Geschichten aus Nian

Der Keysor

ImagePaul M. Belt

 

 

Image

 

Der Keysor

 

Image

© Copyright 2020 Hunter Verlag

Verlagsauflage 1

 

 

 

Lektorat: Cornelia Schrudde, Kreuztal

Grafische Innengestaltung: Astrid Eckstein

Umschlaggestaltung: Azrael ap Cwanderay ; Hunter Verlag

Umschlagfotografie: Astrid Eckstein ; pixabay

Satz & Layout: Hunter Verlag

 

 

 

Verlag: Hunter Verlag, Kiel, Deliusstr.

Printed in Germany

ISBN: 978-3-947086-64-1

 

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de
abrufbar.

 

 

Die Reihe:

»Geschichten aus Nian«

 

 

Band 1:

Lindenreiter

 

Band 2:

Landwandlerin

 

Band 3:

Atalan

 

Band 4:

Erzbrenner

 

Band 5:

Der Keysor

 

Band 6:

Selinqua Baruka

 

Band 7:

Licht

 

 

Image

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

All denen, die am Sinn von Gewalt
und am fortwährenden Streben
nach immer mehr Macht zweifeln

Image

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wenn du jemanden nicht magst, bringe ihm Achtung entgegen. Denn wer dich provozieren kann, ist dein Lehrer. Nichts verändert euer Verhältnis mehr als Respekt vor eurer Andersartigkeit. Es kann dabei auch respektvoll sein, sich still zu verabschieden.

 

(Martin Darian Kalder, Herold des Lichts aus Urgalan)

 

 

 

Der Keysor

 

 

Image

Die Prophezeiung

„Und siehe, eine Stimme erhebet sich im Westen, die schreiet und spricht: ‚Das Land, das Land, welch Frevel!‘ Und es versinket mit Donnern und Blitzen die Schönheit aller Flecken und Hügel, und das Beben der Mauern vergehet nicht an jenem Tage. Wer weise ist, der schließe seine Augen und laufe gen Süden zu den Bergen, denn brennen wird das Land. Alsdann erhebet sich Rauch, eine gewaltige Säule wie die eines großen Wirbels, und tränket den Boden mit seiner Finsternis. Und aus der Tiefe des Strudels erhebet sich etwas wie ein Skorpion, ein Wesen mit acht Scherklappern und Tentakeln so schwarz wie das Fell eines Nachtjägers und drei hässlichen Schwänzen, stark wie die Masten eines Handelsschiffes, und er trägt ein goldenes Zepter mit den Farben seiner Herkunft. Alle Söhne Kers, jaulet und heulet ob des Skorpions, denn sein ist die Stärke und die Schärfe des Schwerts und das Donnern großer Posaunen mit mächtigem Widerhall! Und er entsendet die Seinen in alle vier Winde, zu versammeln das Geschlecht und zu ziehen in den Krieg gen Westen, denn der Donner wird nicht verhallen, bevor sein Sieg gewiss ist. Achtet aber auf seinen Stachel, denn klein und unscheinbar mag er erscheinen, aber gewaltig und voll Giftes ist sein Inneres, und er wird herniederfahren auf den einen Stein, den Felsen, ihn zu zermalmen und das Land mit der Pestilenz seines Giftes zu vernichten. Hier jedoch, Söhne Kers und Töchter Baras, seid gestärkt und unverzagt, denn euer ist das Licht, und keine Finsternis vermag es zu verschlingen noch euch verzagt zu machen! Fahren wird er in die Höhe und Tiefe seiner Herkunft, und das Feuer des Landes wird gelöschet durch eure Tränen, so dass der Felsen und das Land leuchten werden wie die Sonne eures Herzens.“

 

(aus dem Buch der Weissagung: Die Prophezeiung des Kol Noramak)

 

Hort des Lebens

Ama klappte das abgegriffene Buch vorsichtig zu und legte es beim Schein des großen Feuers bedächtig zur Seite. Sie blickte den Zuhörern aus der großen Runde in ihre Gesichter, in welchen sich das Flackern der Flammen und ihr Widerschein vom Baumwaldrand fingen. Achtunddreißig Frauen, Männer und auch Kinder hatten sich mittlerweile hier oben im Norden des Mittellandes im „Hort des Lebens“ eingefunden, wie dieser bewaldete Hügel schon bei ihrer Ankunft vor zwei Zyklen von seinen Bewohnern genannt worden war. Manche sahen still auf den Boden, andere starrten mit offenem Mund oder auch nur mit großen Augen nach vorn. Die alten Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt.

Naria näherte sich Amas Stuhl von der Seite her. „Verehrte Schwester und Erste, habe Dank dafür, dass du mich und meine Sippe auf diese Weise ehrest, dass du bereits am ersten Abend unserer Ankunft aus diesem von uns bewahrten Werk in der Versammlung vorzutragen gedachtest!“

Ama lächelte sanft, wenn auch etwas müde. „Andersherum ist es, verehrte Schwester. Es ist mehr als eine Ehre, dass nach all der Zeit Menschen zu uns gefunden haben, die nicht nur wie auch wir der alten Geheimnisse der Kräuter kundig sind, sondern die auch noch eines der wichtigsten Werke aus der Zeit nach dem Ende der Alten Sprache mit in die heutige Zeit hinübergetragen haben. Euer Erscheinen ist wie das Aufgehen eines Sternes am Ende einer dunklen Nacht. Die Prophezeiung des Kol Noramak war zu lange verschollen, als dass dies ein Zufall sein könnte. Im Gegenteil, ich halte es für ein Zeichen. Noch heute Nacht werde ich mit Kela darüber meditieren. – Ich danke allen für die Teilnahme an unserer Versammlung!“

