Über Alexander Görlach

Foto: © David Elmes

ALEXANDER GÖRLACH ist Senior Fellow am Carnegie Council for Ethics in International Affairs in New York und ein renommierter Experte für Fragen rund um die Zukunft der Demokratie. Zuvor war er Fellow an den Universitäten Harvard und Cambridge. 2017/18 war er zudem Gastwissenschaftler an der City University Hongkong und der National Taiwan University in Taipeh. 2019 kehrte er mehrfach in die Region zurück, um die aktuellen Entwicklungen aus nächster Nähe einordnen zu können. Er ist ein gefragter Experte zu dem Themenfeld China, Hongkong und Taiwan. Gastbeiträge und Interviews erschienen u.a. in der NZZ, WirtschaftsWoche, bei Zeit Online, Stern.de und der Deutschen Welle.

dem ich die Zeit in Hongkong und Taiwan verdanke.

Wer zum ersten Mal nach Hongkong kommt, dem bleibt vor Staunen der Mund offen stehen. Hunderte schlanke Hochhäuser ragen dicht an dicht in den Himmel. Sie heben und senken sich mit den Hügeln, auf denen sie errichtet sind. Manche der Wolkenkratzer sind von oben bis unten mit pastellfarbenen Streifen angestrichen, das soll gefällig sein fürs Auge und von der Enge ablenken, die typisch ist für Hongkong. Zwischen den Hochhäusern liegen schmale Innenhöfe, einige von ihnen sind mittlerweile weltberühmt, weil sich Menschen davor ablichten und die Fotos auf Instagram präsentieren. Wer das Foto schießt, muss in die Hocke gehen, um die gewaltigen, nach oben strebenden Betonmassen einzufangen. Man erkennt auf diesen Bildern, dass sich hinter den Fenstern nur sehr kleine Apartments befinden. Ihre Bewohner hängen die Wäsche an Gitter vor den Fenstern zum Trocknen auf, wie man es aus den engen Sträßchen des europäischen Südens kennt. Jeder Zentimeter zählt in Hongkong, einer der am dichtesten besiedelten Städte der Welt. Die Mieten sind entsprechend teuer, jede noch so kleine Fläche wird ausgebeutet.

Was man auf den Instagram-Fotos nicht sehen kann, ist das tropische Klima, das in Hongkong herrscht. Es legt einen nassen Dunst über die Stadt und auf die Haut.

Ich habe die Metropole zum ersten Mal im Spätsommer 2017 besucht, als Gastwissenschaftler an der City University of Hong Kong. Es war der erste Besuch von vielen in einem akademischen Jahr, während dem ich erforschen wollte, wie die Demokratien von Hongkong und Taiwan mit dem Aufstieg der autokratischen Volksrepublik China in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft umgehen. Taiwan und Hongkong, so sollte ich in den folgenden Monaten lernen, sind sehr verschieden, was die Umstände ihrer Situation betrifft: Hongkong ist zwar ein Teil der Volksrepublik China, aber ausgestattet mit demokratischen Sonderrechten, und Taiwan funktioniert quasi unabhängig wie ein Nationalstaat mit einem eigenen Parlament und einer eigenen Regierung, mit einer eigenen Währung, einem eigenen Militär und eigenen Pässen. Peking freilich betrachtet die demokratische Inselrepublik als eine abtrünnige Provinz.

In den akademischen Jahren vor meinem Besuch in Taiwan und Hongkong habe ich an der Harvard University im US-Bundesstaat Massachusetts zum Zustand der liberalen Demokratie und ihrer Zukunft gearbeitet. In der Regel sprechen wir ausschließlich über westliche Länder, wenn wir über Demokratie nachdenken. Dabei greifen wir viel zu kurz. Denn was wir heute »liberale Demokratie« nennen, gibt es nicht nur innerhalb der europäischen oder der atlantischen Welt. Taiwan, Südkorea und Japan sind ebenfalls Kinder einer demokratischen Entwicklung, die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unter der Führung der Vereinigten Staaten von Amerika sowohl über den Atlantik als auch über den Pazifik Bahn brach.

