Gewidmet jenen, die sich als Zugewanderte in Wien niedergelassen haben, sowie ihren Nachkommen. Also allen jetzigen und früheren Wienerinnen und Wienern.

Peter Pantuček-Eisenbacher

WIEDER AU

Ein Romanfragment

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung

Eins und Anfang

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn und Ende

Vorbemerkung

Ich habe im Herbst 2019 begonnen, an diesem Roman über ein Wien im Ausnahmezustand zu schreiben. Im März kam dann tatsächlich ein solcher, nicht nur, aber auch für Wien. Ich habe mich entschlossen, den unvollständigen Text nun gleich zu publizieren. Sozusagen von einem Tag auf den anderen. Ich bitte daher die Leserinnen und Leser, mir jene Fehler zu verzeihen, die durch ein sorgfältiges Lektorat vermieden werden hätten können. Einige Figuren tauchen unvermittelt auf und dann still wieder unter. Wenn Sie sie nicht vergessen oder als bloße Arabeske hinnehmen wollen, können Sie sich überlegen, was aus ihnen noch hätte werden können.

Bei der Gestaltung der Charaktere wurde ich zwar durch reale Personen inspiriert, der Prozess des Schreibens hat aus diesen „Vorlagen“ dann aber etwas ganz anderes gemacht.

Ich bin der Coronakrise böse, dass sie mich zum Abbruch meines Gedankenexperiments gezwungen hat, bin ihr aber dankbar, dass ich mich nun den nächsten Projekten widmen kann.

Am dankbarsten aber bin ich Wien, weil es eine so gute Kulisse für Halb- oder Viertel-Weltuntergänge ist. Die großen Untergänge hat es hoffentlich für immer hinter sich.

Eins und Anfang

Drago und Maja waren die ersten. Dabei hätten gerade sie wirklich nicht auswandern müssen. Alles bestens bei ihnen, zwei wunderbare Kinder, er mit einem gut bezahlten Job als Wasserbauingenieur, sie hatte nach einigen schwierigen Jahren ihre Perspektive gefunden und arbeitete in einer Apotheke. Die Kinder sprachen Deutsch mindestens so gut wie serbisch und taten sich in der Schule leicht. Ein gemischter Freundeskreis, eine schöne Wohnung in der Leopoldstadt, alles auf Gleis. Kein Grund, die Stadt zu verlassen.

Ich verstand wieder einmal ihre Entscheidungen nicht. Aber ich muss zugeben, auch früher schon verstand ich sie nicht immer.

In diesen Jahren hatte die Stadt ihre größte Ausdehnung. Nach dem zweiten großen Krieg im vorigen Jahrhundert war sie geschrumpft, hatte sich in sich selbst verkrochen. War verschrumpelt in ihrem Grau. Dann hatte sie zu wachsen begonnen, ihre Haut hatte sich wieder gedehnt, sie hatte wieder rote Wangen bekommen. Brachen waren verbaut worden und in den S-Bahnen, den neu gebauten U-Bahnen, den Straßenbahnen und Bussen hatten sich die Menschen gedrängt.

So war es, bis Drago und Maja die Stadt für immer verließen. Mit ihnen hunderttausende andere.

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Der Bürgermeister

Weitreichende Entscheidungen für die Zukunft der Stadt seien zu treffen. Die Situation sei äußerst ungewöhnlich und so noch nie dagewesen. Sie scheine irreversibel zu sein. Geradezu beängstigend sei, dass niemand die Ursachen kenne und die Anlässe, es nicht einmal plausible Vermutungen darüber gebe. Wie ein Naturereignis sei es über die Stadt gekommen. Man dürfe nicht verhehlen, dass sich die Wünsche mancher Mitbürgerinnen und Mitbürger erfüllt hätten. Nun stehe man nicht nur vor einer außerordentlichen, sondern auch einer höchst gefährlichen Situation. Die Stadt sei nahezu zahlungsunfähig. Die Steuereinnahmen seien bereits um ein Drittel eingebrochen, und die Voraussagen seien alles andere als beruhigend. Ohne radikale Maßnahmen werde man nicht auskommen. Die Versuche, Menschen aus anderen Bundesländern zu einer Übersiedlung nach Wien zu bewegen, hätten nur bescheidene Erfolge gezeitigt. Und aus dem europäischen Ausland kämen fast keine Menschen mehr in unsere Stadt. Manche hätten vorgeschlagen, in Afrika um Zuwanderer zu werben. Das sei aber mit Rücksicht auf die Bürgerinnen und Bürger keine Option. Man werde sich im Gegenteil darum bemühen, diese Route ungangbar zu machen.

