Bruno Martin

Spielfeld Leben

Strategien und Modelle zur kreativen Lebensgestaltung

Die Denkmethode System-Mapping

Books on Demand

Das Schicksal biegt sich gehorsam wie ein gespannter Bogen in der Hand, wenn du den Pfeil der richtigen Gedanken durch ihn schießt.
Yesudian

 

Tanze, Tanze
So wie du wirklich willst
Du wirst sehen, du kannst es!

Edward Matchett

Inhalt

Ein neues Werkzeug der Erkenntnis

1.  Leben - eine Vielfalt von Möglichkeiten

Leben beginnt mit Lernen - und das lebenslang.

Die eigene Vision verwirklichen

1.1  Vom Wunder der Zahlen

1.2  Spiele und Systeme

1.3  Fußballspiele und Aufstellungen

2.  Verwobene Lebenswelten

2.1  Dreiecke können Vierecke nicht verstehen

Impulse der Triade

Leben im Raumland

2.2  Köche und Rezepte

Leistung ist nicht alles

Wie kann ich meine beruflichen Ziele verwirklichen

Wie kann ich mich motivieren?

2.3  Der passende Mantel

Systemisches Feng Shui

Sind Erfahrungen wertvoll?

Mapping für ein persönliches Change-Management

2.4  Spiel der Farben

Ziele deutlich machen

Leere und Kreativität

Hier und Jetzt

Intelligenz und Entscheidung

3.  Es werde Licht…

3.1  Was kann ich besonders gut?

Eine funktionale Typologie

Wesenhafte Veranlagungen

System-Mapping zur Selbsteinschätzung

4.  Sein und Werden

4.1  Quanten und Möglichkeitsfelder

Anhang

A. Arbeitsschritte zum System-Mapping

B. Der kreative Dialog

C. Das Gourmet-Restaurant

Nachgedanken

Bibliografie

Ein neues Werkzeug der Erkenntnis

„Probleme kann man niemals mit der gleichen Denkweise lösen durch die sie entstanden sind“, sagte Albert Einstein einmal. Eine solche neue Denkweise entwickelte der britische Mathematiker und Philosoph John G. Bennett (1897-1974) mit seinem Denkmodell Systematics in den 1960er Jahren - lange bevor „systemisches Denken“ populär wurde. Es ist ein nützliches Werkzeug, um vielfältige Vernetzungen visualisieren zu können, so dass man immer ein größeres Ganzes im Blick hat und sich nicht in Einzelheiten verliert. Fakten allein helfen nur bedingt. Um eine Lebenssituation oder eine Struktur zu sehen, müssen wir die inneren Zusammenhänge verstehen.

Es ist daher nicht erstaunlich, dass moderne Fußballtrainer gewissermaßen mit dieser Methode arbeiten, ohne den gedanklichen Hintergrund des Erfinders zu kennen. Die Strategie der Aufstellung einer Fußballmannschaft ist in den letzten Jahren ganz wichtig geworden und beruht auf der Idee, dass zehn Feldspieler eine bestimmte Grundstruktur bilden müssen, also Verteidigung, Mittelfeld, Sturm sollten so ineinander greifen, dass die eigene Mannschaft geschickt vorrücken kann und umgekehrt die gegnerische Mannschaft keine Chance hat, Räume für einen guten Angriff zu nutzen. Die Trainer betonen immer mehr, dass ein Spieler “das Spiel lesen können” sollte. Ich gehe in Kapitel 1.3 noch einmal auf dieses Thema ein. Mir hat dieses „Spiel“ mit den Aufstellungen jedenfalls geholfen, die Grundidee von Bennett besser zu verstehen.

Die ursprüngliche Philosophie dahinter ist relativ komplex, daher habe ich in diesem Buch versucht, die Grundideen möglichst einfach darzustellen, so wie ich sie selbst verstanden habe. Die Beispiele und System-Modelle im vorliegenden Buch beruhen auf eigener Erfahrung und Erkenntnis. System-Mapping - so wie ich es bezeichne - entwirft “Landkarten” für vernetzte Lebensbedingungen.

System-Mapping nutzt die Erkenntnisse der Systemtheorie über komplexe Systeme in der Natur: Diese können nicht nur eine spontane Ordnung herstellen und gewisse Störungen selbst beheben, sie können sich auch jederzeit weiterentwickeln, um neuen Bedingungen gewachsen sein. Die Natur folgt immer dem Prinzip der kleinsten Wirkung. Neue Lösungswege können sich entwickeln, wenn das Prinzip der kleinsten Wirkung der Natur verstanden wird. Dieses Prinzip zeigt sich in ihren Bausteinen, die durch wenige Formen und Eigenschaften immer wieder auf neue Weise kombiniert werden können und damit eine unendliche Vielfalt hervorbringen.1

System-Mapping wendet dieses natürliche Prinzip für eine kreative Erkenntnismethode an, mit der die intelligente Selbstorganisation von Gedanken und Handlungen in vielen Situationen oder Lebensumständen gefördert werden kann. Mit wenigen Bausteinen werden ungewöhnliche neue Erkenntnisse entsprechend der Fragestellung mit möglichst geringem Aufwand hervorgebracht.