Im Westen argumentieren manche, dass unsere heutige Form der Demokratie, die auf den Menschenrechten gründet, sich aus den Quellen des Christentums und der Aufklärung speise. Für jene, die so sprechen, scheint es zwischen unserer liberalen demokratischen Kultur und anderen Kulturen einen unüberbrückbaren Graben zu geben. Nur ein Tag in Hongkong oder in Taiwan belehrt jeden eines Besseren. Ob jemand bei minus 20 Grad im neuenglischen Cambridge bibbert oder bei plus 40 Grad auf Hongkongs Straßen schwitzt, ob etwas in lateinischen oder in chinesischen Schriftzeichen zu lesen ist,

Am Flughafen gewinnen Reisende einen ersten Eindruck von dem Ort, den sie besuchen. Der Hongkonger Flughafen gibt einen kleinen Ausblick auf das, was einen in der Stadt und darüber hinaus in ganz Ostasien erwartet: effiziente Prozesse, penible Hygienevorschriften und absolute Pünktlichkeit. Das bedeutet: Es gibt keine langen Schlangen bei der Einreise, jede Toilette ist sauber, und der Hochgeschwindigkeitszug in die Innenstadt fährt auf die Sekunde genau ab. Wer der Meinung ist, dass solche Akkuratesse nur in Nichtdemokratien möglich ist, weil Sauberkeit im öffentlichen Raum fast schon wie ein diktatorischer Einschnitt in die persönliche Entfaltung wirkt, dem sei versichert, dass schmutzige Bahnsteige und dreckige Toiletten keineswegs das unausweichliche Schicksal einer Demokratie sein müssen. Allein um mit eigenen Augen zu sehen und zu erleben, was für eine Auswirkung eine funktionierende Umwelt auf den Alltag haben kann, hat es sich schon gelohnt, die USA mit ihrer maroden Infrastruktur in Richtung Ostasien zu verlassen.

Jedes Mal, wenn ein Zug während meines Jahres in Hongkong und Taiwan pünktlich den Bahnhof verließ (also jedes Mal, wenn ich eine Reise antrat), dachte ich an Deutschland und seine Bahn, in deren Statistiken ein Zug noch als pünktlich geführt wird, wenn er weniger als sechs Minuten Verspätung hat. Dort, wo ich zu Gast war, würde man das nicht mit sich machen lassen. Im November 2017 kündigte ein führender Manager der japanischen Bahn nach einer öffentlichen

Aber Demokratien in Ostasien unterscheiden sich nicht nur durch Effizienz, Hygiene und Pünktlichkeit von denen des Westens. In dieser Weltregion, vor allem aber in Hongkong und Taiwan, besteht der Hauptunterschied darin, dass die Demokratien in unmittelbarer Nachbarschaft zur Volksrepublik China, einer kommunistischen Diktatur, bestehen müssen. Peking mischt sich heftig in die inneren Angelegenheiten der beiden ein, da die Nomenklatura und ihr Präsident, Xi Jinping, darauf beharren, dass Taiwan und Hongkong Teile Chinas seien.

Hongkong ist in der Tat ein Teil Chinas, aber durch die vertragliche Regelung »ein Land, zwei Systeme« wird die Finanzmetropole zu einer demokratischen Sonderzone mit eigener Gerichtsbarkeit, unabhängiger Presse und freier Wissenschaft. Und auch Taiwan und die Volksrepublik haben eine Vergangenheit miteinander, aber sie haben sich nach dem chinesischen Bürgerkrieg, der vor über 70 Jahren endete, maximal voneinander entfernt: Taiwan ist heute eine liberale Demokratie, die Volksrepublik ist es nicht. Beide Demokratien, Hongkong und Taiwan, haben deshalb, Zugverspätungen hin oder her,

In Hongkong war die Erinnerung an die Massendemonstrationen von 2014, die als Regenschirmbewegung in die Geschichte eingingen, während meines Aufenthalts noch frisch. Damals wollte Peking seine Kandidaten für die Position des Chief Executive, dem politischen Führer Hongkongs, auf den Wahllisten der Stadt durchdrücken, was klar gegen die vertraglichen Abmachungen verstieß, die 1997 im Zuge der Rückgabe der britischen Kronkolonie an die Volksrepublik China getroffen wurden. Um sich gegen das von der Polizei eingesetzte Pfefferspray und Tränengas zu schützen, spannten die Demonstrierenden Schirme auf und gaben so der Bewegung ihren Namen.

Im selben Jahr geschah das Gleiche in Taiwan: Die regierende chinafreundliche Partei KMT wollte durch eine weitreichende wirtschaftliche Kooperation die Insel so eng an die Volksrepublik binden, dass es über kurz oder lang aufgrund der dadurch entstehenden wirtschaftlichen Abhängigkeit zu einer politischen Übernahme gekommen wäre. Das zumindest befürchteten die Studierenden, die das Parlament, den Legislativ-Yuan, in Taiwans Hauptstadt besetzten. Ihre Protestbewegung trägt den Namen der Sonnenblume. Sie war schon das Symbol der Demokratiebewegung vor etwas mehr als einem Vierteljahrhundert, als sich der Inselstaat friedlich von einer Diktatur zur Demokratie wandelte.

