image

Rachel Elliott

Bären füttern verboten

Roman

Aus dem Englischen von Claudia Feldmann

image

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel
Do Not Feed the Bear bei Tinder Press, ein Imprint
von Headline Publishing Press, London.

Copyright © 2019 Rachel Elliott

© 2020 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel, Petra Koßmann, mareverlag
Coverabbildung Adaption nach Siobhan Hooper | Roi and Roi / Shutterstock (Vogel), pluie_r/Shutterstock (Pinselstrich)

Typografie (Hardcover) mareverlag, Hamburg

Datenkonvertierung E-Book Bookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-385-9

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-624-9

www.mare.de

Für Doris

Inhalt

Erster Teil

Nennen Sie es, wie Sie wollen, es stinkt trotzdem

Du könntest mich hart und glatt und schön machen

Bären füttern verboten

Die Tatsachen des Lebens

Date-Abend

Bezugspunkt

Ich ♥ Otter

Mark Rothko

Schneefrau

Es tut gut, im Dunkeln das Meer zu hören

Barry, das Frettchen

Ich mag Sie

Apokalypse

On the Rocks

Henry Moore

Es könnte mich überfordern

Ein Einmachglas mit Blumen

Känguru

Durch Rasensprenger laufen

Die Antwort auf alle Fragen

Zweiter Teil

Engel

Groucho

Hallo du

Seewetterbericht

Ein zuckerfreies Stückchen Rebellion

Ilas blauer Parka

Lego-Welt

Kleiner Mann

Flut und ein rotes Hemd

Schokokekse

Ein fallender Groschen

Waren Sie nie ein Kind, Mister Smith?

Bergziege

Dusty Springfield

Dein Feuer

Sich vor allen Leuten ausziehen

Crumpets, ein Schaffellmantel, ein Kieselstein, ein Gedicht

Entweder man verträgt es, oder man verträgt es nicht

Macht

Planlose Muße

Und er massiert ihr die Füße, und sie hören Radio

Dieses Mädchen, dieser Junge

Eine erstaunliche Information

Der Abend, als wir uns im Park geküsst haben

Seine Wahrheit oder ein Teil davon

Wollten Sie nie vor Freude tanzen,
Ihrem Körper freien Lauf lassen,
umhertoben, springen?

Erster Teil

Nennen Sie es, wie Sie wollen, es stinkt trotzdem

Ich bin acht, als ich zum ersten Mal einen toten Menschen sehe. Mum und ich sind im Flannery’s, dem Kaufhaus, in das wir jeden Sommer gehen. Bevor wir den Toten finden, suchen wir nach einem Geburtstagsgeschenk für Dad.

Ich hab’s, sagt Mum. Autohandschuhe.

Diese Worte setzen einen schwierigen Entscheidungsprozess in Gang, der dreiundfünfzig Minuten dauern wird.

Wir stehen vor einem langen gläsernen Tresen und betrachten fünf Paar lederne Autohandschuhe, die alle mehr kosten, als Mum ausgeben möchte.

Drehen wir eine Runde?, sagt sie. Das ist ihr Geheimcode für Ich glaube, wir zwei müssen uns mal unterhalten. In diesem Fall bedeutet er Lass uns ein bisschen umhergehen, damit wir in Ruhe überlegen können:

schwarz oder braun

schick oder praktisch

langlebig oder preisgünstig

oder sollen wir ihm eine Origami-Eule basteln?

oder sollen wir ihm eine Pilz-Quiche backen?

Wir durchqueren einen Dschungel aus Unterwäsche, und ich höre ihr zu, ohne sie zu unterbrechen.

Als wir am Aufzug vorbeikommen, taucht wie aus dem Nichts ein Mann auf und hält uns ein Sprühfläschchen mit Parfüm entgegen.

Auf keinen Fall, sagt Mum und hebt die Hand.

Jasmin und Iris, sagt der Mann.

Das bezweifle ich sehr, sagt Mum. Das ist alles künstlich, und wahrscheinlich enthält es Pferdeurin.

Ganz bestimmt nicht, sagt der Mann.

Ist nicht Ihre Schuld. Sie müssen ja auch Ihren Lebensunterhalt verdienen.

Ich schäme mich in Grund und Boden. Das ist nicht das erste Mal, dass sie in aller Öffentlichkeit über Pferdeurin spricht.

Mum?, frage ich.

Ja, Sydney.

Wonach riecht Pferdeurin?

Nach Jasmin und Iris. Und ich will nicht, dass du das in deine Lunge kriegst, womöglich geht das nie wieder raus.

Ich bin verwirrt.

Jetzt stehen wir erneut vor dem Glastresen und betrachten die Handschuhe.

Da sind Sie ja wieder, sagt die Verkäuferin. Haben Sie sich entschieden?

Mum holt entschlossen Luft, als wollte sie etwas sagen.

Doch es kommt nichts.

Oje, seufzt sie schließlich.

Die Verkäuferin lächelt. Sie heißt Vita, wie das Namensschild auf ihrer Seidenbluse verrät. Vitas Haare sehen sehr seltsam aus, als wäre ein schwarzer Helm aus dem All gefallen und auf ihrem Kopf gelandet. Sie sind vollkommen glatt und wie eine Kugel geschnitten, mit einem schnurgeraden Pony, der bis zu ihren Augen reicht. Ein Bob, so heißt das. Das weiß ich da noch nicht, aber ich werde den Ausdruck später verwenden, wenn ich mich an den Toten erinnere und Ruth davon erzähle.

Ich suche nach Antennen, die aus dem Helm ragen, nach außerirdischer Überwachungstechnik. Nein, nichts zu sehen. Nur makellos glänzendes Plastik. Hübsch und zugleich enttäuschend.

Sie sehen aus wie eine von meinen Playmobilfiguren, sage ich. Sie haben genau die gleichen Haare.

Ist das gut oder schlecht?, fragt Vita.

Ich spüre, dass ich mit der Antwort etwas falsch machen könnte, und schaue zu Mum.

Oh, sie liebt ihre Playmobilfiguren, sagt Mum. Sie bindet ihnen Schnüre um den Bauch und lässt sie sich an der Hauswand abseilen. Gleich wollen wir noch einen Cowboy dazukaufen.

Wie nett, sagt Vita. Sie blickt auf die Handschuhe. Sind die für Sie?, fragt sie.

Nein, sagt Mum. Es sind ja Männerhandschuhe, nicht?

Natürlich, sagt Vita, die merkt, dass sie vom Weg abgekommen ist, ihren Part vergessen hat.

Also gut, sagt Mum.

