Für meine geliebte Frau Nana Nauwald –

und ganz herzlichen Dank für deine kreativen Impulse!

Ein besonderer Dank für meinen geistigen Mentor John G. Bennett, der durch seine lebenslange kreative Arbeit mit Gurdjieffs praktischen wie theoretischen Lehren das Übungssystem entwickelt hat, auf dem dieses Buch basiert.

Die Verfeinerung und Anpassung der Übungen für den heutigen Gebrauch habe ich all denen zu verdanken, die im Laufe vieler Jahre meine Seminare besucht haben. So konnte ich immer wieder neu lernen, die Übungen so zu präsentieren, dass sie auch von anderen nachvollzogen werden können.

Inspirierende Impulse anderer Lehrsysteme und viele bemerkenswerte Menschen begleiteten meinen Weg. All diesen Menschen gilt mein tief empfundener Dank!

Inhalt

Eine Auster muss zehnmal im Schlaf erschreckt werden, bevor ihr Fleisch gut ist.

Weisheit der Austern-Taucher

Vorwort zur Neuausgabe 2014

Dieses Buch habe ich 2007 geschrieben und nun beginnt eine neue Oktave damit.1 Meine Arbeit hat in dieser Zeit viel Zuspruch erfahren und viele Menschen haben mir mitgeteilt, dass sie dieses Werk wertvoll für ihr Leben fanden und sie auch einige der Übungen durchgeführt haben. Ich werde immer einmal gefragt: "Wie kann ich in die Gurdjieff-Lehre initiiert werden?" Gurdjieff sagte dazu: "Es gibt keine Einweihung, jede Einweihung ist eine Selbsteinweihung." Tatsächlich nehmen wir nur das wahr, was wir wissen, und wir verstehen nur das, was wir auch selbst erfahren haben. Dieser Satz ist von großer Bedeutung, besonders hinsichtlich der Übungen in diesem Buch - aber auch anderer Techniken anderer Methoden und spirituellen Richtungen. Das Geheimnis liegt in uns selbst verborgen!

Ich arbeite seit über 40 Jahren mit der "Gurdjieff-Methode" und den Übungen, die ich in diesem Buch anrege. Einige der Übungen, die ich von meinem Lehrer und Mentor John G. Bennett gelernt habe, hat dieser einige Jahrzehnte lang mit seinen Gruppen durchgeführt und vieles dabei gelernt und aufgrund seiner Erfahrung manche Übung immer wieder modifiziert oder neu konzipiert. Seit ich diese Übungen kennen gelernt habe, habe ich ebenfalls weiter damit experimentiert und manches den Lebensumständen und dem Verständnis der Menschen, die meine Seminare besuchen und den Bedürfnissen der heutigen Zeit angepasst. Eine Tradition bleibt nur erhalten, wenn sie weiterentwickelt und den Denkweisen der Menschen in jeder Zeit und Kultur anpasst wird!

Dennoch gibt es einige „zeitlose“ Grundlagen auf denen diese Übungen im Buch basieren: Bewusste Körperwahrnehmung, Aufmerksamkeit, Vorstellung und Absicht. Auf diese Themen gehe ich im Buch näher ein. Ohne die Fähigkeit der inneren Wahrnehmung und der sich entwickelnden Erfahrung mit der inneren Energiearbeit werden kaum Fortschritte wahrgenommen. Selbst wenn regelmäßig geübt wird, entsteht oft das Gefühl, dass "überhaupt nichts geschehen ist" oder sich keine Veränderung eingestellt hat.

Deshalb betone ich immer wieder, dass ein Wechsel in eine andere Bewusstseinsschicht in diesem Moment eine veränderte Wahrnehmung mit sich bringt. Wenn wir wieder in die Bewusstseinsschicht des "gewöhnlichen" Wachbewusstseinszustands zurückgekehrt sind, denken und fühlen wir, dass sich scheinbar "nichts verändert" hat. Tatsächlich kann der veränderte Bewusstseinszustand nur auf dieser "anderen" Ebene wahrgenommen werden, aber nicht mit dem "nicht veränderten Zustand". Das einzige, was dauerhaft bleibend wahrgenommen werden kann, ist die sich entwickelnde Körperempfindung. Je länger wir daran arbeiten, desto stärker wird diese Empfindung – der eigene Körper wird immer häufiger gespürt und wahrgenommen, auch wenn die Aufmerksamkeit nicht absichtlich darauf gerichtet ist. Im Laufe der Zeit geschieht es dann, dass plötzlich eine Wahrnehmung der Körperempfindung "von allein" da ist und eine andere Klarheit, ein "erhöhter" Wachbewusstseinszustand vorhanden ist. Durch die Alltagsaktivitäten kann dieser Zustand schnell überdeckt werden, weil die Aufmerksamkeit in andere Richtungen gelenkt wird - aber dennoch kann ein Teil der Aufmerksamkeit diese Empfindung wahrnehmen, auch wenn ein anderer Teil der Aufmerksamkeit woanders ist. Daher ist die Arbeit an der Stärkung der Aufmerksamkeitskapazität von größter Bedeutung.