Naria nahm das Buch an sich, verneigte sich vor Ama und wandte sich zum Gehen, als deren leise Stimme sie noch einmal zurückrief. „Liebe Naria, du bist eine Bruka wie ich. Es ist wahrlich respektvoll, dass du dich vor deiner Ersten verneigen möchtest. Bitte lasse mich dir dennoch mitteilen, dass wir in dieser Gemeinschaft nicht auf diese Weise verfahren. Wir ehren uns durch den Austausch des Lichtes in uns und durch sein äußeres Anzeichen, das Lächeln, nicht jedoch durch Verbeugungen. – Könntest du dies auch bitte zu denjenigen tragen, welche mit dir hier heute eingetroffen sind?“

„Selbstverständlich und gern!“ Überrascht und mit einem Strahlen im Gesicht begab sich die junge Frau zu der frisch errichteten Holzhütte am Rand des großen zentralen Platzes, welche ihr neues Zuhause war. Schmunzelnd sah Ama ihr nach, bevor eine tiefe Männerstimme ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.

„Sag, Ama, du hast uns nun ein wahrhaft schrecklich gezeichnetes Bild aus dem alten Buch vorgelesen“, sagte Finn zu ihr. „Weißt du denn auch Näheres zur Bedeutung dieser Zeilen? Ist das Beschriebene bereits geschehen oder steht es uns noch bevor?“

„Sowohl das eine als auch das andere ist der Fall“, sagte Ama langsam und betont, während sie dem hünenhaften Mann in die Augen sah. Er war einer der ursprünglichen Bewohner des Hügels und Begründer der hiesigen Gemeinschaft des Wiegeler Waldes. Sie lächelte in sich hinein, als sie sich daran erinnerte, wie misstrauisch er Sus, Gita und sie nach ihrer Reise durch das Küstenland begrüßt hatte. Kräuterväter und -mütter hatten derzeit wirklich keinen einfachen Stand.

„Du meinst, es ist wie schon so oft und die Geschichte wiederholt sich?“, fragte Finn. „Soweit ich weiß, wurden diese Zeilen vor vielen Dekazyklen geschrieben, als Schrecken im ganzen Land die Menschen ängstigte und die Soldaten des Herrschers alle verfolgten, die ihm nicht genehm waren, insbesondere Menschen mit unserer Begabung.“

„Ob sie sich wiederholt oder reimt, das wird sich zeigen“, sinnierte Ama halblaut und schaute in die prasselnden Flammen. „Ich spüre seit einiger Zeit, dass sich Unruhe im Lande ausbreitet, und je mehr von uns sich hier versammeln, desto deutlicher ist mein Eindruck geworden. Heute Nacht werde ich darüber mit Kela auf dem Plateau an der Quelle eine Lichtmeditation durchführen.“

„Ich werde ebenfalls zu euch stoßen“, verkündete die Stimme einer Frau mittleren Alters von der Seite her, die sich den beiden genähert hatte.

„Gern nehmen wir dich mit dazu, Lera“, erwiderte Ama lächelnd. „Zu dritt war der Fluss des Lichtes immer besonders intensiv.“

Finn nickte. Zwar war auch er ein Bruk, aber wenn die Erste, ihre Vertreterin und die Geistkundlerin beschlossen hatten, zu dritt zu meditieren, dann war es für ihn in Ordnung. Er war praktischer veranlagt. Gerade wollte er Feuerholz nachlegen, als er bemerkte, wie sich eine kleine Gruppe mit Fackeln vom verborgenen Haupteingang des Geländes her dem Lager näherte. „Ron, Mark?“, rief er, um dann mit den Angesprochenen auf die Ankömmlinge zuzugehen. Es waren aber nur Han, Jule und Gita, die von ihrem spätabendlichen Besuch beim nahe dem Baumwald gelegenen Bauerngehöft mit neuem Käse zurückkehrten. Allerdings hatten sie einen seltsam erregten Gesichtsausdruck.

„Was gibt es?“, fragte Finn sofort.

„Etwas Merkwürdiges. Wir brauchen umgehend etwas Redezeit, um allen eine Nachricht zu überbringen“, verkündete Han.

„Dann geh und sprich Ama an, bevor sie mit Kela und Lera auf das Plateau geht. Es sind praktisch noch alle da. Sie hat gerade die Prophezeiung verlesen.“

„Na, das trifft sich ja prächtig“, knurrte Han, der die alten Worte aus dem Buch bereits am frühen Abend vernommen hatte. „Ungefähr um etwas Derartiges dürfte es sich handeln.“

Während die kleine Gruppe zum Lager zurückkehrte, war Ama bereits dabei, sich mit ihren beiden Begleiterinnen auf den Weg zum Quellplateau zu machen. Sie wurde jedoch am Rande des Lagers von Sus aufgehalten. „Verehrte Schwester“, sagte diese, während sie ihre Freundin mit ihrem nachdenklichen Blick aus dunklen Augen ansah. „Etwas geschieht gerade. Ich spürte ein Beben des Lichtes wie das Flackern des Mondes, wenn eine Wolke vorbeizieht.“

Ama umarmte Sus. Sie kannte sie lange genug, um das innere Schaudern ihrer engsten Vertrauten auch ohne äußere Anzeichen wahrzunehmen. „Ich habe es auch gespürt“, wisperte sie ihr ins Ohr. „Deshalb gehen wir drei ja gerade, um nach Klärung zu suchen.“

„Die Klärung kommt dieses Mal von dort“, sagte Sus in geheimnisvollem Ton und zeigte auf die Gruppe mit den Fackeln, die soeben beim Feuer eingetroffen war und sich nun suchend umschaute.