Sie ist gestresst, wie meistens, wenn sie Geld ausgeben soll. Ich stehe auf den Zehenspitzen, und wir starren alle drei auf die Handschuhe, als würden wir darauf warten, dass sie etwas Aufregendes tun, zum Beispiel von allein den Platz wechseln.

Doch Vita ist keine Zauberin. Zumindest nicht während der Arbeitszeit. Niemand weiß, was sie tut, wenn sie nach Hause kommt.

(Wir ahnen zu diesem Zeitpunkt nicht, dass Vita zum Beispiel eine Polizeiuniform anzieht, die sie in einem Kostümgeschäft gekauft hat, und damit spätabends durch die Straßen geht. Ein paar Tage später, als Mum es in der Lokalzeitung liest, bezeichnet sie es als absolut faszinierend.

Mum findet alles Mögliche faszinierend, und sie versucht, diese Begeisterungsfähigkeit auch in meinem Bruder und mir zu wecken.

Sie, während wir durch den Wald gehen: Findest du dieses Blatt nicht faszinierend, Sydney?

Ich, mit dem Blick nach unten: Geht so.)

Ich glaube, ich nehme die, sagt Mum zu Vita und zeigt auf Paar Nummer drei, das in der Mitte. Das ist ungewöhnlich, denn normalerweise nimmt Mum immer das Billigste.

Ausgezeichnete Wahl, sagt Vita.

Ich wette, das hätten Sie bei jedem Paar gesagt, sagt Mum. Dann wird sie nervös und fängt an, ganz schnell zu reden. Das war unhöflich, sagt sie. Aber so habe ich es nicht gemeint, ich dachte nur, Sie müssen bestimmt den ganzen Tag nette Sachen zu den Leuten sagen. Das gehört zu Ihrer Arbeit, so was zu sagen wie ausgezeichnete Wahl, nicht?

Ohne zu antworten, packt Vita die Handschuhe erst in Seidenpapier und dann in eine Tüte. Die Tüte ist steif und eckig und pfirsichfarben, mit dem Aufdruck Flannery’s in großen, geschwungenen Buchstaben auf der Seite. Nächste Woche, wenn wir aus den Ferien zurück sind, wird Mum darin Umschläge sammeln und in dem Seidenpapier das Einzugsgeschenk für eine Freundin verpacken. So was nennt man einfallsreich und kreativ, wird sie zu Jason und mir sagen, während wir unsere Cornflakes essen und uns ihren endlosen Vortrag über unsere Wegwerfgesellschaft anhören. Mum hält uns gerne Vorträge. Ihre Lieblingsthemen sind Verschwendung, Profitgier und die Bedeutung von Langeweile für Kindergehirne. Was den letzten Punkt angeht, bräuchte sie sich keine Sorgen zu machen – mein Gehirn und Jasons sind supergesund, vor allem dank dieser Vorträge.

Endlich sind wir fertig. Wir lassen Vitas Helm und ihre Parfümwolke hinter uns und machen uns auf den Weg in die Spielzeugabteilung im vierten Stock. Vor uns liegt jetzt eine Bahn, eine Piste, ein Labyrinth aus Teppichwegen. Ich bewege mich, so schnell ich kann, ohne zu laufen, und Mum sagt, langsam, Sydney, renn doch nicht so. Sie weiß, was los ist, was in mir vorgeht: dass ich vorausstürmen will, die Hände ausgestreckt nach allem, woran ich hochklettern und wovon ich runterspringen kann. Gleich wird sie mir wieder einen Vortrag halten, über Sicherheit und darüber, was man tut und was nicht, es sei denn, man ist a) ein deutlich jüngeres Kind auf einem Spielplatz oder b) eine Sportlerin, die für die Olympiade trainiert. Ich bin weder a) noch b), also welcher Buchstabe bin ich? Manchmal n) wie nervtötend oder w) wie wild, aber meistens u) wie unartig. Aber ich verstehe einfach nicht, warum die Leute sich so komisch bewegen, so roboterartig, immer nur kleine Schritte. Warum springen sie nicht umher, erkunden all die Oberflächen, probieren unterschiedliche Geschwindigkeiten aus, machen neue Bewegungen anstatt immer nur rechts, links, schön ordentlich und immer auf dem Boden?

Um zu den Spielsachen zu kommen, muss man durch die Bettenabteilung. Meine Augen werden ganz groß. Lauter Trampoline und weiche Landemöglichkeiten. Ihr könnt eure Süßigkeiten, eure Puppen und euer Fernsehen behalten. Viel lieber wäre mir eine halbe Stunde allein auf diesem Hindernisparcours, wo ich von Matratze zu Matratze springen kann.

Aber heute bin ich brav. Ich stelle Mums Geduld nicht auf die Probe, wie sie es nennt. Ich gehe, wie es sich gehört.

Bis ich einen Mann auf einem der Betten liegen sehe, auf zwei Kissen gestützt. Er fällt mir auf, weil er Schuhe anhat, und man darf nicht mit Schuhen ins Bett.

Woher ich das weiß? Weil Jason sich mal mit seinen neuen Turnschuhen ins Bett gelegt hat. Kurz davor war er im Garten, wo der Hund vom Nachbarn herumgelaufen ist, und da ist er mit seinen Pumas in Hundescheiße getreten – beziehungsweise in A-A, wie wir das während des ganzen dramatischen Zwischenfalls nennen sollten. Als Mum nach oben kam, um uns Gute Nacht zu sagen, gab es erst Geschnüffel und dann lautes Geschrei. Sie lief hinaus und kam mit Dad zurück, der Gummihandschuhe anhatte und sehr ernst dreinschaute. Jasons Laken, Bettwäsche und Decke wurden in drei Plastiksäcke gepackt und in die Mülltonne gestopft, weil Dad meinte, selbst mit Desinfektionsmittel würden sie nicht wieder richtig sauber. Die Sachen waren noch ziemlich neu, deshalb hat Mum geweint und Gin Tonic getrunken und Stevie Wonder gehört (Mum liebt Stevie Wonder). Am nächsten Tag kam eine Frau in einem weißen Overall, um die Teppiche sauber zu machen. Sie hieß Lulu. Ist das Ihr richtiger Name?, fragte Mum. Ist Ila Ihr richtiger Name?, fragte Lulu zurück. Ja, schon, sagte Mum. Lulus Overall war pieksauber, wie unsere Tischdecke. Darf ich mal anfassen?, fragte Mum. Wenn’s Sie glücklich macht, sagte Lulu. Um die Taille trug sie den breitesten Gürtel, den ich je gesehen hatte; die goldene Schnalle war so groß wie mein Kopf. Ich mache die Scheiße von anderen Leuten weg, sagte sie. In diesem Haus sagen wir dazu A-A, sagte Mum. Nennen Sie es, wie Sie wollen, es stinkt trotzdem, sagte Lulu.