Im Sommer 2019 forderte die chinesische Führung die Hongkonger erneut heraus. Ein sogenanntes Auslieferungsgesetz sollte dazu dienen, die unabhängige Justiz, die Hongkong zugebilligt ist, auszuhebeln. Nach dem Gesetz müsste jeder an die Volksrepublik ausgeliefert werden, der von China benannt wird. Bis zu zwei Millionen Menschen demonstrierten über Monate gegen dieses Auslieferungsgesetz, das die von Pekings Gnaden regierende Chief Executive Carrie Lam durchsetzen sollte. Im Juli 2019 war auch ich, zum zweiten Mal seit dem Ende meines dortigen Forschungsaufenthalts,

Der Ausbruch der Coronakrise hat diese Konfrontation nicht etwa verringert, sondern noch verschärft. In Hongkong mag es keine Demonstranten mehr geben, aber schon längst tobt der argumentative Streit darüber, ob eine Demokratie oder eine Autokratie besser in der Lage sei, eine Pandemie zu bekämpfen. Als chinesische Sicherheitskräfte die Stadt Wuhan am 23. Januar 2020 abriegelten und ihre Einwohner für zwei Monate in eine strenge Quarantäne befahlen, äußerten einige Stimmen, dass ein solches Vorgehen in Demokratien nicht möglich wäre. Doch bereits Ende März, als China begann, seine Ausgangsperren zu lockern, befand sich der Rest der Welt auch in Quarantäne und belegte damit eindrucksvoll, dass man Menschen nicht wegsperren muss, sondern sie mit guten Argumenten durchaus davon überzeugen kann, für ein hohes Gut – die Gesundheit der Mitmenschen – auf ihre anderen Freiheiten für eine bestimmte Zeit zu verzichten.

Ich schreibe dieses Buch, während ich in New York im Lockdown sitze. Seit meiner Rückkehr aus Hongkong

Was bedeutet diese Entwicklung für den Kampf um Hongkong? Im September 2020 soll ein neuer Legislative Council, ein neues Parlament, gewählt werden. Bei den letzten Lokalwahlen im Herbst 2019 zum District Council haben alle chinafreundlichen Parteien verloren. 17 von 18 Distrikten gingen damals an demokratische Kräfte. In einem Bericht nach Peking, der an die Öffentlichkeit gelangte, versprach Carrie Lam, das Vertrauen der Bürger durch ein gutes Management der Coronakrise zurückgewinnen zu wollen. Es wird entscheidend sein, mit welchen Instrumenten sie das zu

Der Grund, dieses Buch zu schreiben, ist in seinem Untertitel zusammengefasst: Warum sich in China die Zukunft der freien Welt entscheidet. In der gegenwärtigen Situation des Systemkonflikts zwischen freien Demokratien und unfreien Autokratien geschieht in der Peripherie der Volksrepublik Entscheidendes. Menschen gehen für die Demokratie auf die Straße und ermutigen damit auch Demokraten in anderen Ländern. Diese Inspiration wird, vor allem im Westen, dringend gebraucht, denn dort sehnen sich immer mehr Menschen nach starken Männern, nach populistischen Strongmen, die nicht lange fackeln.

Die Volksrepublik ihrerseits wird dem demokratischen Treiben in Hongkong und auf Taiwan nicht tatenlos zuschauen. Während der Proteste im Jahr 2019 herrschte Angst in der Finanzmetropole, die in der Sonderverwaltungszone stationierte chinesische Volksbefreiungsarmee könnte aus den Kasernen ausrücken und Hongkongs Sonderstatus beerdigen. Während meines Aufenthalts

Seine Kriegsdrohung wurde in weiten Teilen der Welt, auch vom deutschen Außenminister Heiko Maas, kritisiert. Wenn es China gelänge, die Demokratie in Hongkong und im benachbarten Taiwan zu zerstören, dann hätte das eine enorme Strahlkraft für das autokratische Modell. Für uns Europäer, für uns Deutsche, ist es daher alles andere als unwichtig, was in der nächsten Zeit auf der anderen Seite der Welt geschehen wird. Mit Hongkong steht nicht etwa nur ein global wichtiger Finanz- und Handelsplatz zur Disposition. Vielmehr sind diejenigen, die demokratische Ideale hochhalten und Politik auf Basis der Menschenrechte verfolgen, miteinander verbunden: in beiden Teilen Amerikas, in Europa, in Asien. Die regelbasierte internationale Ordnung, die von Demokraten erbaut und von demokratischen Idealen inspiriert ist, braucht für ihren Fortbestand die Demokratie in Ostasien.

In Abwandlung des lateinischen Diktums Ut Roma cadit, mundus cadit, fällt Rom, dann fällt die ganze Welt, lässt sich sagen: Fällt Hongkong, dann fällt auch Taiwan. Wenn erst einmal diese beiden gefallen sind, dann wird auch unserer Freiheit die Totenglocke läuten.

