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Beiträge zur Frühförderung interdisziplinär – Band 21

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Prof. Dr. Manfred Pretis, Heilpädagoge und Klinischer Psychologe, lehrt Transdisziplinäre Frühförderung an der Medical School Hamburg.

Im Ernst Reinhardt Verlag ebenfalls erschienen:

Pretis, M., Kopp-Sixt, S., Mechtl, R.: ICF-basiertes Arbeiten in der inklusiven Schule (1. Aufl. 2019; ISBN 978-3-497-02805-4)

Pretis, M.: ICF-basiertes Arbeiten in der Frühförderung (2. Aufl. 2019; ISBN 978-3-497-02840-5)

Pretis, M., Dimova, A.: Frühförderung mit Kindern psychisch kranker Eltern (4. Aufl. 2019; ISBN 978-3-497-02866-5)

Brandau, H., Pretis, M., Kaschnitz, W.: ADHS bei Klein- und Vorschulkindern (4. Aufl. 2020; ISBN 978-3-497-02931-0)

Hinweis: Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02945-7 (Print)

ISBN 978-3-497-61346-5 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61347-2 (E-Pub)

© 2020 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU

Cover unter Verwendung eines Fotos von iStock.com/master1305 (Agenturfoto. Mit Model gestellt)

Satz: Katharina Ehle

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München
Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Vorwort

1       Definition von Frühförderung und Frühen Hilfen

1.1     Modelltheoretische Zugänge

1.2     Historische Wurzeln der Frühförderung

1.3     Sich verändernde Modelle

1.4     Über den Tellerrand geblickt

1.5     Checkliste Definition

2       Arbeitsprinzipien und Schlüsselkonzepte früher Unterstützungssysteme

2.1     Menschenbildannahmen

2.2     Arbeitsprinzipien

2.2.1  Früh- bzw. Rechtzeitigkeit

2.2.2  Familienorientierung

2.2.3  Ganzheitlichkeit

2.2.4  Ressourcenorientierung

2.2.5  Inter- bzw. Transdisziplinarität

2.3     Alleinstellungsmerkmale von Frühförderung und Frühen Hilfen

2.4     Checkliste Arbeitsprinzipien

3       Methoden früher Fördermaßnahmen und deren Effizienz

3.1     Methoden der Frühförderung

3.1.1  Lerntheoretische Ansätze

3.1.2  Kognitive (verstehensorientierte) Ansätze

3.1.3  Selbstwirksamkeitsansätze

3.1.4  Spieltheoretische Ansätze

3.1.5  Übungstheoretische Ansätze

3.1.6  Systemische Ansätze

3.1.7  Enabling environment (förderliche Umwelt)

3.1.8  Motorische Ansätze

3.1.9  Basale Stimulation

3.1.10 Wissenschaftlich wenig anerkannte Verfahren

3.2     Über die Effektivität und Effizienz früher Fördermaßnahmen

3.2.1  Die gute Nachricht

3.2.2  Die komplexe Nachricht

3.2.3  In Richtung praktischer Lösungen

3.3     Checkliste Methodik und Wirksamkeit

4       Der Prozess der Förderung

4.1     Fördermaßnahmen aus der Sicht der Eltern

4.2     Die Einzelschritte aus der Sicht der Eltern

4.2.1  Erstkontakt

4.2.2  Erstgespräch/Offene Beratung

4.2.3  Diagnostik (in der Frühförderung)

4.2.4  Erstellen eines Förder-, Behandlungs- oder Hilfeplans

4.2.5  Umsetzung der Unterstützungsmaßnahmen

4.2.6  Reflexion eines Unterstützungszeitraumes

4.2.7  Beendigung des Unterstützungszeitraumes

4.2.8  Transition (Übergang zu weiteren Betreuungsmaßnahmen)

4.3     Checkliste Prozesse

5       Die ICF als gemeinsame Sprache in der Frühförderung und den Frühen Hilfen

5.1     Eine Einführung in die ICF

5.1.1  Für Fachkräfte

5.1.2  Für Eltern

5.2     Was ist die ICF?

5.2.1  Für Fachkräfte

5.2.2  Für Eltern

5.3     Wie geht das?

5.3.1  Für Fachkräfte

5.3.2  Für Eltern

5.4     Die ICF sagt nicht, was dem Kind fehlt

5.4.1  Für Fachkräfte

5.4.2  Für Eltern

5.5     Was machen wir, wenn wir die ICF verwenden?

5.5.1  Für Fachkräfte

5.5.2  Für Eltern

5.6     Das Bewerten von Beobachtungen im Rahmen der ICF

5.6.1  Für Fachkräfte

5.6.2  Für Eltern

5.7     Von der Bewertung zur Einschätzung des Hilfebedarfs

5.7.1  Für Fachkräfte

5.7.2  Für Eltern

5.8     Checkliste ICF

6       Frühe Förderung für alle Kinder?

6.1     Ist die Frühförderung inklusiv?

6.2     Die Zielperspektive der Inklusion: „Dazugehören“

6.3     Teilhabe als Zielperspektive

6.4     Was kennzeichnet Teilhabeziele?

6.5     Verwechslungen und Mythen

6.6     Checkliste Inklusion und Teilhabe

7       Organisationsformen

7.1     Organisationsformen, Wirksamkeitstrialog und das Ziel der Prävention

7.2     Frühförderung und Frühe Hilfen als Teil des Sozialmarktes

7.3     Systeme und die „Teilung“ der Kinder

7.4     Smarte Ziele als Hilfsmittel in Richtung stärkerer Outcome-Orientierung

7.5     Das Verhältnis zwischen Teilhabezielen und smarten Zielen

7.6     Modell- und Qualitätsentwicklung

7.7     In Richtung zukünftiger inklusiver Modelle der Frühförderung und der Frühen Hilfen

7.8     Checkliste Organisation

8       Neue verletzliche Gruppen: Kinder psychisch kranker Eltern

8.1     Worüber reden wir?

8.2     Herausforderungen für Fachkräfte

8.3     Über die Terminologie

8.4     Psychische Verletzlichkeit im Erwachsenenalter

8.5     Betroffene Kleinkinder

8.6     Ein erhöhtes Risiko neben der Belastung

8.7     Aber mein Kind merkt doch nichts

8.8     Ressourcen von Kindern psychisch verletzlicher Eltern

8.9     Was tun?

8.10   Strukturelle hilfreiche Rahmenbedingungen

8.11   Checkliste „Neue verletzliche Gruppen“

9       Ausblick: Informations- und Kommunikationstechnologie in der frühen Förderung

9.1     Was außer Frage steht

9.2     Apps und Tablets: Fluch oder Segen für die kindliche Entwicklung?

9.3     Kann ein Lerncomputer pädagogische Fachkräfte ersetzen?

9.4     IKT in der Förderplanung und Dokumentation

9.5     Checkliste IKT

10     Literatur

11     Sachregister

 

 