Die Muster, die so entstehen, zeigen sinnvolle Zusammenhänge auf, wenn sie ein “System” erkennen lassen. Diese Systeme tragen Informationen in sich, die durch das System-Mapping entschlüsselt werden können.

Wenn es um Entscheidungen, Wendepunkte und neue Richtungen in unserem Leben geht, stochern wir meist im Dunklen. Das Leben bietet vielfältige Möglichkeiten - aber an jeder Kreuzung können wir nur eine Richtung einschlagen. Manchmal können wir zurück fahren und eine andere Richtung nehmen. Oft ist im Leben eine Entscheidung jedoch schwer rückgängig zu machen. Ich werde oft gefragt, wie man “falsche” Entscheidungen erkennt und vermeidet. Intuitiv weiß man es oft - und handelt doch verkehrt.

Es kann daher sehr hilfreich sein, vor einem neuen Schritt verschiedene Entscheidungsmöglichkeiten zuerst im Geist anzuschauen und die verschiedenen Alternativen abzuwägen, um so schließlich ans Ziel zu gelangen.

System-Mapping kann Denken und Erkennen in allen Lebensbereichen zum “Fließen” zu bringen, um Situationen und Fragen flexibel und kreativ aus ungewohnten Blickrichtungen erfassen zu können. Ein anschauliches Beispiel für den Mangel an systemischem Denken ist, wenn Verantwortliche eine Umgehungsstraße bauen, um eine Kleinstadt vom Verkehr zu entlasten, sie aber gleichzeitig ein Einkaufszentrum im Kleinstadtkern ansiedeln. So wird zwar der reine Durchgangsverkehr um die Stadt herumgeführt, aber gleichzeitig neuer Verkehr in die Stadt geleitet… Auch in der Finanzkrise wird deutlich, dass Politiker überfordert sind, weil zu viele Einflussfaktoren berücksichtigt werden müssen. Systemische Denkmodelle könnten möglicherweise helfen, die Entscheidungen zu verbessern.

System-Mapping aktiviert nicht nur den Verstand, sondern auch die emotionale und intuitive Intelligenz. Es ist eine Denkmethode für Menschen, die ihr Leben bewusst gestalten möchten und sich nicht mit vorgefertigten Lösungsmodellen zufrieden geben. Erkenntnis, Reflexion und Erfahrung sind die Fäden dieses Buches, die im Feld eines vernetzten Denkens angeleitet durch anschauliche Beispiele zu eigenen, kreativen Lösungen von Herausforderungen in allen Lebensbereichen führen können.

Die drei miteinander vernetzten Hauptfäden des Buches verbinden sich zu vielseitigen Möglichkeiten:

1. Leicht nachvollziehbare Übungen bereiten die Voraussetzung zur kreativen Problemlösung vor:

Stärkung der eigenen Motivation, Einschätzung von Persönlichkeitsstrukturen und der besonderen Anlagen und Fähigkeiten, Erkennen der Besonderheiten des Aktionsfeldes der individuellen Lebensumstände.

2. Übungen zum Training der Selbsteinschätzung führen zu Erkenntnismöglichkeiten, aus denen heraus praktische Schritte entwickelt werden können, um ein Gleichgewicht von Leben und Arbeit zu erreichen. Unter dem Gesichtspunkt von lebenslangem Lernen und Weiterbildung entfalten sich aus dem erfahrenden Erkennen die Möglichkeiten eines kreativen und intelligenten Handelns.

3. Mit der Methode des System-Mappings bekommen Sie keine vorgefertigten Antworten, sondern können Schritt für Schritt begreifbar nachvollziehen, wie System-Mapping funktioniert und wie Sie damit neue Antworten auf viele Fragestellungen des Lebens finden können.

Lebensphasen und Lebensziele

1.  Leben - eine Vielfalt an Möglichkeiten

“Was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle.”

Johann Wolfgang von Goethe

Jeder Mensch hat eine Vision oder eine Vorstellung von Zielen, die er in seinem Leben verwirklichen möchte. Am Anfang des Erwachsenenlebens ist diese Vorstellung fast immer noch in Nebel gehüllt. Man fragt sich: “Was will ich vom Leben?” “Wie kann ich es erreichen?” “Gibt es einen Sinn - und wenn ja, wie kann ich diesen ergründen?”

