Mart Schreiber

Die Wahrheit ist eine
Wasserleiche

Die Frau des Kommissars

Inhalt

Kapitel 1 – Der Besuch (Ende September)

Kapitel 2 – Schulbeginn (Anfang September)

Kapitel 3 – Charlotte (Ende September)

Kapitel 4 – Auf freiem Fuß (Anfang Oktober)

Kapitel 5 – Joe (Mitte Oktober)

Kapitel 6 - Carla (Mitte Oktober)

Kapitel 7 – Manfred (Ende Oktober)

Kapitel 8 – Tot ist tot (Anfang November)

Kapitel 9 – Schweißhund (Anfang November)

Kapitel 10 – Paul (Anfang November)

Kapitel 11 – Undercover (Mitte November)

Kapitel 12 – Überraschung (Mitte November)

Kapitel 13 – Auf eigene Faust (Mitte November)

Kapitel 14 – Mit dem Rad (Ende November)

Kapitel 15 – Ein sicherer Ort (Anfang November)

Kapitel 16 – Begegnung (Ende November)

Kapitel 17 – Glückstreffer (Ende November)

Kapitel 18 – Racheengel (Mitte November)

Kapitel 19 – Finale (Ende November)

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

Kapitel 1 – Der Besuch (Ende September)

Das Landesgericht für Strafsachen im Grazer Bezirk Jakomini ist gut hundert Meter lang und drei Stockwerke hoch. Marlies hatte es in Schönbrunn-Gelb in Erinnerung. Als Malerin hatte sie ein gutes Gedächtnis für Farben und optische Eindrücke. Heute zeigte es sich in einem einheitlichen Grau. Wirkte es dadurch bedrohlicher? Marlies war sich nicht sicher. Vielleicht lag es am Besuch, den sie dort abzustatten hatte. Als das Gebäude noch gelb war, zumindest in ihrer Erinnerung, hatte man sie als Zeugin zu einem Prozess geladen, in dem es um Einbrüche in ihrer Nachbarschaft ging. Sie war in der Nacht auf die Terrasse getreten und hatte zwei schwarze Gestalten durch den Garten des Nachbarhauses laufen gesehen. Es war Vollmond gewesen. Daher konnte sie die beiden ganz gut ausmachen. Wer kennt nicht das Phänomen, dass man sich beobachtet fühlt, bevor man denjenigen sieht, der einen anblickt. So muss es einem der Einbrecher ergangen sein, denn er schaute zu Marlies hoch. Sein Gesicht wurde vom Mond gut ausgeleuchtet. Marlies versuchte sich zu erinnern, wie lange das zurücklag. Sie schätzte, dass es an die zehn Jahre waren.

Die drei doppelflügeligen Türen in der Mitte des Gebäudes waren mächtig in ihren Dimensionen und wirkten durch die dunkelbraune Farbe nicht gerade einladend. Der rechte Flügel der mittleren Tür stand offen. Dahinter konnte man die in Gerichtsgebäuden üblichen Sicherheitsschleusen aus Glas und Metall erahnen.

Diesmal vergaß sie nicht, auch die Sportuhr aufs Band zu legen, wie es ihr oft auf Flughäfen passiert war. Marlies hatte sich telefonisch erkundigt, ob sie sich für einen Besuchstermin anmelden könne. Dem war aber nicht so. Zuerst musste sie zum Zimmer zehn, um sich eine Sprecherlaubnis zu holen. Fünf oder sechs Personen warteten vor ihr, einige davon waren Frauen mit Kopftuch. Zum Glück war die Wartezeit gering. Manche brauchten zwar gute fünf Minuten, einige kamen aber schon nach einer Minute wieder aus dem Raum mit der Nummer zehn. Vor dem Betreten des Zimmers sollte man den sogenannten Sprechzettel ausgefüllt haben, eine einfache Angelegenheit, da nur Name, Adresse, die Beziehung zum Inhaftierten und der Grund des Besuchs zu nennen waren. Der Beamte – ein schmächtiger Mann mit einer Halbglatze - sah kam auf. Er drückte den Stempel auf den Sprechzettel und setzte zur Unterschrift an, als er doch den Kopf hob und Marlies mit ernster Miene anschaute.

„Sie sind die Erste“, sagte er.

Marlies glaubte, in seiner Stimme einen Vorwurf mitzuhören.

