Agnès Poirier

Notre-Dame

Die Seele Frankreichs

Aus dem Englischen von Monika Köpfer

Insel Verlag

Für Ma Dame, Garance

Als ich eintrat, war mein erster Eindruck eine Empfindung, die ich nie gehabt, ›das ist eine Kirche‹ […]. So ergreifend ernst und düster habe ich nichts gesehen […].

Sigmund Freud an seine Verlobte Martha Bernays,19. November 1885

Es reicht nicht, Notre-Dame zu betrachten, man muss sie erleben. Lange. Täglich. Sie wäre nicht Gottes Dienerin, wäre sie uns nicht auch irgendwie von Nutzen.

Paul Claudel, 1951

Karte

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Prolog

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Meine Erinnerungen an den Abend, als Notre-Dame brannte, sind ein Kaleidoskop von Bildern, aufeinanderprallende Emotionen in schneller Abfolge: Wie ich durch mein Küchenfenster hellgelbe Rauchschwaden gen Himmel steigen sah und sofort die Treppe hinunterstürzte und hinaus auf den Quai de la Tournelle, um genau gegenüber von Notre-Dames Südrosette stehen zu bleiben, während aus dem Dach rote und orange Flammen schossen; das widerhallende Schweigen der Menge, der entsetzte Ausdruck in den Augen der Menschen, die grauenhafte Schönheit des Augenblicks, während Tränen über Wangen rannen, sich Lippen in stummen Gebeten bewegten; die Feuerwehrleute, die mit ihrem präzisen, fokussierten Handeln wie Feldchirurgen anmuteten, die Wasserschläuche, die plötzlich aus allen Himmelsrichtungen wie riesige Schlangen auftauchten, der wie eine brennende Fackel wirkende Spitzturm kurz vor dem Einstürzen, das rosa schimmernde mittelalterliche Gestein vor dem königsblauen Himmel; dann der schwarze Rauch, der aus dem Nordturm stieg, und der unerträgliche Gedanke: Unsere Liebe Frau könnte untergehen.

Wir brauchen Gewissheiten: Sie geben unserer Existenz einen Rahmen, sind die Wegweiser, ohne die wir nicht durchs Leben navigieren, geschweige denn die unzähligen Prüfungen und Anfechtungen des Schicksals bestehen können; 850 Jahre lang war Notre-Dame eine solche Gewissheit. Jene, die es vergessen hatten, wurden am Abend des 15. April 2019 auf schockierende Weise daran gemahnt. Wenn Notre-Dame vor unseren Augen in sich zusammenfallen und aus unserem Leben verschwinden konnte, konnten dies auch alle anderen Gewissheiten – Demokratie, Frieden, Völkerverständigung. All die Schulleiter von Paris, die Psychologen engagierten, um am Morgen danach die Kinder zu betreuen, hatten das sehr wohl verstanden. Viele Kinder brachten Plastikbeutel voller kleiner schwarzer Holzfragmente mit, die sie von Balkonen und Gehsteigen aufgelesen hatten. Ihre Eltern hatten ihnen gesagt, dass diese winzigen Kohlestücke in die Zeit der Kreuzzüge zurückreichten, und die Kinder bedurften jetzt ganz einfach der Vergewisserung, dass das Geschehene nicht unwiederbringlich war. Ihnen Trost zu spenden war einfacher, als uns selbst zu trösten.

Als an jenem Abend die ersten Bilder der Tragödie die sozialen Netzwerke und die Fernsehbildschirme überfluteten, brandete fast unmittelbar danach an der Pariser Île de la Cité, der Wiege Frankreichs, eine Welle der Emotionen aus allen Teilen der Welt an. Wie schon so oft in unserer Geschichte fühlten wir Pariser uns als Teil der Welt, in Trauer und Schmerz vereint.

Warum fühlten wir uns alle so traumatisiert?

Notre-Dame war seit jeher mehr als nur eine Kathedrale, ein Gotteshaus für Katholiken und ein schönes Bauwerk, dessen Glasfenster aus dem dreizehnten Jahrhundert datieren und somit zu den ältesten und besterhaltenen zählten. Notre-Dame ist eine der größten architektonischen Errungenschaften der Menschheit, das Antlitz der Zivilisation und die Seele unserer Nation. Sowohl heilig als auch profan, gotisch als auch revolutionär, mittelalterlich als auch romantisch, war sie für die Menschen schon immer ein Ort der Zusammenkunft und der Zuflucht, ob für Gläubige oder Atheisten.