Die großen Aufgaben, die wir nun zu bewältigen hätten, könne man als umfassenden Rückbau bezeichnen, als Förderung unserer verbliebenen österreichischen und patriotischen Bevölkerung. Wien solle kleiner, aber gestärkt aus dieser Krisensituation hervorgehen. Es werde weiterhin die stolze österreichische Hauptstadt sein. Ein Muster für die Bewältigung einer großen Krise. Wir werden die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Nun heiße es aber, anzupacken ohne Scheu.

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Walter

Anfang Oktober ist jedes Jahr Sirenenprobe, erinnerte sich Walter. Man tut so, als gebe es eine Gefahr, und alle wissen, es gibt keine, dachte er sich. Keine Unsicherheit wie bei einem unerwarteten Feueralarm in der Firma. Irgendwann, vielleicht gerade jetzt, könnte der ja auch echt sein.

Die Sirenen können nie echt sein. Aber sie erzählen die Möglichkeit des Schlimmen und Schlimmsten. Wenn sie heulen, denken die einen an ein explodiertes Atomkraftwerk, die anderen auch an ein explodiertes Atomkraftwerk, und die dritten an eine explodierte Chemiefabrik, obwohl wir gar keine Chemiefabrik in der Nähe haben. Nur meine Großmutter, die dachte an den Krieg und die Bombenangriffe, und regte sich immer auf, was lange her ist und daher heute wohl nicht mehr so wichtig.

Damals, als in Tschernobyl dieser größte anzunehmende Unfall passierte, heulten da auch Sirenen? Wohl nicht. Und jetzt heulen die Sirenen nur zur Probe, obwohl gleichzeitig und davor und danach Hunderttausende diese Stadt verlassen, als wäre sie dem Tode geweiht und als wären alle dem Tode geweiht, die hierbleiben. Die Sirenenprobe ist nur eine Probe, aber der einzige völlig unpassende Ton ist der letzte in der Reihe, die Entwarnung. Walter sitzt beim Wirten und wenn er nicht wüsste, dass jetzt die Sirenen heulen müssen, würde er sie nicht hören, so leise sind sie hier. Bei meinem Wirten gibt’s keine Gefahr. Hier lass dich nieder. Wo vor nichts gewarnt wird, braucht es auch keine Entwarnung. Sitzen bleiben. Aussitzen. Es ist bald alles vorbei und nein, herumlaufen würde auch nichts besser machen, wenn es eine echte Gefahr gäbe. Ich bin resilient, denkt er. Früher hätte es das nicht gegeben. Die Resilienz ist eine neue Erfindung. Eine gute. Ich bin resilient. Was scheren mich Sirenen.

Am Nachmittag begann es zu stürmen. Herbstwind. Die ersten Blätter wurden durch die Straßen getrieben. Es staubte. Dann flogen auch Äste, Kappen und Kinder. Nein, keine Kinder, aber gewundert hätte es niemanden, so laut und böig war der Sturm. Das Dach hielt, und die alte Weide im Garten fiel zielgenau auf das schmale Rasenstück zwischen dem Geräteschuppen und der überdachten Terrasse. Alles war gut.

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Russen

Die Russen flogen ein. Sie glitten über die Felder und die Gärten, machten sich mit ihren heiseren Rufen bemerkbar. Sie waren hier und gesellten sich zu den anderen Rabenvögeln, die schon den Sommer in Wien verbracht hatten. Majorisierten sie. Waren präsent. Nebelkrähen hatte man bisher schon gesehen. Angepasste Vögel, nicht so geschwätzig wie die Saatkrähen.

Die Russen kannten die Gegend und die Häuser. Wien war eine ihrer zwei Heimaten. Wien und das Altaigebiet, oder die Moskauer Gegend, oder die russische Steppe. Es hat sie noch niemand gefragt. 250.000 dieser Krähen sollten es in Wien sein, sie bevorzugten diese Stadt.

Man war heuer nicht so sicher, dass sie kommen. Wer weiß, vielleicht sind es Erdstrahlen, die die Menschen vertreiben, und vielleicht würden diese Strahlen oder Gase auch die Tiere abhalten. Haben sie aber nicht. Die Krähen waren da, und sie waren laut wie jeden Herbst, fühlten sich zu Hause, warfen die Nüsse und die Grablichter auf die Straße, schillerten schwarz und machten auf Business as usual.