Ich bleibe stehen und sehe den Mann an, der da auf dem Bett liegt, sodass Mum auch stehen bleibt.

Es ist unhöflich, jemanden anzustarren, sagt sie.

Aber dann sieht sie, was ich sehe.

Der Mann bewegt sich nicht.

Wir stehen nebeneinander am Fußende eines Doppelbetts und schauen auf seinen offenen Mund und die offenen Augen. Ich strecke die Hand aus und berühre seine schwarzen Lederschuhe, die blitzblank poliert sind.

Ich mag seine roten Socken, sage ich. So welche möchte ich auch. Was macht er da?

Du liebe Güte, sagt Mum. Sie weicht zurück, als hätte sie sich erschreckt, nimmt meine Hand und zieht mich weg zur Kasse, wo sie flüstert: Da liegt ein Mann im Bett, der ist womöglich tot. Und ich denke, das klingt wie der Anfang von einem der Gedichte, die Dad mir abends vorliest.

Da liegt ein Mann im Bett, der ist womöglich tot.

Was mag passiert sein? Hat er große Not?

Hol doch jemand den Herrn Doktor

Hier hilft kein Spielzeughelikopter.

Dass ich den toten Mann gesehen habe, macht mir nichts aus, aber Mum denkt, es wäre so, und das ist prima, denn um mich zu trösten, kauft sie mir statt des versprochenen Cowboys einen Playmobil-Krankenwagen. Ich kann es gar nicht glauben. So was kriegt man sonst nur zu Weihnachten, nicht an einem ganz normalen Tag.

Na, sagt Mum, als wir ins Auto steigen, das war ja vielleicht ein Morgen. Alles in Ordnung, Sydney?

Mir geht’s gut, sage ich und schnuppere an meinem Krankenwagen.

Mum klappt die Handtasche auf, nimmt zwei Schokokekse heraus, die sie in ein Papiertaschentuch gewickelt hat, und gibt mir einen davon.

Sollen wir das Radio anmachen?, fragt sie. Es tut uns vielleicht gut, ein bisschen zu singen.

Warum tut das gut?

Weil es befreit.

Während sie uns zum Zeltplatz in St. Ives zurückfährt, singen wir zu »Matchstalk Men and Matchstalk Cats and Dogs«, »Rivers of Babylon« und »Take a Chance on Me«.

Woher kennst du die ganzen Texte?, frage ich.

Liedtexte kann ich mir leicht merken, sagt Mum.

Wir parken neben unserem Zelt und gehen direkt zum Strand, um Dad und Jason zu suchen.

Die beiden sitzen auf einer Decke, die Blicke gesenkt, beschäftigt. Jason nimmt ein kaputtes Radio auseinander, das er extra für diese Reise aufgehoben hat.

Was ist das?, fragt er und blickt auf.

Ein Geschenk, sage ich und gebe ihm den Satz Mini-Schraubenzieher, den Mum bei Flannery’s für ihn gekauft hat.

Oh, super, sagt er, denn Jason liebt Werkzeug genauso wie ich Stifte. Übrigens hat mein Bruder eine echt seltsame Angewohnheit: Manchmal vergräbt er seine Lieblingssachen im Garten. Ja, wie ein Hund seinen Knochen. Nur dass Jason seine Sachen vorher in Tupperdosen packt, damit sie nicht schmutzig werden. Das macht er schon seit Jahren. Angefangen hat es mit seinem Action Man und Lego. Mum und Dad wissen nichts davon. Wenn wir wieder zu Hause sind, wird Mum fragen, wo die Schraubenzieher sind. An einem ganz sicheren Ort, wird Jason sagen, während ich meine Buchstabennudeln esse und den Mund halte. Jeder hat ein Recht auf ein paar Geheimnisse, selbst mein seltsamer Bruder.

Dad lackiert seine neueste Kreation: eine Holzkiste mit lauter offenen Fächern, und in jedem davon steckt ein Haken.

Was ist das denn?, frage ich.

Ach, nichts, sagt er. Habt ihr was Schönes gekauft?

Ich erzähle ihm von dem Mann auf dem Bett, der womöglich tot ist, und zeige ihm meinen Krankenwagen. Er fragt, ob ich was Süßes will, Zucker tut bei einem Schock immer gut. Ja, bitte, sage ich. Er greift in die Kühltasche und holt eine Dose mit pudrigen Bonbons heraus.

Danke. Warum tust du die in die Kühlbox?, frage ich.

Warum nicht?, sagt er.

Was hast du denn noch da drin?, fragt Mum.

Hm, sagt er und kramt ein bisschen.

Würstchen im Schlafrock, Eier-Sandwiches, Käse-Zwiebel-Chips, Weingummi, Schokoküsse und eine Flasche Orangenlimo.

Nicht übel, sagt Mum.

Wir machen es uns bequem, setzen uns nebeneinander, essen unser Picknick und schauen aufs Meer.

Ganz schön frisch hier, nicht?, sagt Jason.

Reine Einstellungssache, sagt Mum.

Ich bin zehn, als ich zum zweiten Mal einen toten Menschen sehe.

Da ist nichts, was befreit.

Da wird nicht zur Radiomusik gesungen.

Du könntest mich hart und glatt und schön machen

Ich erinnere mich gut an dich, Sydney Smith. Du hast meine Schuhspitze gedrückt. Ich liebte diese italienischen Schnürschuhe und habe sie dauernd poliert, bis man sich darin spiegeln konnte.

Bei deinem Reim musste ich schmunzeln. Aber um ehrlich zu sein, hätte mir weder ein Spielzeughelikopter noch der Herr Doktor geholfen, weil ich tatsächlich tot war, mausetot. Den Löffel abgegeben und ins Gras gebissen, wegen so einem blöden Schlaganfall. Und was für ein Timing, Sydney. Ich war auf der Suche nach einem Bett für meine Freundin und mich, eine Woche später wollten wir heiraten.

Ich hatte schon alle möglichen Betten ausprobiert, bevor ich zu Flannery’s kam, aber bei dem wusste ich sofort, das ist es, noch bevor ich mich darauf ausgestreckt hatte. Noch nie hatte ich mich so getragen gefühlt. Ich sank hinein, ich schwebte, ich war glücklich.

