort:

Sehr geehrte Frau Pendel,

der Ortsabwesenheit kann ich leider nicht zustimmen, da dies einer möglichen frühzeitigen beruflichen Eingliederung entgegenstehen kann.

Sollten Sie trotzdem fahren, teilen Sie mir dies bitte unverzüglich mit. Ich mache Sie jedoch schon jetzt darauf aufmerksam, dass während der Abwesenheit ohne Zustimmung der Agentur Arbeitslosengeld nicht gezahlt werden kann.

Mit freundlichen Grüßen

Ihre Arbeitsagentur

Petra resignierte, Jonny aber rebellierte. Jetzt würde er denen mal den Marsch blasen, so ein Schwachsinn, von wegen Kundenfreundlichkeit! Als seine Wut verraucht war, nahm er sein ganzes diplomatisches Geschick zusammen und schrieb:

Sehr geehrte Frau Schimmel,

meine Frau und ich bedanken uns für die zeitnahe Antwort, deren Inhalt uns jedoch recht verwundert, hat doch unseres Wissens jeder im Arbeitslosengeld I Bezug einen Rechtsanspruch auf Urlaub. Bei meiner Frau kommt noch ihre seelische Verfassung hinzu. Zudem sehen wir für Ihre Ablehnung zwar einen allgemeinen, doch keinen speziellen Grund aufgeführt. Oder haben Sie eine besondere Maßnahme in der beantragten Urlaubszeit für meine Frau vor?

Schon der Sache nach ist eine berufliche Eingliederung für einen Zeitraum von 5,5 Monaten für eine Person, die nur qualitativ eingeschränkt arbeitsfähig und ca. 1,5 Jahre zuvor krank gewesen ist, nicht besonders wahrscheinlich, wie uns doch allen einleuchtet.

Wir glauben beide, dass es auch eine humane Interpretation der Regeln gibt.

Würde ein psychotherapeutisches oder ärztliches Attest helfen?

Wir bitten um Rückmeldung

Mit freundlichem Gruß

Petra und Jonny Pendel

Mehr könnte er nicht auf die Waagschale legen, dachte er und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Die kamen zügig per Mail, zu Beginn eine Belehrung über Paragraphen der Erreichbarkeitsanordnung - ein Arbeitssuchender hatte erreichbar zu sein, basta! -, sodann die Schlussfolgerung:

Einen „Urlaubsanspruch“ gibt es daher nicht - es gibt lediglich eine Möglichkeit, sich mit Zustimmung der Agentur bis zu 21 Kalendertage auswärts aufzuhalten. Da eine Vermittlung in den ersten drei Monaten der Arbeitslosigkeit am aussichtsreichsten erscheint, ist in dieser Zeit eine Urlaubsgenehmigung wenig sinnvoll.

Jonny spürte, wie ihm die Zornesröte ins Gesicht schoss, so eine scheiß Engstirnigkeit, nicht zu fassen! Dann las er weiter:

Da jedoch zum heutigen Zeitpunkt kein Vermittlungsvorschlag bzw. Maßnahme angeboten wurde, kann im Ausnahmefall Ortsabwesenheit genehmigt werden.

Ich weise Sie jedoch nochmals darauf hin, dass Sie sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt haben und mit Ihrer Unterschrift auf der Eingliederungsvereinbarung auch die Vorlage von Eigenbemühungen bis zum 24.06.2016 unterzeichnet haben und dass trotz Ortsabwesenheit die entsprechenden Eigenbemühungen vorzulegen sind. Erfolgt dies nicht wie vereinbart, wird die Zuweisung zu einer Maßnahme geprüft …

Ich weise Sie darauf hin, dass Sie sich am 1. Werktag nach der Rückkehr an der Kundentheke wieder kurz persönlich aus der Ortsabwesenheit zurückmelden müssen.

Mit freundlichen Grüßen

Lydia Schimmel

Jonny und Petra atmeten auf, ihr Urlaub war gerettet, sie durften jetzt in der Amtssprache 14 Tage lang ortsabwesend sein. Petra lernte aus dem Vorgang, dass frau nicht vorschnell aufgeben sollte. Ohne Jonny hätte sie längst das Handtuch geworfen.

Am ersten Tag nach dem Urlaub persönlich auf der Agentur zurückgemeldet, erhielt sie wenig später ein neues Formular für weitere, sinnlose Bewerbungen mit der bekannten Vorschrift, sie zu dokumentieren und bis Ende August vorzulegen, um sich danach erneut zum Gespräch einzufinden. Mitte August schon gab Petra ihre Bewerbungen ab, die natürlich wie alle bisherigen ohne Resonanz geblieben waren, außer zweien: Eine Metzgerei schien interessiert - da war Petra entgangen, dass sie in Kälte nicht arbeiten sollte - und ein Call-Center. Das hatte sie noch spätabends angerufen und fast bedrängt, über den Beginn ihrer Rente hinaus bei der Stange zu bleiben. Jonny fand dies Verhalten unseriös - Niedriglohn und miese Arbeitsbedingungen würden da auf Petra lauern - und bestärkte seine Frau darin, den Vorstellungstermin wieder abzusagen, aber erst nachdem er sich im Internet schlau gemacht hatte. Der Einladung auf einen Vermittlungsvorschlag der Agentur hin hätte sie Folge leisten müssen, sonst wäre ihr Arbeitslosengeld gekürzt worden.