Meinen Großeltern

Eva Malischnik ist aufgewachsen in Gleisdorf in der Oststeiermark. Getrieben vom Wunsch nach einer großen Schauspielkarriere verschrieb sie sich zunächst ganz dem Theater, bis sie mit 24 in die Fußstapfen ihrer Eltern trat und Lehrerin wurde. 2008 entdeckt sie ihre Leidenschaft fürs Schreiben und ist seither mit ihren Kurzgeschichten, Auftrags- und auch Liedertexten immer wieder im Gespräch. Nach Veröffentlichung zweier Anthologien legt sie nun ihr erstes Romanprojekt vor. In Sommer im Bunker – ein Lehrer zieht um beschreibt sie mit charmanter Offenheit ihre Perspektive auf den Schulalltag – Klischees und Politikintrigen inbegriffen. „Die Lehrertypen in meiner Erzählung sind ein Mischmasch aus allen Kollegen, die ich im Laufe meiner Karriere kennenlernen durfte. Und natürlich wurde ich für die eine oder andere Figur auch durch meine eigenen Lehrer inspiriert“, so die Autorin.

Eva Malischnik

Sommer im Bunker

Ein Lehrer zieht um

Dies ist eine fiktive Erzählung. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, real existierenden Orten oder Gegebenheiten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die Konferenz

Matthias Sommer, von seinen Schülern liebevoll der Hias genannt, sitzt auf seinem Stuhl an dem vierundachtzig mal hundertvierzig Zentimeter großen Tisch, den er sich mit dem Kollegen Nowak teilt, und bemüht sich, die Zwangsveranstaltung, der er beiwohnt als Theaterstück zu betrachten. Ein trauriges, eher schwarzhumoriges Kabarett ist das, wo er da hineingeraten ist, aber zumindest muss er keinen Eintritt zahlen für das Spektakel. Damit, dass er selbst Teil des Ensembles ist, das hier seine Possen reißt, kann er leben, wenn er sich nur indirekt beteiligt. Als unscheinbarer Komparse. Als gesichtsloser Soldat aus der siebenten Reihe, dessen Name im Programmheft nicht aufscheint. Matthias ist schon an so vielen Schulen gewesen, und überall wird das gleiche Stück gegeben. Stadtschulen, Landschulen, Alternativschulen, sogenannte Brennpunktschulen, überall hat Matthias dasselbe Phänomen beobachtet: Man nehme einen Haufen mehr oder weniger intelligenter Menschen verschiedenen Alters und Geschlechts, pferche sie nach einem langen Arbeitstag mit bedenklich viel Koffeingenuss und unter extremer Lärmeinwirkung allesamt in einen Raum und vermittle ihnen das Gefühl, ihre Anwesenheit in der Versammlung sei unverzichtbar für den Erfolg einer gemeinsamen Sache, über die in Wirklichkeit längst an höherer Stelle entschieden wurde. Und das, denkt Matthias, während er unter dem Tisch auf die Zeitanzeige seines Smartphones schielt, das nennt sich dann Lehrerkonferenz.

Er gähnt, ohne sich die Hand vorzuhalten, und erntet dafür einen verständnisvollen Blick von der klapprigen Gestalt gegenüber. Mit Maria Marderer versteht er sich eigentlich ganz gut. Sie verbringen oft die Pausen zusammen, unten im Turnlehrer-Kammerl, wo sie heimlich ihrer Sucht frönen, seit der Stadtrat das Schulgebäude zur öffentlichen rauchfreien Zone erklärt hat. Wie alt die Raucherfreundin wirklich ist, weiß Matthias nicht, aber wahrscheinlich weiß das keiner so genau. Aussehen tut sie jedenfalls, als hätte sie mindestens einen Weltkrieg miterlebt. Und sehr dünn ist sie. So mager, als würde sie sich seit Jahrzehnten ausschließlich von Nikotin ernähren. Oft hat er Angst, sie könne in der Mitte auseinanderbrechen, wenn sie mit ihren hohen Pumps auf den Klodeckel steigt, um aus dem Kippfenster zu äschern. Die Haut der Marderer ist grau und fahl, dabei aber erstaunlich faltenfrei, wie bei einer dieser Steinmumien aus Pompeji, was ihre Fächerkombination aus Latein und Geschichte durchaus plausibel macht. Dabei soll sie früher einmal ein echter Vamp gewesen sein, die Marderer.