„Jemand muss der Erste sein“, antwortete sie und versuchte zu lächeln.

„Na ja, wegen der Tochter.“ Er zögerte, bevor er weitersprach. „Geht mich ja nichts an“, sagte er resignierend und drückte mit dem Kugelschreiber beim Unterschreiben fest auf.

„Zweiter Stock, dann rechts halten, bis sie zum Eingang zur Justizwache kommen.“

„Danke, sehr nett“, versuchte es Marlies in einer süffisanten Höflichkeit. Gerne hätte sie ihn noch gefragt, ob er zu solchen Kommentaren überhaupt berechtigt war. Sie nahm aber ihren Ärger mit.

„Du brauchst dich nicht zu schämen, Marlies“, sagte sie in Gedanken zu sich. „Dann bist du halt die erste. Na und.“

Warum war sie gekommen? Mit jeder Stufe, die sie die prunkvolle Treppe in den zweiten Stock nahm, hämmerte die Frage in ihrem Kopf. Sie war weder verwandt mit Manfred, noch hatte sie etwas mit ihm gehabt. Er war bloß ein Kollege, mit dem sie sich gut verstanden hatte. Ein wenig geknistert hatte es schon zwischen ihnen, mehr aber auch nicht. Sie war froh, die Berührungen von Manfred nicht erwidert zu haben. Wenn seine Hände allzu zudringlich wurden, hatte sie diese weggeschoben und „Hör auf damit, Manfred“ gezischt.

Im zweiten Stock ging sie an den vor einem Gerichtssaal Wartenden vorbei. Sie versuchte aus den Augenwinkeln zu erkennen, wer Zeuge, Anwalt oder gar Beschuldigter sein könnte. Egal. Sie ließ den breiten Gang mit den mächtigen dunkelbraunen Türen zu den Sälen hinter sich. Zur linken Hand waren nur mehr vereinzelt schmucklose schmale Türen in Weiß zu sehen, rechts zeigten doppelflügelige Fenster einen in der Mitte begrünten und doch kahl wirkenden Innenhof. Am Ende dieses langen Ganges verwehrte eine Eisentür, die zusätzlich mit einem massiven Gitter verstärkt war, das Weitergehen. Links wartete eine Frau vor dem ebenfalls vergitterten Schalter. Sie zeigte ihren Sprechzettel und verschwand kurz danach in der gleich danebenliegenden Tür, über der „Wartebereich“ stand.

Ein schon etwas älterer Justizwachebeamter nickte Marlies freundlich zu und bat sie, doch näherzutreten. Sein Gesicht war braungebrannt, die dunkelblaue Uniform stand ihm gut.

„Ihren Sprechzettel, bitte“, sagte er mit sonorer Stimme und oststeirischer Aussprache. Mit dem Zettel in der Hand sah er im Computer nach, wohl um die im Zimmer Zehn erfolgte Eintragung zu überprüfen.

„Passt. Wird aber etwas dauern, Frau Knopfler. Alle Kojen sind besetzt und im Warteraum sitzen sieben Besucher.“

„Wie lange, schätzen Sie?“ Marlies Stimme vibrierte ob ihrer aufsteigenden Nervosität. Das ärgerte sie und war auch nicht ihre Art.

„Hm, eine Stunde wird’s schon sein, glaube ich.“

„Kann man nichts machen. Muss ich da drinnen warten?“ Sie zeigte auf die Tür zum Wartebereich.

„Ja, genau. Das Handy schalten’s bitte aus. Am besten verwahren Sie es in Ihrer Handtasche. Und die Handtasche muss in eines der Schließfächer, gleich links nach dem Eingang. In den Besucherbereich dürfen’s nämlich nichts mitnehmen, auch keine Fotos oder etwas zum Schreiben.“

„Okay. Und werde ich dann aufgerufen?“

„Richtig. Wir sagen auch die Nummer der Koje dazu. Sind aber eh nur sechs.“

„Darf ich dem Manfred, also dem Herrn Kreuzam, die Hand geben?“

Der Beamte lachte. „Das geht doch gar nicht. Zwischen Ihnen und dem Untersuchungshäftling ist eine Glaswand und Sie müssen sich über einen Telefonhörer unterhalten.“

„Ach so. Das ist ja wie in den amerikanischen Filmen.“

„Ist nicht so schlimm. Seien Sie froh, dass Sie mit dem Häftling ohne Beamten reden können. Das wäre bei Verabredungsgefahr Vorschrift, aber bei Ihnen trifft das nicht zu.“

„Das hoffe ich doch“, sagte Marlies.

„Eine halbe Stunde haben Sie Zeit“, sagte der Beamte, „aber wegen ein paar Minuten mehr werden wir nicht einschreiten.“

„Danke. Ich weiß gar nicht, ob ich so lange brauchen werde.“

Der Beamte zog die Lippen zusammen und schien noch etwas sagen zu wollen.

„Eine Frage noch, Herr…“

„Kogler, Gruppeninspektor Kogler.“

„Hat der Herr Kreuzam vor mir noch keinen Besuch erhalten, Herr Gruppeninspektor?“

„Das darf ich Ihnen eigentlich nicht sagen, aber …“

Er nickte leicht und schmunzelte.

„Bei diesen Fällen haben wir meistens sehr wenige Besuche. Wenn, dann kommen Verwandte oder die Ehefrau.“

Er blickte an Marlies vorbei und sagte „Alles Gute“. Erst jetzt bemerkte Marlies den Mann in Anzug und Krawatte hinter ihr. Wie lange stand der schon da? Hatte er alles mitgehört?

„Grüß Gott, Herr Doktor“ hörte sie den Kogler sagen, während sie die Tür zum Wartebereich öffnete. Sie trat zögernd in den schmalen, schmucklosen Raum ein. Einige der Wartenden, die zur linken Hand auf Plastiksesseln saßen, erkannte sie vom Anstellen beim Zimmer zehn wieder. Ein vielleicht dreijähriges Kind saß in der winzigen Spielecke vorne links. Es schob lustlos die wenigen roten und gelben Plastikklötze hin und her. Gleich beim Eingang befanden sich wie beschrieben die Schließfächer. Marlies steckte ihr Handy in die Handtasche und sperrte diese ein. Sie entdeckte den Hohlspiegel, der an der linken Wand, knapp unter der Decke angebracht war und schräg nach unten zeigte. Entlang der rechten Wand ließ eine Glasfront, die in einem Meter Höhe begann und bis zur Decke reichte, das Wachpersonal erkennen. So ist das, dachte Marlies. Die brauchen nur in den Hohlspiegel schauen, um den gesamten Warteraum zu überblicken. Rechts hinten gab es noch eine Tür mit einem Glasfenster in Augenhöhe. Dahinter verbergen sich die Besuchskojen, dachte Marlies. Eine der Frauen rückte einen Sessel weiter und überließ Marlies mit einer Handbewegung den ersten Sessel beim Eingang. Marlies wunderte sich, warum die Frau das machte. Wollte sie einfach nicht, dass sich Marlies zwischen zwei dem Anschein nach muslimischen Frauen setzte? Die Frau, die den Platz frei gemacht hatte, rückte sogar noch einige Zentimeter zur links von ihr sitzenden. Marlies murmelte ein „Danke“ und setzte sich. Die Frau neben ihr schaute ausschließlich nach links. Das behielt sie so bei, bis sie aufgerufen wurde.

Anfang September betrat Marlies nach ihrem Sabbatical wieder die Schule und ging die zwei Stockwerke zum Konferenzzimmer hoch. Es fühlte sich an, als wäre sie kein ganzes Jahr weg gewesen, als hätte das Sabbatical gar nicht stattgefunden. Alles erschien so vertraut, die breite Stiege, die Gänge, die breiten Türen zu den Klassenzimmern. Die Ferien waren noch nicht zu Ende. Es war Usus am Akademischen Gymnasium in Graz, dass sich das Kollegium in der letzten Woche der Ferien zusammenfand, um das neue Schuljahr fertig zu planen und sich darauf einzustimmen. Manche der Lehrkräfte waren noch auf Urlaub. Die Direktorin erwähnte das Fehlen dieser Lehrer bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Marlies kannte keine Kollegen, die zwei Jahre hintereinander die vollen Ferien ausgekostet hatten.

Das Konferenzzimmer im altehrwürdigen Gebäude der Schule war groß und doch für die vielen Lehrer zu klein. Vom Gang her führten zwei Türen in den Raum. Gegenüber ließ eine fast bis zur Decke reichende Fensterfront die Sonne in den Raum strahlen. Jeweils zwei an der Längsseite zusammen geschobenen Tische waren zu einem raumfüllenden U zusammengestellt, sodass der Platz innerhalb und außerhalb des U genutzt werden konnte. Zu jedem Tisch gehörten zwei Sesseln. Grob geschätzt waren es mehr als vierzig. Ordner, Papierstapel und Bücher waren als Trennung zwischen den Tischen postiert. Manchmal waren es auch Pflanzen. Alles in allem sah das ziemlich ungeordnet und chaotisch aus.

Als Marlies zum ersten Mal das Konferenzzimmer betreten hatte, das musste vor zwölf Jahren gewesen sein, wollte sie auf dem Absatz kehrt machen. Sie hatte sich durch die Enge erdrückt gefühlt, der Lärmpegel hatte sie an einen großen Gastraum in einem Wirtshaus erinnert, wo Bestellungen gerufen, die politische Meinung skandiert oder ordinäre Witze erzählt wurden, zu denen dann viele laut lachten und sich anschickten, den nächsten zum Besten zu geben. Nach dem ersten Schock am Beginn ihres ersten Schuljahrs hatte sich Marlies rasch an dieses Chaos gewöhnt, sie lernte es sogar zu schätzen, wie eine Biene im Bienenstock zu schwirren, die wusste, was sie zu tun hat. Das nie enden wollende Summen im Bienenstock gab ein Gefühl von Sicherheit und Heimat.

Sie freute sich, dass die Pflanzen auf ihrem Tisch offensichtlich gepflegt worden waren. Marlies hatte über die Jahre einen Eckplatz auf der Fensterseite erkämpft und war überwiegend von Kolleginnen umgeben. Alle Fenster waren geöffnet, die obersten Seiten auf den Papierstapeln waren gefährdet, davonzufliegen. Ein frischer Wind weht durch die alten Gemäuer, dachte Marlies und lächelte. Kaum hatte sie den Raum betreten, stürzte Manfred auf sie zu. Persönlich war sie ihm davor nicht begegnet, doch gehört hatte sie schon einiges über ihn. Gerda hatte kein gutes Haar an ihm gelassen, nur Mona, die Englisch unterrichtete, erwähnte, dass er sie alle immer wieder zum Lachen brächte.

Mit ausgebreitetem Armen eilte dieser großgewachsene Mann mit seinen breiten Schultern und schlaksiger Figur Marlies entgegen.

„Du musst Marlies sein“, rief er mit erhobener Stimme. Er umarmte sie und drückte sie fest.

„Ich bekomme keine Luft mehr, lass doch endlich aus“, stieß sie außer Atem hervor

„Oh. Das tut mir leid. Ich weiß nicht, wohin mit meinen Gefühlen. Ich bin einfach so glücklich, dich endlich kennenlernen zu dürfen.“ Er trat zwei Schritte zurück.

„Ist ja gut, Manfred. Ich freu mich ja auch. Sicher hast du mich gut vertreten.“

„Ich weiß nicht. Es ist ja nicht mein Fach. Ein Kunstgeschichtestudium reicht nicht aus, um dich würdig zu ersetzen.“

In diesem Moment betrat die Direktorin den Raum, eine kleine und zartgebaute Frau mit einer Kurzhaarfrisur, die für ihre Entschlossenheit stand.

„Es ist also schon passiert. Da brauche ich euch nicht mehr einander vorzustellen.“

Ein Glucksen ging durch den Raum und ein Kollege ätzte, dass Manfred Marlies fast erdrückt habe, damit er sie für alle Ewigkeit vertreten könne.

„Papperlapapp“, rief Manfred, der wieder auf seinen Platz, am anderen Ende des U zurückgekehrt war. „Ich bin halt nicht so emotionslos wie du.“

„Ruhe, meine Damen und Herren, wir haben einiges an Arbeit vor uns. Sicher wollt ihr nicht bis zum Abend hier sitzen, an diesem spätsommerlichen Tag.“ Die Direktorin blickte in die Runde, um die gewünschte Ruhe einzufordern.

„Ich hab‘ was vergessen, Entschuldigung“, rief Manfred und ging mit einem schon leicht verwelkten Blumenstrauß zu Marlies.

„Für dich, als kleiner Willkommensgruß“, sagte er.

„Manfred, es reicht jetzt.“ Die Direktorin klopfte mehrmals auf den Tisch.

„Können wir auf den Störenfried nicht verzichten, jetzt, wo Marlies zurück ist?“, zischte der Kollege von vorhin. „Dafür wirst du dich entschuldigen, Harald. Aber erst nach unserer Sitzung“, sagte die Direktorin.

Er ist wie ein zu groß geratenes Kind, dachte Marlies. Die Ausführungen der Direktorin gingen an ihr vorbei. Wenn Sie im Schutze ihrer langen Wimpern zu Manfred schaute, empfing er sie mit einem breiten Lächeln und strahlenden Augen. Gerda hatte ihr erzählt, dass Manfred nicht vor anzüglichen Bemerkungen zurückschreckte und keine Gelegenheit ausließ, eine Kollegin zu berühren. Nicht komplett übergriffig, dafür auffällig oft. Mal war seine Hand am Schulterblatt, am Oberarm oder er ergriff die Hand der Kollegin mit seinen beiden Pranken. Er kannte unzählige Witze, die auch schon mal am Rande des guten Geschmacks waren. Auch sie, Gerda, musste hin und wieder lachen. Er trug die Witze als eine Art Sketch vor, imitierte Frauenstimmen perfekt und drückte mit seinem Gesicht alle Gefühle dieser Welt aus. Im Laufe des Schuljahres begann er zu langweilen. Zu oft versuchte er, eine Anekdote an den Mann zu bringen, zu oft erging er sich in übertriebener Theatralik.

„Ganz ehrlich, Marlies. Hast du dir so einen Religionslehrer vorgestellt?“, hatte Gerda bei einem Kaffee im Stadtpark gefragt.

„Immer mehr Eltern haben sich über ihn beschwert. In der vierten Klasse hat er Fragestunden zur sexuellen Aufklärung in den Unterricht eingebaut. Dein Fach ist Religion und nicht Biologie, hat ihm die Direktorin coram publico bloßgestellt.“

„Ich finde das gut“, hatte Marlies eingeworfen. „Mit vierzehn glauben die doch eh, alles zu wissen. Und vermutlich stimmt’s sogar.“

„Aber in Religion“, hatte Gerda beharrt.

Marlies war sehr neugierig auf Manfred. Sie hatte auf frischen Wind im ehrwürdigen Akademischen Gymnasium gehofft, auf Modernität und Öffnung. Nicht, dass die Direktorin stockkonservativ gewesen wäre. In der bildnerischen Erziehung zeigte sie sich erstaunlich offen und Marlies hatte den größtmöglichen Freiraum, ihre Projekte im Rahmen des Kunstunterrichts zu verwirklichen. Die Kollegenschaft war aber schon in die Jahre gekommen. Viele schoben eine ruhige Kugel und waren daher ablehnend gegenüber jeder Änderung.

Die Konferenz war kurz nach Mittag zu Ende. Die meisten eilten davon. Marlies sah Manfred hinausgehen. Er drehte sich um und zeigte mit dem Zeigefinger nach unten. Er führte die Hand zum Mund und deutete Essen an. Marlies nickte. Sie hatte Zeit und wollte ohnehin mit Manfred eine Art Übergabe machen. Welche Schüler waren ihm besonders aufgefallen, was hatte er mit den Klassen, die Marlies wieder von ihm übernahm, unternommen. Sie wusste, dass Manfred keine künstlerische Ausbildung absolviert, sondern Kunstgeschichte studiert hatte. Es war der Schule nicht gelungen, eine Lehrkraft für bildnerische Erziehung für das vergangene Schuljahr zu gewinnen. Hatte sich Manfred daher auf den theoretischen Teil des Unterrichts konzentriert?

„Ich wollte dir noch persönlich meine Freude ausdrücken, dass du wieder da bist, Marlies.“ Die Direktorin umarmte sie und tätschelte mit der Hand ihren Rücken. „Ich freu mich auch“, sagte Marlies. „Obwohl man sich an eine Auszeit leicht gewöhnen kann.“ Sie lachte.

„Das glaube ich dir gerne. Manchmal träume auch ich davon, aber als Direktorin ist das so gut wie unmöglich.“ „Deshalb strebe ich auch deinen Job nicht an“, sagte Marlies und grinste.

„Wir müssen uns bald einmal Zeit nehmen. Ich bin sehr neugierig auf deine Erlebnisse. Hast du viele Reisen unternommen?“

„Eigentlich nicht. Du weißt ja, im Winter mache ich oft Schitouren, da brauche ich nicht in die weite Welt hinaus. Im Juni bin ich dann aber mit Joe für vier Wochen in Kirgisistan gewesen. Ein tolles Land. Archaisch und unberührt.“

„Großartig, da würde ich gerne mehr darüber erfahren. Liebe Marlies, ich muss jetzt. Wir holen das nach. Eines noch, lass dich nicht von Manfred einwickeln.“

„Wie meinst du das?“

„Du wirst es selbst merken. Hinter seiner freundlichen und lustigen Oberfläche steckt ein großer Manipulator. Leider sind wir auch in Religion unterbesetzt, sonst hätte ich mir ernstlich überlegt, auf ihn zu verzichten. Das bleibt unter uns Marlies. Ja?“

„Klar. Ich bin nur ein wenig schockiert. Übrigens wartet er unten auf mich, damit wir über die Schüler reden können, die ich wieder übernehme.“

„Macht das. Zum Glück bist du eine taffe Frau, die sich zu wehren weiß.“

Stimmt eigentlich, dachte Marlies. Sie glaubte, dass sich eine negative Stimmung gegen Manfred breitgemacht hatte und maßlos übertrieben wurde.

„Wir sehen uns morgen“, sagte sie zur Direktorin.

„Alles Gute und lass bitte Joe von mir grüßen.“

„Frau Knopfler, zur Koje drei bitte.“

Die Stimme aus dem Lautsprecher erschreckte Marlies. Sie war in Gedanken versunken gewesen. Jetzt ist es so weit, dachte sie und versuchte tief und ruhig zu atmen. Ihr Herz klopfte stark und wurde noch schneller, als sie die Tür zum Besucherraum öffnete. Eine durchgehende Glaswand trennte den schmalen Gang vom anderen Teil, in den die Häftlinge von der gegenüberliegenden Seite hereingeführt wurden. Alle Kojen bis auf die mittlere waren besetzt, manche sogar mit zwei Personen. Zu beiden Seiten der Glaswand gab es in jeder Koje einen schwarzen Telefonhörer. Marlies zog den einfachen Holzsessel zurück und setze sich. Gleich darauf öffnete sich die vergitterte Tür auf der anderen Seite und Manfred wurde begleitet von zwei Beamten hereingebracht. Er trug ein graues Hemd und eine fleckige schwarze Hose. Sein Bick war gesenkt. Erst als er sich gesetzt hatte, hob er den Kopf und zeigte Marlies sein bleiches und unrasiertes Gesicht. Die Augen hatten sich zurückgezogen und flackerten. Manfred versuchte zu lächeln. Er zeigt auf den Telefonhörer.

„Danke, dass du gekommen bist“, flüsterte er.

Marlies konnte Manfred sprechen sehen. Seine Stimme schien weit entfernt zu sein. Sie klang flach, so als könnte der Hörer nur mittlere Frequenzen übermitteln. „Hallo Manfred. Wie geht es dir?“ Blöde Frage, dache sie gleich darauf. Wie soll es ihm schon gehen, in einer Haftanstalt.

„So lala. Zum Glück habe ich eine Einzelzelle. Davon gibt es nicht viele hier. Ein Wachebeamter hat zu mir gesagt, dass es zu meinem Schutz wäre, obwohl ich diesen nicht verdient hätte.“

„Wie ist die Anwältin?“

„Sie glaubt mir nicht.“

„Hm. Sie muss dir nicht glauben, sie muss dich nur gut verteidigen.“

„Aber, wenn sie nicht glaubt, dass ich unschuldig bin, dann kann sie mich nicht gut verteidigen.“

„Ich weiß nicht. Wenn du dich unwohl fühlst mit ihr, dann solltest du sie auswechseln.“

Frau Dr. Charlotte Rosan war eine gute Bekannte von Marlies. Zunächst wollte sie den Fall nicht übernehmen, Marlies musste sie bei einem Abendessen mit einigen Flaschen teuren Rotwein dazu überreden. Warum sie das getan hatte, fragte sich Marlies immer wieder. War es nur Mitgefühl oder empfand sie für Manfred mehr, als sie sich eingestehen wollte?

So wie hier und heute hatte sie Manfred noch nie erlebt. Seine Stimme klang wehleidig und erzeugte in Marlies Ablehnung. Aber musste man nicht nachsichtig mit ihm sein? Wie würde sie sich in dieser Situation verhalten? Mit Sicherheit würde auch sie nicht freudenstrahlend erscheinen und ihre Stimme klänge anders als sonst.

„Ich kenne keine Anwälte. Vielleicht sollte ich einfach einen Pflichtverteidiger nehmen.“

„Der dir dann auch nicht glaubt.“

Manfred sagte nichts mehr. Er zog mit seinen Lippen Grimassen. Marlies atmete tief aus. Rechts von Ihr saß eine Frau, die weinte. Der Häftling gegenüber ihr hatte den Oberkörper zurückgelehnt und die Arme ineinander verkreuzt. Sein Blick wirkte verbittert.

„Glaubst du mir?“ Die Frage kam ohne jede Vorwarnung. Marlies hatte noch nicht darüber nachgedacht. Charlotte gegenüber, die ihr mit Statistiken beweisen wollte, wie wahrscheinlich es war, dass Manfred schuldig sein musste, trat sie als vehemente Verteidigerin auf. Statistiken waren doch kein Beweis. Wenn die Wahrscheinlichkeit bei siebzig Prozent lag, dann gehörte Manfred eben zu den dreißig unschuldigen Männern von hundert. Manfred hatte keine Scheu vor erwachsenen Frauen, ganz im Gegenteil. Das traf doch üblicherweise auf Kinderschänder nicht zu.

„Ich weiß es nicht, Manfred. Ich weiß es einfach nicht“, hörte sich Marlies sagen und war darüber verwundert.

„Und warum besuchst du mich dann? Willst du mich nur in diesem Elend sehen?“, fragte Manfred mit auffällig lauter Stimme.

„Hör auf. Versetze dich einmal in meine Lage. Ich kenne dich keine drei Wochen und dann passiert das.“

„In deine Lage versetzen? Wie wär’s, wenn du versuchen würdest, mich zu verstehen.“

„Das tu ich doch. Obwohl es mir schwerfällt. Sehr überrascht hast du nicht gewirkt, als dich die Polizei in der Schule verhaftet hat.“

„Weil ich gewusst habe, was kommt. Meine Exfrau hat mich vor Zeugen beschuldigt und mir gedroht, die Polizei auf mich zu hetzen.“

„Und was hat sie genau gesagt? Ich kenne bis heute nur die Überschrift Missbrauch. Dass du eben deine Tochter Carla über mehrere Jahre sexuell missbraucht hättest.“ „Das ist doch alles frei erfunden, erstunken und erlogen. Ich schwöre, dass ich Carla nie unsittlich berührt habe.“ „Aber Carla belastet dich schwer. Steht zumindest in der Zeitung.“

„Ich weiß nicht, was in sie gefahren ist. Vielleicht wegen ihrer psychischen Probleme. Ihre Mutter beherrscht sie und hat sie vermutlich indirekt zu dieser Aussage genötigt.“

Marlies hatte Carla vor Augen, ein großes, blondes Mädchen, das ungewöhnlich mager war. Bei der ersten Begegnung tippte Marlies auf Magersucht. Sie war Schülerin im Akademischen Gymnasium, hatte erst vor einem Jahr dorthin gewechselt und durfte natürlich nicht von ihrem Vater unterrichtet werden. Die Direktorin hatte Marlies über Carlas Fehlzeiten im letzten Jahr informiert. Sie musste dreimal auf der Jugendpsychiatrie stationär aufgenommen werden. Die Diagnose war Borderline. Sie sei so eine kluge und aufgeweckte Schülerin gewesen, wenn es ihr gut ging, erzählte die Direktorin. Man hatte sie wegen ihrer Erkrankung mit großer Nachsicht in die Sechste aufsteigen lassen. Schon nach zwei Wochen musste sie wieder in der Jugendpsychiatrie aufgenommen worden. Davor hatte sie sich emotional an Marlies geklammert. Sie machte ihr kleine Geschenke, die Marlies dankend ablehnen musste, und war sehr strebsam im Unterricht. In ihren Zeichnungen kamen nur die Farben Schwarz und Rot vor. Als Marlies sie darauf aufmerksam machte, wählte Carla für ihr nächstes Werk Regenbogenfarben. Hatte sie davor kraftvoll und abstrakt gezeichnet oder gemalt, wirkte das Regenbogenbild wie eine Kinderzeichnung mit Pferden und der Sonne am Horizont.

„Weißt du, wie es Carla geht?“, fragte Manfred nach einer Pause. „Geht sie wieder zur Schule?“

„Nein, sie ist nicht mehr zum Unterricht erschienen. Ich kann dir aber nicht sagen, ob sie noch in der Psychiatrie ist. Ihre Mutter hat sich nicht gemeldet.“

„Arme Carla. Sie hat es nicht verkraftet, dass ich ihre Mutter verlassen habe.“

„War es wegen einer anderen Frau?“

Manfred nickte und senkte den Kopf.

„Es war nur eine kurze Affäre, aber Saskia hat mich zufällig mit ihr gesehen.“

„Saskia, die Frau von Rembrandt.“

„Nein, Saskia meine Exfrau.“

Beide lachten kurz auf.

Marlies sah die Tränen in Manfreds Augen. Ganz langsam wurden seine Wangen nass. Er wischte sie nicht weg.

„Du musst mir helfen, Marlies. Bitte. Ich habe niemanden mehr. Selbst meine Mutter hat mich noch nicht besucht. Sie schämt sich wahrscheinlich so sehr.“

„Helfen? Was kann ich denn tun? Wenn du willst, werde ich dich wieder besuchen.“

„Nur, wenn du willst.“

„Soll ich mit deiner Anwältin reden? Du müsstest ihr nur die Erlaubnis geben, sich mit mir abzustimmen.“

„Das werde ich tun. Natürlich mach ich das. Du hast doch eine detektivische Ader, Marlies. Vielleicht findest du etwas heraus.“

„Hm. Erhoff dir bitte nicht zu viel.“

„Du selbst hast mir von dem Fall in Tauplitz erzählt, den du quasi als Frau des Kommissars gelöst hast.“

„Kommissar Zufall, kann ich nur sagen. Joe ist übrigens Major bei der Kriminalpolizei. Einen Kommissar gibt’s ja nur in Deutschland.“

„Ist doch egal”, sagte er unwirsch. Dieser Tonfall zeichnete Falten auf Marlies Stirn, die Manfred zu bemerken schien.

“Sorry”, hauchte er. “Wirst du mir helfen?“ Marlies nickte.

„Kannst du mir hoch und heilig versprechen, dass du unschuldig bist?“

Manfred hob die Schwurhand. Er öffnete den Mund und konnte nichts sagen. Ein Weinkrampf hatte Besitz von ihm ergriffen.

„Ich versuche dir zu glauben, Manfred. Aber ich muss mehr wissen. Vergiss nicht, deiner Anwältin den Kontakt mit mir zu erlauben.“

Manfred hatte den Hörer weggelegt und hielt die Hände vors Gesicht. Sein Schütteln wirkte wie aus einem Stummfilm, denn Marlies konnte nichts davon hören. Sie wartete eine Minute. Der Zeiger ihrer Sportuhr war mehr als eine halbe Stunde weitergewandert. Sie blickte hoch und sah den Gruppeninspektor Kogler hinter der Glaswand im Rücken von Manfred stehen. Er nickte Marlies mit bedauernder Miene zu. Glaubte sie jedenfalls.

„Die Besuchszeit auf Koje drei ist zu Ende. Bitte verabschieden sie sich jetzt“, klang aus dem Lautsprecher.

Manfred griff wieder zum Hörer: „Bitte Marlies. Du bist meine einzige Hoffnung.“

„Vergiss nicht, der Anwältin Bescheid zu sagen wegen mir.“

„Ja. Sie kommt aber erst morgen, wenn ich mich richtig erinnere.“

„Dann eben morgen. Sie soll mich anrufen, okay?“

Manfred nickte.

„Halte durch, Manfred“, sagte Marlies im Aufstehen.

Er hob die Schultern und ließ sie fallen. Sie rückte den Sessel zurecht und verließ den Raum. Beim Hinausgehen fiel ihr das grau gesprenkelte Linoleum am Boden auf. Das Muster sieht aus, als hätte es ein Depressiver entworfen, dachte sie.