Nichts geht verloren! Das besagt, dass die Arbeit an der Speicherung und Festigung der inneren Energien (siehe Kapitel 4) Früchte trägt, ohne dass dies unter alltäglichen Umständen bemerkt bzw. wahrgenommen wird. Dieses Phänomen lässt viele Menschen anfangs zweifeln, ob es überhaupt etwas nützt, diese "innere Arbeit" zu machen. Wer beharrlich daran bleibt, merkt mit der Zeit, dass sich eine Veränderung der gesamten eigenen Befindlichkeit und Selbstwahrnehmung eingestellt hat. Dieser Punkt muss immer wieder betont werden. Wer auf "schnelle" Ergebnisse aus ist, sollte seine Einstellung ändern. Handwerker, Zahnärzte, Chirurgen (m/w) und alle anderen Praktiker/innen lernen ihre Fertigkeiten auch nicht von heute auf morgen, sie werden erst mit langer Übung immer geschickter! Das gleiche gilt für die Fertigkeit, mit inneren "unsichtbaren", "ungreifbaren" Energien umzugehen. Allerdings ist dabei kein deutlich greifbares Ergebnis zu sehen, das ist für viele Praktizierende ein Problem.

Im Feld der spirituellen Entfaltung – oder wie es Gurdjieff bezeichnet hat: "Die harmonische Entwicklung des Menschen" – entwickeln sich "Hardware und Software" zusammen und passen sich gegenseitig an. Das ist übrigens auch eine Erkenntnis der heutigen Neurowissenschaften: Das Gehirn ist so plastisch flexibel, dass es sich jeder neuen Aufgabenstellung anpasst und sich immer wieder neu strukturiert. Auch Athleten oder Sportler arbeiten "an sich selbst". Sie oder er benötigen nicht nur körperliches Training, sondern auch Disziplin, Ausdauer, inneren Kampf mit den Schwächen usw. Der wesentliche Unterschied dabei – und hier kommt die spirituelle Komponente ins Spiel – ist der Fokus der Übung. Der Fokus einer Sportlerin, eines Sportlers, ist die Leistungssteigerung im "Äußeren", also Körperbeherrschung, Kraftentwicklung, die Zielvorstellung des Erfolgs usw. Doch wenn wir das Streben nach Erfolg im Spirituellen in den Vordergrund stellen, verfehlen wir in diesem Falle das Ziel. Unser Ziel ist eine "harmonische Entwicklung", die - so hoffen wir - eine innere Qualität hervorbringt, die das körperliche Leben überdauert. Auch das ist ein Ziel, jedoch eines, das nicht auf dem Siegerpodest des Lebens endet, sondern völlig im Ungewissen angesiedelt ist. Heilsversprechen sind mir fremd, ich kann nur aus meiner Erfahrung – und der im Laufe der Zeit gewonnenen inneren Weisheit2 – sagen, dass diese Arbeit sich lohnt, selbst wenn die Vorstellung einer "unsterblichen Seele" letztlich nur eine Phantasievorstellung wäre. Allein die Veränderung meines (gefühlten) Seinszustands und der damit gewonnen "Lebensqualität" waren und sind es wert, manche Anstrengungen in dieser Richtung auf sich zu nehmen!

Zur Neugestaltung des Buches:

Als Autor sieht man nach Jahren manches, was geändert, ergänzt oder genauer formuliert werden sollte – daran habe ich an dieser neuen Version gearbeitet. Den Prolog der vorherigen Ausgabe habe ich nun weggelassen. Meine ausführliche „spirituelle Biografie“ ist auf meiner Website www.brunomartin.de nachzulesen. Meine Arbeit basiert auf der Schulung, die ich mit John G. Bennett erfahren habe, aber sie hat durch meine eigene Arbeit und Erfahrung im Laufe der Jahre eine eigenständige Ausformung von mir bekommen. Außerdem habe ich immer wieder mit anderen spirituellen Richtungen Erfahrungen gesammelt, die mit ihren geistigen Impulsen auch in meine Arbeit eingeflossen sind.

Ich habe mit dieser Neuausgabe auch das ursprüngliche Konzept des Buches verändert, weil ich nun denke, dass es für viele Leserinnen und Leser handlicher ist, wenn die gedanklichen Erwägungen von dem grundlegenden Übungsprogramm getrennt sind. Das heißt, in diesem Buch können alle Kapitel fortlaufend gelesen werden. Es gibt jedoch im jeweiligen Kapitel Hinweise auf den Zusammenhang einer Übung mit dem Text wie: "Hierzu passt Übung 1“. Das grundlegende Übungsprogramm findet sich gesammelt im zweiten Teil des Buches. Übungen, die mehr für eigene Experimente im Zusammenhang mit dem Text gedacht sind und nicht zum dauerhaften Übungsprogramm gehören, habe ich im Text beibehalten.

In diesem Buch verwende ich die persönliche Anredeform "du", weil ich keine künstliche Distanz herstellen möchte und ich "dich", die Leserin, den Leser, so wie auch in meinen Seminaren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer persönlich anspreche. Auch die "Wir-Form" soll kein vereinnahmender Plural sein. Sie spricht uns Menschen im Allgemeinen an.

Möge das Buch neue Impulse für deine harmonische Entwicklung geben können!

Bruno Martin, Sommer 2014

1 Über Gurdjieffs "Lehre", d. h. über den gesamten theoretischen Hintergrund und alle damit zusammenhängenden Ideen habe ich in meinem Buch "Auf einem Raumschiff mit Gurdjieff" ausführlich geschrieben. In diesem vorliegenden Buch gehe ich im Wesentlichen auf die Kernaussagen und die praktische Umsetzung ein.