Als die Kollegin die Hand zum Mund führt, um ihrer eigenen Langeweile Ausdruck zu verleihen, schickt er ihr sein charmantestes Bubenlächeln über den Tisch zurück und blickt dann wieder todernst zur Kollegin Eder, die sich gerade in Rage redet. Sie sind inzwischen beim Tagesordnungspunkt Allfälliges angelangt. Jenem vorhersehbaren Teil der Posse, an dem auch die Kollegen, die bisher nicht die Möglichkeit hatten, ihre pädagogischen oder fachlichen Meinungen zu einem Thema zu äußern, ihre persönlichen Anliegen aufs Tapet bringen.

Und … klar, denkt sich Matthias, während er Kugelschreiberspiralen in seinen Collegeblock kritzelt, ganz klar, dass es die Eder Susi ist, die da gerade beanstandet, dass die Türschilder an den Lehrerklos dringend auszuwechseln sind, „ … weil es nach über hundert Jahren Frauenbewegung wohl nicht zu viel verlangt sein kann, in ein Häuselschild mit Binnen-I zu investieren. Schon gar nicht in einer Lehranstalt, und schon gar nicht, wenn der Frauenanteil überwiegt!“

Matthias fängt einen Blick vom Nowak Rudi auf, der genau das aussagt, was er selbst gerade denkt. Die tut gerade so, als würde sie einen Harnstau kriegen, wenn die Klos nicht durchgegendert sind. Was ein Witz ist, denn die Frauen im Lehrkörper, darunter auch die Susi, rennen ohnehin in jeder freien Minute aufs Häusel. Was wiederum kein Wunder ist bei den Mengen Wasser, die sie trinken. Ständig muss er sich in der Lehrerküche anhören, wie wichtig es ist, sich mindestens zweieinhalb Liter am Tag zuzuführen. Und natürlich muss es stilles Wasser sein, kein Sprudelzeug, das den Magen aufregt. Oder Tee. Am besten eines dieser Gesöffe, die gute Laune, Selbstbewusstsein, Ausgeglichenheit, Balance oder einen phänomenalen Stoffwechsel versprechen. Ständig überhaupt diese Weiberthemen. Die Männer sind es, die sich beschweren müssten. Matthias hat ja wirklich kein Problem damit, dass er in seinem Beruf der geschlechtlichen Minderheit angehört. Ganz und gar nicht. Nur wie kommt er dazu, dass er sich in seinen Pausen dieses ungefilterte Gerede von Wechselbeschwerden und anderen Frauengeschichten antun muss, wenn er einfach in Ruhe seinen scheußlichen Kaffee trinken will? Er ist es, der in Wallungen geraten müsste, bei dem Gequatsche. Aber hat er sich jemals beschwert? Nein! Hat er sich jemals aufgeregt, wenn ihm seine Team-Kollegin, die Graber Rosi, pünktlich einmal im Monat das Leben schwer macht? Auch nicht. Sie ist zwar ganz in Ordnung, die Rosi, aber kurz vor Vollmond quasi unberechenbar, ja fast schon gemeingefährlich.