Sie waren verwundert, weniger Menschen zu sehen, das mag sein. Sie ließen sich das aber nicht anmerken. Für sie war alles angerichtet.

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Jelena

Jelena fuhr jeden Tag mit drei bis vier anderen Frauen in ihrem Skoda nach Wien. Sie fielen über ein Haus, eine Wohnung her. Putzen, Bügeln, schafften in 50 Minuten Ordnung und Sauberkeit, zogen weiter zum nächsten Haus. Das Geschäft hatte bestens funktioniert in den letzten Jahren. Nun waren einige ihrer Kundinnen und Kunden weggezogen, hatten die Putzbrigade abbestellt. Die Lücken konnten aber rasch geschlossen werden. Das ist besser, als in Mikulov an der Supermarktkassa zu sitzen, lukrativer. Freundinnen arbeiteten auch in Wien. Sie pflegten sabbernde alte Männer, die sich an nichts erinnern konnten und die sich anschissen im Bett. Das wollte sie nicht tun, sie war zufrieden mit ihrem kleinen Unternehmen.

In letzter Zeit wurden die Wege zwischen den Einsatzorten länger. Sie musste mehr verlangen, um das gleiche Einkommen zu erreichen. Einige Kundinnen murrten, aber niemand, der noch da war, wollte auf ihre Dienste verzichten.

Der Skoda sollte noch einige Jahre durchhalten. Auf den Fahrten unterhielten sie sich über ihre Kinder, ihre Ehemänner, ihre Mütter, die Katzen in den Häusern und über ihre Auftraggeberinnen und Auftraggeber.

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Elisa

Sie machte sich auf den Weg. Sportschuhe, Jeans, Bluse und leichter Anorak. Über dem Marchfeldkanal lag leichter Nebel. Sie wollte zu Fuß gehen, bis ins Zentrum. Ich muss gehen, gehen, gehen. Um denken zu können, um nichts denken zu können, um mich wohlzufühlen.

Sie dachte an die Fische, die neben ihr im trüben Wasser schwammen. Donaufische. Laube, Brachse, Aitel, Karpf, Hecht, Zander, Nerfling, Nase, Frauennerfling, Barbe, Wels, Streber, Zingel, Schrätzer, Schleie, Aal. 35 Arten, hieß es. 1993, als dieses künstliche Gewässer geflutet worden war, hatten sich die Fische auszubreiten begonnen, als hätten sie lange darauf gewartet. Und die Biber kamen, die Bisamratten, die Schwäne und die Enten, die Möwen, die Reiher und die zahlreichen Insektenarten, die Spinnen und die Würmer, die das Gewässer und das Uferbiotop besiedelten und zu ihrem gemacht hatten.

Maria ging. Sie lief nicht, sie spazierte nicht, sie schlenderte nicht, sie schritt zügig aus, ohne Hast. Alles darf seine Zeit haben, alles soll seine Zeit haben dürfen, dachte sie in Überschriften aus Wellnessjournalen und war es leid, sich dafür zu schämen. Es ist schon so und bleibt schon so, auch wenn Wellnesshotels damit werben.

Sie nahm den Trampelpfad durch den Wald. Das Unterholz streifte an ihrem Anorak, sie musste Zweige zur Seite biegen. Ein schmaler Streifen Wildnis, den sie der Länge nach durchwanderte, eine künstliche Wildnis, besonders wertvoll. Nur einige Meter rechts von ihr Weizenfelder, auf der anderen Seite Wohnbauten mit rechten Winkeln und asphaltierten Wegen dazwischen, mit vielen übellaunigen Menschen in ihnen, und einzelnen fröhlichen und klugen. Sie schritt durch einen Naturstreifen und wartete auf das Besondere. Einen kleinen Drachen, der sie begleitete. Auf etwas Fantastisches, wie in den Romanen von Cartarescu, in denen das Bukarest zu Zeiten Ceausescus eine verzauberte Stadt ist. Wien könnte jetzt auch Zauber brauchen, und Drachen, und Wundermilben.

Sie mochte die Fischer, die am Marchfeldkanal ausharrten, einen Riesenfisch herauszogen, ein Selfie mit Schleie oder Wels machten und dann den Fisch wieder ins Wasser entließen. Sie posteten das Foto im Anglerforum, beschrieben, mit welchem Gerät sie wo diesen Fang gemacht hatten, waren stolz, wurden gelobt. So soll es sein.