Victor Hugo hat mit seinem missgestalteten Glöckner Notre-Dame zu einer weltweit bekannten Heldin gemacht und sie dem Prozess der schnöden Vernachlässigung entrissen, der zweihundert Jahre zuvor begonnen hatte. In den 1860ern erstand sie in neumittelalterlicher Pracht wieder auf, und zwar dank des Architekten Eugène Viollet-le-Duc, eines Experten für mittelalterliche Kunst; er restaurierte sie und stattete sie mit einem Spitzturm über der Vierung aus, dem Zeichen ihrer Wiedergeburt. Durch die neuen Kunstrichtungen Fotografie und Kino wurde sie zu einer universalen Ikone und, zusammen mit Quasimodo, Esmeralda und den schaurigen oder grotesken, aber liebenswerten Wasserspeiern, die ihre Fassade schmücken, zu einer Figur aus Fleisch und Blut in der kollektiven Vorstellungswelt. Auf diese Weise wurde die Liebe zu Notre-Dame, diesem lebenden Wesen in Gestalt einer Kathedrale, von Generation zu Generation weitergetragen.

Auch ihre faszinierende Schönheit ließ die Möglichkeit, sie könnte eines Tages untergehen, unvorstellbar erscheinen. Im Lauf von zehn Jahrhunderten erbaut und immer wieder umgebaut, ein kontinuierlicher Work in progress der Perfektion. Notre-Dames Anmut ist sowohl einzigartig als auch facettenreich. Jeder Betrachter hat seinen eigenen Lieblingsblickwinkel auf die Kathedrale. Bei einigen ist es die Aussicht von der Pont de l’Archevêché, wenn man vom linken Seineufer in Richtung des Gartens schräg unterhalb ihres Strebewerks geht, oder von ein wenig weiter östlich, von der Mitte der Pont de la Tournelle, von wo aus sich die Kathedrale wie der majestätische Bug eines Schiffs namens Frankreich erhebt. Für wieder andere ist es der Ausblick vom Quai d’Orléans auf der Île Saint-Louis, der anderen der beiden Pariser Binneninseln, wo sie mit einem Mal an der Biegung des baumbewachsenen Ufers auftaucht, oder ganz einfach von der Mitte des Vorhofs – dem Platz vor dem Haupteingang der Kathedrale –, von wo aus man das westliche Rosenfenster und die Zwillingstürme in ihrer ganzen Pracht vor sich hat. Oder aber vom Quai Montebello und der Terrasse des Buchladens Shakespeare & Company.

Pablo Picasso wiederum gefiel die Aussicht vom rückwärtigen Garten. Am 15. Mai 1945 fragte der Stierkampf-Aficionado den Fotografen Brassaï: »Haben Sie Notre-Dame von hinten fotografiert? […] Mich hat diese Spitze auch überrascht […] sie wirkt wie eine in den morillo gebohrte banderilla!«1

Mein liebster Blickwinkel ist indes der von der Ecke Rue de la Bûcherie und Rue de l’Hôtel Colbert aus, wo im Oktober 1948 Simone de Beauvoir ein kleines Mansardenzimmer mit Blick auf den Spitzturm mietete, und zwar unterhalb vom Quai Montebello, am Fuß der drei mittelalterlichen Stufen, direkt neben dem Bauwerk. Wenn man auf Straßenhöhe steht, macht dieser schmale Ausschnitt von Notre-Dame einen neugierig, sodass man mehr von ihr sehen möchte und sie einen unweigerlich näher heranzieht.

Nie erscheint Notre-Dames Schönheit als etwas Selbstverständliches, Gegebenes; immer wieder aufs Neue erkennen wir ein Wunder in ihr, immer wieder aufs Neue fasziniert sie uns, wann immer ihr Blick dem unseren begegnet. Das Geheimnis ihrer Anmut liegt in einer wirkmächtigen Mischung aus Vertrautheit und Vornehmheit, aus Wärme und Grandezza. Wie kann ein Bauwerk einem so vertraut und doch zugleich so imposant sein?

In die Vergangenheit Notre-Dames einzutauchen heißt zugleich, die Seele Frankreichs zu ergründen, eine Geschichte voller Ruhm, Schmerz und Widersprüche. In den 850 Jahren ihres Bestehens hat Notre-Dame sowohl das Beste als auch das Schlechteste, was Frankreich hervorbrachte, miterlebt. Am 15. April 2019 starb sie beinahe in Folge menschlichen Leichtsinns und wurde quasi erst auf dem Sterbebett durch den Mut von Menschen gerettet, die bereit waren, ihr Leben für sie hinzugeben.