Das Einzige, was ihn derzeit wirklich aufregt, sind die neuesten Verordnungen von oben. Keine negativen Noten mehr im kompetenz- und talentorientierten Schulkonzept. Kein Sitzenbleiben mehr. Ist ein Schüler zu dumm oder einfach nur zu faul zum Lernen, findet sich bestimmt eine Eigenschaft, die ihn zum Aufsteigen berechtigt, und wenn es nur die liebevolle Hingabe ist, mit der er die Klassenpflanzen gießt. So einfach ist das. Alle sind gleich. Und genau das ist ja auch der Slogan, nach dem die Eder Susi lebt, wenn sie glaubt, dass sie mit dem Austausch eines vergilbten Türschildes Frauenpolitik macht. Leider liegt sie damit voll im Trend, denn nur darum geht es doch heutzutage in der Gesellschaft: um den Austausch von Türschildern. Dass sie sich selbst und ihre Sache total unglaubwürdig macht mit ihrem Lebensstil, hat die naive Eder nicht durchblickt. Die Frau hat vier Kinder mit drei verschiedenen Männern und ist andauernd auf Seminar, während der aktuelle Stiefpapa auf die fremden Bälger schaut. Ihren neuesten Lover kennt Matthias aus der Frühbar. Arbeitsloser Yoga-Lehrer und Ernährungscoach. Ursprünglich Maler, keiner mit Ölfarben und Staffelei, sondern ein stinknormaler Maler und Anstreicher. Eine traurige Figur. Ausgemergelt wie eine Gletscherleiche und quatscht ununterbrochen von Globalisierung, Klimaschutz und Weltfrieden daher, wenn er dezent zugekifft durchs Nachtleben von Bad Hoffning zieht. Dabei sitzt er der Eder auf der Tasche und kassiert nebenbei fleißig Unterstützung vom Staat. Es ist Matthias unverständlich, wie die Susi so ein Leben mit ihrem Suffragetten-Gehabe vereinbaren kann.

Dass sich Matthias in der nun folgenden Abstimmung um die Klo-Schilder seiner Stimme enthält, hat nichts mit Feigheit zu tun. Er ist nur einfach der Ansicht, dass man nicht zu jedem Schwachsinn eine Meinung haben muss. Das ist sein gutes Recht, und davon macht er jetzt Gebrauch.

„Zweiunddreißig zu eins, eine Enthaltung“, verkündet die Kollegin Habicher, nachdem sie unnötigerweise dreimal durchgezählt hat. Das Schild wird ausgewechselt. Na bravo! Ab jetzt wissen also auch die Frauen, wo es zum Häusel geht. Matthias ist gezwungen einzuschlagen, als ihm der Sitznachbar in einem äußerst seltenen Anflug von Sarkasmus die behaarte Pranke hinhält. Er hat als Einziger dagegen gestimmt. Schon ein komischer Typ, der Nowak Rudi. Ein klassischer Wanderpokal. War schon an x Schulen, sucht immer wieder um Versetzung an oder wird weitergereicht unter dem Vorwand, man habe keine Verwendung für ihn. Dabei hat er eine gefragte Fächerkombination. Wahrscheinlich liegt es daran, dass er fleißig an seiner zweiten Karriere als Frühpensionist bastelt, und deshalb mehr im Krankenstand als in der Schule ist. Fast beneidet ihn Matthias darum, mit welcher Konsequenz er die Rutsch-mir-den-Buckel-runter-Masche durchzieht. Andererseits fühlt er sich selbst zu jung, um so zu denken. Es reicht ihm nicht, seine Zeit nur abzudienen. Noch hat er Pläne, noch glaubt er daran, dass er sich vielleicht verändern kann. Und bis dahin, bis Matthias eine Chance bekommt, davon zu leben, was ihm wirklich Freude macht, wird er sich eben durchbeißen müssen. Zudem ist ihm bewusst, was für ein Glück er hat, dass er nach dreizehn Jahren Pendeln endlich in seinen Heimatort Bad Hoffning wechseln konnte. Seit ihn Manu nach der Scheidung abgezockt hat, kann er sich ja nicht einmal ein Auto leisten, und bei seinen Arbeitszeiten mit den Öffis über die Landstraße in die Hauptstadt zu tingeln, wäre der reine Wahnsinn. So aber bleibt ihm wenigstens am Abend noch etwas Zeit zum Schreiben. Nein, ganz klar, er braucht den Job hier. Die Arbeit ist zurzeit die ziemlich einzige Konstante in seinem Leben.

