Wilhelm Heitmeyer, Manuela Freiheit, Peter Sitzer

Rechte Bedrohungsallianzen

Signaturen der Bedrohung II

Suhrkamp

Vorwort

Dieses Buch setzt die 2018 begonnene Reihe »Signaturen der Bedrohung« fort. Inhaltlich knüpft es an den Vorgängerband Autoritäre Versuchungen an, insbesondere an das dort in Kapitel 14 entwickelte Konzept des konzentrischen Eskalationskontinuums, das die folgenden Analysen strukturiert. Wir befassen uns mit den verschiedenen Eskalationsstufen sowie den Wechselwirkungen zwischen ihnen und beschreiben eine Dynamik, die sich oftmals in Gewalttaten entlädt.

Unsere These lautet, dass sich eine Ausdifferenzierung, Intellektualisierung und Dynamisierung des rechten politischen Spektrums beobachten lässt. Einstellungen, die wir unter dem Begriff Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zusammenfassen können, normalisieren sich in Teilen der Bevölkerung, die Grenzen zwischen dem rechten und dem demokratisch-konservativen Segment des Parteienspektrums werden durchlässig. Als Ursache dafür sehen wir ökonomische und sozial-kulturelle Verwerfungen. Kapitalistische Landnahmen, soziale Desintegration und Demokratieentleerung lassen das Vertrauen in das demokratische System schwinden.

Um dieses Buch schreiben zu können, haben wir verschiedene Kolleginnen und Kollegen zu Rate gezogen. Unser Dank gilt: Frank Asbrock (Chemnitz), Rafael Behr (Hamburg), Werner Bergmann (Berlin), Frerk Blome (Hannover), Dierk Borstel (Dortmund), Nils Böckler (Darmstadt), Frank Jansen (Berlin), Daniela Krause (Bielefeld), Stefan Malthaner (Hamburg), Timo Reinfrank (Berlin) und Ulrich Wagner (Marburg).

Danken möchten wir auch der Kollegin Sylja Wandschneider aus dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt »Autonome Nationalisten« sowie den studentischen und wissenschaftlichen Hilfskräften Moritz Bühler, Alina Marie Gülle, Max Hemmann, Olga Janzen, Jannik Kohl, Alessandra Schädel, Sören Sponick, Kathrin Wagner und Felicitas Wagner. Besonders bedanken wir uns bei Ulrike Rogat, die souverän die Schreibarbeiten und die Manuskriptverwaltung besorgt hat.

Bielefeld, im Sommer 2020

Wilhelm Heitmeyer,
Manuela Freiheit,
Peter Sitzer

Vorbemerkung: Analysen in Zeiten der Corona-Pandemie

Jede Buchveröffentlichung zu politischen Themen und gesellschaftlichen Entwicklungen im Jahr 2020 hat eine Zäsur mitzudenken: die Corona-Pandemie und die Frage, ob die vor der weltweiten und damit natürlich auch nationalen Krise geschriebene Untersuchung noch tragfähig ist nach der Krise, wenn sie denn vergehen will und sich nicht zu einer chronischen Pandemie entwickelt.

Das betrifft auch unsere Analyse rechter Bedrohungsallianzen, bei deren Beschreibung und Erklärung wir immer wieder auf die Krisen der letzten beiden entsicherten Jahrzehnte zurückkommen, vor allem auf »9/11« (2001), auf »Hartz IV« (seit 2005), die Banken- und Finanzkrise (2008-2009) sowie die sogenannte »Flüchtlingskrise« (2015). Es waren Krisen, weil die Routinen zur Bewältigung sozialer, ökonomischer und politischer Aufgaben nicht mehr in gewohnter Weise funktionierten und weil klar war, dass die Zustände vor den krisenhaften Ereignissen sich nicht wiederherstellen lassen würden. Gleichzeitig gingen damit stets auch biografische, soziale, ökonomische und politische Kontrollverluste einher.