Die Checklisten finden Sie als Online-Zusatzmaterial zum Download auf unserer Homepage www.reinhardt-verlag.de

Vorwort

Dieses Buch ist als praktische Anleitung für Fachkräfte in der Frühförderung und in den Frühen Hilfen gestaltet. Es versteht sich als Diskussionsanstoß und als evidenzorientierter Beitrag zu Möglichkeiten und Grenzen der frühen (fachlichen) Beeinflussung von Entwicklungs-, Lern- und Sozialisationsprozessen von Kleinkindern mit Entwicklungsschwierigkeiten. Dies soll eingangs an zwei Redewendungen deutlich gemacht werden:

„Das Gras wächst nicht schneller, wenn man an ihm zieht.“

„Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.“

Beide Redewendungen spiegeln die Herausforderungen früher Fördermaßnahmen für Kleinkinder (im Alter zwischen null und drei Jahren bzw. teilweise bis zum Schuleintritt) in hohem Maße wider: einerseits selbstorganisatorische Entwicklungs-, Transaktions- und Reifungsprozesse anzuerkennen (Redewendung 1), andererseits die frühe Bildbarkeit sowie Beeinflussbarkeit z. B. im Rahmen der Neuroplastizität sowie des Einflusses der Umwelt (Redewendung 2) zu nutzen.

Dabei handelt es sich häufig um dynamische Prozesse und deren Wechselwirkungen bzw. deren gegenseitige Beeinflussung. Im Mittelpunkt findet sich das eigenaktive, handelnd-lernende und im Austausch mit seiner relevanten Umwelt stehende Kind. Diese Austauschprozesse (auch Transaktionen genannt, basierend auf Modellüberlegungen von Sameroff (2009)) sind dabei reziprok zu verstehen. In Austauschprozessen verändern sich in der Regel beide oder alle Kommunikationspartner, d. h. im Rahmen fachlicher Unterstützung auch die Fachkräfte.

Dieses Buch handelt von solchen Austauschprozessen zwischen Kindern, Erziehungsberechtigten (meist den Eltern) und Fachkräften. Ziel ist es, allen Transaktionspartnern transparente, respektvolle und evidenzorientierte Handlungsideen zur Verfügung zu stellen. Deren konkrete Umsetzung hängt dann in der Regel von den jeweiligen Rahmenbedingungen der frühen Förderung ab.

Damit liegt der Hauptschwerpunkt nicht so sehr in einer vertieften wissenschaftlichen Auseinandersetzung (mit tendenziell überbordenden Literaturangaben und detaillierten Beschreibungen wissenschaftlicher Designs und Ergebnisse), sondern vor allem in der Verwendbarkeit und Übertragbarkeit der vorgeschlagenen Inhalte aus Sicht der täglichen Praxis. Dazu finden sich immer wieder Praxisleitsätze, die einzelne, wichtige Aspekte zusammenfassen, Beispiele zur Reflexion, teilweise mit Lösungsvorschlägen, und Checklisten am Ende der Kapitel, die als Instrumente zum Qualitätsmanagement verwendet werden können. Aus Lesbarkeitsgründen wird im Text in der Regel nur die männliche Form von Berufsbezeichnungen verwendet. Es ist damit keinerlei Diskriminierung beabsichtigt.

Graz, Januar 2020

1    Definition von Frühförderung und Frühen Hilfen

1.1   Modelltheoretische Zugänge

Grundsätzlich muss vorausgeschickt werden, dass weder der Begriff der Frühförderung noch jener der Frühen Hilfen klar definiert oder geschützt ist. Auch das im Englischen gebräuchliche „Early (Childhood) Intervention“ bezieht sich nur indirekt auf die Zielgruppe von Kleinkindern mit Entwicklungsschwierigkeiten, da sich „frühe Interventionen“ theoretisch auf alle Maßnahmen beziehen können, die darauf abzielen, dem Entstehen oder den Auswirkungen von (Gesundheits-)Problemen entgegenzuwirken oder aber (Entwicklungs- oder Präventions-)Potentiale so früh wie möglich zu fördern. Das macht die Auseinandersetzung mit frühen Fördermaßnahmen nicht leichter.

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Begriffe wie „Frühförderung“ oder „Frühe Hilfen“ sind weder wissenschaftlich noch im breiten Bevölkerungsverständnis klar verankert. Dies kann zu missverständlichen Erwartungen (z. B. auch in Richtung Hochbegabtenförderung) führen. Es sollte somit in der öffentlichen Diskussion darauf hingewiesen werden, dass es sich bei diesen beiden Begriffen in der Regel um Konzepte der Unterstützung von Kleinkindern mit Entwicklungsschwierigkeiten und deren Eltern bzw. Familien handelt.

Historisch bezeichnet „Frühforderung“ (vor allem im deutschen Sprachraum) meist Unterstützungsmaßnahmen für behinderte oder von Behinderung bedrohte Kinder (Sohns 2010a). Thurmair/Naggl (2010) definieren Frühförderung als

„Hilfsangebot für Kinder im Säuglings-, Kleinkind- und Kindergartenalter, die behindert oder von Behinderung bedroht sind, auch für deren Eltern und andere Personen, die Elternfunktionen wahrnehmen. Frühförderung hat das Ziel, bei Behinderungen und Entwicklungsgefährdungen von Kindern die Hilfen anzubieten, die am ehesten dazu beitragen, dass die Kinder sich möglichst gut entwickeln, ihre Kompetenzen entfalten, und sich in ihre Lebenswelt integrieren können“. (Thurmair/Naggl 2010, 13)

Basierend auf den Grundüberlegungen von Speck (2001), der Frühförderung als „komplexes Arbeitssystem“ beschrieb, mit dem Ziel, entwicklungshemmende Bedingungen für das Kind zu minimieren und entwicklungsanregende Bedingungen innerhalb des sozialen Kontextes zu fördern, stellen diese historischen Definitionen den Ausgangspunkt der Diskussion dar, auch wenn einige Begrifflichkeiten im Lauf der Zeit angepasst werden mussten. So war z. B. von „integrieren“ die Rede, heute spräche man von „Inklusion“.

Der Begriff der „Frühen Hilfen“ hingegen bezieht sich auf Lebensbedingungen und Erziehungsbedingungen von Kindern im Lebenszusammenhang sozial benachteiligter Familien:

„Frühe Hilfen haben innerhalb (des Rahmens der Kinderrechtskonvention der Vereinigten Nationen) konkret das Ziel, förderliche Entwicklungsbedingungen für Säuglinge und Kleinkinder in ihren Familien zu schaffen und zu stärken, um ihnen von Anfang an ein möglichst gesundes und gewaltfreies Aufwachsen zu ermöglichen. […] Mit geeigneten Maßnahmen sollen sie junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen; Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und unterstützen; Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen und dazu beitragen, positive Lebensbedingungen (zu schaffen). Müttern und Vätern sowie schwangeren Frauen und werdenden Vätern sollen Beratung und Hilfe in Fragen der Partnerschaft und des Aufbaus elterlicher Erziehungs- und Beziehungskompetenzen angeboten werden.“ (Nationales Zentrum Frühe Hilfen 2016, 7f)

Beiden Begriffen wohnt inne,

images  dass es sich um Klein- und Vorschulkinder handelt (meist Altersgruppe 0 bis 6 Jahre),

images  dass diese Kinder Entwicklungsschwierigkeiten ausgesetzt sind, die unterschiedlicher Ätiologie sein können,

images  dass es um lösungsorientierte Förder- und Behandlungsansätze geht,

images  dass explizit (bei den Frühen Hilfen) oder implizit (in der Frühförderung) das gesamte Familiensystem involviert ist.