Nachdem der Chef das Abstimmungsergebnis mit einem Nicken kommentiert hat, vergewissert er sich, ob die Niederwieser, die heute mit Protokollschreiben dran ist, mitkommt. Die Inge ist im Adlerflug unterwegs und macht einen ziemlich verzweifelten Eindruck. Jeder kann sehen, dass sie kurz davor ist, in Tränen auszubrechen. Wenn sie ihm am Vormittag nicht an die Gurgel gesprungen wäre, weil er sie bei der Aufsicht im Parterre alleingelassen hat, könnte sie Matthias fast ein wenig leidtun. Der Erniedrigung noch nicht genug, hat irgendwer vergessen, den Beamer auszuschalten, sodass jeder im Raum mitbekommt, wie sie in ihrer Unbeholfenheit die Umschalttaste erwischt und lauter Großbuchstaben und Sonderzeichen an die Leinwand hämmert. Ein paar Kollegen lachen verhalten. Zur Hilfe kommt ihr niemand. Mittlerweile ist es zwanzig vor fünf, und die Leute werden unruhig. Zu Hause warten Kinder und Ehepartner aufs Abendessen, Hunde auf den Spaziergang, warten das Vorabendprogramm, die Bügelwäsche, Streit, Sex, das Laufband, Kartoffelchips und Bier oder wofür sonst noch Zeit bleibt nach so einem Konferenztag.

Als das Kuliknipsen, Hüsteln, Rascheln und Lachen lauter wird und die Kollegen sich in Privatgesprächen verlieren, sieht es für einen kurzen Augenblick so aus, als würde der Böck die Sache allmählich zu Ende bringen wollen. Matthias beobachtet, wie er die Schultern nach hinten drückt und in die vorgehaltene Faust hüstelt, um sich Gehör zu verschaffen. Als das nicht gelingt, verschränkt er die Arme hinterm Rücken und wippt auf den Fußballen. Angesichts der offensichtlichen Hilflosigkeit überkommt Matthias eine seltsame Mischung aus Scham und Mitleid. „Wir können auch bis sechs hier sitzen, wenn es euch solchen Spaß macht“, möchte er dem Chef jetzt gerne einsagen. Oder er könnte ihm zeigen, wie man ordentlich auf den Tisch haut. Oder einen Brüller loslässt. Aber er ist kein Schreier, der Böck. Dafür ist er zu lethargisch. Überhaupt erinnert er in seiner ganzen Art an einen Koalabären. Nicht nur wegen der Knopfaugen hinter den aschenbecherdicken Brillen. Auch gar nicht so sehr wegen der Haarbüschel, die ihm wie wild aus den Direktoren-Ohren wuchern. Es ist die nahezu lähmende Langsamkeit, die Matthias an einen depressiven Beutelbären denken lässt, wenn er seinen Chef ansieht. Alles, was er tut, scheint mit einer unerklärbaren Verzögerung zu geschehen, sodass jede Bewegung, jede seiner Gesten bedächtig und zugleich schwerfällig erscheint. Dasselbe gilt auch für sein Mienenspiel, das zudem ein recht einfallsloses Repertoire aufweist. Wenn er wie jetzt gerade versucht, seine Ungeduld zu unterdrücken, zeigt sich unter dem beginnenden Doppelkinn eine kaum wahrnehmbare Anspannung der Kieferknochen. Dann sieht es aus, als würde er ein Eukalyptusblatt zwischen den Zähnen zermahlen, könnte aber kaum die nötige Energie dazu aufbringen.