Sofort kehrte Ama zum Lager zurück. Kaum wurde sie von Han erspäht, unterbrach dieser die Stille der Nacht mit seiner halblauten Stimme: „Erste, wir bringen Kunde, die unser Leben und das vieler Menschen in Nian nachhaltig verändern könnte. Ich erbitte daher die Möglichkeit, unmittelbar zur gesamten Gemeinschaft zu sprechen.“

Ama spürte ein Prickeln ihre Wirbelsäule emporklettern. Nicht nur Sus’ eindringliche Worte hatten sie aufmerken lassen – wenn nun auch Han, ein sehr ruhiger und besonnener Mann, auf diese förmliche Weise und in so dramatischem Ton zu ihr sprach, musste die Angelegenheit wirklich sehr ernst sein. Sie begab sich neben das Feuer, hob die Hände und rief: „Das Wort hat nun noch einmal Han. Bitte lauscht und spürt inwendig, wie es geschehen wird.“

Fast schlagartig wurde es ruhig um das Feuer. Jegliches Gespräch verstummte, nur noch das Knacken der brennenden Scheite war zu vernehmen, als Han vortrat und zu sprechen anhob.

„Verehrte Geschwister, liebe Gemeinschaft des Waldes. Wir kommen soeben von unserem Tauschbesuch beim Bauern. Dieses Mal bringen wir aber nicht nur Käse mit. Als wir dort eintrafen, war bereits Besuch dort. Wir wissen ja seit einiger Zeit, dass hier in der Nähe Menschen leben, die sich rasend schnell über Kräuterwiesen hinwegbewegen können. Einige von uns sind diesen sogenannten Federern bereits begegnet. Einer von ihnen namens Pal Gernok befand sich vorhin gerade im Haus des Bauern und machte den Eindruck, uns erwartet zu haben. Als wir gingen, verließ er ebenfalls das Haus und nahm uns ein paar Mittelmaße weiter beiseite, um uns einige wirklich bedeutende Dinge mitzuteilen.“ Gebannt lauschten alle Anwesenden, als er weitersprach. „Zuallererst soll ich uns allen, besonders aber unserer Ersten“, er nickte Ama zu, „im Namen seines Ersten herzliche Grüße ausrichten. Vor wenigen Tagen wurde im Mittelland nämlich der Klan der Federer neu gegründet. Ein Junge namens Kai hat dessen Führung inne.“

In Amas Gesicht erschien ihr schönstes und breitestes Lächeln. „Es ist also wahr!“, rief sie halblaut. „Unser Freund und Vertrauter hat seine Bestimmung gefunden!“

„Das ist aber leider nicht alles“, setzte Han fort und seine bisher entspannte Miene verdüsterte sich. „Gestern hat besagter Pal ein Teleskript seines Klans mit dem Auftrag erhalten, der Gemeinschaft der Kräutermütter und -väter nahe dem Elvon – damit können nur wir gemeint sein – zwei Botschaften auszurichten. Die eine ist recht angenehmer Natur: Offenbar gibt es weitere Geschwister im Land, die unsere Anwesenheit hier erspürt haben und zu uns aufgebrochen sind, um uns und auch ihre Erste hier zu treffen. Die andere jedoch hat es in sich: Anscheinend gibt es einen sich rasch im Lande ausbreitenden Streit zwischen verschiedenen Reiterklans, der nun offenbar nicht mehr nur mit Worten ausgefochten wird, sondern auch mit Taten. Eine zentrale Figur dabei soll der neue Erste des Klans der Lindenreiter sein. Laut einer Warnung, die der Erste Federer persönlich von einem Merkantusbaum erhalten hat, sei dieser neue Erste daran interessiert, tiefe Gräben durch die Gemeinschaft der Reiter zu ziehen und Unfrieden zu stiften, wo immer er nur könne. Zugleich schare er Getreue um sich und bereite sich auf einen Kampf vor. Wörtlich habe der Merkantus gesagt, den Reitern stehe eine dunkle Zeit bevor, und allen Menschen, die nicht auf das Licht in sich achten würden, drohe Gefahr.“

Ein Raunen ging durch die versammelten Brukas. Hatten sie nicht gerade aus dem Munde ihrer Ersten einige Worte aus einem uralten Buch vernommen, die dem gerade Gehörten auf verblüffende Weise ähnelten?

„Das ist aber immer noch nicht alles. Der Erste Federer lässt uns ausrichten, er vermute konkret, dass eine Art Herrschaftsübernahme durch den Ersten der Lindenreiter geplant sein könne, der sich übrigens seit kurzem ‚Ältester‘ nennen ließe. Und als Letztes teilt er uns noch den Namen desjenigen mit: Sid Lucius Albo. Kann irgendjemand von uns etwas damit anfangen?“

Ama wiederholte den Namen gedankenverloren vor sich hinmurmelnd. Es war nicht unüblich, dass ein hochgestellter Amtsträger sich einen zweiten, klangvollen Vornamen gab. Lucius, das bedeutete „der Strahlende“ oder auch „Mensch des Lichts“. Auch die Bezeichnung „Ältester“ war nicht ungewöhnlich, um die besondere Stellung des Ersten des Klans der Lindenreiter zu betonen.