2 Siehe dazu mein Buch: Lebe deine innere Weisheit, erscheint 2014/2015

1. Lernen durch Tun

„Das Höchste, was ein Mensch erreichen kann, ist die Fähigkeit zu tun.“

G. I. Gurdjieff, Aphorismen

Was meint Gurdjieff mit der Fähigkeit „zu tun“? Wir tun doch ständig alles Mögliche: wir arbeiten, fahren Auto, kochen und essen, wir sehen fern, wir machen Sex, wir denken, surfen im Internet, treiben Sport, üben Yoga, wir meditieren… Doch bei genauem Hinsehen geschehen die meisten Aktivitäten mit uns, ohne dass wir sie bewusst wahrnehmen. Den größten Teil unserer Zeit leben wir „automatisch“, getrieben von unbewussten Wünschen und Vorstellungen über das Leben. Das „bewusste Ich“ ist an diesen Aktivitäten kaum beteiligt. Doch wie kann man einem schlafenden Menschen vermitteln, dass er schläft? Man kann ihn nur wachrütteln oder wie eine Auster erschrecken – und das ist der Kern von Gurdjieffs Lehre. Seine bedeutende Erkenntnis ist, dass ein Mensch nur „tun kann“, wenn sein „wirkliches Ich“ zum zentralen Angelpunkt seines Leben geworden ist, und das erfordert bewusste Arbeit. Vor allem muss einem Menschen klar werden, dass das meiste, was er für bewusste Handlungen hält, mehr oder weniger automatisch geschieht.

Wer sich mit dem Buddhismus beschäftigt, kennt das Konzept des „Nicht-Ich“, d. h. leer vom „Ich“ zu sein. "Nicht-Ich" ist nur die andere Seite einer Münze und widerspricht der „Ich-Vorstellung“ in Gurdjieffs System nicht. Denn um offen für die geistige Kraft werden, die das „Ich“ symbolisiert, müssen wir erst leer von allen normalen Ich- oder besser gesagt Persönlichkeits-bezogenen Denk- und Lebensgewohnheiten werden. Wenn wir normalerweise „Ich“ sagen, meinen wir tatsächlich unsere „Persönlichkeit“ und unseren Körper. Wir sagen: „Ich habe Schmerzen“, „ich fühle mich wohl“, „ich denke“, „ich fahre Auto“. Doch diese Persönlichkeit, die sich „Ich“ nennt, ist nicht das „wirkliche Ich“. Der materialistische Gedanke, wie ihn Descartes formuliert hat, „Ich denke, also bin ich“, führt zu einer Selbsttäuschung.

Dieses übliche „Ich“ hat sich im Laufe der Kindheit durch das Elternhaus, die Ausbildung und viele andere gesellschaftliche Einflüsse herausgebildet. In hellen Momenten fragen wir uns bei irgendeinem Verhalten, das uns plötzlich fremd vorkommt: „Bin ich das wirklich?“ oder „So kenne ich mich noch gar nicht.“ Je nach Umstand kann mein Verhalten sogar völlig erschreckend sein: „Normalerweise werde ich doch nicht ausfallend, nicht so heftig. Ich bin doch sonst ein geduldiger Mensch!“

Doch das ist nicht das „wirkliche Ich“. Die meisten Gefühle, Gedanken, körperlichen Empfindungen und Wahrnehmungen sind Persönlichkeitsmuster, die von außen geprägt sind, sie entspringen nicht dem wahren Wesen. Diese Behauptung wäre natürlich vereinfacht, wenn es alles wäre, was „mich“ ausmacht. Denn es gibt noch eine Schicht in mir, die ich tatsächlich als „mein Wesen“ bezeichnen kann. Dieses Wesen besteht aus bestimmten Charakterzügen, Eigenschaften, Fähigkeiten und Verhaltensweisen, die nicht alle von der Außenwelt bestimmt sind. Sie sind mein „eigenes Wesen“.

Damit fängt die Schwierigkeit an: Wie kann ich unterscheiden, was nun selbstbestimmt und fremdbestimmt ist? Und wer bin „ich“ wirklich? „Bin ich“ überhaupt wirklich? Wenn du nicht den Wunsch hast, dies zu ergründen, wirst du wahrscheinlich auch kein Übungsprogramm beginnen, das dich zu einer Antwort führen könnte. Wenn du das Gefühl hast, du bist nicht „du selbst“, du reagierst nur beinahe wie ein Roboter auf die Impulse, die von innen und außen in dich gelangen, und du möchtest mehr deinem Wesenskern, deinem wirklichen Ich entsprechend leben, dann kann ein gezieltes Übungsprogramm dich diesem Ziel näher bringen. Doch du musst dich ernsthaft dafür entscheiden!

Wenn die Behauptung stimmt, dass die meisten Menschen „die Fähigkeit zu tun“, d. h. die Fähigkeit, bewusst zu handeln, erst erwerben müssen, wie kannst du dann allein ein Übungsprogramm durchführen? Ist das nicht zuviel verlangt? Ich denke, es ist möglich, weil dich die Übung nach und nach mit deinem Wesen in Kontakt bringt. Selbst wenn die Entscheidung zum Üben vielleicht nicht von deinem wirklichen Ich getroffen wird, kann sie vom „Stellvertreter“ dieses Ichs entschieden werden, deinem intellektuellen Zentrum. Sie kann auch aus einem Gefühl oder Bedürfnis entstehen, etwas tun zu müssen, „mehr“ aus dem eigenen Leben zu machen. In diesem Sinne bringt dich dieses Programm bereits mit der Entscheidung in Kontakt, mit der „Fähigkeit zu tun“. Eine Selbsttäuschung wäre, wenn du meinst, nur weil du eine Zeitlang geübt hast, bist du schon fähig vom Wesenskern aus zu handeln. Egal wie, ohne damit zu beginnen, kann sich nichts entwickeln.