Diese Krisen unterscheiden sich in dreierlei Hinsicht von der Corona-Pandemie: Zum einen trafen sie mit einer zeitlichen »Staffelung« ein. Zum anderen betrafen sie unterschiedliche Gruppen in der Bevölkerung mit unterschiedlichen Risiken und Kontrollverlusten. Die beteiligten Institutionen in den sozialen Teilsystemen reagierten mit ihren jeweiligen Logiken auf die Erschütterungen. Drittens ereigneten sich diese Krisen (selbst die Bankenkrise) insofern im Rahmen stabiler ökonomischer Zustände, als Instrumente zu ihrer Bewältigung zur Verfügung standen. Mit Corona ist diese Logik der Beherrschbarkeit von Krisen in hoch differenzierten Gesellschaften zertrümmert worden.

Im Gegensatz zu den früheren Krisen in Teilsystemen haben wir es jetzt mit Kontrollverlusten des Gesamtsystems zu tun – mit der Konsequenz zeitweiliger Stilllegungen oder Beschränkungen von Lebensbereichen und Funktionssystemen. Dies gilt auch für politische Bewegungen und Parteien im öffentlichen Raum, mithin auch für rechte Bedrohungsallianzen, soweit sie nicht klandestin agieren und/oder terroristische Planungen verfolgen.

Was ist nun angesichts der unklaren Auswirkungen der Corona-Pandemie im Hinblick auf die Erklärungsreichweite unseres Ansatzes und auf gesellschaftliche wie politische Entwicklungsrichtungen anzunehmen? Dies ist eine empirische Frage, die sich im Sommer 2020 noch nicht wirklich beantworten lässt. Gleichwohl ist es notwendig, die öffentliche und wissenschaftliche Debatte zu beobachten, da im Verlauf der Krise angesichts der schrecklichen Todeszahlen und der gesellschaftlichen Schockstarre unterschiedliche Zukunftsentwürfe artikuliert werden.

Zeitenwende ist ein zentraler Kristallisationsbegriff, an den zahlreiche optimistische Hoffnungen geknüpft werden auf nicht weniger als Strukturveränderungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Thematisiert wurden in »schnellen« Feuilletons »voraussichtliche« Verstetigungen solidarischen Verhaltens, Entschleunigungen der Globalisierung, eine Verminderung der sozialen Ungleichheit, Veränderungen des kapitalistischen Systems oder auch ein Umbau politischer Strukturen. Darin finden sich viele Elemente von Gesellschaftsromantik, denn nirgends ist erkennbar, wer die »Treiber« solcher weitreichenden Veränderungen sein könnten. Zumal in den Debatten verdrängt wurde, dass der globale finanzialisierte Kapitalismus kein Interesse an gesellschaftlicher Integration oder daran hat, dass Solidarität zunimmt, Ungleichheit abnimmt usw. Die Leitlinien des ökonomistischen Denkens, das in die Gesellschaft eingedrungen ist, sind Nützlichkeit, Verwertbarkeit und Effizienz, nicht nur für die Produktion von Waschmaschinen, sondern auch für die Bewertung von Menschen.

Was sich – neben den massiven staatlichen Eingriffen in grundgesetzlich verbriefte Freiheitsrechte – bereits im Sommer 2020 abzeichnet, sind ein Konjunktureinbruch sowie strukturell tief greifende und zeitlich weitreichende Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt. Solche Verwerfungen gehen in der Regel mit Existenzängsten und Statusverlusten, zeitversetzt auch mit steigender sozialer Ungleichheit einher.

Diese Aussichten legen es nahe, in eine andere, weniger optimistische Richtung zu fragen: Werden die Akteure des rechten politischen Spektrums von diesen erneuten Verunsicherungen und Kontrollverlusten profitieren, wenn die Beschränkungen einmal endgültig aufgehoben und der öffentliche Raum wieder geöffnet worden ist (siehe dazu auch die Überlegungen im Postskriptum)? Nach allem, was wir über die Verarbeitung krisenhafter Ereignisse wissen, müssen wir davon ausgehen, dass autoritäre Versuchungen in einer solchen Situation eher zunehmen. Entsicherte Zustände sind selten gute Zeiten für Solidarität, breites demokratisches Engagement oder mutige Experimente mit neuen ökonomischen Konzepten oder Modellen der demokratischen Repräsentation.