Vor etwas mehr als einem Vierteljahrhundert machten zwei Bücher Furore, Francis Fukuyamas Das Ende der Geschichte und Samuel P. Huntingtons Kampf der Kulturen. Die Autoren, beide amerikanische Politikwissenschaftler, formulierten darin ihre Antwort auf einen unglaublich einschneidenden historischen Moment, den Untergang der Sowjetunion. Fukuyama sah eine neue Morgenröte anheben, ein demokratisches Zeitalter. Nach dem Ende des Kommunismus habe die Demokratie unter Beweis gestellt, die stärkere Kraft zu sein. Nun würden sich alle Länder Schritt für Schritt für diese Regierungsform entscheiden. Nachdem die alte Blockkonfrontation zerfallen sei, die bis dato die Weltgeschichte geprägt habe, zuletzt durch die Gegenstellung von Freiheit und Kommunismus, sei die Geschichte, die der Mensch nur in systematischen Auseinandersetzungen erfahren könne, zu einem Ende gekommen. Auch Huntington sah einen neuen Äon heraufziehen, den einer multipolaren Welt. Verschiedene Kulturkreise würden nun mit- und gegeneinander um die Vorherrschaft in der neuen Zeit wetteifern. Diese Kulturwelten bestünden jeweils aus einem Anführer und aus einer Vielzahl von Unterstützern. So würde die westliche Kulturwelt, zu der unter anderem

In den vergangenen drei Jahrzehnten haben wir uns angewöhnt, aufkommende Konflikte mithilfe einer der beiden Schablonen zu verstehen und zu deuten. Dass die Autoren mit ihren Gedanken nicht unrecht hatten, wird allein dadurch belegt, dass ihre Buchtitel inzwischen zu geflügelten Worten geworden sind, die wir verwenden, ohne dass wir dafür zwingend das betreffende Buch gelesen haben müssen.

Fukuyama und Huntington legen offen, dass der Systemkonflikt der entscheidende Treiber des Politischen ist. Das mag für manche banal klingen, aber der dieser Behauptung zugrunde liegende Zusammenhang ist es bei weitem nicht: Es geht den Menschen eben nicht nur um »Good Governance«, also darum, gut regiert zu werden. Dieses Streben haben auch Menschen in Nichtdemokratien. In Demokratien ist das Streben mehr, es ist ein Anspruch. Eine gute Regierung wollten auch die Völker der mittelalterlichen Christenheit, die es gelegentlich für sich in Anspruch nahmen, einem gesalbten Haupt die Gefolgschaft zu versagen. Der von Gottes Gnaden eingesetzte König verlor seine Legitimität, wenn er den Pflichten zum Schutze seiner Untertanen nicht gerecht wurde. Good Governance war auch schon in der Welt, lange bevor die Frontstellungen des 20. Jahrhunderts die Geschehnisse der Vergangenheit restlos überlagerten.

In einem Systemkonflikt geht es um Weltanschauung, um Überzeugung und Glauben, um normative Setzung. Fukuyama und Huntington beschreiben in diesem Sinne – und nebenbei bemerkt in bester Gesellschaft mit

Dass dieser Systemkonflikt Mutter und Haupt aller politischen Klassifizierungen ist, zeigt die neue Frontstellung zwischen »liberaler« und »illiberaler« Demokratie. Ich werde gleich darauf zu sprechen kommen, dass es sich hierbei nicht um gleichberechtigte Antagonisten eines Gegensatzes handelt, sondern dass die Bezeichnung »illiberal« vielmehr bewusst von den Anhängern des Illiberalen eingesetzt wird. Damit führen sie ihre undemokratische Vorstellung als eine gleichberechtigte

Die Welt ist wieder zweigeteilt: in Demokratien und in Nichtdemokratien. Wir erleben heute exakt eine solche Entgegensetzung wie die, von der Fukuyama glaubte, dass sie überwunden würde. Huntington allerdings liegt falsch mit seiner Idee von sieben relevanten Kulturkreisen, die miteinander im Wettstreit liegen sollten. Das entspricht nicht der Welt, in der wir jeden Tag aufwachen. Sicher, es gibt Konflikte zwischen den USA und China, zwischen der EU und der Türkei, zwischen Japan und Korea. Aber all diese Spannungen lassen sich nur in dem größeren Kontext analysieren und verstehen, der die involvierten Parteien entweder dem Lager der Demokratie oder dem der Nichtdemokratie zuordnet.

Die Nichtdemokraten möchten es als einen lapidaren Unterschied erscheinen lassen, wenn sie sich mit dem Etikett »illiberal« versehen. Dabei verbergen sich