Alle, die Erfahrung mit inneren Übungen haben, wissen, dass es etwas schwieriger ist, eine Übungsreihe ganz allein durchzuführen, statt in Verbindung mit einer Übungsgruppe. In einer Übungsgruppe wird im Allgemeinen ein stärkeres „Energiefeld“ aufgebaut, so dass jede Übung tiefere Wirkungen hat. In dieser Hinsicht wäre natürlich eine Kombination von Gruppe und privater Übung optimal. Wenn du die Möglichkeit hast, die Übungen gemeinsam mit einem Partner, einer Partnerin oder Freunden durchzuführen, verstärkt sich nicht nur die Übung, sondern auch die Motivation, dabei zu bleiben.

Den Begriff „Energiefeld“ benutze ich nicht oberflächlich ohne theoretischen Hintergrund. Weil mich der undifferenzierte Gebrauch von "Feld" und "Energie" in so genannten esoterischen Zusammenhängen immer gestört hat, habe ich meine eigene "Feldtheorie" 2011 ausführlich in meinem Buch Der Wunderland-Effekt entwickelt und erläutert. Dort wird das erste Mal überhaupt ein Modell von physischen und spirituellen Feldern beschrieben, das sowohl über die physikalische Feldtheorie als auch über den Ansatz von Rupert Sheldrake mit dem "morphogenetischen Feld" hinausgeht. Außerdem findet sich darin eine klare, nachvollziehbare Struktur, die als Konzept für die eigene Wahrnehmung sehr nützlich ist. Über die unterschiedlichen Energieformen schreibe ich in diesem vorliegenden Buch auch in Kapitel 4.

Wenn du einer der vielen Menschen bist, die Übungserfahrung haben, sei es mit Yoga, Meditation oder anderen spirituellen Techniken, wirst du keine Schwierigkeit haben, dich allein auf eine Übung einzustimmen und durch deine bisherige Erfahrung so intensiv wie möglich zu gestalten. Den Ablauf der meisten Übungen kannst du dir leicht merken, weil die einzelnen Schritte bestimmte Anhaltspunkte im Körper haben, zum Beispiel mit der inneren Aufmerksamkeit vom Oberarm zur Hand zu „reisen“.

Wenn du keine oder wenig Erfahrung mit Übungen hast, dann rate ich dir, zuerst die Theorie, auf der Gurdjieffs Lehre begründet ist und die ich in diesem Buch leicht verständlich erläutere, zu lesen. Wenn du denkst, diese Übungen sind interessant, sie könnten mich weiterbringen und darauf will ich mich einlassen, dann treffe eine willentliche Entscheidung, die vorgeschlagenen Übungen einen bestimmten Zeitraum lang regelmäßig zu machen. Es ist allerdings so, dass manche der Ideen, die ich ausführe, erst wirklich durch die Praxis mit den Übungen verstanden werden können.

Wenn du dich für das Übungsprogramm entscheidest, setze dich hin, werde innerlich still und treffe deine Entscheidung. Bekräftige sie innerlich mit folgender Affirmation oder spreche sie sogar laut aus: „Ich möchte das Übungsprogramm beginnen und auch durchhalten.“ Setze dir das Ziel, die ersten Übungen vier Wochen lang zu machen und entscheide dich dann wieder für die nächsten Wochen. Diese Entscheidung stärkt deine Absicht und deinen Willen. Du solltest keine Erwartungen damit verbinden, sondern einfach „tun“.

Notiere dir jeden Tag alle Beobachtungen, Empfindungen, Einsichten und Gefühle, die vor, während und nach der Übung entstehen. Schreibe dir auch auf, wenn du die Übung „ausgelassen“ hast. Sei ehrlich mit dir: Hast du nur eine Ausrede gefunden oder konntest du einfach nicht wegen einer anderen Anforderung? Schaue dir auch deine Ausflüchte genau an, vielleicht erkennst du darin ein Muster. Du machst es nur für dich selbst, keiner kontrolliert dich. Nach einer gewissen Zeit wirkt eine Sitzübung, die du morgens machst, auch in den Tag hinein. Wenn du dir die Notizen einen Monat später durchliest, kannst du deinen Übungsfortschritt besser beurteilen.

Ich werde in diesem Buch den theoretischen Zusammenhang erklären, der zum besseren Verständnis einer bestimmten Übung verhilft, damit du weißt oder zumindest ahnen kannst, wozu sie dient. Es ist unvermeidlich, dass du zu Beginn „glauben“ musst, dass die Übung etwas bewirkt, du kennst sie ja vermutlich nicht. Doch da die Theorie dahinter erklärt wird, hast du immerhin einen Anhaltspunkt. Manchmal kann dir auch blitzartig ein Verstehen in den Sinn kommen, das dir eine Bestätigung gibt, dass der theoretische Hintergrund ein gewisses Fundament hat.

Wenn du dich auf das „Bewusstseinsfeld“ einer bestimmten Linie einstimmst, befindest du dich in Resonanz mit der entsprechenden Energieschwingung der Menschen, die dieses Bewusstseinsfeld mit ihren Übungen verstärkt haben. Dadurch bekommst du auch eine Hilfe oder Verstärkung für deine Übungen. Wenn du schon Erfahrungen mit spirituellen Übungen einer anderen Richtung hast, wirst du vielleicht die besondere Schwingung bemerken, mit der du in Berührung kommst. Die bereits angesammelte Energie ist eine außerordentliche Hilfe, damit die Übung stärker wirken kann.