Ich bin eine Leseratte, Sydney. Ich liebe es, im Bett zu lesen. Deshalb wollte ich wissen, wie es wäre, in diesem Bett zu lesen. Ich schüttelte die Kissen auf, lehnte mich dagegen und stellte mir vor, ich hätte meinen Schlafanzug an und ein Buch in der Hand und würde zu Maria sagen: Der Satz hier ist wunderbar, soll ich ihn dir vorlesen?

Und während ich mir das vorstellte, ist es passiert.

Irgendwie bin ich einfach gestorben.

Verdammte Scheiße, Sydney. Was soll man da anderes sagen als verdammte Scheiße?

Und dann trat ein Mädchen ans Fußende des Betts und drückte meine Zehen. Das konnte ich übrigens spüren. Noch hatte das Leben mich nicht ganz verlassen. Das dauert ein paar Tage. Wenn die Lebenden bloß darum wüssten. Dann würden sie die Sterbenden, die frisch Verstorbenen und die richtig Toten unterschiedlich behandeln. Ich war frisch verstorben und noch nicht richtig tot, und du warst eine süße Kleine in einer Latzhose und einem gestreiften T-Shirt, die meine roten Socken bewunderte.

Während du mit deiner Mum im Auto gesungen hast, hat ein Polizist bei Marias Eltern an die Tür geklopft. Seine Worte drangen in das Haus ein wie ein Waldbrand: eine lodernde Feuerwalze, die wie aus dem Nichts den Stadtrand überrollte.

Du weißt nie, was als Nächstes passiert. Das sagen die Leute ständig. Aber ich würde sie am liebsten schütteln oder ihnen ans Schienbein treten, damit sie den Satz wirklich ernst nehmen, erkennen, dass es keine Floskel ist, sondern eine Tatsache, die alles auf den Kopf stellen kann. Denn glaub mir, es kann in jedem verdammten Augenblick vorbei sein. Vergiss das nicht, okay? Nimm nie etwas für selbstverständlich.

Ich sollte mich wohl bei dir bedanken, Sydney Smith, weil du mich für autobiografische Zwecke verwendest. Deine Zeichnung ist großartig. Ich sehe aus, als würde ich schlafen. Ich wünschte, ich würde schlafen. Ich war noch nie Teil eines Graphic Memoir. Oder überhaupt irgendeines Buchs. Hätte ich das gewusst, als ich noch lebte, dass ich gleich am Anfang eines Buchs vorkommen würde, hätte ich das groß gefeiert. Das habe ich zum Glück richtig gemacht. Ich habe einfach alles gefeiert. Natürlich nicht mit großem Pomp. Schließlich kann man ja auf alle möglichen Arten feiern. Indem man Brot backt. Oder alle Fenster öffnet. Oder ihr sagt, wie schön sie ist.

Ihr.

Ja.

Meine Güte, du hast mich aufgerüttelt, Sydney Smith. Darf ich dich im Gegenzug um einen Gefallen bitten? Kannst du mich in die Hände einer Frau namens Maria Norton geben? Ich wäre so gerne noch einmal in ihren Händen. Ich weiß, ich bin klein und unbedeutend, was das große Ganze und diese Geschichte angeht, aber vielleicht könntest du aus mir ja einen Kieselstein an einem Strand machen? Du könntest mich hart und glatt und schön machen. Angenehm in der Hand, von bläulichem Weiß. Und eine Frau namens Maria Norton könnte mich aufheben und bewundern, mich zwischen ihren Fingern hin und her bewegen und dann ins Meer werfen. Ich würde mit einem kaum hörbaren Plätschern versinken.

Bitte gib mich in ihre Hände.

Vielen Dank schon mal, Sydney.

Ich würde mich freuen, von dir zu hören.

Herzliche Grüße

Andy

PS: Ich war für Maria mehr als ein Kieselstein. Ich war der ganze verdammte Strand. Ich war der Sand und das Wasser, die Fische und der Meeresboden, die Wolken, die Möwen, der Müll. Ich weiß nicht mal, was aus ihr geworden ist. Ich weiß nicht mal, wo sie ist.

Bist du für jemanden der ganze Strand, Sydney?

Ich hoffe es. Ich hoffe es wirklich.

Bären füttern verboten

Sag mal, was möchtest du eigentlich an deinem Geburtstag machen?, fragt Ruth.

Ach, wahrscheinlich das Übliche, sagt Sydney, die am Herd steht und Kaffee kocht.

Das Übliche, sagt Ruth.

Wenn das okay ist, sagt Sydney.

Beide schweigen.

Sydney schenkt den Espresso in zwei blau-weiß gestreifte Tassen und stellt eine davon vor Ruth auf den Tisch.

Vielleicht können wir ja nach deinem Geburtstag irgendwo essen gehen, sagt Ruth. Bevor du wegfährst?

Gute Idee, sagt Sydney.

Sie weiß, dass gerade etwas Wichtiges geschehen ist: ein Augenblick liebevoller Rücksicht. Ruth hätte ihren Frust, ihre Missbilligung zeigen können, hat es aber nicht getan.

Aber ich bin ja nur eine Woche weg, sagt sie.

Ich weiß. Hast du schon ein Zimmer gebucht?

Ja, gestern. Sorry, hab ich vergessen zu sagen.

Hast du das B&B bekommen, das du haben wolltest?

Ja, hat alles geklappt.

Ich glaube, das tut uns beiden mal gut, sagt Ruth.

Meinst du?

Ruth nickt. Es tut doch jedem gut, wenn er mal ein bisschen für sich ist.

Wahrscheinlich hast du recht, sagt Sydney. Ich sollte mich jetzt besser wieder an die Arbeit machen. Wenn du willst, reden wir später noch mal darüber. Reservier uns doch irgendwo einen Tisch.

Okay, sagt Ruth.

Oben setzt Sydney sich an ihren Schreibtisch und zeichnet Ruths Unzufriedenheit als einen Braunbären, der den Kopf bis zum Boden hängen lässt. Dieser Bär ist ein unausgesprochenes Wesen, aber sie spürt manchmal, wie er durch das Haus tapst, kann beinahe seine schweren Schritte auf der Treppe hören. Wenn sie ehrlich ist, freut sie sich darauf, ihm zu entkommen, wenn sie für eine Woche zum Freerunning und Zeichnen runter an die Küste fährt. Ist das schlimm? Sie fügt ihrer Zeichnung ein Schild hinzu: BÄREN FÜTTERN VERBOTEN.

Dann legt sie das Blatt in eine Holzkiste und macht sich an die Arbeit. Sie betrachtet die Zeichnung von Vita, wie sie in einer Polizeiuniform durch eine dunkle Straße schleicht. Dann Jason, wie er sorgsam die Innereien eines alten Radios in einen Plastikbehälter packt und ihn dann im Garten vergräbt. Sie legt die beiden Zeichnungen beiseite und konzentriert sich auf die, die noch nicht fertig ist, von ihrer Mutter, wie sie in einem Café auf eine Fremde zugeht.

Unten in der Küche flucht Ruth leise: Herrgott noch mal.

Warum muss es jedes Jahr gleich ablaufen? Ein paar Tage vor Sydneys Geburtstag stellt sie die immer gleiche Frage, in der Hoffnung, dass sie vielleicht einen langen Spaziergang machen werden, essen gehen, irgendwohin fahren, wo sie noch nie waren. In der Hoffnung, dass sie den Tag zusammen verbringen.

Aber nein.

Sydney will das tun, was sie immer tut: auf eine Wand zurennen, mit zwei Schritten daran hochlaufen, sich abstoßen und mit einem Rückwärtssalto landen. So will sie ihren siebenundvierzigsten Geburtstag verbringen. Sie benutzt ein Geländer als Achse, um die ihr Körper eine Dreihundertsechzig-Grad-Drehung vollführt. Natürlich nicht in Rock und Pullover. Sie wird eine locker sitzende Hose anziehen, dazu ein Langarmtop mit einem T-Shirt darüber und eine Mütze, und allein in die Stadt ziehen wie ein halbwüchsiger Junge. Das ist ihr Ritual. Wird sie das auch noch machen, wenn sie sechzig oder siebzig ist? Wenn ihre Knochen das nicht mehr so leicht mitmachen werden?

Ruth knirscht mit den Zähnen. Ist es denn so falsch, sich einfach ein bisschen Normalität zu wünschen?

Wobei Normalität natürlich Definitionssache ist. Was für den einen normal ist, ist für den anderen seltsam. Ja, ja, das weiß Ruth alles. Und Freerunning ist beeindruckend, klar. Das endlose Training, die spezielle Ernährung, die Sit-ups und Pushups, die Disziplin und der Drive. Man muss stark sein, körperlich wie seelisch, und natürlich anmutig. Aber wie würdest du dich fühlen, wenn deine Lebensgefährtin jedes Mal, wenn ihr zusammen in die Stadt geht, eine Art Superheldinnen-Akrobatik veranstaltet? Es ist atemberaubend und nervtötend, fantastisch und peinlich. Parkour ist die dritte Person in ihrer Beziehung, und nächste Woche wird sie wieder einmal mit Sydney in der Stadt verschwinden, um ihren Geburtstag zu feiern. Déjà-vu. Wenigstens ein Mal in den vierzehn Jahren, die sie jetzt zusammen sind, würde Ruth gerne diejenige sein, die sie ausführt. Nur sie beide. Keine locker sitzende Hose, keine Turnschuhe und vor allem keine Backflips.

Ruth trinkt ihren Kaffee und versucht sich zu beruhigen.

Nein, es ist keine gute Idee, raufzugehen und Sydney anzubrüllen. Sie arbeitet an ihrem Buch. Es hat ewig gedauert, bis sie mit diesem Projekt angefangen hat, bis sie sich überhaupt dazu durchringen konnte. Sei nicht egoistisch. Ha! Ich, egoistisch? Wer von uns ist denn hier egoistisch! Hör auf, Ruth. Denk an was Positives.

Okay, hier ist etwas Positives:

Sydney abends beim Freerunning mit ihrer Gruppe zuschauen. Es ist schwer, von diesem Anblick nicht berührt zu sein. Im Schein der Straßenlaternen sieht Ruth ihre Biegsamkeit vor der harten Geometrie der Stadt. Sydney nutzt eine gerade Linie als Sprungbrett, um durch die Luft zu kurven. Sie ist zwei zugleich, ihr Schatten tanzt über die Mauern. Es könnte der Schatten eines mädchenhaften Jungen oder eines jungenhaften Mädchens sein, doch das ist er nicht. Er gehört einer Frau, die auf die fünfzig zugeht. Einer Cartoonistin, die ihre Arbeitstage oben in ihrem gemeinsamen umgebauten Loft verbringt, während auf dem Sessel neben ihrem Schreibtisch ein Foxterrier namens Otto schnarcht. Einer Frau, die ab und an mit ihrem fünfunddreißig Jahre alten Skateboard in den Park geht, aber nur, wenn Ruth unterwegs ist, weil sie denkt, ihre Freundin wüsste nichts von diesen nostalgischen Ausflügen auf abgenudelten Rollen. Aber vor allem einer Frau, die sich weigert, an ihrem Geburtstag irgendetwas Normales zu tun.

Geburtstage sind ein Reizthema, eine Gefahrenzone. Den Tag zu feiern, an dem Sydney geboren wurde, ist definitiv nicht angesagt.

Warum?

Weil man damit die Tatsache feiern würde, dass Sydney noch am Leben ist, und das ist ein schwieriges Terrain für sie, eines, das sie lieber überspringen würde, als darin zu landen.

Das Dumme ist nur, diese Tatsache nicht zu feiern, ist für Ruth schwierig. Dadurch fühlt sie sich zugleich ausgeschlossen und in eine Vergangenheit gezogen, die nicht ihre ist.

Kann ich dir nicht wenigstens einen Kuchen backen?, hat sie in der Anfangszeit gefragt.

Mir wär’s lieber, wenn du das nicht tätest, hat Sydney gesagt. Ich finde, Geburtstage sind was für Kinder.

Wie deprimierend, hat Ruth gedacht.

Und außerdem, denkt sie jetzt, ist das Ganze absurd: Du machst ein Riesentheater darum, dass du kein Theater willst. Und selbst wenn wir die Tatsache nicht feiern, dass du widerstrebend und mit schlechtem Gewissen in ein weiteres Lebensjahr gekrochen bist, sorgst du mit deiner störrischen Weigerung, dich wie ein normaler Mensch zu benehmen, dafür, dass dieser Tag aus allen anderen herausragt.

Nicht mal ein Minikuchen mit einer einzigen Kerze?, hat Ruth gefragt.

Nicht mal das, hat Sydney gesagt.

Also gut, ausnahmsweise, hat Ruth gesagt. Aber das muss sich ändern. Ich mache das nicht bis in alle Ewigkeit mit, okay? Irgendwann gehen wir zwei an dem Tag schön essen, sonst kriege ich schlechte Laune.

Einverstanden, hat Sydney gesagt. Das war vor dreizehn Jahren.