Han führte nun seine Rede zu Ende. „Auch wenn dies alles keine direkte Bedrohung für uns zu bedeuten scheint, so dürfte es uns mittelbar betreffen, wenn bei den Reitern eine Art Bruderfehde vom Zaun gebrochen wird. – Ich danke euch für eure Aufmerksamkeit, verehrte Geschwister.“

Ama trat nun wieder vor und sagte laut: „Ich danke Han für diese eindringlichen Worte. Es ist wahr, Dinge geschehen derzeit in Nian, deren Auswirkungen wir noch nicht abzusehen vermögen. Falls jemandem in dieser Runde noch etwas zu diesem Thema einfallen sollte, bitte ich darum, es uns – oder gern auch mir allein – mitzuteilen. Ich möchte nun diese Runde schließen und die Gelegenheit nutzen, auch die soeben erhaltenen Neuigkeiten zusammen mit Kela und Lera oben an der Quelle mit in die Verbindung einzubringen. Habt herzlichen Dank für eure Zeit.“

Damit war die Versammlung abermals beendet. Nachdenklich begaben sich Ama, Lera und Kela erneut auf den Weg zum Hügelplateau. Sie alle konnten sich des Eindrucks nicht erwehren, dass nun Dinge von großer Tragweite dabei waren, ihren Lauf zu nehmen.

 

Image

Reise ins Ungewisse

„Hallo, da seid ihr ja wirklich!“ Mit einem strahlenden Lächeln öffnete Herk die Tür seiner Wohnung, durch die zwei ebenso fröhlich grinsende andere Federer eintraten.

„Also, ich muss sagen, leicht gemacht hast du es uns nicht gerade, dich zu finden“, feixte Lutz gespielt vorwurfsvoll. „Einen so klangvollen Straßennamen wie ‚Neuer Weg‘, den es in Medriana ja auch nur lächerliche drei Male gibt – da braucht man ja gar nicht lange zu suchen.“

„Schon klar, tut mir leid, ich vergesse immer, den nördlichen Bezirk anzugeben“, erwiderte Herk augenzwinkernd. „Und, Malu, bist du bei der Suche schon verhungert?“

„Jetzt, wo du es erwähnst …“, sagte das Mädchen, schnupperte in die Luft und leckte sich über die Lippen, „… sind das etwa deine Kohlschnetzel mit Kümmel auf Nudeln mit Käse-Sahnesauce?“

„Hab ich es doch geahnt, dass du wie immer einen Bärenhunger mitbringst! Klar, ich weiß doch, wie gern du dieses Gericht magst! – Also, dann legt mal eure Sachen ab und lasst uns erstmal anständig tafeln. Dabei kann ich euch erzählen, wie wir am besten zur Ebene gelangen können.“

„Ich verstehe immer noch nicht, weshalb wir nicht einfach Kais Megafon-Methode benutzen“, warf Malu ein. „Wer immer dieser ominöse letzte Federer ist, er würde uns hören und könnte uns entgegenreisen.“

Lutz schüttelte den Kopf. „Du weißt doch, was Kai dazu gesagt hat: Er kann es zwar nicht erklären, ist sich aber ganz sicher, dass das so nicht funktionieren würde. Aber an etwas hast du mich doch erinnert, wir wollten ihm doch bei der Abreise Bescheid geben! Können wir deinen Teleskriptor nehmen, Herk?“

„Klar. Aber konzentriert euch bitte trotzdem auch nochmal in Richtung der Flussstadt und schickt eine Gedankennachricht, damit Linn mitbekommt, dass wir losziehen, ohne dass wir seinen Vater ‚mit Teleskripten zuschütten‘, wie dieser sich wohl ausdrücken würde.“

Malu schnaubte verächtlich. Pah. Nur weil Linns Vater ein hoher Reiter war, sollte er nicht das Recht haben, sich wegen ein paar Teleskripten zu beschweren, die sein Sohn von seinen Klanfreunden geschickt bekam. Zum Glück konnte Linn als bislang Einziger im Klan intensiv geformte Gedanken aller anderen Federer in seinem Kopf hören, ohne dass man einen übermäßig verstärkten Ruf in seine Richtung herausschreien musste. Ohne ihn hätten sie von der Existenz des verschollenen Federers auf der Westlichen Ebene nichts geahnt. Da war es natürlich klar, dass man ihn ebenfalls auf dem Laufenden hielt. Malu seufzte. Wenn doch nur alle Erwachsenen so wären wie Lutz oder Herk oder auch Kais Eltern! Dann wären viele Dinge deutlich unkomplizierter.

Nach dem Verschicken des Teleskripts setzte sich Lutz mit an den schlichten Küchentisch, an welchem Herk und Malu bereits mit knurrendem Magen Platz genommen hatten. Beim Essen schilderte Herk die Reiseroute, welche er für die kommenden Tage ausgearbeitet hatte: „Also, ich möchte nicht mit meinem Auto auf die Ebene fahren und es auch nicht in ihrer Nähe abstellen. Daher würde ich die erste Strecke gern mit dem Zug zurücklegen. Von hier aus kommen wir direkt nach Gehlstadt und dann mit dem Bummelzug weiter bis Wesenburg. Das liegt direkt an der Arealgrenze.“

„Wie?“, warf Malu ein. „Wir federn da nicht hin? Ich meine, die Mederebene ist im Frühling voller saftiger Gras- und Kräuterwälder!“

„Dir mag eine Strecke von hundertzwanzig Langmaßen nichts ausmachen, junge Dame“, erwiderte Herk mit hochgezogener Augenbraue. „Mir persönlich reicht es, wenn wir mit dem Sport an der Grenze beginnen. Ich bin nicht mehr so gut in Schuss wie du, mir tun die Grashalme immer etwas leid, die mich in die Luft werfen sollen.“

„Kein Wunder“, fügte Malu kauend hinzu. „Man kann ja leicht sehen, dass du selbst beim Essen dein bester Kunde bist! Und man schmeckt ja auch, warum das so ist!“ Schlürfend schob sie sich den nächsten Löffel in den Mund. Lutz grinste. Ob sie sich jemals das Sprechen mit vollem Mund abgewöhnen würde?