Unterschiede liegen in den Modellzugängen, in vielen Ländern in den legistischen Zuständigkeiten, den involvierten Berufsgruppen, teilweise in den methodischen Zugängen und den Organisationsformen.

Traditionell geht Frühförderung in ihrem Modellverständnis davon aus, dass bei einem Kleinkind eine (somatisch) bedingte Entwicklungsschwierigkeit vorliegt, d. h. im Regelfall eine medizinische Diagnose. Dies kann nach ICD-10 (WHO 2015) angeborene Fehlbildungen, Deformitäten und Chromosomenanomalien betreffen (Q00-Q99), (angeborene) Stoffwechselerkrankungen (E70-E90), eine infantile Zerebralparese (G80), Blindheit und Sehbeeinträchtigung (H54), eine Hörschädigung (H91), eine Asphyxie unter der Geburt (P21), ein Status nach Frühgeburtlichkeit (P07) und vieles andere. Die Ätiologie (der Grund) der Entwicklungsschwierigkeit liegt dabei in der Regel in körper-strukturellen Veränderungen (dem Mehrfachvorhandensein von Chromosomen, der Fehlbildung von Organen oder Organschäden im Zusammenhang mit Traumata wie Krankheit, Geburt, Unfall. Verständlicherweise fühlten sich somit medizinische Experten lange für die Behandlung, Therapie, Förderung oder Begleitung der Kinder (in geringerem Maß für deren Eltern) zuständig. Somit ist das historische, vornehmlich medizinische Modell von Behinderung (als „Defekt“) verständlich und teilweise in einigen (vor allem östlichen Staaten) noch mit dem Begriff der „Defektologie“ gepaart.

Demgegenüber basieren die „Frühen Hilfen“ (in einigen Ländern unter dem Begriff der „Child Protection“ zusammengefasst) auf sozial-psychologischer bzw. sozialpädagogischer Modellbildung (Sohns 2010a). Dabei wird theoretisch davon ausgegangen, dass Kinder unter (für ihre Entwicklung) weniger günstigen Bedingungen aufwachsen, somit über weniger Möglichkeiten oder mehr belastende Erfahrungen und weniger kindzentrierte Transaktionen mit ihrer Umwelt verfügen. Entwicklungsschwierigkeiten resultieren somit aus diesen Lern- und Erfahrungs-, Beziehungs- oder Erziehungsdefiziten.

Was häufig als anekdotische Evidenz beobachtet werden kann, ist, dass das Resultat beider Modellzugänge (Tab. 1) am „Ende des Tages“ ähnlich ist. Wissenschaftlich wird dies durch hohe Überschneidungen zwischen Kindern mit Behinderung und jenen in Lebenszusammenhängen sozialer Benachteiligung verdeutlicht (Allcock 2019; Parsons/Platt 2013). Prognostisch darf jedoch da rauf hingewiesen werden, dass die langfristige Wirksamkeit früher Förderprogramme, soweit sie zu nachhaltigen Effekten und zu längerfristigen Veränderungen in Familiensystemen führen, im Bereich von Kindern mit sozialen Risiken höher zu sein scheint als im Bereich von Kindern mit Behinderung. Einschränkend darf gleichzeitig erwähnt werden, dass – trotz Fördermaßnahmen – viele dieser Kinder nicht in der Lage sind, alterstypische Leistungen kompensatorisch zu erreichen (Burger 2010). Es gilt zudem mitzubedenken, dass trotz hohen Förderoptimismus in den 1970er und 1980er Jahren „Behinderung“ im Regelfall einen „Daseinszustand“ repräsentiert und häufig (leider) nicht geheilt werden kann, was sich auch in den Ergebnissen der Evaluationsliteratur widerspiegelt (Guralnick 1997). Wohl aber können Entwicklungsbedingungen sowie Teilhabeaspekte auch bei Menschen mit Behinderung nachhaltig verbessert werden.

Tab. 1: Unterschiede „Frühförderung“ und „Frühe Hilfen“

Aspekt

Frühförderung

Frühe Hilfen

Modellverständnis (Begründungszusammenhang)

Medizinisches Modell: Somatisches (körperstrukturelles oder körperfunktionales) „Problem“

Psycho-soziales Modell: Umwelt„problem“

Erklärungszusammenhang

Schädigung bzw. Abweichung führt zu Entwicklungsschwierigkeit bzw. Teilhabebeeinträchtigung.

Dysfunktionale (hindernde) Umweltbedingungen triggern Entwicklungsschwierigkeiten bzw. Teilhabebeeinträchtigungen.

Veränderungszusammenhang

Behandlung, Therapie oder Heilmittel in Richtung „Heilung“ (Wiederherstellung der Körperstrukturen oder -funktionen)

Beratung, Training, Sensibilisierung, Unterstützung zur Selbstbefähigung, Versorgung mit materiellen Gütern oder familienunterstützenden Angeboten

Gesetzliche Verankerung (je nach nationalem Kontext)

„Behindertengesetze“, Chancengleichheitsgesetze, Teilhabegesetze

Kinder- und Jugendhilfegesetze, Kinderschutzgesetze

Sich zuständig fühlende Berufsgruppen (in Auswahl)

Ärzte, Therapeuten, Heilpädagogen, Heilerziehungspfleger, Krankenpfleger Frühförderer

Sozialarbeiter, Sozialpädagogen, Psychologen, Familienhebammen, Erzieher, Tagesmütter und -väter

Leistungsträger

Sozial- bzw. Behindertenhilfe sowie Krankenversicherung

„Jugendämter“, Allgemeiner Sozialer Dienst

Leistungserbringer

Sozialpädiatrische Zentren, Ambulatorien, Frühförderstellen

Erziehungsberatungsstellen, Allgemeiner Sozialer Dienst, Kinderkrippen und -gärten

Organisationsformen

Krankenanstalten, Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs, Vereine, teilweise private Praxen)

Häufig „gemeindeorientierte“ Angebote: Kindergärten, Erziehungsberatungsstellen im Rahmen des allgemeinen sozialen Dienstes, teilweise NGOs

Zuerkennung

Notwendigkeit der Etikettierung („behindert oder von Behinderung bedroht“)