* * *

Das vorliegende Buch ist unter anderem eine Hommage an Maurice de Sully, den Bischof von Paris und Bauernsohn, der im ausgehenden zwölften Jahrhundert die ersten Arbeiten an der Kathedrale in Auftrag gab; eine wichtige Rolle kommt auch Heinrich IV. zu, der, als ihm klar wurde, dass er nicht gegen Paris würde regieren können, zum Katholizismus konvertierte, Notre-Dame seinen Respekt erwies und ein Land einte, das durch einen dreißig Jahre währenden Krieg zwischen Protestanten und Katholiken zutiefst gespalten war. Heinrichs Sohn, Ludwig XIII., weihte in Notre-Dame seine Krone und damit Frankreich der Jungfrau Maria, und seine Hoffnungen wurden tatsächlich erfüllt, und er bekam mit dem späteren Sonnenkönig Ludwig XIV. einen Thronerben.

Im Jahr 1789 und in der darauffolgenden Zeit von Robespierres Schreckensherrschaft spielte der schlaue Organist von Notre-Dame Revolutionslieder und die Marseillaise statt Kirchenliedern, und ein nicht minder gewiefter Kanonikus beschloss, die Statuen vom Sonnenkönig und dessen Vater in Sicherheit zu bringen, während er es der Jungfrau Maria überließ, sich selbst gegen grimmige Atheisten und stramme Republikaner zu verteidigen. Und er hatte recht daran getan: Sie wagten es lediglich, ihre goldene Krone zu entwenden. Die achtundzwanzig Statuen der Königsgalerie an der Westfassade hatten weniger Glück: Jeder König büßte sein Haupt ein. Schließlich führte Napoleon Notre-Dame, nachdem sie während der Revolution als Tempel der Vernunft umgewidmet worden war, wieder ihrer eigentlichen liturgischen Nutzung zu. Indem er sich 1804 dort zum Kaiser krönen ließ, rückte er sie ins Zentrum von Frankreichs öffentlichem und politischem Leben und ebnete Victor Hugo und seinem buckligen Glöckner den Weg.

Hugos Roman, geschrieben in den stürmischen Tagen der Julirevolution von 1830, fängt auf perfekte Weise die Gemeinschaft der aufständischen Gauner und Gaukler, des missgestalteten Glöckners Quasimodo und der schönen Zigeunerin Esmeralda unter dem argwöhnischen Auge von Erzdiakon Frollo ein. Der Roman, der mit eindrücklichen Illustrationen ausgestattet war, hatte einen derartigen Erfolg, dass sich das ganze Land plötzlich wieder auf sein mittelalterliches Erbe besann und auf die Notwendigkeit, seine vor sich hin bröckelnden historischen Bauwerke zu restaurieren. Kurz nach der Veröffentlichung wurde eine nationale Behörde für die Bewahrung der Baudenkmäler ins Leben gerufen, und bald warb der Staat Architekten an, die sowohl Künstler als auch Gelehrte waren, um den alten Gemäuern wieder neuen Glanz zu verleihen.

Zweiundzwanzig Jahre lang restaurierte Viollet-le-Duc Notre-Dame und ließ sie in neumittelalterlicher Pracht wieder auferstehen. Ein paar Jahre nach Fertigstellung des Vierungsturms oder Spitzturms, wie er auch genannt wird, nahm Baron Haussmann seine großangelegte städtebauliche Umgestaltung von Paris und der Île de la Cité in Angriff. Nachdem er mittelalterliche Wohnhäuser abreißen und das enge Gassengewirr hatte lichten lassen, trat Notre-Dames Erhabenheit erst richtig zutage. Jetzt stand sie allein an der Spitze der Insel und war aus weiter Ferne sichtbar.

Am Abend des Brands dachten zahlreiche Pariser an den 26. August 1944, als General de Gaulle, nachdem er unter dem Applaus von zwei Millionen Landsleuten die Champs-Élysées hinabgeschritten war, Notre-Dame einen Besuch abstattete, wo anlässlich der Befreiung von Paris von der Naziherrschaft ein Dankgottesdienst abgehalten wurde. Als er die bis auf den letzten Platz besetzte Kathedrale durch das Hauptportal betrat, fielen von der oberen Balustrade aus Schüsse. Scharfschützen zielten auf den Anführer der Franzosen, aber de Gaulle ging hocherhobenen Hauptes weiter durch das Langschiff in Richtung Chor. Derweil hatte sich die Menge flach auf den Marmorboden geworfen, doch als die Menschen de Gaulle so ruhig und scheinbar ungerührt seinen Weg fortsetzen sahen, nahmen sie nach und nach ihre Plätze in den Kirchenbänken wieder ein. Nach einem kurz gehaltenen Magnificat verließ der General die Kathedrale genauso aufrecht, wie er sie betreten hatte.

Wie würde sich de Gaulle wohl im Streit um den Wiederaufbau verhalten? Die Glut war noch nicht verglommen, da spaltete sich die öffentliche Meinung bereits in zwei Lager, in jenes derer, die sie wieder so aufbauen wollen, wie sie war, und jener, die ihr auch etwas vom Genius des einundzwanzigsten Jahrhunderts einhauchen wollen. Wird es ein Streit zwischen Nostalgikern und Zaghaften einerseits und Waghalsigen und Kühnen andererseits oder aber zwischen Weisen und Törichten sein? Nur zwei Tage nach der Brandkatastrophe meinte der französische Premierminister Édouard Philippe, einen internationalen Architekturwettbewerb für den Wiederaufbau des Vierungsturms ankündigen zu müssen. Und Präsident Macron sprach gar davon, die Kathedrale binnen fünf Jahren »noch schöner als zuvor« wiederaufzubauen. Diese Worte lösten eine Welle überbordender Ideen in den sozialen Netzwerken aus: darunter ein Glasturm, ein Dachgarten, eine riesige goldene Fackel, ein Dachschwimmbad und eine Glaskuppel. Architekten, die sich die Publicity-Gelegenheit keinesfalls entgehen lassen wollten, nahmen an der internationalen Ausschreibung teil und warben um ihre fantastischen Pläne für die Rekonstruktion von Notre-Dame. Die Büchse der Pandora war geöffnet. 

Woher rührt dieses Bedürfnis der Franzosen, radikal zu sein, die Welt umgestalten, reformieren, verblüffen zu wollen? Glauben wir wirklich, unser Zeitgeist des einundzwanzigsten Jahrhunderts könne dem Genius der mittelalterlichen Erbauer von Notre-Dame das Wasser reichen? Warum sich nicht einfach damit begnügen, Notre-Dame so wiederaufzubauen, wie sie uns Viollet-le-Duc 1865 hinterlassen hat? Damit wäre immer noch die Gelegenheit gegeben, die Umgebung so umzugestalten, um den vierzehn Millionen jährlichen Besuchern einen leichteren Zugang zu verschaffen, der bislang bestenfalls chaotisch war. Vielleicht wäre es überdies möglich, auf der gegenüberliegenden Seite des Vorhofs, im Hôtel-Dieu, einem mittelalterlichen Hospital, das heute teilweise leer steht, das lang ersehnte und längst überfällige Museum zu errichten.

Der Zank um den Wiederaufbau von Notre-Dame hat erst begonnen und verspricht erbittert zu werden. Die reichsten Familien Frankreichs – die Pinaults, Arnaults und Bettencourts, die schon, als die Flammen noch im Dachstuhl wüteten, 500 Millionen Euro zusagten – mussten sich alsbald für ihre Geste rechtfertigen. Gehe es ihnen nicht eher um Steuerersparnis als um das Schicksal der Kathedrale?, fragten die Gilets Jaunes (Gelbwesten). Wäre es nicht sinnvoller, dieses Geld für Menschen in Not zu spenden statt für tote Steine? Wären diese nicht würdigere Adressaten ihrer Unterstützung als ein Haufen verkohlter Trümmer?

Als ich dieses Buch zu schreiben begann, trat ich eine einzigartige Reise an – zunächst im Zustand der Trostlosigkeit, um sie in heiterem Optimismus zu beschließen. Seit ich am 16. April 2019, als die Morgendämmerung die Seine mit rosa Schattierungen überzog, Notre-Dame wieder vor meinen Augen auftauchen sah, verwundet, aber noch immer erhaben, habe ich begonnen, wieder zaghaft Hoffnung zu schöpfen. Ein paar Stunden zuvor, ein Fernglas in der Hand, hatte ich innerlich jubiliert, als ich bemerkte, dass die Glasfenster überlebt hatten.

Die Frauen und Männer zu treffen, die Notre-Dame gerettet haben; mit all jenen zu sprechen, die sie in den folgenden Wochen und Monaten rund um die Uhr umsorgten wie hingebungsvolle Pfleger, indem sie das Bauwerk absicherten und minutiös jedes noch so mickrige verkohlte oder zerbrochene Fragment aufsammelten und verwahrten; die Menschen zu interviewen, die sich maßgeblich an ihrem Wiederaufbau und an der Finanzierung beteiligen werden; die Baustelle zu besuchen, die Steine zu berühren, so merkwürdig sich das auch anhören mag; und, ja, sogar mein Blut auf eine mögliche Bleibelastung untersuchen zu lassen – all das hat mir vor Augen geführt, welche Herausforderungen vor uns liegen und welch grenzenlosen und bedingungslosen guten Willens und Engagements es bedarf, um Notre-Dame wieder auferstehen zu lassen.