Die Tatsachen des Lebens

Es ist der sechste Tag unserer Ferien. St. Ives zum fünften Mal hintereinander, also bedeutet Ferien für mich: Du suchst dir einen Ort aus und fährst jeden Sommer hin. Letztes Jahr haben wir in unserem Zelt geschlafen, und ich habe einen Mann auf einem Bett gefunden, der tatsächlich tot war. Dieses Jahr haben wir uns verbessert, wie Dad sich ausdrückt. Wir haben einen Wohnwagen gemietet. Als er ihn zum ersten Mal betreten hat, musste er sofort zehn Pence in die Fluchdose tun. Heilige Scheiße, hat er gesagt, hier kann ich mir ja im Stehen die Hose anziehen. Und was ist daran so toll?, hat Mum gefragt.

Heute gibt es ein besonderes Abendessen. Mum hat den Tisch in unserem Wohnwagen gedeckt. Eine weiche Baumwolltischdecke, blau-gelb kariert. Küchenrolle zu Dreiecken gefaltet. Gläser und Besteck und ein Krug Limonade.

Essen ist fertig, ruft sie von der Tür aus. Kommt, ihr drei, rein mit euch.

Auf dem Tisch steht eine Speisekarte, von Mum geschrieben.

Vorspeise: Cracker mit Käse und Pickles

Hauptgericht: Schellfisch in Soße mit Kartoffelkroketten, Erbsen,

Möhren und Bohnen

Nachspeise: Karamellcreme

Fisch-Fertiggerichte gibt es bei uns oft, aber nie drei Gänge, Küchenrollenservietten, eine Speisekarte und Limonade.

Dieses Essen, sagt Mum, während die Cracker in unserem Mund knuspern, ist der Beginn einer neuen Tradition. Wenn wir wieder zu Hause sind, werden wir uns jeden Freitagabend zusammen an den Tisch setzen und einander erzählen, was wir während der Woche erlebt haben. Ich glaube, das wird uns guttun.

Dads brauner Pulli ist schon übersät mit Cracker- und Cheddarkrümeln. Er isst immer so, als hätte er seit Tagen nichts mehr gekriegt, und dann landet jedes Mal etwas auf seinen Sachen oder auf dem Tisch. So wie bei Mum, wenn sie morgens ihre Frühstücksflocken isst: Dann hat sie meistens einen Milchtropfen in ihrem Kinngrübchen.

Ich habe eigentlich keine Lust, von meiner Woche zu erzählen. Ich würde mich viel lieber mit dem Essen vor den Fernseher setzen, wie wir es sonst auch machen. Jeder hat sein eigenes Tablett. Meins ist klasse, mit einem Jungen darauf, der mit einer Rakete durchs All fliegt. Ich habe auch eine Brotdose mit Hulk und Spider-Man darauf, das ist eine von meinen absoluten Lieblingssachen, und die will ich für immer behalten. Jason hat eine Star Wars-Brotdose und eine Trinkflasche mit Darth Vader, Luke Skywalker und R2-D2 darauf.

Sydney, wo bist du denn schon wieder mit deinen Gedanken?, fragt Mum. Wenn Leute sich unterhalten, sollte man wenigstens so tun, als würde man zuhören.

Ich hab ja zugehört.

Und was habe ich gerade gesagt?, fragt Dad.

Du hast gesagt, du hast eine sehr entspannte Woche gehabt, und wenn wir wieder zu Hause sind, willst du dein Fahrrad reparieren.

Sie merken einfach nicht, dass ich immer zuhöre. Außer wenn ich laufe und klettere. Dann gibt es nur mich und den Boden oder die Mauer oder irgendeine andere Oberfläche, und ich bin so stark, viel stärker als im normalen Leben. Es ist, als würde ich mich in ein Tier verwandeln, in einen Leoparden oder einen Affen oder so.

Mum erzählt als Letzte von ihrer Woche, und ich lerne eine Menge daraus. Wir müssen nämlich nicht die ganze Woche beschreiben, von Anfang bis Ende, sondern können auch nur eine Sache schildern, die passiert ist, einen kurzen Augenblick. Darauf bin ich gar nicht gekommen. Ich habe mir viel zu viel Mühe gegeben und versucht, mich genau zu erinnern, was wir an jedem Tag gemacht haben. Aber indem man einen Augenblick beschreibt, kann man alles beschreiben, wie Mum uns erklärt. Man versteht die ganze Geschichte auch, wenn man nur eine Reihe von Augenblicken betrachtet – man muss daraus keine Geschichte machen, weil sie die Geschichte sind und alles schon miteinander verbunden ist.

Und das erzählt uns Mum:

Ihr wisst ja, am Dienstag bin ich bummeln gegangen. Ich war in einer Galerie, einem Antiquariat und ein paar Wohltätigkeitsläden. Danach war ich erschöpft, deshalb bin ich in das Café neben der Bibliothek gegangen, da, wo wir am Montag gewesen sind, um einen Kaffee zu trinken und ein Stück Kuchen zu essen. Und da ist etwas Wichtiges passiert. Da war nämlich eine junge Frau.

Wer denn?, frage ich.

Ihren Namen habe ich nicht erfahren. Sie saß allein an einem Tisch und weinte. Ich überlegte, ob ich sie in Ruhe lassen sollte oder zu ihr gehen und fragen, ob ich etwas für sie tun kann. Manche Leute mögen das nämlich nicht, die wollen lieber für sich bleiben. Aber wenn man sich nicht um jemanden kümmert, der Hilfe braucht, kann einen das noch lange verfolgen, und man schämt sich sehr, das könnt ihr mir glauben.

Während wir ihr zuhören, essen alle weiter, außer mir. Ich sitze ganz gebannt da. Jason schiebt mit der Gabel seine Erbsen hin und her und lässt sie durch einen See aus gelber Soße schwimmen. Dad isst mit besorgter Miene seinen Fisch.

Warum kann einen das verfolgen?, frage ich.

Nun ja, vielleicht hat sie sich ganz allein auf der Welt gefühlt, ohne jemanden, der sich um sie kümmert. Vielleicht war sie kurz davor, sich das Leben zu nehmen.

Glaubst du, sie wollte sich das Leben nehmen?, frage ich.

Ila, sagt Dad. Das ist ganz schön düster. Und völlig überzogen. Wie kommst du nur auf so einen Gedanken? Wir weinen alle mal, aber das heißt doch nicht –

Das sind die Tatsachen des Lebens, sagt Mum.

Du weinst nie, sagt Jason.

Natürlich tue ich das, sagt Dad.

Wann denn?

Das weiß ich doch jetzt nicht so genau.