Einschätzung einer latenten oder akuten „Kindeswohlgefährdung“

Verwendete Begrifflichkeit

Historisch auf „Besonderung“ abzielend: „Sonder“pädagogischer Förderbedarf in der Schule, „Sonder“schule

„besondere“ Bedürfnisse

Historisch auf „soziale Stigmatisierung“ abzielend: „sozialer“ Brennpunkt, „Sozial“fall, „asozial“, sozioökonomische Benachteiligung …

Finanzierung

„per capita“ (d. h. den einzelnen Menschen betreffend)

Größtenteils sozialraumorientiert mit möglichem Kostenbeitrag der Erziehungsberechtigten

Demographische Daten

Rund 5 % aller Kleinkinder

Rund 15 % aller Familien

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In Wirklichkeit können Kinder mit Entwicklungsschwierigkeiten nicht „geteilt“ werden, und zwar in Kinder mit Behinderung und Kinder, die sozialen Risiken ausgesetzt sind. Die künstliche Teilung in „Behindertenhilfe“ (Frühförderung) und „Kinder- und Jugendhilfe“ (Frühe Hilfen) beruht auf kaum mehr als zeitgemäß anzusehenden historischen Gründen. In beiden Hilfssystemen geht es um eine lösungsorientierte Selbstbefähigung von Kindern mit Entwicklungsschwierigkeiten und deren Familien, unabhängig von der Ätiologie, d. h. dem Grund für die Entwicklungsschwierigkeiten. Die Zusammenführung der unterschiedlichen Systeme (z. B. im Sinne der „Großen Lösung“ in Deutschland) erscheint zwar aus inhaltlicher Sicht sinnvoll, stößt jedoch auf große organisatorische und gesetzliche Schwierigkeiten: Viele Gesetze sind im Verfassungsrang, so dass häufig parlamentarische Zweidrittelmehrheiten zu deren Änderung notwendig sind.

1.2   Historische Wurzeln der Frühförderung

Die Wurzeln früher Fördermaßnahmen für Kinder mit Behinderung (um den alten Begriff zu verwenden) stammen historisch aus der Hör- und Sehgeschädigtenpädagogik (Speck 2008), die sich bereits sehr früh (wenn auch mittels „Besonderungsmaßnahmen“ wie der Betreuung in „Sonderschulen“ oder Unterbringung in „Internaten“, aber auch der Entwicklung „besonderer Methodiken“ (wie Braille, Gebärdensprache, Seh- und Hörhilfen) den „besonderen“ Bedürfnissen von Kindern zuwandte. Diese „besondernden“ Systeme sehen sich zurzeit in Richtung inklusiver Theoriebildung großen Veränderungen ausgesetzt, was auch die Frühförderung betreffen könnte (Kap. 6). Kritisch darf darauf hingewiesen werden, dass Kinder keine „besonderen“ Bedürfnisse haben, sondern einen besonderen Hilfebedarf zur Abdeckung ihrer Bedürfnisse, die sich keineswegs von den Bedürfnissen aller Kinder unterscheiden. Alle Kinder wollen lernen, kommunizieren, sich bewegen, selbständig Dinge tun, in Beziehung treten oder am Gemeinschaftsleben teilhaben, um einige Beispiele zu nennen. Diese werden in Kap. 5, zur Verwendung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (kurz ICF, WHO 2001 bzw. in Bezug auf die deutsche Kinderversion WHO 2011a) vertieft. Um diese allgemein menschlichen Bedürfnisse im Zusammenhang mit aus einer Behinderung resultierenden Teilhabebeeinträchtigungen größtmöglichst befriedigen zu können, braucht es im Regelfall Hilfe- bzw. Unterstützungsleistungen: Inklusiv verstanden zielen diese auf universelle Designs ab (um auf Diversität der Bedürfnisse aller Menschen Bezug zu nehmen). Oder diese Leistungen sind (integrativ) angelegt – wie häufig zu beobachten – und somit auf die konkrete Umwelt des einzelnen Kindes abgestimmt. Diese Unterstützungsaspekte in Richtung maximaler Teilhabe können bauliche Maßnahmen sein, die Verfügbarkeit von Medikamenten und Hilfsmitteln, Assistenz durch Bezugspersonen, die Veränderung von individuellen oder gesellschaftlichen Einstellungen oder Systemen. Die grundlegenden (Teilhabe-)Bedürfnisse der Kinder mit Entwicklungsschwierigkeiten, um den neueren von der WHO und der UNICEF unterstützten Begriff zu verwenden, unterscheiden sich jedoch keineswegs von denen von Kindern ohne Entwicklungsschwierigkeiten. Diese neueren Begriffe wie „Entwicklungsschwierigkeit“ oder „Kinder in schwierigen Lebenslagen“ verdeutlichen dabei schon eine beginnende Auflösung der in Tabelle 1 genannten künstlichen Spaltung zwischen „Behindertenhilfe“ und „Kinder- und Jugendhilfe“.

Im deutschen Sprachraum stammen die Wurzeln der allgemeinen Frühförderung aus den 1970er Jahren, und zwar vor allem auf der Expertise des deutschen Bildungsrates aus dem Jahr 1973. Die Empfehlung, dass es flächendeckende Zentren für pädagogische Frühförderung brauche, die Aufgaben der Früherkennung, Diagnose, Beratung und Förderung übernehmen sollten, stellte den Ausgangspunkt zur Entwicklung und Implementierung von (niederschwelligen) Unterstützungssystemen für Kinder mit Entwicklungsschwierigkeiten dar. Historisch fokussierten diese Systeme auf die Förderung von Kindern mit ausgeprägten Behinderungen, die bislang ohne entsprechende Unterstützung aufwuchsen und teilweise von formalen Bildungs- und Erziehungsprozessen (Kindergarten, Schule, Berufsausbildung) ausgeschlossen waren. Diese damals anvisierte Zielgruppe unterzog sich seitdem großen Veränderungen: Sohns.(2010b) berichtet in seinen Analysen, dass im Jahr 2001 bei einem Großteil der Kinder, die Frühförderung in Norddeutschland (Mecklenburg-Vorpommern) erhielten, die Zuweisungsdiagnose „Entwicklungsverzögerung“, (die es laut ICD 10 gar nicht geben dürfte), vorlag – gefolgt von psychosozialer Auffälligkeit. „Klassische“ Behinderungsformen wie Downsyndrom oder (infantile) Zerebralparese gab es deutlich seltener.