„Weißt du“, grinste Herk und strich sich über den Bauch, „abgesehen davon würde die Reise auf diese Art für mich mehrere Tage dauern. So viel Zeit habe ich aber für unsere Expedition nicht. Nee, nee, lass uns ruhig den Zug nehmen. Ich übernehme das Ticket für dich, Malu. Nach dem Essen schnappe ich mir meinen Tragsack und dann gehen wir zum Terminal.“

„Wie kommen wir ab Wesenburg weiter?“, fragte Lutz.

Herk verzog das Gesicht. „Das wird solange fraglich bleiben müssen, bis wir da sind. Keine Schienen führen von dort aus nach Westen und auch ausgebaute Straßen gibt es praktisch nicht. Sollte die Gegend so karg sein, dass wir dort nicht federn können, dann würden wir handelsüblich auf Schusters Rappen weitergehen oder irgendeinen Droschkendienst in Anspruch nehmen müssen.“

Fast wäre Lutz der Löffel aus der Hand gefallen. „Droschkendienst? Jetzt sag nicht, wie vor fünf Dekazyklen mit Lasttier und Deichsel? Ich meine, fahren sie denn nicht mal Autos auf der Ebene?“

„Das ist ja gerade der Witz, dass es niemand weiß“, sagte Herk resigniert. „Bei euch in Irania wird vermutlich nie über die Ebene gesprochen, richtig? Bei uns ist es nicht anders, obwohl sie fast vor der Haustür liegt. Ich kenne niemanden, der mal dort war und erst recht keinen, der von dort kommt.“

„Ja, das ist echt total durchgerädert“, meinte Malu nun, die ihr Essen beendet hatte. „Selbst wenn dort Riesen leben würden, hätte hier keiner eine Ahnung davon. Ich finde, es ist höchste Zeit, dass wir uns diesen Landstrich mal ansehen.“

Eine Langzeit später standen die drei Federer vor dem prachtvollen, wenn auch etwas altmodischen zentralen Bahnhofsgebäude der Hauptstadt Nians. Es strahlte immer noch denselben Charme aus wie zur Zeit seiner Erbauung vor zehn oder mehr Dekazyklen, aber der Zahn der Zeit hatte auch vor ihm nicht haltgemacht. Viele hundert Menschen liefen hier auf dem Vorplatz durcheinander, verließen die große Bahnhofshalle durch die Drehtüren oder hetzten mit ihren Koffern hinein, wenn sie sich ihre Habseligkeiten nicht von den Gepäckträgern mit ihren blauen Uniformen und den roten Schiebewagen transportieren ließen. An vielen kleinen fahrbaren Buden duftete es nach unterschiedlichen Arten von Straßenmahlzeiten, aber außer Malu, die einfach immer Hunger hatte, schien es keinem der Federer aufzufallen. Zielstrebig ging Herk durch eine Drehtür in die Halle hinein und steuerte auf einen Schalter zu, an dem Fahrkarten verkauft wurden. Seine beiden Begleiter folgten ihm.

Image

 

Malu war von dem Gewimmel in dieser Metropole und insbesondere in diesem Bahnhof total fasziniert und sogar ein wenig überfordert. So viel Technik und so viele Menschen auf so engem Raum! Staunend schaute sie mal hierhin, mal dorthin. Ein lautes Rasseln ließ ihren Blick verwundert nach oben unter die Hallendecke wandern. Dort befand sich eine elektromechanische Anzeigetafel, mit deren Hilfe die aktuellen Zugverbindungen und Abfahrtszeiten dargestellt wurden. Gerade wollte sie sich etwas anderes anschauen, als ihr plötzlich ein neuer Eintrag auf der Tafel ins Auge sprang.

„Sag mal, Lutz, wollte Herk nicht mit uns von Gehlstadt nach Wesenburg fahren? Sieh mal dort unten in der letzten Zeile!“

Lutz las und tippte daraufhin Herk in der Schlange vor dem Schalter an. „Schau mal, was sagst du dazu?“ Tatsächlich ließ die neue Anzeige alle die Stirn runzeln. „Strecke Gehlstadt – Wesenburg derzeit nicht befahrbar. Tickets werden erstattet. Näheres an der Information“, stand dort geschrieben.

„Da muss ich doch gleich mal fragen, was das soll“, brummte Herk. Kurz darauf war er an der Reihe und meinte zu der blau gekleideten Dame hinter dem Schalter: „Guten Tag – eigentlich wollten wir drei Tickets nach Wesenburg lösen, aber weshalb ist denn die Strecke gesperrt?“

„Ach, das ist wegen der Bauarbeiten“, kam die Antwort. „Leider können wir auf dieser Nebenstrecke auch keinen Ersatzverkehr anbieten, die Straße ist so schlecht und die Brücke dort so schmal, dass jeder unserer Busse stecken bleiben würde.“

„Das ist ja merkwürdig“, sagte Herk. „Gestern habe ich mich über die Verbindung informiert, aber da war keine Rede von Bauarbeiten. Nun, unsere Reise lässt sich nicht verschieben. Bis Gehlstadt können wir aber fahren, ja?“