Es ist außerdem hilfreich, egal ob du bereits Übungserfahrung oder nicht hast, deine eigene äußere Form zu gestalten. Auf dem Übungsweg, den ich in diesem Buch vorschlage, ist es nicht erforderlich, Räucherstäbchen anzuzünden oder ein bestimmtes traditionelles Ambiente oder rituelles Setting zu schaffen. Aber es kann je nach Veranlagung und Vorbildung eine Bereicherung und einen verstärkenden Impuls geben, wenn du dir einen bestimmten Platz in deinem Übungszimmer gestaltest, wo du Bilder oder Figuren hinstellst, die für dich wichtig sind. Eine Räucherung mit Salbei oder anderen Räucherstoffen ist nützlich, um ungewünschte störende Energien fernzuhalten. Bestimmte Rauchkräuter oder Harze können auch „hilfreiche“ Kräfte wecken. Gut ist es auf jeden Fall, deinen äußeren „Raum“ so vorzubereiten, dass du dich innerlich ungestört auf die Übung einzustimmen kannst.

Vor allem solltest du jede der vorgeschlagenen Übungen mit bewusster Absicht durchführen.3 Tatsächlich ist jede Übung an sich bereits ein Ritual. Ritual bedeutet Reihenfolge, d. h. es folgt einer bestimmten Ordnung, die wiederum die kosmische Ordnung widerspiegelt. Es bildet eine Brücke zur Wirklichkeit, zur Welt des Bewusstseins. Es ist auch ein Ritual in dem Sinne, dass du es regelmäßig auf dieselbe Weise durchführst und dich in Verbindung mit dem Schwingungsfeld der Bewusstseinsqualität bringst, aus dem diese Übungen stammen. So entsteht eine Resonanz, die dir auch eine gewisse Sicherheit gibt.

Wenn du dich auf den Übungsweg dieses Buches einstimmen möchtest, schlage ich dir vor, dass du dich zur Übung hinsetzt, die du dann durchführen willst, und dir bewusst machst oder aussprichst: „Ich stimme mich nun ein in das Bewusstseinsfeld des Werks. Ich führe diese Übung durch, um an meiner inneren Transformation zu arbeiten und ich bitte alle mir wohl gesonnenen Kräfte mir bei dieser Arbeit zu helfen. Ich fordere auch alle Kräfte auf, die mich dabei behindern wollen, für die Zeit dieser Übung draußen zu bleiben.“ Wer bisher keinen Kontakt mit einer Gruppe der Überlieferungslinie des „Werks“ hatte, kann sich mit einer solchen oder ähnlichen Anrufung oder Affirmation willentlich auf die Schwingung des Werks einstimmen. Der Begriff „Werk“, vom Englischen „Work“, wie er in der Gurdjieff-Linie gebraucht wird, hat zwei Bedeutungen. Im Deutschen wird er manchmal einfach mit „Arbeit“ übersetzt, doch dieses Wort erfasst nicht die volle Bedeutung. Der Begriff ist ein Hinweis auf das alchemistische „Große Werk“ der Transformation von Materie in Geist. In diesem Sinne bedeutet er nicht nur „Arbeit“, es ist auch das Feld der Bewusstseinskraft, die dieses „Werk“ trägt. Mit gefällt „Werk“ auch deshalb, weil es im Deutschen mit wirken und Wirklichkeit zu tun hat. John G. Bennett sagt: „Das Werk ist nicht alles und es mag etwas jenseits davon geben. Worauf es ankommt ist, dass wir im Werk für uns etwas Wirkliches finden können. Was sich daraus eröffnet, hat keine Grenzen.“

Stehst du in einer anderen Überlieferungslinie, kannst du selbstverständlich eine andere Kraft oder ein anderes Schwingungsfeld bei deinen Übungen „anrufen“. Die hier im Buch vorgeschlagenen Übungen sind sehr neutral und lassen sich auch durchführen, wenn du dich im Feld einer anderen Lehre bewegst. Es macht meiner Meinung jedoch einen Unterschied, ob du dich mit den Übungen des Buches in Resonanz mit dem „Werk“ versetzt oder mit dem „Buddhismus“ zum Beispiel, denn jede Linie hat meiner Erfahrung nach eine andere „Frequenz“. Du musst einfach ausprobieren, was für dich stimmt.

Damit die Übung wirken kann, ist die Resonanz mit dem Feld, mit dem die Übung verbindet, zusammen mit der Absicht des Übenden eine wichtige Voraussetzung. Die Verpflichtung, an dir selbst zu arbeiten, gehst du nur mit der selbst ein. Es ist jedoch hilfreich, dich in ein derartiges Schwingungsfeld einzustimmen, weil du so eine zusätzliche Energie bekommen kannst. Denn viele Menschen haben über längere Zeit derartige Übungen durchgeführt, so dass ihre Arbeit eine Kraft im Bewusstseinsfeld der Arbeitslinie hinterlassen hat, an die du anknüpfen kannst.

Mit dieser Einstimmung können innere Übungen wirkliche Bedeutung für dich erlangen und dich bei der eigenen Entwicklung unterstützen. Du solltest deine selbstgesetzte Absicht ernst nehmen: Damit die Übung ihre Qualität entfalten kann, musst du dich bewusst zu dieser Übung entscheiden. Wenn du die Erfahrung in dir verarbeitest und dir bewusst zu eigen machst, dann bringst du etwas Neues hervor. Dieser Vorgang ist vergleichbar mit Nahrungsumwandlung. Genauso wie Lebensmittel vom Organismus zur Erhaltung des Körpers umgewandelt und in die Zellen übernommen werden, wird durch deine Absicht die Erfahrung in die Entwicklung des inneren Seins umgewandelt.

Genau das haben Gurdjieff und Bennett auch mit den Methoden und Lehren gemacht, die sie auf ihrer Suche erfahren haben. Beide haben sie nicht einfach kopiert, sondern sie ergründet und durch eigene Erfahrung mit den Übungen in eine neue Form gegossen. Gurdjieff spezialisierte sich dabei mehr auf Bewegungsübungen statt auf Sitzübungen, während mein Mentor John G. Bennett beides für wichtig hielt. Darauf werde ich noch eingehen.

Ebenso wichtig war es Gurdjieff, eine neue spirituelle Vermittlungslinie zu erschaffen, die sich nicht direkt an eine der bekannten Traditionslinien anknüpft. Er suchte nach etwas, das eine universale Qualität hatte und in unserer Zeit und für die Zukunft wirken kann, ohne Assoziationen mit Jahrhunderten alten, zum Teil auch festgefahrenen Glaubensformen und Ritualen. So wie ich es durch John G. Bennett verstanden habe, geht es um intelligente und kreative inhaltliche Arbeit und nicht um das Erhalten alter Formen.

Nachdem Bennett in die Welt seiner weiteren Transformation übergegangen war, wurde es mir zu einem persönlichen Anliegen, diese neuen Formen in seinem Vorbild zu ergründen, aber auch andere Wege und Methoden kennen zu lernen. So konnte ich ihren Wert und ihre Wirkung herausfinden, auch manches integrieren, das in den Rahmen dieser Methode passt, um das Gelernte so lebendig zu vermitteln, dass es für mich nicht zu einem „Glauben“ wurde, sondern sich aus eigener, langer Erfahrung immer wieder neu gestaltet.

Es spielt keine Rolle, ob du schon Erfahrungen mit Übungen gesammelt hast. Jede Übung wirkt anders und immer wieder neu, und im Zusammenhang mit dem Übungsprogramm dieses Buches ist es notwendig, sich auf diesen Prozess ganz oder gar nicht einzulassen. Beim Monopoly heißt eine Karte „Zurück auf Los“. Dasselbe gilt für die innere Arbeit. In Gurdjieffs „Wissenschaft der Idiotie“ betont er ausdrücklich, dass es wichtig für die eigene Entwicklung ist, wieder zum „gewöhnlichen Idioten“ zu werden, d. h. den „Anfängergeist“ in sich zu wecken und noch einmal von vorne anzufangen, um eingefahrene Routinen und Verhaltensmuster aufzubrechen.4

Es ist nicht einfach, „zu lernen, wie man lernt“. Die Verantwortlichen für unser Schulsystem begreifen nun langsam, dass die Vermittlung von Lernstrategien statt bloßem Allgemeinwissen heute immer grundlegender wird. Jeder Mensch hat eine andere Strategie. Manche prägen sich Telefonnummer in Dreierreihen ein, andere in Zweierreihen, wiederum andere mit Bildern. Wichtig ist, dass die Übungen, die du durchführst, aus einem „lebendigen“ Feld stammen und durch deine Arbeit in dir selbst lebendig werden können.

Eine gute Voraussetzung für die Wirksamkeit von Übungen ist auch der Wunsch, etwas Neues zu lernen. Wenn ich eine Übung kennen lerne und denke, „das kenne ich schon“ oder „diese Übung habe ich schon mal gemacht“ oder „ich weiß doch, wie ich mich am besten entspanne“, dann verschließe ich die Tür für eine neue Erfahrung. Deshalb betonte Bennett immer wieder: „Versuche zu lernen, alles so zu sehen, als ob es völlig neu sei und als ob es keiner Verbindung mit etwas hat, von dem du zuvor gehört hast.“ Tatsächlich ist alles immer wieder neu und anders, wir nehmen es nur selten so wahr.

Sogar die Natur hat dafür gesorgt, dass wir die Dinge immer wieder mit frischem Blick anschauen. Jedes Mal, wenn sich unsere Lider automatisch über den Augen schließen, wischen wir das Bekannte weg, um wieder neu schauen und entdecken zu können. Doch wer macht das bewusst? Waches „Sehen“, „Hören“, „Schmecken“, „Spüren“ – das ganze Spektrum der menschlichen Sinne – ist das Tor zur Welt des Lebens. Darüber hinaus öffnet die Tür der Sinne auch die Welt jenseits der Sinne, welche die sichtbare und nicht-sichtbare, un-begreifliche Welt verbinden.

Viele, die sich mit Gurdjieffs Methoden beschäftigt haben, gehen von der Annahme aus, dass dieser Übungsweg die Menschen zum Aufwachen führt, zum wirklichen „Tun“. Doch es macht einen Unterschied, ob man eine „äußere“ Übung macht und daraus den Schluss ableitet, sie würde „automatisch“ zum Aufwachen führen, oder ob man lernt, die Übung von „innen“ heraus zu machen, das heißt absichtvoll, getragen von der Kraft des Bewusstsein. Der Kernsatz dafür ist: Um Bewussteinsenergie herzustellen, muss bereits etwas Bewusstseinsenergie vorhanden sein und wenn man sie „stehlen“ muss, wenn man sie selbst nicht hat. Diese Energie kann zum Beispiel die bewusste Absicht oder die gemeinsame Arbeit in einer Gruppe bereitstellen. Jeder hat schon einmal erlebt, dass zum Beispiel ein gemeinsames Training in einer Sportgruppe zu einer höheren Leistung anstachelt als das Alleintraining. Schon wenn ich mit einer Partnerin oder einem Partner übe, merke ich, dass die Übung stärker wirkt.

Übungen sind Türöffner – vielleicht führen sie auch dahin, dass wir feststellen, dass es keine Türen gibt! Wichtig ist, die Fähigkeit in sich selbst zu entwickeln, aus dem Erfahrenen und Erlebten etwas für sich zu schöpfen, es in eine eigene Seinsqualität umzuwandeln.

Übungen zur Selbstwahrnehmung und Entfaltung der „äußeren“ und „inneren“ Sinne sind „Kunstwerke“, das ist meine Überzeugung nach vielen Jahren der Erfahrung mit diesen Übungen. Es reicht nicht aus, sich allein oder mit einer Gruppe hinzusetzen und eine Übung zu machen, d. h. irgendeinem Ablauf zu folgen, die von dem Übungsleiter oder der Übungsleiterin vorgegeben wird. Um wirklich eine echte Erfahrung zu machen, ist es wichtig, das Wesen der Übung erfahren. In den meisten Fällen hat es natürlich auch mit „Energien“ zu tun oder anders ausgedrückt mit Schwingungsmustern, Empfindungen, Gefühlen, Wahrnehmungen, die aktiviert bzw. die dem Übenden bewusst werden.

Ich glaube nicht, dass die meisten Menschen, die auf einem spirituellen Weg sind und dementsprechende Übungen praktizieren, je über die Struktur und die „Substanz“ oder „Energie“ der Erfahrung nachgedacht haben. Doch dies ist ein wesentlicher Bestandteil jeder Übung. Ich kann die Erfahrung erst dann wirklich verarbeiten, wenn ich sie auch reflektiere, wenn ich versuche zu erkennen, was mit mir während der Übung geschehen ist.

Es liegt in der Natur der Dinge, dass sie sich irgendwann „totlaufen“ – Entropie nennt das die Physik. Deshalb ist es ratsam, von Zeit zu Zeit eine neue Übung zu beginnen, um wieder eine neue Erfahrungsmöglichkeit zu gewinnen. Es gibt aber auch „Grundübungen“, die längere Zeit ohne Entropie durchgeführt werden können, genauso wie wir tägliche Nahrung benötigen. Es gibt auch Übungen, die sehr intensiv und nachhaltig wirken, auch wenn man es nicht sofort wahrnimmt. Diese sollten nur eine vorgegebene Zeit lang - ein oder zwei Wochen - durchgeführt werden und können später gelegentlich wieder durchgeführt werden. Ich habe schon Menschen erlebt, die bestimmte Intensivübungen lange Zeit und auch sehr lang, z. B. zwei Stunden am Tag, gemacht haben und irgendwann völlig durcheinander waren, d. h. der ganze Organismus und das Gehirn waren aus dem Gleichgewicht. Also: nicht übertreiben!

Das „Experiment mit uns selbst“, das wir durchführen, ist ein Experiment, das jedoch auf langjährigen Erfahrungen und auf den Erkenntnissen vieler Menschen basiert; die Versuchsanordnung sind wir selbst. Ohne das methodische Wissen, das diesem Experiment zugrunde liegt und über viele Jahrzehnte weitergegeben wurde, könnten wir allerdings den Versuch überhaupt nicht durchführen: wir wüssten nicht in welcher Richtung wir forschen und experimentieren sollten.

Selbstverständlich haben die „weisen Alten“ ebenfalls experimentiert, um die Dinge herauszufinden, die dann überliefert wurden. Sie haben offenbar sehr gründlich geforscht. Wenn man allerdings die Vermittlung der Lehre unterschiedlichster spiritueller Traditionen anschaut, bekommt man den Eindruck, diese jeweilige Traditionslinie existiert nur aufgrund der Weitergabe von festgelegten Übungen und Ritualen, die sich seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten immer gleich bleibend fortgesetzt haben. Visionen, Erkenntnisse, Einsichten usw. kann man weitergeben, und viele Erkenntnisfortschritte in allen Wissensbereichen basieren ja auch auf den genialen Einsichten früherer Forscher. Doch auch spirituelle Erkenntnisse – und die Menschen jeder Zeitalter - entwickeln sich, so dass wir immer wieder neu überprüfen müssen, welche Art von Übung für welche Menschen angemessen sind und was sie bewirken können.

"Erfahrung selbst ist nichts, doch die Erfahrung gibt Ihnen die Möglichkeit 'zu sehen'. Wenn Sie sehen, dann brauchen Sie niemanden, der Ihnen etwas sagt. Es ist nicht immer nötig, äußere Erfahrungen zu haben, manchmal ist es möglich, einfach das zu sehen, was in Ihrem Bewusstsein geschieht."5

Um in der Lage zu sein, „zu tun“, d. h. willentlich und bewusst zu handeln, ist es notwendig, den ganzen Körper mit seinen Funktionszentren dahin zu bringen, dass er unserem Willen gehorcht. Der Wille ist unser „wirkliches Ich“, das Zentrum der Handlungsfähigkeit. Der Wille ist jedoch keine Eigenschaft des Gehirns oder des Körpers. Diese sind nur Werkzeuge des Willens. „In der Welt der Körper existieren nur Körper und Gesetze, die Körper betreffen“, schreibt John G. Bennett. „Es gibt dort kein Bewusstsein. Dies ist sowohl die sichtbare Welt, wie unsere Sinne sie wahrnehmen, als auch die Welt des gewöhnlichen Denkens, die nicht mehr als eine Widerspiegelung der Körperwelt ist. Es ist eine schrecklich eingeschränkte Existenzweise.“6 Die verschiedenen Gehirne handeln nicht von alleine, außer auf der Grundebene, die man als automatische Vorgänge bezeichnen kann. Um etwas absichtsvoll tun zu können, muss die Kraft der Aufmerksamkeit geweckt werden. Der erste Schritt, um die Aufmerksamkeit zu stärken und immer mehr ins Leben zu bringen, ist das Bemerken, über das ich im nächsten Kapitel sprechen werde.

3 Ausführlicher zur Absicht und zur Entscheidung in späteren Kapiteln.

4 Siehe dazu mein Buch „Der verwirklichte Idiot“, 2008.

5 John G. Bennett in: The Way to be Free, New York 1980, S. 97

6 John G. Bennett, Die inneren Welten des Menschen, Südergellersen 1984, S. 305. Neuausgabe Zürich 2009, S. 259. In den nachfolgenden Fußnoten kürze ich den Titel ab in IWM und verweise bei den Seitenzahlen auf a = alte Ausgabe und n = neue Ausgabe.

2. Die Energie der Erfahrung

"Beinahe alles kann uns geschenkt werden, aber nicht die Freiheit."

John G. Bennett

Freiheit macht Arbeit, das zeigt die Geschichte der Menschheit. Sie muss immer wieder von neuem erkämpft werden. So ist es auch mit innerer Freiheit. „Innere Freiheit“ bedeutet nicht nur die „Fähigkeit zu tun“, sie ist nur möglich, wenn wir auch bewusst sind – wenn wir in die Wirklichkeit aufgewacht sind. Doch was ist „Wirklichkeit“? Ist nicht die Welt, wie wir sie wahrnehmen, die Wirklichkeit? Tatsächlich ist sie ein Bereich, eine Schicht oder Ebene der ganzen Wirklichkeit, doch unter einem spirituellen Gesichtspunkt ist diese „gewöhnliche“ Welt unwirklich oder maya, Illusion, wie es indische Weise oder Philosophen bezeichnen. Das deutsche Wort enthält das schöne Bild vom Wirken, ein Gewebe wirken oder Fäden knüpfen, um so einen kunstvollen Teppich oder ein gewebtes, farbiges Tuch hervorzubringen. Das ist eine Menge Arbeit – und genau diese Arbeit, d. h. die eigenen inneren Fäden zu einem schönen Gewebe zu verknüpfen, führt zur Selbst-Ver-wirk-lichung.

Innere Freiheit wird dann erreicht, wenn wir die Illusionen der gewöhnlichen Erfahrungswelt erkennen und ihre Unwirklichkeit, die Selbst-Täuschungen und Anhaftungen durchblicken. Ein Mensch, der mit seiner äußeren Persönlichkeit, seiner Person oder „Maske“, identifiziert ist, ist völlig unfrei. Er ist unbewusst abhängig von allen möglichen Einflüssen, von Meinungen, die von anderen übernommen wurden, von materiellen Dingen usw. Nur mit erwachtem Bewusstsein und einem „wirklichen Ich“ sind wir in der Lage, selbstbestimmt im wahrsten Sinne des Wortes zu denken und zu handeln.

Unbewusste Erfahrung – also das, was ständig unbemerkt mit mir geschieht – trägt wenig zum inneren Wachstum bei. Damit meine ich auch den „Alltagstrott“, die vielen automatischen Abläufe und Verhaltensweisen, alle alltäglichen Aktivitäten wie Autofahren, einer Arbeit nachgehen usw. Die meiste Zeit geschehen diese Aktivitäten automatisch, ohne wirkliche bewusste Teilnahme. Dieser Punkt ist nicht leicht zu verstehen, weil wir so befangen in diesen Handlungen sind, dass wir nicht bemerken, dass sie mehr oder weniger Routine sind und wir eigentlich gar nicht innerlich daran beteiligt sind. Selbstverständlich sind diese Routinen für das Funktionieren unserer Gesellschaft wichtig und notwendig – ich bin froh, wenn ich mich auf die Fahrpläne von Bus, Bahn und Flugzeug verlassen kann!

Doch nur die Qualität bewusster Erfahrung kann ich in „mich“, in mein Wesen aufnehmen. Wenn Erfahrung mit mir „geschieht“, wenn ich mit offenen Augen „schlafe“, wie Gurdjieff diesen Zustand bezeichnet, dann nützt mir die Erfahrung, mag sie noch so interessant sein, nichts für mein inneres Wachstum.

Doch was ist Erfahrung überhaupt? Jeder Mensch macht eine „Menge Erfahrungen“. Alles, was wir erleben, ist eine Erfahrung. Wir nehmen ständig Sinneseindrücke auf, die vom Körper und den Neuronenaktivitäten im Gehirn in uns verarbeitet wird. Wir speichern auch eine ganze Menge davon ab und erinnern uns bei Gelegenheit oder durch bestimmte Impulse wie Gerüche oder Gefühle an diese Erfahrungen. Die meisten Eindrücke, die wir aufnehmen, werden jedoch unbewusst verarbeitet, das sagt auch die Gehirnforschung. Wie „wirklich“ kann dann diese „Wirklichkeit“ überhaupt sein?

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