Der Waldpfad war zu Ende, sie hatte wieder einen Kiesweg unter ihren Füßen, der bald schon in einen breiten asphaltierten Weg übergehen würde, neben den Schrebergärten, in denen sich die Menschen hässliche kleine Häuser bauen durften, von Gärten keine Rede mehr. Billiger Wohnraum aber.

Eine entfernte Freundin, Clara, dort, wenn sie ihrer ansichtig würde, würde von ihrem Unglück erzählen. Vom Partner verlassen für eine Jüngere, nach all der Anstrengung des Hausbaus, sie nun Alleinerzieherin ihrer Kinder, aus der Traum vom Glück, vom Masterstudium für den kleinen beruflichen Aufstieg. Auf Facebook grinste der Ex nun sein Glück mit der Neuen in die Welt, wie zum Hohn. Sie war klug genug, ihren Zorn und ihre Enttäuschung nicht öffentlich zu machen. Aber der früheren Kollegin musste sie es erzählen, da kam dann alles heraus, da schwemmte sie ihre Bitterkeit auf die Straße. Das Delta, würde der Geschäftsführer sagen. Das Delta zwischen Plan und Realität.

Welch anspruchslos banaler Plan, Familienglück auf ewig, bis dass der Tod uns scheide, so waren sie sich einig gewesen. Sogar das Haus hatten sie schon, und die entzückenden Kinder darin, ein kleines Haus und trotzdem für jedes Kind ein kleines Zimmer, das ganze Bild wäre perfekt gewesen.

War er immer schon ein Arschloch, fragte sich Elisa. Auch wenn er kein Arschloch gewesen wäre, nur eben etwas erfolgreicher als seine Partnerin, hätte das gereicht für den plötzlichen Crash. Den ganzen Rest des Lebens in einem Häuschen in einem Schrebergarten, das soll es jetzt gewesen sein?

Das kann es nicht gewesen sein, das hätten sich auch Nicht-Arschlöcher gedacht. Und mit Bedauern, vor allem wegen der Kinder, hätten sie sich eine andere Perspektive gesucht, und für leidlich erfolgreiche Männer um die 40 oder ein bisserl darüber ist das immer eine jüngere Frau. So funktioniert der Beziehungsmarkt.

Die Frauen sollten auch ein bisserl schlimm sein, schon vor der absehbaren Katastrophe, die nicht wirklich eine ist, mit ihren guten Jobs versinken sie nicht in Armut, es gibt genügend andere Frauen, die sie verstehen, und die Kinder sind ein Jahr verstört, dann wieder auf Gleis und gehen ins Gymnasium in diesen Kreisen und es wird schon was aus ihnen, wenn sie nicht schon in ihren ersten Lebensjahren Böses hatten erleben müssen.

Elisa beschleunigte ihre Schritte und machte sich unsichtbar, damit sie Clara nicht in die Arme läuft. Die Welt hält viele Grausamkeiten bereit. Jene, die sie für Clara auserwählt hat, gehört zu den ganz kleinen. Das einzige, was Elisa jetzt nachdenklich machte: Hätte Clara kein Arschloch geheiratet, sondern einen netten und gewinnenden Mann, wäre wohl nichts anders verlaufen. Ist es wirklich egal? Einen ungefähr gleichaltrigen Mann behält man nur dann, wenn er eine Null ist, oder wenn ich mindestens so gut bin wie er? Oder nicht einmal dann? Keine Nutzanwendung für Elisa. Sie ist die Jüngere. Sie hat gewartet und dann einen älteren Mann geerntet. Der Altersunterschied so groß, dass sie nicht gefährdet ist, denkt sie. Sie ist eine Profiteurin dieser Marktsituation. Das hat andere Nachteile, aber an die wollte sie jetzt nicht denken. Sie schritt zügig aus, und die Gefahr, Clara zu begegnen, war auch schon wieder vorbei. Es ist ja doch Liebe, entschied sie. Ordentliche, echte Liebe, für die sie sich entschieden hat nach langer Suche. Verzicht auf windige Gestalten, keine Panik, warten, bis das Richtige kommt. Es ist gut so.

Wie viele Verbitterungen mag es wohl in dieser Siedlung geben? Welche Gespenster gehen hier um? Sie dachte an Ausräuchern, an schamanische Rituale. Und dann an befreite Menschen. An das Wiederaufblühen der Schrebergärten. Alles könnte gut werden.

Nach den großen Teichen bog sie ab und bestieg den Hubertusdamm. Rechts über der Donau der Leopoldsberg. Auch schon seit langem da, irgendwie mit den Babenbergern verbunden, vor einem Jahrtausend die Herrscher hier. Die lange Geschichte lastet auf dieser Stadt, gerade jetzt, wo sie endgültig zugrunde zu gehen schien, bedeutungslos wurde, ein Rätsel, das niemand mehr lösen wollte. Man blieb hier, ohne zu wissen, warum so viele gegangen sind, und fühlte sich leer. Man hatte gedacht, man ziehe in eine pulsierende Metropole, und landete in einer schlecht gelaunten Provinzstadt, die Angst vor ihrer Zukunft hatte.

Der Damm war schnurgerade, 21 Kilometer lang. Sie würde ihn nicht komplett begehen, sondern bald die Donau überqueren. Radfahrer in hautenger Kluft überholten sie und begegneten ihr. Der Nebel begann sich zu lichten, die ersten Sonnenstrahlen erreichten sie und wärmten. Links von ihr das gleichmäßige Rauschen der Autobahn. Rechts von ihr die Böschung und die glitzernde Neue Donau. Es breitete sich Leere aus. Eine menschengemachte Landschaft in all ihrer Ödnis und Traurigkeit. Gleichgültig gegenüber den immer weniger werdenden Menschen, die sich in ihr bewegten. Betonröhren als Mistkübel, die breiten Asphaltbänder als Wege, die Böschung eine Brache, große kantige Felsbrocken am Ufer. Eine sehr billige Gestaltung, ganz anders als der Marchfeldkanal, lange Zeit erträglich gemacht durch die vielen Menschen, denen es gelungen war, auch dieses Areal in Besitz zu nehmen und für sich zu nutzen. Je weniger Menschen sich hier bewegten, als umso trister nahm man die lieblose Gestaltung wahr, die der Natur wenig Chancen zur eigensinnigen Entwicklung gab.

Elisa genoss den Blick auf die Wienerwaldberge auf der anderen Seite der Donau und setzte ihre Wanderung fort, Richtung Zentrum, noch Kilometer vor sich. Einige Möwen begleiteten sie in Respektabstand, und hinter dem Leopoldsberg zog eine Wolkenwand auf.

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Winfried

Das haben wir nicht gewollt, das kann man uns nicht in die Schuhe schieben! Er ereiferte sich routiniert, war auf seiner Tour durch die Floridsdorfer Gastronomie. Überall begrüßt mit „Herr Bezirksrat“. Sich mit lautem Bariton ereifern war sein Markenzeichen, jetzt schon eineinhalb Jahrzehnte. Seine Zuhörer fühlten sich wohl dabei, ein vertrauter Sound, und sie durften sich als bekräftigender Chor an der Performance beteiligen. Dem einen oder der anderen fiel manchmal auch eine illustrierende Geschichte ein, und sie freuten sich, wenn der Bezirksrat dann ein kräftiges „So isses“ von sich gab.

Wir haben nie etwas gehabt gegen die Fleißigen. Wer seine Arbeit macht, ist uns willkommen gewesen, immer. Klar, dass die jetzt gegangen sind, die waren auch angefressen wegen der Verbrecher in der Stadtregierung, die allen die Staatsbürgerschaft gegeben haben, und die Moslems haben die Gemeindewohnungen gekriegt und die Sozialhilfe und haben ihre Frauen verschleiert herumlaufen lassen. Das hält ja kein fleißiger Mensch aus, deswegen sind sie gegangen.

Wir wollten immer die Fleißigen, muss ja nicht jeder gleich die Staatsbürgerschaft kriegen. Jeder hat doch eine Heimat, und die haben auch ihre Heimat, die sie nicht verraten sollen, und wenn sie es tun, sind sie auch nicht wert, Österreicher zu werden. Es hat so viele Anständige gegeben, die man vertrieben hat, weil das Gesindel immer Vorrang gehabt hat bei den Verbrechern von der SP, und den Verbrecherinnen, da muss man politisch korrekt sein, denn die haben ja besonders gerne die Schlampen nach oben gelassen, und die haben sich dann bedient, die lesbischen Fotzen, die haben einen Hass auf ehrlich arbeitende Menschen.

Als rechtsradikal haben sie uns beschimpft. Dabei waren wir nie Rassisten. Es kommt immer darauf an, dass jemand ehrlich ist, und arbeitet, und kein Heimatverräter. Wir sind keine Rassisten, wir feiern jetzt nicht, dass alle fort sind. Es sind die Falschen fort, und die Verbrecher und Volksverräterinnen sind immer noch da.