Dass es während der Pandemie weniger öffentlich sichtbare Aktivitäten rechter Bedrohungsallianzen gab, heißt nicht, dass politische Herausforderungen wegen eines »natürlichen« Virus verschwunden wären. Vielmehr wurden sie durch die Bewegungseinschränkungen und die Dominanz der Gesundheitsversorgung zeitweise überdeckt. Die These für die Zeit nach der Pandemie wäre also: Aus Kontrollverlusten wächst das Autoritäre. Die Überprüfung muss in den nächsten Jahren stattfinden.

1. Das Konzept

1.1. Problembeschreibung und leitende These: Ausdifferenzierung und Dynamisierung als Erfolgsmodell rechter Bedrohungsallianzen

In den letzten Jahren war im rechten politischen Spektrum eine Ausdifferenzierung von Bewegungen, Parteien und Netzwerken zu beobachten. Zugleich wurden die Kräfte gebündelt. Vor dem Hintergrund globaler und innergesellschaftlicher Probleme führte dies zu einer bislang ungekannten Dynamisierung von Bedrohungen für die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie.

Diese Bedrohungen beginnen oft mit Verschiebungen auf der Einstellungsebene, etwa wenn basale Grundwerte wie die Gleichwertigkeit der Menschen, die in dieser Gesellschaft leben, nicht länger von allen geteilt werden. Solche Verschiebungen können in Angriffen auf die psychische und physische Unversehrtheit der Angehörigen markierter Gruppen resultieren – bis hin zu tödlicher terroristischer Gewalt. Aber auch die Institutionen der Gesellschaft und des Staates stehen im Fadenkreuz und sollen destabilisiert werden.

Die entsprechenden Allianzen umfassen Einzelpersonen ohne organisatorische Anbindung, die Einstellungen aufweisen, die sich unter gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit subsumieren lassen, ein autoritär-nationalradikales Milieu mit entsprechenden Bewegungen und Parteien, systemfeindliche rechtsextremistische und neonazistische Netzwerke sowie klandestine terroristische Zellen und ihre Unterstützer. Wie gefährlich solche Allianzen für die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie sind, lässt sich nur dann wirklich einschätzen, wenn man die Interaktionsprozesse zwischen den Teilgruppen mithilfe eines soziologischen Ansatzes (Kapitel 3) und vor dem Hintergrund des Konzepts des Eskalationskontinuums (Kapitel 4) analysiert. Parzellierte Betrachtungen einzelner Vorgänge, Organisationen oder Ereignisse hingegen führen aus unserer Sicht nicht weiter.

1.2 Definitorische Rahmung

Rechte Bedrohungsallianzen werden in dieser Analyse als Bündnisse zwischen individuellen Akteuren, Gruppen, sozialen Bewegungen und Parteien verstanden, die sich gegen die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie richten. Dabei unterscheiden wir zwischen formellen Handlungs- und informellen »Gedanken«-Bündnissen in Form von Einstellungen in der Bevölkerung. Wir werden diese Bedrohungsallianzen in der folgenden Analyse explizit nicht allein im klassischen parteipolitischen Koordinatensystem verorten, da wir glauben, dass sie dafür zu komplex sind und eine zu große programmatische und taktisch-strategische Spannbreite aufweisen. Rechte Bedrohungsallianzen eint das Bestreben, eine autoritäre Entwicklung hin zu einer geschlossenen Gesellschaft und illiberalen Demokratie herbeizuführen. Deshalb werden die rechten Bedrohungsallianzen in dem konzipierten Eskalationskontinuum durch ihre Frontstellung gegen qualitative Verfassungsgrundsätze bestimmt. Zentral ist Artikel 1 Grundgesetz: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.«

Was die konzentrischen Schichten des Eskalationskontinuums anbelangt, lassen diese sich insbesondere durch ihre jeweilige Aggressivität sowie Gewalt- und Vernichtungsbereitschaft unterscheiden. Außerdem können wir Prozesse auf drei Ebenen auseinanderhalten: Auf der individuellen Ebene geht es vor allem um die Ideologie der Ungleichwertigkeit sowie die Schädigung oder Zerstörung der psychischen und physischen Unversehrtheit von Menschen. Auf der Ebene der Institutionen zentral sind die Destabilisierung bisheriger Normalitätsstandards sowie die Veränderung sozialer Normen mit dem Ziel, ein neues, autoritäres Kontrollregime zu errichten. Auf der gesellschaftlichen Ebene wird ein Systemwechsel angestrebt, mit dem national fokussierte deutsche Zustände durchgesetzt werden sollen.