Nach einer geschätzten Ewigkeit legt sich der Geräuschteppich aus Rascheln, Mauscheln und Sesselrücken. Sie haben noch dreizehn Minuten bis zum offiziellen Ende, aber Matthias traut dem Frieden nicht, denn die Wortmeldungen ein paar üblicher Verdächtiger sind noch ausständig. Und als hätte er es geahnt, streckt schon im nächsten Augenblick die resolute Köck ihre Finger in die Höhe wie eine Einserschülerin. Ob es um einen Regelverstoß geht, wie etwa das nicht fachgerechte Einräumen eines Geschirrspülers im totalitär geführten Küchenregime, um die alljährliche Rechtfertigung für die Erhöhung des Werkbeitrages oder einen Seitenhieb gegen die Damen aus der Nachmittagsbetreuung, die Frau General hat immer was zu melden. Heute haben sie Glück. Die Kollegin aus Ernährung und Hauswirtschaft proklamiert lediglich das Fehlen zweier Geschirrtücher vom Wäscheständer, woraufhin dem Schremsel Walter einfällt, dass ihm drei Schnitzmesser und ein Akku-Bohrer aus dem Werkraum abgehen. Was folgt, ist allgemeines Schulterzucken, mit dem der Lehrkörper Unverständnis über das nicht selten auftretende Phänomen des Sich-in-Luftauflösens von Gegenständen zum Ausdruck bringt. Danach kommen Schuldzuweisungen und Schuldzurückweisungen, bis man schließlich zu dem Schluss gelangt, dass die Dinge eben besser eingeschlossen werden müssen, wenn es so nicht geht. Aber bevor sie für heute wirklich Schluss machen können, muss sich dann auch noch die Kärntnerin aufspielen. Sabine Sablatnig, frisch von der Hochschule, im Mathe-Team, zusammen mit Erna Habicher. Aus dem schönen Villach stammend. Recht hübsch eigentlich, wie Matthias findet, aber so weit von einer Bikinifigur entfernt, wie der Titicacasee vom Wörthersee. Und eben leider übereifrig. Nickt den ganzen Nachmittag zu allem, was der Chef vom Stapel lässt. Oder die Erna. Oder sonst wer, von dem sie denkt, dass er hier etwas zu melden hat. Und jetzt, ausgerechnet jetzt, wo jeder nur mehr heim will, reißt sie ihren Mund auf und noch dazu ein Thema an, über das sie letztes Jahr schon eine Ewigkeit lang diskutiert haben. Und vorletztes Jahr, und im Jahr davor. Das Thema Getränkeautomat ist eine Glaubensfrage, die das Kollegium seit Zeitgedenken in zwei Gruppen teilt.

„Genügt es nicht“, fragt die Sablatnig in die Runde, wobei sie sich Mühe gibt, strikt nach der Schrift zu sprechen, „reicht es nicht, dass die Kinder in der Früh schon mit Zweiliterflaschen Eistee durch die Tür marschieren? Müssen wir das Saftl-Zeug auch noch in der Schule anbieten? Ich mein, Trinkjoghurt und Kakao und Vanillemix! Was da bitte Zucker drinnen ist in dem Graffl! Die sind ja so schon aufgedreht genug.“

Na bravo, die Kasnudel sollte einmal in der Hauptstadt unterrichten. Da kann sie froh sein, wenn sie ihr das verdammte Vanillejoghurt nicht auf die Windschutzscheibe schmieren. Jetzt wird gleich die Habicher mit ihrem Standard-Argument daherkommen, dass immerhin ein beträchtlicher Teil des Automatengeldes in die Sport-Kassa wandert. „Ich gebe zu bedenken, und ich sag dir das in aller Klarheit, weil du neu hier bist, Sabine, dass ein Großteil von dem Geld aus dem Automaten in unser Turnlehrer-Budget geht“, feixt da die Erna auch schon strikt nach Skript. Hinter ihr verabschiedet sich die Beratungslehrerin mit einer clownesken Pantomime von jemandem, der gerade den Bus versäumt. Matthias will schon wieder nicht einfallen, wie die Kummertante heißt. Das liegt wahrscheinlich daran, dass sie nur einmal in der Woche auftaucht und dann gleich in ihrem Kammerl im Parterre verschwindet, das sie mit dem Schularzt teilt.

Den Luxus eines eigenen Refugiums hätte er auch gerne, zumal sein Platz schon wieder übergeht vor lauter Heften, Prospekten und Zettelchen, die sie ihm täglich zwischen Tür und Angel in die Hand drücken: Erinnerungen an die Osterkartenaktion, Entschuldigungen, Unterschriften, Listen, Mappen, Werbescheiß …, all das sorgt dafür, dass er seine Tischoberfläche seit Monaten nicht mehr gesehen hat, während die Hälfte vom Nowak Rudi geradezu jungfräulich erscheint.

Als Leiterstellvertreterin hat natürlich auch die Habicher ihr eigenes Refugium. Mit PC und Drucker und all den netten Dingen, die das Leben in dieser Anstalt angenehmer machen. Sogar eine Nespresso-Maschine steht da, die außer ihr niemand benützen darf. Nicht einmal der Böck, aber der ist Teetrinker und geht sowieso nur zur Erna hinüber, wenn er sich mit der Eingabe der Supplierstunden oder anderen bürokratischen Onlinegeschichten überfordert sieht. Denn wenn auch auf seiner Kanzleitür Direktion stehen mag, so ist es kein Geheimnis, dass das eigentliche Machtzentrum hier im Haus zwei Türen weiterliegt und nach Achselschweiß und Gabriela Sabatini riecht.

„Hast du überhaupt eine Ahnung, wie viele neue Fußbälle ich jedes Jahr bestellen muss? Von den Ausgaben für die Gerätesanierung möchte ich gar nicht reden“, läuft inzwischen die Habicher in Richtung Sabine Sablatnig immer mehr zur Hochform auf. Mit ihren knapp ein Meter achtzig und dem breiten Brustkorb lässt sie den Böck neben sich aussehen wie eine dieser kleinen Puttenfiguren aus dem 15. Jahrhundert. Nur Flügel und Harfe fehlen ihm noch. Das Argument mit den Bällen ist lächerlich, aber Matthias wird sich hüten, hier vor allen auszuplaudern, dass die gute Erna Dutzende von Bällen aller Art in ihren eigenen Kästen hortet. Nagelneu und angekauft aus Sponsorengeldern der Gemeinde, die sie privat verwaltet. Ihr geht es bei der ganzen Sache nicht um den Getränkeautomaten, sondern ausschließlich um Macht. Macht und Kontrolle. Was ihr auch jetzt zugutekommt, als sie die junge Kärntnerin auf ihren Rang in der Hackordnung verweist. Und damit ist das Thema Getränkeautomat für heute, Gott sei Dank, beendet.

Matthias linst auf sein Smartphone. Eine Stunde noch bis zu seinem Date im Freddie’s. Langsam wird es eng. Auch seine Raucherfreundin hat schon Ameisen im knöchernen Hintern. Als er zu ihr hinübersieht, spielt sie mit den türkisen Glasperlen an ihrer Halskette, die auch heute wieder farblich exakt zu Ohrgeschmeide und Brillengestell passt. Maria Marderer bemerkt seinen Blick und führt mit genervtem Augenaufschlag Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand zum Mund. Matthias grinst verständnisvoll zurück. Kein Wunder, dass sie auf dem Stuhl herumwetzt, er selbst könnte jetzt auch eine Zigarette vertragen. Aus dem peripheren Blickfeld nimmt er wahr, wie der Nowak demonstrativ seine Armbanduhr fixiert und halblaut vor sich hinzuzählen beginnt. Als der Zeiger an der Fünf kratzt, steht der Rudi auf, verabschiedet sich mit einem jovialen Fingertippen an die nicht vorhandene Mütze in die Runde und geht. Geht in aller Ruhe am Koalabären und einer sprachlosen Erna Habicher vorbei einfach zur Tür hinaus. Dem folgt eine betretene Stille, die Inge Niederwieser nützt, um endlich vollständig hinter ihrem Laptop abzutauchen, während die Graber Rosi kuhäugig in die Runde schaut, als könne sie nicht glauben, was sich der Nowak da gerade geleistet hat. Einige tun es ihr gleich, während sich andere intensiv der Betrachtung ihrer Fingernägel widmen. Der Schremsel Walter, der seine Schnitzmesser inzwischen abgeschrieben haben dürfte, kratzt an einem Schorf an seinem rechten Ellenbogen, bis ihm das Blut den Unterarm hinunter rinnt. Es ist kein schöner Anblick, trotzdem fällt es Matthias schwer, nicht hinzusehen.