Wir sind nicht radikal. Wir haben niemanden vertrieben, niemanden in die Donau geschmissen, niemanden ins KZ gesteckt, wir haben uns immer zurückgehalten. Es sind andere Zeiten heute, nicht alle verstehen das.

Der Bezirksrat funktionierte noch. Seine Never Ending Tour setzte er zwar noch fort, die letzte Überzeugung vom finalen Erfolg hatte ihn aber schon fast verlassen. Sie erodierte. Und in dem Maße, in dem die Erfolgsgewissheit verschwand, schienen ihm auch seine Schmähreden schal.

Eine Bewegung lebt eben von der Bewegung, von der Dynamik, nicht von der Routine. Und da gab es jetzt schon zweimal in seiner aktiven Zeit die fulminanten Aufschwünge, die immer besseren Wahlergebnisse, die immer klarere Zustimmung in seiner Wirtshauswelt, in der er schon längst den Endsieg eingefahren hatte, wo sich keine andere Stimme mehr regte, seit Jahren. Dazwischen immer die Enttäuschungen des Fußvolks, das schon seit langem keine Menschen mehr getroffen hatte, die ihnen widersprochen hätten, aber bei den Wahlen kam man doch kaum an ein Drittel der Stimmen heran. Das müsse Betrug sein, war man gewiss. Der Bezirksrat wusste es besser, gab ihnen aber recht. Er wusste, dass sie auf dem Weg nach oben, aber eben noch nicht oben gewesen waren. In Bewegung. Und dann kam immer, kurz vor dem Höhepunkt, der Absturz. Ein Sprengsatz mitten auf der Autobahn zur Macht, einmal aus den eigenen Reihen, einmal von wem auch immer, nicht einmal das wusste man vorher, und manchmal auch nicht nachher.

Gewiss, man konnte das auch über Jahrzehnte wiederholen, ganz ohne Aussicht darauf, jemals gewinnen zu können. Man schaue sich nur die Kommunisten an, immer unter einem Prozent, unbeirrt trotzdem. Eigentlich bewundernswert.

In diesen Zeiten darf man sich nicht wie ein lächerlicher Bezirksrat benehmen, nicht mehr. Die Partei ist wie ein Klumpfuß, immer versucht, auf Posten zu schielen und einige wollen sich bereichern und machen alles kaputt. Es braucht Idealismus heutzutage, Die volle Energie, ein Commitment, eine Überzeugung, einen wirklichen Kampf, ohne Rücksicht auf die eine oder andere Stimme bei der Wahl. Und dann Aktion.

Er würde sich aufmunitionieren müssen. Denken. Zu einem Kämpfer werden. Die eigene Müdigkeit überwinden, die Lächerlichkeit, sich selbst wieder überzeugen, sich in Wut reden, im Bewusstsein, dass die Wahrheit nicht mehrheitsfähig ist. Nur so wird er zu einem gefährlichen Streiter. Und wenn niemand mitgehen will, dann muss man eben allein handeln. Das ist man sich selbst schuldig.

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Der Kater

Walters Kater war trotz seines fortgeschrittenen Alters ein begabter und immer wieder erfolgreicher Jäger, der die Nacht stets streunend verbrachte. Der Weg nach draußen, für den Walter die Terrassentüre öffnen musste, war selten einfach. Zumeist nutzte der Kater den Freigang-Start für ein Beziehungsspiel. Heute war, wie sich bald herausstellte, sein offensichtliches Bestreben, hinausgetragen zu werden. Nach Entgegennahme des obligatorischen Schinkenstücks ließ er seinen Menschen nach unten gehen, bereit, die Türe zu öffnen. In gehörigem Abstand folgte der Kater, ging aber nicht zur Türe, sondern machte einen großen Bogen durch das Wohnzimmer, jeweils auf den größtmöglichen Abstand zur Terrassentüre achtend. An zwei Zwischenstationen machte er Halt und beobachtete Walter, der, die Schnalle in der Hand, dem Kater die Passage ermöglichen wollte. Schließlich legte sich das weiße Tier auf das schwarze Sofa, einen kurzen Blick noch zu Walter, dann sich einrollend. Der Mensch in seiner Portierrolle näherte sich ihm, der Kater ließ sich aufnehmen und begann sogar zu schnurren dabei. Auf der Stufe abgesetzt, flitzte er wie üblich entlang der Verglasung nach links um dann im Dunkel des Gartens zu verschwinden.