Bedrohungsallianzen werden hier ausdrücklich nicht im Sinne vertraglicher Zusammenschlüsse oder sonstiger formaler Vereinbarungen verstanden. Was uns vielmehr interessiert, sind ideologische Bezugnahmen und Legitimationsbrücken zwischen den einzelnen Bestandteilen dieser Allianzen. Im Extremfall reichen ihre Ziele bis hin zum Umsturz mithilfe terroristischer Zellen und zur Errichtung eines Gesellschaftssystems nach nationalsozialistischem Vorbild.

Darüber hinaus sind weitere Definitionsmarkierungen notwendig. Sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Wissenschaft kursieren so unterschiedliche Bezeichnungen wie »Rechtsradikalismus«, »Neonazismus« oder »Neofaschismus«, die nicht einfach andere Wörter für dasselbe Phänomen darstellen, sondern »als Begriffe auf unterschiedliche, teils gegensätzliche Wahrnehmungen und soziale wie politische Kontexte verweisen« (Salzborn 2015, S. 14; siehe auch Fenske 2013; FIPU 2014). Zugleich wird der Rechtsextremismus-Begriff im medialen und politischen Diskurs inflationär verwendet (vgl. Pfahl-Traughber 1995, S. 25). Komplettiert wird die Begriffsverwirrung dadurch, dass es selbst unter jenen Wissenschaftlern, die den Terminus verwenden, keine allgemein anerkannte Definition gibt und angesichts der verschiedenen gesellschaftspolitischen Standpunkte und methodischen Ansätze wohl kaum jemals geben wird (vgl. u. ‌a. Mudde 1995; Heitmeyer 2002b; Backes [Hg.] 2003; Grumke 2013).

Wir stützen uns im Folgenden auf die Definition die eine Ideologie der Ungleichwertigkeit in Verbindung mit Gewaltakzeptanz als Kern der entsprechenden Phänomene identifiziert (Heitmeyer 1987). In der Langzeituntersuchung von Heitmeyer et al. (1992, S. 13f.) wurde diese Auffassung weiter ausdifferenziert.

Die Ideologie der Ungleichwertigkeit basiert auf nationalistischer bzw. völkischer Selbstübersteigerung, rassistischen Kategorien, soziobiologischen Behauptungen natürlicher Hierarchien, auf einer sozialdarwinistischen Betonung des Rechts des Stärkeren, totalitären Abwertungen von »Anderssein« sowie einer Betonung von Homogenität. Diese Ideologie der Ungleichwertigkeit ist der kleinste gemeinsame Nenner, der alle Schichten des Eskalationskontinuums eint und der alle individuellen, gruppenbezogenen und nationalen Vergleiche durchzieht. Sie dient als Interpretationsfolie gesellschaftlicher Realität und als Legitimationsfundus für personen- wie gruppenbezogene Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt.

An dieser Stelle kommt das zweite Element der Definition ins Spiel, die Gewaltakzeptanz. Ihre wesentlichen Varianten sind die Überzeugung, Gewalt gehöre unabänderlich zum sozialen Dasein, die Billigung fremdausgeübter privater bzw. repressiver staatlicher Gewalt, eigene Gewaltbereitschaft sowie schließlich tatsächliche Gewalttätigkeit. Gewalt gilt als normales und legitimes Mittel der Austragung von Konflikten sowie zur Durchsetzung der Ideologie der Ungleichwertigkeit. Damit einhergehen eine Geringschätzung rationaler Diskurse, die Überzeugung, das Leben sei ein alltäglicher Kampf zur Sicherung des »Deutsch-Seins«, eine Ablehnung demokratischer Formen der Regelung sozialer und politischer Konflikte, der Wunsch nach autoritärem Durchregieren sowie ein gewisser Militarismus bzw. ein Faible für militärische Umgangsformen.

Ausgehend von diesen terminologischen und konzeptionellen Vorbemerkungen wird das Argument nach einer empirischen Bestandsaufnahme zum Ausmaß rechtsextremistischer Straf- und Gewalttaten (Kapitel 2) in neun Kapiteln entwickelt: