Über das Buch:
Die Bibel steckt voller Überraschungen. Sie ist bunt, vielfältig, herausfordernd. Gottes Wort ist lebendig – davon geben die biografischen Einblicke bekannter christlicher Autorinnen und Autoren der Gegenwart eindrücklich Zeugnis. Authentisch, bewegend, aber auch humorvoll und mit einem Augenzwinkern erzählen sie von Bibelversen, die ihnen viel bedeuten, und ihrem persönlichen Glaubensweg. Sie berichten von Herausforderungen, Sorgen und Freuden, Ängsten und Zuversicht. Davon, wie sie Gottes Treue und Führung in Krisenzeiten erleben durften. Von überraschenden biblischen Einsichten, kleinen und großen Wundern im Alltag und vom Reichtum eines Lebens, das mit Gott und zu Gott auf dem Weg ist.

Mit Beiträgen von Christoph Zehendner, Roland und Elke Werner, Ulrich Parzany, Jürgen Mette, Marie-Louise Fürstin zu Castell-Castell, Gräfin Daisy von Arnim, Lynn Austin und weiteren bekannten christlichen Autorinnen und Autoren.

Über die Autorin:
Steffi Baltes ist Pfarrerin. Sechs Jahre lang leitete sie ein Gästehaus in Jerusalem und begleitete mit ihrem Mann christliche Reisegruppen durchs Heilige Land. Heute lebt sie in Marburg und arbeitet im Verlag der Francke-Buchhandlung und im Christus-Treff.

Mein Schwert

»Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde.«

(Psalm 23,5)

Meine Beziehung zu diesem Vers begann damit, dass ich überlegte, wie ich das Abendgebet für meinen ältesten Sohn interessanter gestalten und ihm gleichzeitig das Wort Gottes nahebringen könnte. Ich schrieb daraufhin mit dem damals Dreijährigen den Psalm 23 auf ein riesiges Papier und malte dann Bilder zu den Worten, damit er sich etwas darunter vorstellen konnte. Es machte uns beiden Spaß und viele Abende haben wir diesen Psalm gebetet. Wir haben ihn gesprochen, gesungen, abwechselnd laut gerufen oder geflüstert. Sehr schnell konnte unser Sohn den Psalm in- und auswendig. Der Hirte wurde für uns lebendig, die grünen Auen und der Ruheplatz am Wasser sichtbar, der Stock und der Stab wurden immer greifbarer und manchmal drehten wir uns um, um zu sehen, wie Güte und Huld eigentlich aussähen, die uns verfolgten.

Nur das mit dem Tisch und mit den Feinden wurde nicht so recht lebendig. Ich konnte mir unter dem, mit was der Tisch so reichlich gedeckt sein sollte, nicht wirklich etwas vorstellen. Und wer sollten diese Feinde sein? Ich war mir keiner Feinde bewusst. Das Bild, dass ich an einer Festtafel sitze und Menschen, die mich nicht mögen – ja mehr noch: meine Feinde waren –, mir dabei zusahen, fühlte sich mehr als unbehaglich an. Ich ließ den Vers also einfach links liegen und war froh, dass mein Sohn nicht weiter danach fragte.

Doch Gott hatte wie immer sein eigenes Timing, um mich tief in dieses Wort hineinzuführen.

In dieser Zeit nämlich wachte unser zweiter Sohn des Nachts regelmäßig auf und ich musste jede Nacht mein warmes Bett verlassen, um ihn wieder in den Schlaf zu schaukeln. Welche Mutter kennt diese Zeiten nicht, in denen sie die Augen kaum aufbekommt, Müdigkeit ein ständiger Begleiter wird und die Nerven an sehr dünnen Fäden hängen? In mir kam noch ein gehöriger Unwille, Aggression und eine beständig größer werdende Portion Selbstmitleid dazu. Gefühlt war immer ich nachts dran, was nicht stimmt, weil ich einen rührenden Mann habe, aber in solchen Zeiten verstummt die Ratio gegenüber der subjektiven Wahrnehmung. Betete ich nicht seit Wochen, dass der Bub endlich durchschlafen möge? Keine Antwort!

Es war in einer dieser Nächte, als ich erneut aus dem Schlaf gerissen wurde und meine müden Glieder ins Kinderzimmer schleppte. Schon während der wenigen Schritte hinüber gesellte sich zu der unsäglichen Müdigkeit ein dumpfer Zorn und mein Magen verknotete sich. Die Wut in meinem Bauch wuchs. Der Kleine ließ sich nicht beruhigen, was auch immer ich versuchte. Ich zerfloss in Selbstmitleid. Die Stunden verbleibenden Schlafes zerronnen mir unter den Fingern und meine innere Uhr tickte nervenaufreibend laut dem Wecker entgegen. Als ich meinen kleinen Babysohn zum zweiten Mal scharf anfuhr, er solle endlich Ruhe geben, erstarrte ich innerlich. Was war ich nur für eine Mutter?! Nun reihten sich auch noch Selbstanklage und Scham in die schlechten Gefühle ein, die mich bereits zu zerreißen drohten.

Schließlich wachte auch unser großer Sohn auf und es endete damit, dass beide Buben mit in unser Ehebett wanderten und meine Seite bevölkerten. Als beide dort selig schliefen und im Schlaf genüsslich Füße und Hände in mich hineingruben – was mich wiederum davon abhielt, zu schlafen – wanderte ich grantig aus in das Bett meines Sohnes, machte mir aber andererseits Vorwürfe, dass ich so empfand. Es ist schon erschreckend, wenn man mit dem »inneren Schweinehund« derart konfrontiert wird und in die Untiefen der eigenen Seele hineinblicken muss. Natürlich war ich jetzt hellwach. Ich klatschte Gott also alles vor die Füße und haderte ausführlich mit ihm. Ich heulte ihm die Ohren voll, wie schlecht es mir doch gehe.

Schließlich hatte ich es satt zu jammern und begann mechanisch den Psalm 23 zu beten. Ich kannte ihn ja dank unseres Abendrituals auswendig.

»Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. Er stillt mein Verlangen; er leitet mich auf rechten Pfaden, treu seinem Namen. Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht. Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde. Du salbst mein Haupt mit Öl, du füllst mir reichlich den Becher. Lauter Güte und Huld werden mir folgen mein Leben lang, und im Haus des Herrn darf ich wohnen für lange Zeit.«

»Der Herr ist mein Hirte ...« wiederholte ich immer wieder und dann: »Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde.« Schließlich habe ich nur noch diesen kleinen Satz wiederholt und mich daran festgeklammert.

Und plötzlich ging eine Tür auf.

Mit einem Mal saß ich an diesem Tisch. Und Jesus saß direkt neben mir. Ich wusste, dass er da ist. Aber meine Augen waren auf diejenigen gerichtet, die ebenfalls in dem Psalm erwähnt werden und mir diesen Vers immer so schwer verständlich gemacht hatten: meine Feinde.

Und zum allerersten Mal wurde mir bewusst, wer meine Feinde sind. Ich sah sie alle: den Stolz, den Egoismus, die Wut, das Selbstmitleid, die Selbstanklage (echt düster!) und viele mehr. Mir wurde bewusst, dass die Feinde in meinem Inneren viel schlimmer sind, als es äußere Feinde je sein könnten – weil sie mir den inneren Frieden rauben. Mein Blick war auf diese meine Feinde gerichtet, gefangen durch alles, was ich sah.

Und dann berührte mich jemand sachte am Arm. Ich riss die Augen von meinen Feinden los und blickte auf den Tisch, an dem ich saß. Jesus war es, der mich angetippt hatte. Er deckte Platten und Töpfe vor mir auf. Ich sah nur seine durchbohrten, dienenden Hände, durch die sich die Töpfe zu füllen schienen. Bald waren sie bis zum Rand gefüllt mit Sanftmut, Friede, Gelassenheit, Kraft, Freude, Milde, Ausdauer, Humor und was mein Herz noch alles begehren konnte. Und weil es Realität und nicht Fantasie war, weil das Wort Gottes wahr ist, konnte ich zugreifen und es mir nehmen. Ich saß an diesem Tisch nicht als Knecht oder Opfer meiner inneren Umstände, sondern als Tochter Gottes. Und ich nahm mir von allem, so viel ich greifen konnte. Ich aß mich richtig satt.

Das Spannende war: meine Feinde waren nach wie vor da. Ich konnte sie immer noch sehen. Aber ich erkannte nun, dass es meine eigene Entscheidung war, worauf ich meine Augen richte und meinen Fokus einstelle. Sie hatten keine Macht mehr über mich. Sie waren dort und ich war hier, am Tisch des Herrn. Ich kroch mit voll bepackten Armen wieder ins Bett meines Sohnes und schlief dann irgendwann friedlich ein.

Ich hatte zum ersten Mal bewusst eine Tür ins Wort Gottes hinein gefunden.

Das Wort Gottes – mein Tor. Meine Tür. Mein Schwert.

Ab dem darauffolgenden Morgen nahm Epheser 6,17 für mich eine neue Dimension an. Dort steht unter anderem über die Waffenrüstung Gottes: »… und nehmt das Schwert des Geistes, das ist das Wort Gottes.«

Ich hatte in der Tat mein persönliches Schwert erhalten: »Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde.« Es begleitet mich seitdem durch viele Situationen und mehr noch – es hat mir einen richtigen Weg ins Wort Gottes »hineingeschlagen«. Mit der Zeit sind auch noch ein paar weitere »Schwerter« hinzugekommen und ich hoffe, es werden beständig mehr. Allein dadurch, dass ich diese Worte festhalte, gewinnen sie an Realität und beginnen in meinem Leben zu wirken. Und wenn ich anfange, den Feind damit zu schlagen, wird und muss er weichen.

Doch es bleibt ein beständiges Training. Ich erlebe immer noch Zeiten, in denen meine Feinde mir übermächtig scheinen und ich mich in dieser Welt bewege, als wären mir die Hände gefesselt und als könne ich mich nicht wehren. Aber immer öfter bricht sich die Tochter Gottes in mir Bahn, ergreift das Schwert und beginnt zu kämpfen.

Marie-Sophie Maasburg hat unter ihrem Mädchennamen Lobkowicz sechs Bücher veröffentlicht, unter anderem ihr erstes Werk »Ich werde da sein, wenn du stirbst«, das zum Bestseller wurde. Sie ist verheiratet mit Constantin und die beiden haben drei Söhne. Seit 2017 sind sie eine Missionarsfamilie und dienen im Gebetshaus Augsburg.

Des Menschen Herz ...

»Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg;
aber der Herr allein lenkt seinen Schritt.«

(Sprüche 16,9)

Als Konfirmand fühlt man sich selten wohl in seiner Haut. Jedenfalls war das in den 1980er-Jahren so. Heute genießen Jugendliche den großen Tag vielleicht, den feinen Aufzug, das Fest. Damals konnte ich damit wenig anfangen. Das Sakko fremd und zu groß, darunter als leises Zeichen des Unangepasstseins kein Hemd, sondern ein weißer Rollkragenpullover, schon damals ein gewagtes Outfit. Die Statur leicht rundlich, eher Typ Denker als Leistungssportler. So stehe ich da und schaue etwas schief in die Kamera, die die Erinnerungsfotos schießt.

Glaube ist für mich damals selbstverständlich, denn meine Mutter ist Religionslehrerin; etwas später geboren, wäre sie vielleicht Pfarrerin geworden. Was Konfirmation sein soll, ist mir also klar, und mir geht es nicht um Geschenke und schon gar nicht um einen rite de passage, ein Ritual für den Übergang ins Erwachsenwerden, wie ihn sich bebrillte Religionspädagogen ausmalen. Trotzdem – ich weiß noch recht genau, dass ich nach der Konfirmation das Thema Glaube erst einmal abgehakt habe. Niemals hätte ich offiziell aufgehört, an Gott zu glauben; aber ich hatte beschlossen, ihn nicht zu nah an mich heranzulassen.

Falsch gedacht. Kurze Zeit nach der Konfirmation »rutsche« ich in eine Jugendbibelgruppe im Nachbarort. Ich gehe dorthin, weil ich die Leute nett finde, dann aber beginnt mich zu beeindrucken, wie diese Leute von Gott reden. So, als ob es ihn wirklich gäbe (so hat es einmal ein Theologe über engagierte Christen gesagt). Das kenne ich noch nicht. Also beginnt eine Reise zu einem engagierten Glauben, die zunächst viel mit Nachdenken zu tun hat. Ich lese Bücher und stelle Fragen, entdecke Gründe für den Glauben. Und lande schließlich bei dem Lebenstraum, möglichst viel Zeit mit dem Werben für diesen neu entdeckten Glauben an Jesus zu verbringen.

Aber eins nach dem andern. Im Moment meiner Konfirmation weiß ich ja noch nichts von dem, was danach kommt. Sondern da stehe ich und lausche den Worten des Pfarrers, der sich unsere Konfirmationssprüche herausgesucht hat. Ganz undemokratisch, ohne Rückfrage an uns Konfis, ohne gemeinsames Erarbeiten und anschließendes Ausmalen. Er sieht uns an, ernst, aber herzlich, denkt scharf nach, und entscheidet. In meiner Erinnerung sieht er ein wenig aus wie der junge Luther. Dafür kann er nichts, das liegt an seinem ungewollt mönchisch-schütteren Haarkranz. Aber das Gesicht – dafür kann er etwas –, ist aufrichtig und nimmt uns ernst.

Jetzt bin ich an der Reihe. Die Hände liegen zum Segen auf meinem Kopf, jetzt kommt der Konfirmationsspruch. Was er sich wohl ausgedacht hat? Ich bin schließlich ein kluger Kopf (denke ich unbedarft), kenne mich aus in der Bibel. Ich weiß, was ich will. Hoffentlich hat er etwas gefunden, was dazu passt.

»Dein Konfirmationsspruch steht in Sprüche 16, Vers 9 und lautet: ›Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg; aber der Herr allein lenkt seinen Schritt.‹«

Wie bitte? Der Herr allein? Und was ist mit mir, meinem Selbstbewusstsein, meinen Plänen, meinen großen Ideen? Kann der Pfarrer das alles gar nicht sehen? Will er mich ernüchtern, zurechtstutzen? Im Gegenteil. Der Spruch ist richtig, trifft haargenau, und er begleitet mich bis heute. Vielleicht darf man in die Wahl des Pfarrers damals auch nicht zu viel »hineingeheimnissen«. Vielleicht war sie ein bisschen zufällig, fiel mir zu – von Gott? »Der Herr allein lenkt seinen Schritt«, eben! Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt. Das gilt für mehrere Stationen meines Lebens.

Der Mensch denkt, Gott lenkt. Dabei denke ich gern, ich bin ein Freund guten Planens, ertappe mich manchmal beim leisen Schmunzeln über Menschen, die zu wenig planen und dann vom Alltag überwältigt sind. Planen ist gut! Aber alles Denken, alles Planen versetzt uns niemals in Gottes Position. Nur er hat das letzte Wort über meinem Leben. Und er kann, anders als ich, auch mit dem Ungeplanten, auch mit dem Beunruhigenden, Schmerzhaften, sogar mit meinen Fehlern etwas anfangen. Er kann das alles einbauen in seinen großen Plan für diese Welt. Gott ist eben weitaus kreativer als ich. Deswegen wäre es ausgesprochen unklug, Gott auf meine Pläne festlegen zu wollen.

Das alles schließt gerade nicht aus, weiter Pläne zu machen und gründlich nachzudenken. Gott ist für die Durchsetzung seines großen Plans nicht darauf angewiesen, dass ich mich zurückhalte. Ich plane jetzt nur eben stärker unter Vorbehalt. Erstens kommt es anders ... (Sobald man Kinder hat, hat man täglich Gelegenheit, diese Fähigkeit zu trainieren.)

Und ich habe auch nach wie vor Schwierigkeiten mit Versionen von Christsein, die alles Planen geradezu für ungeistlich halten. Die davon ausgehen, dass Gott einen bis ins Detail abgestimmten Plan für unseren Lebensweg hat, der keinen Spielraum zulässt. Das Leben mit Gott kann dann zu einer Art Rätselraten werden, bei dem es einzig darum geht herauszubekommen, was denn an dieser speziellen Weggabelung Gottes Weg für mich ist. Welchen Beruf soll ich ergreifen, welche Partnerin soll ich wählen, an welchem Ort soll ich leben – ist das alles haarklein für mich vorab entschieden und ich muss es nur noch herausfinden? Das glaube ich nicht.

Stattdessen glaube ich zum einen, dass Gott uns Entscheidungsfreiheit über sehr viel in unserem Leben einräumt. Denn unsere Entscheidungsfähigkeit ist auch selbst eine Gabe Gottes. Sie kann verschüttet sein, ungeübt, oder wir können zu sehr fremdgesteuert sein von den Erwartungen anderer, von Moden und Trends. Gerade deswegen sollen wir das fröhliche und verantwortliche Entscheiden ja einüben. Ein anderer Lieblingsvers von mir steht im Römerbrief: »... stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, auf dass ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.« (Röm 12,2) »Auf dass ihr prüfen könnt!« Das Prüfen-Können ist also auch ein Ergebnis der Erneuerung unseres Sinnes, die Gottes Geist in uns bewirkt.

Zum anderen bin ich überzeugt, dass Gott für die Durchsetzung seines Willens selten auf eine einzelne Möglichkeit festgelegt ist. Kann Gott nur dann mit Menschen arbeiten, wenn diese einen ganz bestimmten Beruf an einem ganz bestimmten Ort ergreifen? Ist Gott nicht so kreativ, dass er auch auf anderen Wegen zum Ziel kommt? Wir denken, er lenkt, und in seinem großen Einfallsreichtum kann er sogar unsere Umwege in sein Planen einbeziehen.

Es ist unnötig zu sagen, dass wir uns bei jeder Entscheidung, jedem Schritt an seinen Maßstäben orientieren sollen. Die sind aber meistens erfrischend klar – »liebe deinen Nächsten« kennt
z. B. keine Ausnahmen, selbst unseren Feinden sollen wir in Liebe begegnen. Und zugleich lassen Gottes Maßstäbe in der Umsetzung meist Spielraum. Seine Fähigkeiten einzusetzen, um anderen zu helfen, ist immer gut. Aber wer sagt denn, dass es per se »geistlicher« sei, als Pastor zu arbeiten statt als Ingenieur? Beides wird im Reich Gottes weltweit dringend gebraucht.

Ich sage das deswegen so deutlich, weil mir manchmal Christen begegnen, oft jüngere Christen, deren Scheu vor Entscheidungen mir etwas zu groß scheint. Das finde ich schade. Als ob sie ständig Sorge hätten, sich für das Falsche zu entscheiden – dabei sieht es für mich oft ganz so aus, als ob mehrere gleichermaßen sinnvolle Dinge zur Entscheidung stehen. Dieses Studienfach wählen oder ein anderes? Die Bibel macht hierzu keine Vorgaben. Also überlege ich: Was kann ich, was ist mir wichtig, wofür will ich mich einsetzen? Und ist das alles grundsätzlich in Gottes Sinne? Dann los!

Was mich selbst betrifft, war dies allerdings selten mein Problem. Ich entscheide gern. Deswegen ist mein Konfirmationsvers aus Sprüche 16,9 für mich auch so wichtig, so heilsam. So wie ich mir damals, als Konfirmand, nie gedacht hätte, dass dies »mein« Vers werden würde – so bin ich weiter gespannt auf alles, was Gott für mich auf Lager hat, mit mir vorhat. Auch wenn ich gerade jetzt, wo ich diese Zeilen tippe, noch nichts Genaues darüber weiß ...

Prof. Dr. Matthias Clausen ist Professor für Evangelisation und Apologetik an der Evangelischen Hochschule TABOR in Marburg und Referent beim Institut für Glaube und Wissenschaft (IGUW). Mit seiner Frau und seinen drei Kindern wohnt er in Marburg.

Meine Schäferwoche

»Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
Er weidet mich auf einer grünen Aue und
führet mich zum frischen Wasser.«

(Psalm 23, 1-2)

Mich beschäftigte schon eine längere Zeit die Frage nach einem Gottesbild, das mich besonders anspricht. Dabei fiel mir immer wieder Psalm 23 ins Auge. Im ersten Vers steht es gleich: »Der Herr ist mein Hirte.«

Was macht ein Hirte eigentlich? Was hat er für besondere Eigenschaften? Wie kann ich mir dieses Bild, das die Bibel hier von Gott zeichnet, besser vorstellen?

Eines Tages fiel mir auf einmal eine Einladung aus Gnadenthal, einer ökumenischen Kommunität bei Bad Camberg, ins Auge. Die Jesus-Bruderschaft lud ein zu einer »Gnadenthaler Schäferwoche« mit geistlichen Impulsen. Titel: »Gott umarmt uns durch die Wirklichkeit.«

Die Woche passte in meinen Kalender und so meldete ich mich an. Und in einer Septemberwoche war es dann so weit.

Die Schäferwoche war eingebunden in das klösterliche Leben der Kommunität, in Morgengebet und Abendgebet. Dazu gab es jeden Morgen einen »Hirtenimpuls« von der Kursleiterin. Jeden Tag begleitete uns ein gutes Hirtenwort. Natürlich auch aus Psalm 23. Danach ging ich mit der kleinen Gruppe und einem Lunchpaket unter dem Arm zum Schäfer und zu den Schafen. Nachmittags kehrten wir in das Tagungshaus zurück und hatten Zeit für uns. Dann gab es einen Austausch in der Gruppe. Nach dem Abendgebet und dem gemeinsamen Abendessen verbrachten wir den Rest des Tages im Schweigen. Wir waren sieben Teilnehmer, ein Hirte – heute nennen wir ihn Schäfer – und 180 Schafe. Zuerst waren sie für uns alle gleich. Aber dann bemerkten wir doch, dass jedes etwas anders aussah.

Eindrucksvoll war jeden Morgen die Begrüßung der Schafe durch ihren Schäfer. »Hoho – hoho«, rief er. Und alle hoben ihre Köpfe in seine Richtung und wurden ganz aufmerksam. Dann bekamen die beiden gut erzogenen Hütehunde ihr Kommando, das Gatter wurde geöffnet und wir zogen miteinander los. Schafe und Menschen. Über schmale Wege ging es zu einer schönen Weide. Dort blieben wir eine Weile, ließen die Schafe weiden und in aller Ruhe fressen.

Nun konnten wir dem Schäfer all die Fragen stellen, die uns beim Beobachten in den Sinn gekommen waren. Er hatte mit uns genauso viel Geduld wie mit seinen Schafen und erklärte uns eindrücklich, was seinen Beruf ausmacht. Die tägliche Routine und das, was ihm dabei besondere Freude bereitet.

Die Herde bestand aus zwei verschiedenen Rassen, da waren zum einen 150 Rhönschafe mit beigem Fell und braun-schwarzem Kopf und dazu 30 Heidschnucken, die besonders eigensinnig waren.

Eine Mahlzeit dauert für die Schafe etwa anderthalb Stunden – so lange weiden sie, dann brauchen sie Ruhe zum Wiederkäuen. Und das dreimal am Tag. In dieser Zeit passiert nicht viel. Ich lernte Geduld. Hatte genug Zeit zum Beobachten. Ich übertrug die Bilder in die Welt von Psalm 23, sah mich als Schaf Gottes und musste immer wieder schmunzeln.

Der Schäfer hatte für jeden Tag eine feste Route für seine Schafe und uns vorbereitet. Er wusste morgens schon genau, wo wir am Abend mit der Herde ankommen wollten. Manchmal halfen wir und gingen voraus, um die Gatterzäune für die nächste Nacht zu stecken. Ich lernte: Der Schäfer kennt sich mit den Weideflächen bestens aus. Er weiß genau, was gesund für seine Tiere ist und was ihnen nicht bekommt, was vielleicht sogar giftig ist. Er weiß, dass sie gerne Blätter von Obstbäumen fressen, dass zu viel davon aber nicht gut für sie ist. Es ist wichtig, dass fette und magere Wiesen sich abwechseln und vieles andere. Es gibt jedenfalls mehr zu bedenken, als ich mir bis dahin vorstellen konnte. Nebenbei: Rund um Gnadenthal ist die Herde auch für den Naturschutz zuständig, damit in Naturschutzgebieten nicht alles verwildert, sondern die Wiesen gepflegt werden.

Meine Vorstellungen von der Arbeit eines Hirten wurden von Tag zu Tag konkreter. Er muss sich mit seinen Schafen bestens auskennen, mit ihrer Ernährung, mit ihren Krankheiten und ihrer Lebensweise. Bei Geburten muss er dafür sorgen, dass alles gut läuft. Er ist für das Scheren der Schafe verantwortlich und auch fürs Schlachten und Vermarkten des Fleisches und der Wolle. Man merkt es Fleisch und Fell an, ob es dem Schaf gut gegangen ist oder nicht.

Schafe sind Herdentiere. Da sie keine so gute Orientierung wie zum Beispiel Ziegen haben, folgen sie ergeben ihrem Leitschaf. Sie können nicht weiter als 13 Meter sehen. Deshalb brauchen sie einen Hirten, der weit vorausschaut, sie beschützt und gut hütet.

Immer wieder habe ich in den Tagen der »Schäferwoche« über Psalm 23 nachgedacht. Dabei habe ich ihn Vers für Vers notiert und zu jedem Vers meine spontanen Gedanken niedergeschrieben:

Psalm 23. Ein Psalm Davids.

David war selbst ein junger Hirte gewesen, bevor er von Samuel gesalbt und an Sauls Hof gerufen wurde.

Der Herr ist mein Hirte, …

Ja, Herr, jetzt ahne ich, was das für eine große Aufgabe für dich ist. Meine Aufgabe ist es, dich als meinen Hirten anzunehmen und zu akzeptieren. Ich möchte dir folgen. Gern. Denn du kennst dich gut aus mit mir.

… mir wird nichts mangeln.

Das glaube ich in guten Zeiten, aber glaube ich es auch in schweren?

Er weidet mich auf grüner Aue und führet mich zum frischen Wasser.

Wie wichtig frisches Wasser ist, habe ich gemerkt, als es heiß wurde.

Manchmal hatte ich keine Wasserflasche dabei und verspürte echten Durst.

Er erquicket meine Seele.

Ja, das möchte ich zulassen. Es ist meine Entscheidung, mich von ihm erfrischen zu lassen.

Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.

Da ist mein Vertrauen gefragt und mein Bekenntnis zu ihm. Ja, ich will mich an ihn halten.

Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, …

Ja, es gibt sie, die finsteren Täler. Das Warten in der Notaufnahme, das Piepsen der Maschinen im Krankenzimmer, die Infusionen, das lange Warten, bis mein Herz wieder in den richtigen Rhythmus kommt.

… fürchte ich kein Unglück;

Oder doch? Manchmal male ich mir dunkle Szenarien aus, die eintreten können. Und ich fürchte mich.

… denn du bist bei mir, …

Ich habe Psalm 23 immer wieder gebetet und aufgesagt und mich vergewissert: Ich bin nicht allein. Du bist da. Du schickst die richtigen Menschen, die helfen können, die weiterwissen, die einfach da bleiben.

… dein Stecken und Stab trösten mich.

Ja, du als mein Hirte, du kannst mich trösten, weil du dich auskennst, mit mir, mit meiner Unruhe, mit meinen Beschwerden, meiner großen Angst, die mich manchmal lähmt und mein Leben eng macht.

Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.

Diese Vorstellung fällt mir schwer. Ich möchte lieber mit meiner Familie und meinen Freunden essen und trinken und ihre Gemeinschaft genießen. Wer sind meine Feinde? Ich denke an Menschen, die meine Glaubensvorstellungen nicht teilen. Habe ich den Mut, dich, meinen Herrn, wirklich zu bekennen? Ich entdecke, dass du mich gern versorgst mit allem, was ich brauche. Reichlich. Davon kann ich weitergeben. Ich begleite ja Menschen durch ihre Krisen und spüre manchmal das lebensfeindliche und unbarmherzige Miteinander …

Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.

Du liebst mich wie ein Königskind und hast mein Haupt mit Öl gesalbt. Ich kann aufrecht und erhobenen Hauptes durchs Leben gehen. Denn du siehst mich mit liebevollen Augen an. Du spricht mir zu: »Ja, ich freue mich sehr, dich geschaffen zu haben.« Aber das spüre ich leider nicht jeden Tag. Wenn ich mich im Spiegel anschaue und sehe, dass ich wieder zugenommen habe und die Hose oder die Bluse nicht mehr passt … dann ist es schon eine bewusste Entscheidung, mich an deine uneingeschränkte Liebe zu mir zu erinnern. Da haben Selbstzweifel keinen Platz. Du machst das Glas nie halb voll, sondern so voll, dass es überläuft. Du schöpfst aus dem Vollen, du bist der Schöpfer der Welt.

Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, …

Ja an Geburtstagen schaue ich oft verwundert zurück, dass sich aus manchen schmerzhaften Erlebnissen und Ereignissen Gutes und Weites entwickelt hat. Das macht mich mutig, mir selbst Gutes zu tun und auch mir selbst gegenüber barmherzig zu sein. Ich möchte immer alles richtig machen und keinen verletzen. Aber es passiert mir trotzdem. Das tut mir leid. Ich bitte um Vergebung. Und ich versuche nach einiger Zeit, mir auch selbst zu vergeben. Das ist manchmal das Schwerste überhaupt. Aber durch die Zusage deiner Barmherzigkeit, die über meinem ganzen Leben steht, will ich es immer wieder versuchen.