Noch immer werden jedoch relativ unklare und möglicherweise leicht beschönigende (in der ICD 10 eigentlich nicht aufscheinende) Zuweisungsdiagnosen zur Frühförderung bzw. den Frühen Hilfen vor allem von ärztlichen Überweisungssystemen verwendet. Das mag damit zusammenhängen, dass aus Gründen der Kommunikation eine „Entwicklungsverzögerung“ oder „Verlangsamung“ für die Eltern die Hoffnung aufrechterhält, ihr Kind könne diesen Rückstand z. B. bis zum Schuleintritt aufholen. Die Begriffe „Entwicklungsverzögerung“, „Rückstand“, „Verlangsamung“ u. a. eröffnen somit im Vergleich zu „Störungsbegriffen“ eine eher positiv besetzte resilienz- und ressourcenorientierte Veränderungsperspektive (Pretis/Dimova 2019). Damit gewinnt auch das Konstrukt der „Verletzlichkeit“ oder Vulnerabilität stärker an Bedeutung (Pretis/Dimova 2019). Dieses hebt hervor, dass Kinder temporär Bedingungen interner oder externer Natur ausgesetzt sein können, die sich im Rahmen ihrer Entwicklung negativ auswirken können. Diese „schwierigen Lebensbedingungen“ können sowohl pränatale Aspekte als auch mögliche Komplikationen während oder nach der Geburt betreffen. Solche Entwicklungsschwierigkeiten verändern jedoch im Regelfall Transaktionen zwischen dem Familiensystem und somit Entwicklungs- und Erziehungsbedingungen des Kindes.

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Entwicklung wird vermehrt unter dem Blickwinkel des Austausches zwischen dem kindlichen und dem (vornehmlich) elterlichen System gesehen. Dieser Austausch ist in der Regel bi-direktional (d. h. sich gegenseitig beeinflussend). Dadurch berücksichtigen solche „transaktionalen Modelle“ über herkömmliche Entwicklungsmodelle hinaus, die von einer Interaktion zwischen der Umwelt und dem Kind ausgingen, den jeweils aktiven Austausch zwischen Kind und Umwelt. D. h. nicht nur die Umwelt hat einen bedeutsamen Einfluss auf das Kind, gleichermaßen ist das Kind mit seiner relevanten Umwelt „rückgekoppelt“. Wer immer schon beobachten konnte, wie z. B. Interessen eines Kindes (Dinosaurier, Mineralien, Fußball …) sich auf das Konsum- und Freizeitverhalten von Eltern auswirken können, erkennt darin alltägliche Beispiele.

Modellhaft basieren diese unterschiedlichen Austauschprozesse auf dem Modell Bronfenbrenners (1981), und zwar auf seinem ökologischen Ansatz der Sozialisation. Bronfenbrenner wandte sich (in moderner Terminologie) jenen Systemen zu, mit denen ein Kind direkt oder indirekt im Austausch ist, durchaus auch abhängig vom Lebensalter des Kindes (siehe Chronosystem). Diese Systeme können dabei im modernen Verständnis der ICF sowohl in förderlichen Transaktionen mit der Entwicklung eines Kindes stehen als auch Barrieren darstellen.

Körperlich-somatische Bedingungen am Beginn des Lebens können eine große Rolle in ihrer Auswirkung auf Entwicklungsverläufe spielen. Mit zunehmendem Alter lässt sich jedoch beobachten, dass verstärkt soziale Transaktionen (wie z. B. die Einfühlsamkeit oder die psychische Gesundheit der Eltern etc.) eine dominantere Rolle in der Vorhersage langfristiger Funktionsfähigkeit spielen. Statistisch ist ab dem zweiten. Lebensjahr die aufgeklärte Varianz durch familiär-soziale Faktoren in Bezug auf die kognitive und sozial-emotionale Entwicklung eines Kindes wichtiger als z. B. somatische Risiken (Laucht et al. 2000).

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Abb. 1: Transaktionen zwischen Kindern und unterschiedlichen ökologischen Systemen

Die sich ab 1983 verstärkt abzeichnende Hinwendung zu den Eltern als wichtigste mikrosystemische Transaktionspartner für das Kind (Speck 1983) spiegelt sich z. B. auch in der Frühförderdefinition von Weiß (2008). Dieser versteht Frühförderung als beziehungs- und interaktionsfokussiertes Angebot, in dem es auch darum gehe, die Beziehung und Interaktion zwischen den Eltern und ihrem Kind – trotz erschwerter Bedingungen – positiv zu beeinflussen und damit zum Wohlergehen des Kindes und zum Wohlbefinden der Gesamtfamilie beizutragen.

Pretis (2001) fokussiert verstärkt auch auf den Anspruch der Wissenschaftlichkeit und der Professionalität im Bereich der Frühförderung. Frühförderung wird dabei verstanden als

images  eine wissenschaftlich-fundierte professionelle Dienstleistung

images  mittels kindzentrierter Methoden der ganzheitlichen Entwicklungsförderung und der gemeinsamen Arbeit in und mit der Familie

images  im Sinne einer Erziehungspartnerschaft

images  in der natürlichen Lebensumwelt des Kindes

images  in Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen

images  um Teilhabebeeinträchtigungen frühzeitig vorzubeugen

images  um Entwicklungspotentiale von Kindern mit Entwicklungsschwierigkeiten zu fördern

images  um die Lebensqualität der Familie durch Selbstbefähigung zu heben und somit präventiv zu wirken.

1.3   Sich verändernde Modelle

Es können in dieser Einführung nicht alle Definitionsversuche von Frühförderung geboten werden. Ziel ist es vor allem, das sich wandelnde Bild der Frühförderung und der Frühen Hilfen abzubilden. Beginnend bei einem Experten-Laien-Modell (das noch stark an medizinischen Modellen orientiert war) sowie nachfolgenden Kotherapeutenmodellen, zeigte sich ab 1983, wie in Kap. 1.2 erwähnt, ein neues Verständnis der Zusammenarbeit zwischen Eltern von Kindern mit Entwicklungsschwierigkeiten und Fachkräften. Wichtig in diesem Zusammenhang war für den deutschen Sprachraum der publizierte „Brief einer Mutter“ (Holthaus 1983), in dem sie auch kritische Nebenwirkungen des erlebten „Kotherapeutenmodells“ in der damaligen Förderung beschrieb. Vor allem beklagte Frau Holthaus den wahrgenommenen Druck (von Seiten der Fachkräfte), dass sich die Eltern vermehrt für die Entwicklung ihres Kindes verantwortlich zu fühlen hätten, da sie es wären, die die Empfehlungen und „Übungen“ der Fachkräfte im häuslichen Kontext weiterführen sollten, um somit den Therapieerfolg zu gewährleisten.

Diese kritische Auseinandersetzung mit dem Kotherapeutenmodell führte zur theoretischen Entwicklung des sogenannten „Partnerschaftsmodells“ in der Förderung. Beiden „Vertragspartnern“, den Eltern und den Fachkräften, wurden jeweilige Expertisen zuerkannt. Die Kommunikation erfolgte auf Augenhöhe und Eltern wurden als letztendlich Entscheidende angesehen (mit Ausnahme von Situationen einer Kindeswohlgefährdung). Damit wurde Austausch, Kommunikation, respektvoller Umgang, Verständlichkeit und Transparenz für Fördermaßnahmen extrem wichtig. Fachkräfte sahen sich vermehrt als „Gäste“ in den Familien, die den Eltern und Kindern fachlich fundierte (evidenzorientierte) Angebote machten, die die Eltern annehmen konnten, wenn es eine Passung mit ihrem Lebensumfeld gab. Pretis/Dimova (2019) machten jedoch auch darauf aufmerksam, dass ein solch partnerschaftliches Modell auf einer prinzipiellen Kontraktfähigkeit von Eltern beruhte. Es waren auch Situationen denkbar (z. B. in Bezug auf Einschränkungen der psychischen Gesundheit der Eltern), in denen diese Kontraktfähigkeit nicht vorlag. Es konnte somit legitim sein, zeitweise auf andere Kooperationsformen mit Eltern zurückzugreifen. Das betraf z. B. Lebensumstände, in denen schnelles Handeln von Seiten der Fachkräfte notwendig war, wie in Krisensituationen (Pretis 1999).

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Das Verständnis von frühkindlichen Förderangeboten hat sich seit ihrem Bestehen gewandelt. Leistungen der Frühförderung und der Frühen Hilfen werden verstärkt als professionelles Angebot im Rahmen einer Erziehungspartnerschaft mit den Eltern verstanden. Diese Dienstleistungen fokussieren auf Er- und Beziehungsaspekte in der Familie und erfordern verstärkt einen vertragsorientierten Blick von Seiten der Fachkräfte auf ihre Angebote und Methoden. Ziel ist die Selbstbefähigung von Familiensystemen, die mit Entwicklungsschwierigkeiten von Kindern konfrontiert sind. Damit sollen entwicklungsförderliche Erziehungsbedingungen gefördert und gleichzeitig Teilhabebeeinträchtigungen oder Verschlechterungen spezifischer Entwicklungsschwierigkeiten vorgebeugt werden.

1.4   Über den Tellerrand geblickt

Im Vergleich zu Maßnahmen der Frühen Hilfen (häufig im Englischen als „Child Protection“ bezeichnet) weist der internationale Blick die Frühförderung betreffend hohe Diversität auf. In der Begriffsklärungsdiskussion ist zu beobachten, dass in unterschiedlichen Ländern unter Frühförderung durchaus Unterschiedliches verstanden wird. Im mitteleuropäischen Raum bezeichnet Frühförderung meist einen hochspezifisch definierten Service, teilweise mit spezifischen Berufsbezeichnungen, Berufsbildern und Aus- bzw. Fortbildungen. Dies betrifft z. B. den österreichischen Begriff der „Frühförderer“ und „Familienbegleiter“, den schweizerischen Begriff der „Heilpädagogischen Früherzieher“ oder den in Deutschland weniger reglementierten Begriff der „Frühförderer“. In diesen Ländern ist Frühförderung auch häufig durch gesetzliche spezifische Leistungen definiert. In der Regel gibt es auch einen Rechtsanspruch der Eltern auf diese Leistungen beim Vorliegen entsprechender Voraussetzungen. Meist bedeutet dies, dass das Kind als „behindert“ oder „von Behinderung bedroht“ etikettiert werden muss (Kap. 7).

In vielen anderen Ländern wird jedoch unter Frühförderung jede Maßnahme unterschiedlicher professioneller Helfer verstanden, die zur frühen Erfassung von Kindern mit Entwicklungsschwierigkeiten und deren Begleitung und Behandlung führt. Dies kann somit Fachkräfte aus der Gynäkologie betreffen, Hebammen, Kinder- und Jugendärzte, Psychologen, Erzieher, Experten aus dem Bereich Ergo- oder Physiotherapie sowie Logopädie, aber auch Heilpädagogen, Psychotherapeuten etc. All diese Fachkräfte würden sich als „Fachkräfte in der Frühförderung“ bezeichnen, wenn sie mit kleinen Kindern mit Entwicklungsschwierigkeiten arbeiten.

Tab. 2: Das unterschiedliche Verständnis von Frühförderung in Europa

Frühförderung als hochspezifisches Leistungsspektrum (=Dienstleistung) für behinderte oder von Behinderung bedrohte Kleinkinder

Frühförderung als jegliche Bemühung, die Entwicklungsbedingungen von Kindern mit Entwicklungsschwierigkeiten zu verbessern

Deutschland:

pädagogische Frühförderung

interdisziplinäre Frühförderung als Komplexleistung

sinnesspezifische Frühförderung (Sehen, Hören)

In vielen anderen europäischen Staaten umfasst „Frühförderung“

pränatale gynäkologische Untersuchungen

peri- und postnatale medizinisch-therapeutische Maßnahmen

postpartale präventive Angebote (Elternberatung, Impfungen)

Angebote zur Stärkung der Erziehungskompetenz der Eltern

Österreich:

interdisziplinäre Frühförderung und Familienbegleitung

Seh- und Hörfrühförderung

Schweiz:

heilpädagogische Früherziehung

International von „Frühförderung“, englisch „Early Childhood Intervention“, spanisch „Atención temprana“, französisch „Intervention précoce“, türkisch „erken cocuklukta müdahale“ oder kroatisch „rana intervencija“ zu sprechen, benötigt somit im Regelfall eine detaillierte Beschreibung und Erklärung, was genau damit strukturell-organisatorisch gemeint ist. Das kann von Land zu Land sehr unterschiedlich sein. Die Grenzen zwischen der Frühförderung und Frühen Hilfen verschwimmen dabei zusehends.

Inhaltlich sind sich die Fachkräfte in der Regel einig (siehe auch den Bericht der European Agency for Development in Special Needs Education, Soriano 2005), dass es um folgende Aspekte geht:

images  das frühzeitige Erkennen von Entwicklungsschwierigkeiten und die frühestmögliche Einleitung notwendiger Hilfe- und Unterstützungsmaßnahmen

images  eine Orientierung hin zum gesamten Familiensystem, in dem das Kleinkind mit Entwicklungsschwierigkeiten aufwächst

images  komplexe (meist teambezogene) Aktivitäten auf der Basis eines hohen (evidenzorientierten) Methodenpluralismus

images  das Anerkennen historisch nationaler Unterschiedlichkeit von Unterstützungssystemen

images  die Gewährleistung, dass Familien diese Unterstützungsleistung wohnortnah sowie leistbar erhalten

Nochmals komplizierter werden Definitionsversuche, wenn versucht wird, Frühförderung in übergeordnete Konzepte der Erziehung und Bildung zu inkludieren. Manchmal wird vor allem von internationalen Organisationen wie der UNICEF auch der Überbegriff im ECD (Early Childhood Development) oder von der OECD (ECEC Early Childhood Education and Care, OECD 2017) verwendet, was die Begriffskonfusion bisweilen auch nicht mindert.

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Wenn Sie als Fachkraft über „Frühförderung“ sprechen, klären Sie von Anfang an, was Sie damit meinen und wie das für Ihren ganz spezifischen Kontext funktioniert. So gewährleisten Sie, dass Konzepte der Frühförderung bzw. der Frühen Hilfe „unter die Leute“ kommen und verstanden werden. Dies kann auch einen ersten Schritt in Richtung primärer Prävention darstellen. (Kap. 7.4)

Das durchschnittliche Alter bei der Ersterfassung von Kindern mit Entwicklungsschwierigkeiten bzw. deren Überweisung an Frühförderstellen lag in Deutschland im Jahre 2014 bei 30,1 Monaten (Pretis 2014a). Im Sinne eines „Fensters der optimalen Entwicklungsmöglichkeiten“ liegt dies nach dem der WHO und UNICEF als bedeutsam eingeschätzten Zeitfenster der ersten tausend Tage. Auch im Sinne der Neuroplastizität, da Synapsenbildung bzw. Sprossungsprozesse im dritten Lebensjahr ihr Maximum erreichen und es dann in weiterer Folge zu Bahnungsprozessen kommt, scheinen konzeptionell frühe Unterstützungsprozesse somit bis zum dritten Geburtstag am effizientesten.

  Erheben Sie das konkrete (durchschnittliche) Aufnahmealter der Kinder in Ihrer Dienststelle und reflektieren Sie, inwiefern dieser durchschnittliche Zeitpunkt dem Gebot der Frühzeitigkeit entspricht. Gegebenenfalls reflektieren Sie strategische Maßnahmen, um das Erfassungsalter von Kindern mit Entwicklungsschwierigkeiten zu senken.

  Eines ist es, Frühförderung bzw. Frühe Hilfen zu wissenschaftlichen Zwecken oder zur Abgrenzung gegenüber anderen Angeboten oder Maßnahmen konzeptionell abzugrenzen. Ein anderes ist es, Frühförderung bzw. Frühe Hilfen konkret Eltern zu erklären. Versuchen Sie, wissenschaftliche Definitionen in eine verständliche Sprache zu übersetzen.

1.5   Checkliste Definition

Die Checkliste in Tabelle 3 und die Checklisten in den weiteren Kapiteln folgen einem unter Kapitel 7.6 detailliert beschriebenen Qualitätsmanagementansatz nach Donabedian 1980.

Tab. 3: Checkliste „Definition Frühförderung bzw. Frühe Hilfen“

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2    Arbeitsprinzipien und Schlüsselkonzepte früher Unterstützungssysteme

2.1   Menschenbildannahmen

Frühförderung und Frühe Hilfen kennzeichnet generell ein Menschenbild der Entfaltung, des Wachstums, der Veränderung, der eigenaktiven Aneignung und des Ausbaus von Potentialen. Durch diese generelle Resilienzorientierung (Pretis/Dimova 2019) unterscheidet es sich von einem – meist auf älteren medizinischen Modellen basierenden – Fokus auf Störungen (ICD 10), Abweichungen (die sich häufig in Definitionen im Rahmen von Behindertengesetzen finden), Beeinträchtigungen oder der Risikofaktorenforschung. Dieser Fokus auf „Resilienz“ bedeutet (in aller Unschärfe des Begriffes und einer gewissen Inflation seiner Verwendung), dass es darum geht, trotz schwieriger Umstände (neue) Fähigkeiten zu erwerben oder erlernte Mechanismen zu aktivieren, um eine möglichst gesunde Entwicklung unter belastenden bzw. risikoreichen Bedingungen zu ermöglichen (Rutter 1985; Petermann/Schmidt 2006). Kritisch angemerkt werden muss jedoch, dass die in diesem Kontext verwendeten Begriffe, inklusive der „Resilienz“ selbst, zwar im Regelfall emotional positiv besetzt, jedoch häufig sehr unscharf definiert sind. Es wird später (Kap. 3 und 5.7.) noch erläutert, dass es ohne Interpretationen/Assessments/Evaluationen/Bewertungen nicht geht, wenn auch in diesem Buch vornehmlich Bewertungen gemeint sind, die auf evidenzorientierten Indikatoren basieren, d. h. darauf, was wir beobachten können. Frühe Fördermaßnahmen müssen in der Regel solche Bewertungen, dass eine Kompetenz noch zu erwerben ist oder defizitär formuliert „Abweichungen vom typischen Entwicklungsalter“ vorliegen, berücksichtigen, da diese Interpretationen in der Regel notwendig sind, um frühe Förderleistungen (von staatlicher Seite unterstützt) zu erhalten. Auf privat in Anspruch genommene Unterstützungsleistungen, die in der Regel im mitteleuropäischen Kontext für Kinder mit Entwicklungsschwierigkeiten aufgrund hoher entstehender Kosten kaum in Frage kommen, soll hier nicht Bezug genommen werden.

Die zugrundliegenden Menschenbildannahmen der Selbstbefähigung, der Entfaltung, der größtmöglichen Teilhabe in relevanten sozialen Zusammenhängen etc. spiegeln sich auf konzeptioneller Ebene meist durch ableitbare Schlüsselbegriffe wie „Ressourcenorientierung“, „Ganzheitlichkeit“, Familienorientierung“ sowie „inter- oder transdisziplinärer Kooperation“ relevanter Akteure wider.

Durch die konzeptionelle Vieldeutigkeit dieser Begriffe besteht auch die Gefahr, dass diese zu „Leerformeln“ werden, da nicht ganz klar definiert oder operationalisiert (im Sinne von Messbarkeit/Beobachtbarkeit) ist, was genau darunter zu verstehen sei. Aufgrund dieser fehlenden Operationalisierung der Schlüsselbegriffe können in der Praxis damit auch unterschiedliche Handlungsweisen einhergehen (Pretis 1998). Guralnick (2005a) warnt sogar vor einer gewissen Gefahr der Willkür in der professionellen Umsetzung einzelner Konzepte, wenn damit nicht klar beobachtbare/messbare/schätzbare/kommunizierbare Handlungen verbunden sind.

 BEISPIEL 

In Familie A könnte aus der Sicht der Fachkraft X „Familienorientierung“ bedeuten, möglichst viele Mitglieder in die Förderung des Kindes einzubeziehen.

In Familie B könnte (aus der Sicht der Fachkraft Y) Familienorientierung bedeuten, die Mutter möglichst stark zu entlasten und die Förderung allein mit dem Kind durchzuführen, während die Mutter sich ausruht.

Trotz der Bezugnahme auf dasselbe Konstrukt „Familienorientierung“ könnten sich theoretisch zwei völlig unterschiedliche professionelle Handlungen ergeben. Damit droht der Begriff jedoch „willkürlich“ und inhaltsleer zu werden. Damit ist niemandem geholfen.

Dazu kommt, dass diese positiv besetzten Begriffe zwar über lange Zeiträume hinweg ein Alleinstellungsmerkmal früher Interventionen darstellten. Dies betraf vor allem die „Familienorientierung“. In der gegenwärtigen Auseinandersetzung würde jedoch kaum mehr eine Fachkraft aus dem weiten Bereich „bio-psycho-sozialer“ Interventionen bei Kindern äußern, „nicht familienorientiert“, „nicht ressourcenorientiert“ oder „nicht ganzheitlich“ zu arbeiten.

Am Beginn des 21. Jahrhunderts ist somit verstärkt zu beobachten, dass jene ursprünglich als Alleinstellungsmerkmale verwendeten Arbeitsprinzipien der Frühförderung bei fast allen Fachkräften im Frühbereich „angekommen“ sind, wenn auch möglicherweise nur als Lippenbekenntnis: Kaum ein Ergotherapeut, Physiotherapeut, Logopäde, Arzt, Sozialarbeiter etc. würden heute – befragt in Bezug auf seine Arbeitsprinzipien – angeben nur „symptom“- bzw. „defizitorientiert“, „separierend“ allein mit dem Kind (unter Ausschluss der Eltern) oder spezifisch auf einzelne Körperfunktionen fokussiert zu arbeiten. Viele Arbeitsprinzipien der Frühförderung und Frühen Hilfen finden sich am Beginn des 21. Jahrhundert somit im Mainstreamverständnis benachbarter Unterstützungs- und Hilfsangebote. Das spricht zwar für die Bedeutung dieser Arbeitsprinzipien in der Förderung, Begleitung und Behandlung von Kleinkindern und deren Familien, könnte jedoch die Position der spezifischen Maßnahmen ein wenig „verwässern“. Erste Tendenzen sind dabei bereits in Österreich mit der verstärkten Sozialraumorientierung von Leistungen beobachtbar: Im Bereich von Familien mit verringerter Resilienz (ehemals als sozial benachteiligte oder marginalisierte Familien bezeichnet) wird kaum mehr zwischen den Interventionsformen bzw. -methoden einzelner Berufsgruppen unterschieden. Es besteht die Gefahr, dass letztendlich jede Fachkraft (ob Frühförderer, Sozialpädagoge, Psychologe) alles macht und selbstredend „familienorientiert“, „ganzheitlich“ etc. arbeitet. Dazu kommt, dass auch ein weiteres (historisches) Alleinstellungsmerkmal, und zwar die aufsuchende Arbeit im natürlichen Umfeld des Kindes, großen Veränderungen unterliegt, weil auch zu beobachten ist, dass – zwar regional sehr unterschiedlich – bis zu 60 % der (Früh-)Fördermaßnahmen an anderen Orten als der häuslichen Umgebung stattfinden, z. B. im Kindergarten oder im Förderzentrum. Am Beispiel Thüringen (Hartmann/Schu/Reber 2004) oder im Rahmen der bayrischen Franzl-Studie (Höck 2012) konnte dies empirisch erhoben werden. Dazu kommt, dass auch der Begriff der „natürlichen“ Umgebung des Kindes durch familiensoziologische Veränderungen wie z. B. der Berufstätigkeit der Frauen (dies betrifft vor allem den westeuropäischen Kontext) Veränderungen unterliegt. Viele Kleinkinder werden verstärkt institutionell außerhalb der Familie betreut. 2017 gaben 33 % der deutschen Eltern an, ihr Kind bis zu 30 Stunden pro Woche (außerhalb der Familie) in Kinderkrippen oder bei Tagesmüttern bzw. –vätern betreuen zu lassen (Statista 2020). Der Verweis auf westeuropäische Tendenzen ist deshalb wichtig, da im osteuropäischen Kontext (beispielsweise in der ehemaligen DDR) die außerfamiliäre Betreuung im Sinne flächendeckender Betreuungssysteme historisch sehr viel stärker verankert war.

Was bedeutet dies für frühe Interventionen? Gerade die Frühförderung – stärker als die Frühen Hilfen, die bevölkerungsstatistisch eine sehr viel größere Gruppe betreffen (Tab. 1), läuft durch die generelle soziale Erwünschtheit und eine tendenzielle inhaltliche Willkür der verwendeten Begrifflichkeiten Gefahr, ihren wichtigen Platz in der Begleitung und Förderung von Kindern mit Entwicklungsschwierigkeiten und deren Familien einzubüßen. Aufgrund einer zu beobachtenden verstärkten Liberalisierung von Leistungen (vor allem in sich entwickelnden Ländern im Osten Europas) ist auch ein starker Impuls von Seiten privater, (vornehmlich) profitorientierter Institutionen in Richtung Förderung, Behandlung oder Begleitung zu beobachten. Bei gleichzeitig erlebter Ressourcenknappheit der öffentlichen Hand werden etablierte Leistungsanbieter verstärkt daran arbeiten müssen, das spezifische Leistungsprofil oder die spezifische evidenzorientierte Wirksamkeit bzw. Effizienz von frühen Fördermaßnahmen hervorzuheben. Dabei unterscheiden sich die Frühen Hilfen und die Frühförderung deutlich: Durch die verstärkte Lenkung durch den Staat (über die allgemeinen sozialen Dienste) im Bereich Früher Hilfen betrifft dies v. a. die Frühförderung, da Lenkungs- und Steuerungsfunktionen bei letzteren dezentraler und weniger indikatorengestützt abzulaufen scheinen. Mit Ausnahme von Amtsärzten und Hilfeplanern, sofern vorhanden und sich dazu in der Lage sehend, wer schätzt zurzeit in der Regel die Wirksamkeit von Frühförderung extern ein? Wir sprechen hier nicht von der primären Einschätzung durch die Eltern, wobei sich Eltern häufig ein Mehr an Unterstützung (wenigstens in der Frühförderung) wünschen. Die Zahl jener Familien, die nach einer Fördermaßnahme keine weiteren mehr benötigt, kann dabei als guter Indikator für Prävention und Fördererfolg angesehen werden. Offizielle Zahlen sind dazu nicht bekannt. Langfristig könnte das zukünftige Funktionieren des Systems „Frühförderung“ von einer verstärkten Hinwendung zu spezifischen Wirkfaktoren und der klaren Darstellung von Outcomes im Sinne einer Prävention langfristiger Teilhabebeeinträchtigungen abhängen. Es sollte dieser Prozess jedoch umgehend begonnen werden. Allein eine kurze Analyse von Homepages von Leistungsanbietern in der Frühförderung in Deutschland und Österreich zeigt den deutlichen Handlungsbedarf in Richtung Ergebnis- oder Outcome-Darstellung. Die wenigsten Homepages deutscher oder österreichischer Frühförderstellen geben über konkrete (gemessene) Effekte der Förderung Auskunft. Vieles bleibt auf einem abstrakten begrifflichen Level. Gemeint sind damit Begriffe wie erzielte Entwicklungsfortschritte beim Kind, Stärkung der Eltern etc. Im Regelfall können Eltern auf Homepages deutscher und österreichischer Frühförderstellen nicht konkret erfahren, wie genau Frühförderung wirkt.

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