Zehn Mittelzeiten später warteten alle drei Federer am Gleis auf den Expresszug in Richtung Westen. Da es sich um eine Hauptstrecke handelte, fuhr häufig ein Zug. Für die Fahrtdauer war etwas mehr als eine halbe Langzeit veranschlagt, was Malu vollkommen unrealistisch erschien. Dann aber staunte sie nicht schlecht, als eine hochmoderne, stromlinienförmige Elektrolokomotive mit fünf silbernen Waggons auf ihrem Gleis in den Bahnhof einfuhr. „Woah! Kann die auch fliegen? Ich kenne nur entweder die roten Ölloks oder die alten dampfbetriebenen Kisten, so eine habe ich noch nie gesehen!“

„Die gibt es erst seit einem Zyklus“, grinste Herk. „In der anderen Richtung soll sie ab dem nächsten Frühling bis zur Großen Flussstadt fahren. Dann dauert die Fahrt dorthin nur noch knapp anderthalb Langzeiten!“

Das glaubte Malu nie und nimmermehr. Nachdem sie jedoch eingestiegen waren und der Express Fahrt aufgenommen hatte, begriff sie allmählich, weshalb sich die Fenster des Abteils nicht öffnen ließen, was sie zunächst sehr geärgert hatte. Die Gegend flog in einer derartigen Geschwindigkeit an ihr vorbei, dass ihr Federn dagegen geradezu wie Kriechen erschien. Mit ganz plattgedrückter Nase wollte sie schließlich auf ihrem Sitz Platz nehmen, als Lutz seinen Tragsack ergriff und meinte: „Komm, wir gehen zu den Türen.“

„Wie, sind wir etwa schon da?“

„Vielleicht verstehst du jetzt, warum ich lieber so reisen als federn wollte“, erwiderte Herk grinsend, nachdem er sich ebenfalls seinen Tragsack wieder aufgesetzt hatte. „In wenigen Mittelzeiten erreichen wir Gehlstadt Hauptbahnhof! Mal sehen, wie wir von dort aus weiter vorankommen.“

Auch in einer mittelgroßen Stadt wie Gehlstadt war mittags allerhand los auf dem Bahnhof. Zwar gab es hier nur sechs Gleise statt vierzehn wie in Medriana, aber dafür waren die Zugänge auch schmaler ausgelegt, so dass Malu das Gedränge als ähnlich beklemmend empfand wie in der Landeshauptstadt. Vor dem Gebäude atmete sie erst einmal tief durch. Herk winkte einen freien mietbaren Wagen heran und sprach mit dem Fahrer. Mit verwundertem Gesichtsausdruck kam er zu Lutz und Malu zurück.

„Hier stimmt etwas nicht“, verkündete er. „Baustelle, wie? Nicht nur das Gleis nach Wesenburg ist gesperrt, sondern die Straße auch! Als der Fahrer heute Vormittag die ersten Fahrgäste dort hinbringen sollte, wurde er von Verkehrslotsen an der Weiterfahrt gehindert und musste umkehren.“

„Verkehrslotsen? Was ist denn das?“, wollte Malu wissen.

„Du weißt doch, dass es in größeren Städten nicht nur Dorfwarte und ihre Angestellten gibt, sondern dass dort die Gebiets- oder Arealverwaltungen besondere Kräfte stellen, die für Recht und Ordnung sorgen, nicht wahr?“

„Ja.“ Malu rümpfte die Nase. Diesbezüglich hatte sie ihre Erfahrungen schon gemacht. Solchen Leuten sollte man tunlichst aus dem Wege gehen, wenn man als Jugendliche allein durch die Lande reiste.

„Manchmal werden sie Ordnungskräfte genannt, manchmal Polizei oder ähnlich. Wie auch immer, zu ihren Aufgaben zählt es auch, im Fall von Unglücken oder Naturkatastrophen Reisende an der Weiterfahrt durch betroffene Gebiete zu hindern. Menschen, die dies tun, werden eben Verkehrslotsen genannt. Aber ganz abgesehen davon – hier gab es weder ein großes Unglück noch eine Katastrophe, davon hätte ich heute Morgen etwas gehört.“

„Was also ist hier los?“, fasste Lutz mit seiner tiefen Stimme die Gedanken der drei Federer zusammen. Das war ja wirklich ausgesprochen rätselhaft.

Vorbereitungen

„Was er bloß mit diesem ganzen Zeug will?“, fragte Tern seinen Mitreiter. „Erst mietet die Loge fast ein halbes Flächenlangmaß Lagerräumlichkeiten hier am Nordrand Medrianas, dann werden wir hierher abgestellt und seitdem reißt der Strom an Lastwagen nicht ab, die hier anfahren. Und was haben sie geladen? Nichts als Schrott!“

Fonn nickte. Gerade einmal eine Woche war es her, als der Dritte Rengat der Hauptloge der Lindenreiter plötzlich auf der Logenwiese aufgetaucht war, scheinbar wahllos die beiden Lekure ausgesucht und sie dann hierher transportiert hatte. Wenn etwas Derartiges unerwartet geschah, wurde es als „Sonderdienst für die Loge“ bezeichnet, was meistens bedeutete, dass man für die Zeit der Aktion nicht nach Hause kam und seine Familie die ganze Zeit über nicht sah. Nicht selten wurde einem auch ein Schriftstück vorgelegt, dass man über den Inhalt und Fortgang des Dienstes Stillschweigen zu bewahren hatte. Und tatsächlich hatten die beiden nach der Unterzeichnung eines ebensolchen Dokuments zwei Zimmer in einem Hotel am Stadtrand gestellt bekommen, dem es zwar an Luxus nicht mangelte, dafür aber an Fröhlichkeit und Leben.

„Und du hast wirklich keinen Schimmer, was das Ganze hier soll?“ Mit dieser Frage schloss Tern seine Überlegungen ab.