Ich dachte, die Tatsachen des Lebens hätten was mit Sex zu tun, sagt Jason, und wir sehen ihn alle an.

Es gibt lauter verschiedene Tatsachen des Lebens, sagt Mum. Nicht alle haben was mit Sex zu tun.

Dad lacht.

Wie auch immer, sagt Mum, kann ich jetzt weitererzählen? Ich wollte nicht mit einem schlechten Gewissen nach Hause gehen, also bin ich aufgestanden und habe sie gefragt, ob ich ihr irgendwie helfen kann.

Und hat sie dir gesagt, warum sie geweint hat?, frage ich.

Ja, hat sie. Ihr Hund ist gestorben.

Warum weint sie denn wegen einem Hund?, fragt Jason.

Weil der Hund zu ihrer Familie gehörte, sagt Mum. Er ist angefahren worden und musste eingeschläfert werden. Sie hatte ihn gerade beim Tierarzt zurückgelassen und hat es nicht über sich gebracht, ohne ihn nach Hause zu gehen.

Liebes, sagt Dad, ich finde, das ist wirklich nicht –

Nein, sagt Mum. Ich habe lange darüber nachgedacht, und ich finde, sie sollten so etwas hören.

Da bin ich mir nicht so sicher.

Es ist wichtig, sagt Mum.

Wer hat den Hund angefahren?, frage ich.

Kommt er ins Gefängnis?, fragt Jason.

Hat er das mit Absicht gemacht?

Wie lange muss man dafür ins Gefängnis?

Später am Abend hören wir ihre Stimmen von oben aus der winzigen Schlafnische. In unserem Wohnwagen hört man alles. Also wirklich, Ila, sagt Dad, das war vollkommen unnötig, du machst ihnen nur Angst. Das sehe ich anders, sagt Mum. Kinder müssen lernen, wie man über schwierige Themen spricht, und vor allem, was man tut, wenn es jemandem nicht gut geht. Aber muss es denn gleich der Tod sein?, fragt er. Ja, sagt sie. Erinnerst du dich an letzten Sommer, als Sydney und ich den toten Mann gefunden haben? Ich hätte die Erfahrung dazu nutzen können, ihr etwas beizubringen, und stattdessen habe ich alles unter den Teppich gekehrt. Ein Toter im Kaufhaus? Hier, da hast du einen Spielzeugkrankenwagen, jetzt vergiss das Ganze. Was habe ich ihr denn da für eine Botschaft vermittelt? Ich schäme mich immer noch deswegen.

Ihr Streit ging noch eine Weile weiter, aber diesmal hatte – im Gegensatz zu sonst – offenbar Dad gewonnen, denn wir hörten nie wieder eine traurige Geschichte von Mum, und vom Sterben wurde auch nicht mehr gesprochen.

Als das Thema dann wieder aufkam, versuchten wir gar nicht, darüber zu reden.

Es hätte ohnehin nichts genutzt.

Date-Abend

Er lässt sich im beleuchteten Becken treiben und blickt hoch zu den Sternen. Sein Gesicht wirkt jünger als sonst. Da ist eine jungenhafte Leichtigkeit, oder vielleicht eine leichte Jungenhaftigkeit. Das liegt an ihr. Seiner Frau Ila. Selbst nach all den Jahren weckt sie in ihm immer noch das Verspielte, Alberne, Übermütige.

Er dreht sich auf den Bauch und schwimmt zum Rand. Dort legt er die Arme auf die Mosaikfliesen, das Kinn auf die Arme und wartet.

Heute ist Date-Abend. Jeden Monat treffen sie sich an einem Donnerstag im Schwimmbad.

An diesem Abend kommt sie spät, aber das stört ihn nicht. Wahrscheinlich zieht sie sich gerade um und trödelt dabei. Sie lässt sich gerne Zeit.

Er lässt sich zurück in das warme Wasser gleiten, taucht unter, kommt wieder hoch.

Howard liebt das Schwimmbad. Das Beste daran ist die Form des Beckens, denn es ist ungewöhnlicherweise rund. Es gibt keine Länge und Breite, die man schwimmen könnte, sondern nur einen Umfang, einen Radius und einen Durchmesser. Man kann natürlich auch einen Bogen oder eine Wellenlinie schwimmen, wenn man will. Man kann sich in der Mitte treiben lassen, in dem Wissen, dass man sich im tiefsten Innern des Kreises befindet und von hier aus jeder Weg gleich lang ist. Perfekte Symmetrie, die sich unter ihm abzeichnet. Er würde das Becken gerne mal sehen, wenn kein Wasser darin ist, um das geometrische Handwerk auf dem Boden zu bewundern, die Punkte und Linien, Abmessungen und Pfeile.

Um das Becken herum eine Reihe von konzentrischen Kreisen. Erst die Mosaikfliesen, blau und weiß. Dann ein gelber Pfad. Dann wieder Mosaikfliesen in blassem Orange, die ein paar Stufen hinauf zum äußeren Kreis aus Umkleiden führen, pastellfarbenen Holzgebilden, die aussehen wie kleine Strandhütten.

In einer davon ist sie.

Hinter welcher Tür steckst du, Liebes?

An jeder zweiten Tür hängt, mit Kreide auf eine Tafel gemalt, ein Bild mit dem Titel Die Eigenschaften eines Kreises. Darunter die Worte DIE ZEIT IST EIN HERVORRAGENDES BEISPIEL FÜR EINEN KREIS.

Er denkt eine Weile darüber nach, während er wartet. Bis eine Tür aufschwingt.

Da ist sie. Ila, die in ihrem Pünktchen-Bikini aus einer Umkleide tritt.

Sie sieht ihn lächeln.

Das Licht fällt auf sie, als sie die Stufen hinuntergeht und dann über die orangen Fliesen, den gelben Weg, die blauen und weißen Fliesen.

Jetzt steht sie vor ihm am Beckenrand. Sie setzt zu einem Kopfsprung an, hält die Position länger als nötig und versucht, nicht zu lachen.

Angeberin, sagt er.

Dann ist sie direkt über seinem Kopf, ihr Bauchnabel auf der Höhe seiner Nase.

Er blickt hoch zu ihren Füßen, ihren Beinen, ihren ausgestreckten Armen.

Dann ein Platschen, und sie ist weg.

Er dreht sich um, betrachtet ihre dunkle Silhouette unter Wasser, die von ihm weggleitet.

Das kann sie gut, den Atem anhalten und verschwinden.

Und dann, wie immer, ihr tropfnasses, lächelndes Gesicht.

Er stößt sich ab und schwimmt zu ihr.

Jetzt wartet sie auf ihn, tritt Wasser.

Hallo du, sagt sie, nimmt sein Gesicht in die Hände und küsst ihn.

Hallo du.

Ich mag deine neue Badehose. Knallrot – ganz schön gewagt in deinem Alter.

In meinem Alter?

Du bist jetzt alt, sagt sie. Du bist mein alter Mann.

Die habe ich aus dem Schlussverkauf. Alle anderen Farben waren schon weg.

Weißt du noch, als du dir die von Speedo gekauft hast? Und gleich beim ersten Mal hast du sie im Meer verloren.

Jetzt fang nicht wieder davon an, sagt er.

Das war unglaublich komisch.

Wenn ich mich recht entsinne, hast du dir ziemlich lange Zeit gelassen, mir ein Handtuch zu holen.

Ich weiß nicht, was du meinst, sagt sie.

Das ist achtunddreißig Jahre her, denkt er. Was absurd und unmöglich erscheint, aber nur, wenn man so naiv ist zu glauben, Zeit sei gleichbedeutend mit Entfernung, und je weiter man von einem Augenblick weg sei, desto kleiner und blasser werde er.

Sie spritzt Wasser in seine Richtung.

He, sagt er.

Sie tut es wieder.

Also tut er es auch.

Das Wasser ist jetzt überall

keiner von beiden kann irgendetwas sehen

und ihre Hände sind feste, rotierende Paddel

die die Jahre davonspritzen

und dann sind sie einfach nur ein Mädchen und ein Junge

in einem Kreis.

Bezugspunkt

Seltsam, wie ein Ort sich verändert und zugleich überhaupt nicht.

Gestern ist Sydney in St. Ives aus dem Zug gestiegen, der Stadt, die sie seit zwei Jahren zeichnet und malt. Oben in ihrem Arbeitszimmer hat sie diese Straßen, diese Küste, dieses Meer wiederauferstehen lassen – ihre eigene Version davon, aus dem Gedächtnis. Jetzt ist sie wirklich hier, und sie hat alle angelogen, eine andere Küstenstadt genannt, behauptet, sie sei anderswo.

Die Lüge war ihr leichtgefallen, was sie überraschte. Sie hat immer gedacht, sie sei eine schlechte Lügnerin. Diese Entdeckung war befreiend, aber auch verstörend.

Sie war froh, dass sie den Januar gewählt hatte. Es war kalt und ruhig, und das fühlte sich richtig an. Und trotz des Winters war das Licht dasselbe. Ihre Mutter hatte immer gesagt, das Licht hier unten würde Farben hervorbringen, die das Auge sonst nicht sehen könne. Deshalb kommen die ganzen Künstler hierher, sagte sie. Und wenn ich mir deine Bilder so anschaue, wirst du bestimmt auch noch hierherkommen, lange nachdem wir damit aufgehört haben.

Da hatte ihre Mutter sich geirrt.

Sie hatten alle genau zur selben Zeit aufgehört, hierherzukommen, nämlich nach dem sechsten Mal, das so abrupt endete.

Sind wir wirklich sechs Mal hierhergekommen, Liebes?

Ja, Mum.

Meine Güte. Da waren wir aber nicht sehr abenteuerlustig.

Das stimmt nicht, Mum. Wir haben jeden Winkel hier erforscht, weißt du nicht mehr? Wir sind meilenweit an der Küste entlanggegangen und haben uns alles ganz genau angesehen. Und wir haben gelesen, Ausstellungen besucht und Federball und Tennis gespielt. Wir hatten Drei-Gänge-Menüs, Picknicks, Pasteten und Fish & Chips. Wir waren im Kino und angeln und in der großen Stadt mit dem Kaufhaus.

Tut mir leid, Liebes. Ich wusste nicht, dass du immer noch so an diesem Ort hängst.

Soll das ein Witz sein?, sagte Sydney.

Es war eine dunkle Verbindung. Ambivalent. Eine, die sie wollte und auch wieder nicht.

Sie fragte sich oft, was sie sagen würde, wenn jemand ihr anböte, die Erinnerungen an diesen Ort aus ihrem Gedächtnis zu löschen, wie in dem Film Vergiss mein nicht!. Würdest du Erinnerungen loslassen, die zugleich deine schönsten und deine schlimmsten sind?

Die Zeichnungen für ihr Buch sind an einem kritischen Punkt angelangt.

Sie gehen bis zum Urlaub Nummer fünf, danach ist Schluss.

Wenn sie sich Urlaub Nummer sechs zuwendet, setzt der Stift aus, bricht die Mine.

Das Storyboard ist erstarrt. Ihre Gedanken wollen da nicht hin.

Okay, hat sie zu ihrem unordentlichen Zeichentisch gesagt. Was, wenn meine Füße dahin gehen? Wenn mein Körper dahin geht? Hilft das?

Aber ich will da nicht hin, hat sie gedacht, wie ein störrisches Kind.

Sydney läuft durch den Sand. Sie hat bis jetzt drei von den Stränden des Ortes besucht, und dieser ist immer noch ihr Lieblingsstrand. Die anderen sind zu hübsch, zu ruhig. Der hier lässt ihre Haare in alle Richtungen fliegen. Der Untergrund ist steiniger und dunkler, und die Wellen können durchaus gefährlich sein.

Sie bleibt stehen und sieht den Hunden bei ihrer Morgenrunde zu. Bewundert, wie sie rennen oder springen, die Umgebung erforschen oder bei Fuß bleiben, den Gerüchen und Ablenkungen folgen, sich dabei aber immer wieder umschauen, nach ihrem Besitzer, ihrem Bezugspunkt, den sie auf keinen Fall verlieren dürfen. Manche sind schlank und muskulös, andere wuselig und kurzbeinig. Da ist ein anhängliches kleines Wollknäuel, das eifrig den Gummistiefeln seiner Besitzerin folgt und sich für nichts anderes interessiert als für sie. Andere sagen mit spielerischen Gesten, komm, fang mich, oder ich fange dich, egal, Hauptsache, wir haben Spaß. Hunde fragen nicht nach dem Warum. Sie fressen, weil der Napf vor ihnen steht. Sie rennen, weil ihr Körper rennen will.

Sie vermisst Otto. Eigentlich albern, schließlich ist sie erst einen Tag fort. Sie blickt auf die Uhr. Jetzt ist er bestimmt mit Ruth draußen, tobt über die Felder und denkt nicht an sie. Und so soll es ja auch sein. Beim nächsten Gedanken krampft sich ihr Magen zusammen: Ruth, die auch nicht an sie denkt. Sie bekommt Panik. Was ist, wenn