„Ja dann“, fängt der Böck endlich zu stottern an, „dann würde ich jetzt vorschlagen, dass ihr euch zu dem … äh … Dings, … dem besprochenen Lernprojekt nächste Woche in den Teamsitzungen zusammen… äh … naja, zusammensetzt und ich jetzt auch … also, will sagen, wir jetzt auch Schluss machen für heute …“ Als die Erna noch etwas sagen will, fährt er mit einer ungewöhnlich herrischen Geste dazwischen. Der Koala zeigt Muskeln, trotzdem lässt sich die Administratorin das letzte Wort nicht nehmen. „Und nicht vergessen, nächsten Monat stehen die Vorschläge für die Gemeinderatssitzung auf der Tagesordnung. Bis dahin erwarte ich mir … erwarten wir uns“, korrigiert sie sich mit einer raschen Geste hin zum Böck, der bereits zusammenpackt, „… ein paar Lösungsvorschläge zum Parkplatzproblem und der Raumaufteilung allgemein. Danke euch und einen schönen Abend noch.“

Die Bitte der Niederwieser an die Kollegen, man möge daran denken, bis zum Ende der Woche die Paraphe unter das bis dahin hoffentlich fehlerfreie Protokoll zu setzen, geht in der allgemeinen Aufbruchsstimmung unter. Matthias packt den Collegeblock mit ein paar perspektivisch falsch hingekritzelten Kuben in seinen Rucksack, drängt sich vorbei an den Kollegen und marschiert die Treppe hinunter zum Haupttor, wo er sein Fahrrad stehen hat. In der Halle, in der bereits die Reinigungskraft zugange ist, klappert ihm Marie Marderer aus dem Lift entgegen. Obwohl in Eile, weil er vor dem Termin mit der Lektorin schnell noch heim zu seinen Eltern und sich umziehen will, nickt er dankbar, als ihm die Kollegin im Hinausgehen die Zigaretten-Packung hinhält.

Eine Zeit lang stehen sie wortlos unter dem Verschlag mit den Fahrradständern und paffen Rauchwolken in den nach drei Wochen Regenwetter endlich aufgeklarten Märzhimmel. Obwohl er es gewöhnt ist, in meditativer Turnkammerl-Eintracht mit der Kollegin vor sich hin zu schweigen, macht ihn die Stille gerade ein wenig unruhig. Es liegt etwas in der Luft. Wie sie die Absätze ihrer braunen Lederpumps in den Kiesboden bohrt und dabei leicht den Kopf hin und her bewegt, erweckt die Marderer den Eindruck, als würde sie dringend etwas loswerden wollen.

„Alles in Ordnung, Maria?“, fragt er schließlich etwas verlegen, weil es sich immer komisch anfühlt, die so viel ältere Kollegin mit Vornamen anzusprechen.

„Ich weiß nicht, sag du es mir“, gibt sie zurück und zieht mit gespielter Strenge die aufgemalten Augenbrauen nach oben. „Du bist doch ein kluger Bursche.“

„Ich weiß nicht“, hört sich Matthias sagen wie ein Papagei, aber bevor er nachfragen kann, worauf sie anspielt, hält ihm Maria ihre Hand mit der brennenden Zigarette gefährlich nah unter die Nase. Durch die Rauchschwaden kann er die braunen Flecken zwischen ihren Fingern sehen und die verfärbten Schneidezähne.

„Na, dann überleg dir doch, weshalb so eine wie unsere Habicher, die keinen Hehl daraus macht, wie gern sie auf den Stuhl vom Böck steigen möchte, …“ Weiter kommt sie nicht, denn plötzlich wird sie von einem Hustenanfall gebeutelt, gefolgt von einem derart schaurigen Rasseln, dass er sich schwört, bei der nächstbesten Gelegenheit auf Nikotinkaugummi umzusteigen.

„Geht schon wieder“, keucht sie und wischt sich ein paar weiße Spuckeblasen aus den Mundwinkeln. „Das ist nur wegen der verdammten Tschickerei. Aber in meinem Alter aufzuhören, würde kaum noch einen Unterschied machen. Oder um es mit Horaz zu sagen: Levius fit patientia, quidquid corrigere est nefus. Was ich nicht ändern kann, nehme ich geduldig an. Was meinst du, Junge?“

Noch ehe ihm eine Antwort einfällt, ist Maria Marderer schon wieder einen Gedanken weiter und zurück bei der Leiterstellvertreterin.

„Weshalb also ausgerechnet der Erna, die auch noch ganz zufällig im Gemeinderat sitzt, das Raumproblem an unserer Schule derart am Herzen liegen sollte. Und das noch dazu, wo unser guter Böck bei einer offiziellen Stellenneuausschreibung nach heutigen Richtlinien wohl kaum noch Chancen auf den Chefposten hätte.“ Wieder fängt die Lateinerin zu röcheln an, bis ihr die Tränen in die Augen treten. Matthias, der kein Wort von dem Gefasel verstanden hat, überlegt, ob die Kollegin vielleicht langsam ein bisschen wunderlich wird.

„Wo doch jeder weiß, dass der gesamte Gemeinderat für die billigste Lösung stimmen wird, wenn es bis Herbst zu keiner Entscheidung kommt, und außerdem der Wolf vom Konkurrenzgymnasium derzeit an einer schweren Prostata-Geschichte laboriert.“

Matthias überlegt. Obwohl er sich nur wenig für Schulpolitik oder Politik im Allgemeinen interessiert, dämmert ihm langsam, worauf die Marderer hinauswill. Es geht um die Schulfusion. Seit Jahren schon ist die Rede davon, dass ihr sanierungsbedürftiges Kernstock-Gymnasium, das trotz des starken Zustroms an die Neuen Mittelschulen kaum noch Kapazitäten frei hat, in einen Zubau des viel größeren Erzherzog-Johann-Gymnasium am nördlichen Stadtrand umgesiedelt werden soll. Weil aber der scheidende Bürgermeister Stix während seiner Amtslaufbahn lieber in die Wirtschaft investiert hat, als das heiße Eisen Zusammenlegung anzufassen, ist aus dem Projekt nie etwas geworden. Mit den Wahlen im Herbst wird sich so einiges verändern in Bad Hoffning. Dass auch das Kernstock-Gymnasium davon betroffen sein und die Kollegin Habicher mit dem Gedanken spielen könnte, um die neu ausgeschriebene Leiterstelle anzusuchen, ist ihm bisher überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Die plötzliche Erkenntnis muss ihm ins Gesicht geschrieben sein, denn Maria Marderer nickt jetzt so heftig, dass ihr die überdimensional großen Ohrringe wie zwei Hula-Hoop-Reifen um die Ohren tanzen.

„Wenn du glaubst, dass uns die gute Erna vor einer Fusion retten will“, fährt sie fort, „dann bist du auf dem Holzweg, junger Freund. Das Gegenteil ist der Fall. Mir liegt diese Schule zwar am Herzen, weil ich mein halbes Leben hier gedient habe, aber in ein, zwei Jahren bin ich weg, und dann hinter mir die Sintflut. Aber ihr Jungen, mein Lieber, gerade ihr Jungen solltet darüber nachdenken, was euch eine Zukunft unter einer solchen Leitung bringen wird.“ Mit den letzten Worten lässt sie ihre Zigarette in den Gully fallen, verabschiedet sich mit einem röchelnden Bonam Noctem und stakst in Richtung Bushaltestelle davon, ohne sich noch einmal umzusehen.

Matthias bleibt allein zurück. Er weiß nicht recht, was er von den kryptischen Anspielungen halten soll. Der Erna traut er ja so manches zu, aber was Maria Marderer sich da zurechtlegt, klingt doch ein wenig nach Verschwörungstheorie. Vom Piepsen seines Smartphone-Memos aus den Überlegungen gerissen, wird ihm siedend heiß bewusst, dass es höchste Zeit wird, loszudüsen.

Als er sich auf sein neongelbes Crossbike schwingt und in Richtung Innenstadt davonrast, drehen sich seine Gedanken nur noch um das bevorstehende Date. Das Treffen, von dem abhängt, ob er seinem Leben eine neue Richtung geben oder, wie der Nowak Rudi, langsam auf die Frühpensionierung hinarbeiten sollte.