„Bruder, du weißt doch, dass ich genauso blind für den Fortgang der Dinge bin wie du“, entgegnete Fonn. „Und selbst wenn ich etwas wüsste, dürfte ich es dir nicht erzählen. Ich muss sagen, mir erscheint das Ganze genauso rätselhaft. Normalerweise lagert der Klan edle Stoffe ein, vielleicht auch Baumaterial oder Farbe oder auch schon mal Frischblätter, aber solchen Krempel?“

„Baumaterial, hmm … könnte es das sein? Ich meine, gut fünfzig Flächenlangmaße Metall, daraus könnte man schon etwas errichten.“

„Aus dem verbeulten Zeug? Die verrosteten Moniergitter könnte man vielleicht benutzen, aber die Autobleche, Träger und Türrahmen? Nein, lieber Tern, das Ganze ergibt in etwa so viel Sinn, wie wenn ein Riese zu reiten versuchte. Und wie ich den Rengat kenne, brauchen wir ihn gar nicht erst danach zu fragen.“

„Und im Lekurenkreis ansprechen?“

Fonn zeigte seinem Mitreiter einen Specht. „Bruder, bei uns gab es seit vielen Zyklen keine Degradierungen. Willst du es jetzt darauf anlegen? Wenn der Älteste überhaupt mal dort erscheint, dann lässt er dich aus dem Raum entfernen, sobald du auch nur angefangen hast, davon zu sprechen! Und hinterher darfst du dich dann bei den Rötlurmreitern als Ragnor bewerben – wenn er gute Laune gehabt hat!“

Tern nickte mit verkniffenem Mund. Ja, damit hatte Fonn recht. Irgendwie hatte er sich vor vier Zyklen etwas anderes vorgestellt, als er nach Medriana gezogen und in die Hauptloge eingetreten war. Auch später noch, als ihn nach dem Tag des Riesenangriffs der damalige Erste zum Lekur ernannt hatte, da hatte er genau gewusst, weshalb er gern ein Lindenreiter geworden war. Nun jedoch hatten sich die Zeiten geändert. Vorbei waren die Tage, an denen man fröhlich miteinander lachte und am Ende eines festlichen Ritttages gemeinsam in die Altstadt Medrianas ging, um den Tag zünftig ausklingen zu lassen. „Freude fußt auf Ehre, Ehre fußt auf Freude“, das war dermaleinst der Wahlspruch der Lindenreiter zu Medriana gewesen. Doch zurzeit schien Freude nichts mehr zu zählen, Ehre schien auf Gehorsam zu fußen und Gehorsam auf … Weiter kam der Lekur jedoch mit seinen Überlegungen nicht, denn plötzlich öffnete sich quietschend die Tür im mittleren Metalltor des Lagerhauses und herein trat der Dritte Rengat der Hauptloge. Er kam ohne Umschweife auf den Punkt:

„Fonn, Tern, euer Dienst hier ist beendet. Ich danke euch im Namen des Klans für eure Einsatzbereitschaft an diesem Ort. Eure Loyalität wird im Klan nicht vergessen werden. Bitte verschließt das Lager und verlasst eure Hotelzimmer innerhalb der nächsten zwei Langzeiten. Die nächsten zwei Tage habt ihr dann zu eurer freien Verfügung.“

Das klang ja fast so, als wäre jemand endlich vernünftig geworden! Fonn verneigte sich lächelnd vor dem Rengat und bedankte sich. Tern tat es ihm zwar nach, aber konnte sich eine Frage dennoch nicht verkneifen: „Rengat, sollen wir wirklich einfach so gehen und die ganzen Dinge hier so ungeordnet ihrem Schicksal überlassen? Ich meine, was immer hier nun folgen wird, dieses Lager erscheint mir nicht gerade als unserem Klan angemessen sortiert und gepflegt.“

Der Rengat verzog keine Miene. „Bereits in Kürze werden sich andere Kräfte, die dem Klan dienen, darum kümmern, hier Ordnung zu schaffen. Das soll dich aber nicht kümmern, Lekur. Geht nun eurer Wege.“

Dieses Mal folgte auch Tern unverzüglich der Aufforderung seines Rengats. Dessen letzte Worte bedeuteten in der üblich höflichen Weise verbrämt nämlich nichts anderes als „verschwindet jetzt“. Die beiden Lekure traten durch die Tür ins Freie und ergriffen ihre Blätter, die sie am Morgen neben dem Lager an einem schattigen Platz abgelegt hatten. Kurze Zeit später ritten sie in Richtung ihres Hotels davon.

Der Rengat sah ihnen nach, bis sie am Horizont verschwunden waren. Danach öffnete er mit einem Schlüssel das kleine Büro des Lagerhauses und schaltete den dortigen Teleskriptor ein, um anschließend eine einzige Zeile auf der Tastatur einzugeben: „Der Rost ist frei zum Befeuern.“ Diese Nachricht schickte er anschließend an eine Nummer, die er sich, wie jeder Rengat der Hauptloge, sehr gut hatte merken müssen und nirgendwo aufschreiben durfte. Daraufhin schaltete er den Teleskriptor wieder aus, verschloss das Büro von neuem und begann, langsam vor dem großen Gebäude auf und ab zu schlendern, während er an seiner mitgebrachten Krautpfeife zog.

Als er gerade das vierte Mal seinen Weg beginnen wollte, näherte sich auf der Zufahrtsstraße ein unscheinbarer beigefarbener Wagen, der vor dem Gebäude bremste. Rasch öffnete der Rengat das große Mitteltor in Gänze, so dass der Wagen hineinfahren konnte. Anschließend schloss er es wieder von innen. Aus dem Wagen stieg ein Chauffeur des Klans, der zur Beifahrertür eilte und diese öffnete. Heraus stieg niemand Geringeres als der Älteste persönlich. Der Rengat lächelte. Damit hatte er gerechnet. Er verneigte sich tief und lange vor ihm.

„Erhebe dich, Raul“, ertönte die Stimme seines Ersten. „Und sieh, wen ich uns mitgebracht habe.“ Er winkte dem Chauffeur, der daraufhin auch die beiden hinteren Türen des Wagens öffnete. Zwei Männer traten heraus, die der Rengat noch niemals gesehen hatte. Sie trugen einfache Arbeiterkleidung und sahen sich verwundert um. „Raul, du wirst dich jetzt vor dem Größeren der beiden Herren verneigen“, fuhr der Älteste fort. Ein nur für geübte Augen wahrnehmbarer Zug der Missbilligung umspielte seine Lippen. „Auch wenn er dir nicht so erscheinen mag, er ist der Erste seines Klans. Erweise ihm deinen Respekt!“

Überrascht nahm der Rengat mechanisch seine Hand vor die Brust und verneigte sich tief vor dem Genannten. Dieser beantwortete die Ehrerbietung mit einem leichten Nicken, bevor der Älteste erneut zu sprechen anhob: „Diese beiden werden uns helfen, unser kleines Problem im Westen rasch und effizient in den Griff zu bekommen. Du wirst gleich Zeuge ihres Könnens werden, wenn wir die ersten Probedurchgänge vornehmen.“

 

Image

„Ältester“, erwiderte der Rengat, „diese beiden Herren sind augenscheinlich keine Reiter und scheinen auch sonst keinem der mir bekannten Klans anzugehören, geschweige denn einen von ihnen zu leiten. Ohne respektlos sein zu wollen: Mit wem haben wir es denn hier zu tun?“

„Dies“, begann der Erste theatralisch, „sind die ersten beiden Vertreter des fortan wichtigsten mit uns verbündeten Klans. Zur Rechten siehst du Zeg Ranolok, den Ersten des Klans der Brenner, und zu seiner Linken steht Lorn Gerland, der ebenfalls diese Gabe besitzt.“

Raul fiel die Kinnlade herunter, sein Blick wanderte rastlos von einem Mann zum anderen. „Brenner?“, brachte er schließlich unter höchstem Erstaunen hervor. „Ältester, Sie haben es tatsächlich geschafft, Mitglieder dieses längst erloschenen Klans ausfindig zu machen?“

„Er ist nun nicht mehr erloschen“, sagte der Erste langsam. „Im Gegenteil. Und wir haben vor einigen Tagen ein Bündnis geschmiedet, welches uns dazu befähigen wird, jedwede Bedrohung unseres Klanwesens nicht nur unschädlich zu machen, sondern weitere potenzielle Seilschaften von Aufrührern in einer bisher undenkbaren Weise zu demoralisieren. Niemand mehr wird es dann wagen, den Frieden im Lande zu bedrohen, den wir gewährleisten.“ Damit wandte er sich den beiden Brennern zu. „Wie unhöflich von mir, verzeihen Sie bitte. Dies ist Raul Mernek, Dritter Rengat meiner Hauptloge und einer meiner engsten Vertrauten. Er hat persönlich dafür gesorgt, dass ohne großes Aufheben eine nicht geringe Menge an Rohmaterial hier gesammelt werden konnte. Wenn ich Sie beide nun bitten dürfte, das Material zunächst grob zu prüfen?“

Zeg antwortete mit seiner warmen tiefen Stimme: „Ältester, in welcher Hinsicht soll das Material geprüft werden?“

„Oh, natürlich, wie unachtsam von mir!“ Das typische Lächeln umspielte den Mund des unnahbaren Mannes, welcher Zeg immer noch nicht ganz geheuer war. „Wir möchten daraus stabile und belastbare Bögen, Pfeilspitzen und wenn möglich auch Armbrustbeschläge herstellen. Falls dafür Zusatzstoffe erforderlich sein sollten, so müsste ich wissen, welche und in welcher Menge.“

„Armbrüste?“, entfuhr es Lorn. „Sagten Sie nicht etwas von ‚Frieden‘?“

Der missbilligende Blick des Ältesten, mit dem dieser Zeg ansah, war nun nicht mehr zu übersehen. Schnell stieß der Brenner seinen Begleiter kräftig in die Rippen und raunte ihm ins Ohr: „Ich habe dir doch gesagt, lass mich reden und richte deine Fragen an mich! Das hier ist keine Betriebsversammlung in Brennstätte C oder so, für sowas kannst du hier richtig Ärger bekommen. Begreifst du?“

Als Lorn nickte, setzte der Erste der Lindenreiter wieder sein üblich höfliches Lächeln auf. „Danke, Herr Ranolok, dass Sie solche Dinge so unbürokratisch auf Ihre Weise zu regeln verstehen! Bitte beginnen Sie.“

Nach einer kurzen Zeit der Konzentration öffnete Zeg wieder die Augen und sagte: „Das meiste Material ist geeignet. Einige Stücke bestehen nicht aus Eisen, sondern weicheren oder leichteren Metallen, aber die können wir rasch aussortieren. In jedem Fall benötigen wir einige Raumkurzmaße reinen weißen Sand. Auch Braunstein sollte geliefert werden. Zwei Eimer davon sollten zunächst genügen, wir brauchen ihn nur in geringen Mengen. – Habe ich etwas übersehen, Lorn?“