Das Samenkorn der persönlichen Lebensvision schlummert in jedem Menschen und wartet darauf, sich im Bewusstsein so entfalten zu können, dass es im Leben Früchte tragen kann. Auch wenn es manchmal ein langer Weg ist, bis sich die Vision entfalten kann, dringt sie doch auch in der “Schlummerphase” immer wieder für kurze Momente an die Oberfläche des Wachbewusstseins. Das “Möglichkeitsfeld” des Lebens bringt jeden Menschen immer wieder in Berührung mit der “Sinnfrage”. Ob ein Impuls aus diesem Feld angenommen wird oder nicht, entscheiden wir selbst aufgrund unserer Lebensumstände. Menschen erhalten immer wieder neue Impulse oder sind in Kontakt mit Menschen, die ihnen eine wichtige Anregung geben. Manchmal verfolgen sie diesen Impuls weiter, geben aber nach einer Weile wieder auf oder vergessen ihn. Die Möglichkeiten sind vorhanden, ob sie ins eigene Leben gebracht oder sogar verwirklicht werden, ist unbestimmt.

Besonders in von seelischen Problemen und Krisen bestimmten Lebensphasen, wenn neue Entscheidungen getroffen werden müssen, tauchen die grundlegenden Sinnfragen wie aus einem Nebel auf. Manchmal kann man diese Fragen und die damit zusammenhängenden Entscheidungen eine Zeit lang in den Hintergrund drängen, aber es gibt Augenblicke, in denen die innere Lebensvision so stark hervordrängt, dass man nicht anders kann. Eine Veränderung steht an.

“Visionen lassen die Trennungslinie zwischen dem Bekannten und Unerkennbaren… verschwinden. Sie flechten diese gleichzeitigen Wirklichkeiten ineinander, machen das Unsichtbare sichtbar… “

Corolly Erickson

Jeder versucht auf seine Weise, Fragen oder Probleme zu lösen. Einige treffen eine Entscheidung intuitiv, andere greifen zu Lebenshilfe-Ratschlägen. Es ist aber auch möglich, gezielt an der Klärung der eigenen Gedanken zu arbeiten. Allein diese Anstrengung bringt weiter. Die eigenständige Ausarbeitung der erkannten Ziele hat den Vorteil, dass nicht einfach unreflektiert fremde Ratschläge benutzt werden, die vielleicht weder verstanden noch umgesetzt werden können. Zu einfachen Entscheidungen zu gelangen, ist manchmal einfach, manchmal aber müssen viele Aspekte abgewogen werden.

“Als ich einmal in der Wüste war, ” erzählte ein Abenteurer bei einem Tischgespräch, “habe ich einen ganzen Stamm schrecklicher und blutrünstiger Beduinen zum Rennen gebracht.” “Wie hast Du das geschafft”, fragte einer. “Ganz einfach! Ich bin weggerannt, und sie rannten hinter mir her.”

Das Verständnis kann sich mehr vertiefen, wenn Sie selbst aus eigenem Antrieb daran arbeiten, eine Antwort oder neue Erkenntnisse zu finden. Diese Einsicht kommt dann aus Ihnen selbst und wird Teil von Ihnen - und Sie können sie auch umsetzen. Wenn Sie die Methode des System-Mapping benutzen, erarbeiten Sie sich Ihre eigenen Einsichten. Die Methode, die ich Ihnen eingewoben in konkrete Praxisbeispiele darstelle, ist jedoch nur ein Werkzeug, sie gibt keine vorgefertigten Antworten.

Jedes Problem, jeder Konflikt, jede größere Entscheidung, jede Suche nach Erkenntnis lässt sich in einer grundlegenden Frage zusammenfassen.

Eine Frage zu formulieren ist der erste Lösungsschritt.

Dem Denkmodell, das ich im Folgenden entwickeln werde, liegt die Frage zugrunde: Wie entfaltet sich der menschliche Lebensweg? Gibt es eine grundsätzliche Struktur der Entfaltung des Lebens, die allen Menschen gemeinsam ist? Wie kann ich diese allgemeine Erkenntnis auf meine Lebensplanung übertragen?

Der zweite Schritt ist die Informationssammlung zu diesen Fragen.

Dabei schreibe ich die vielen einzelnen Gedanken und Ideen zur Fragestellung ohne irgendeine Wertung auf Haftnotizen. Das ist sehr praktisch, denn so kann ich später, wenn es konkreter werden soll, mit den Haftnotizen “spielen” und sie neu sortieren.2 Wenn Sie noch keine klare Frage haben, können Sie trotzdem beginnen, alles was Ihnen gerade assoziativ einfällt (irgendeine Vorstellung von dem, was Sie herausfinden möchten, haben Sie bestimmt) aufzuschreiben, denn meistens tritt die Frage dann hervor.

Meine Fragestellung hinsichtlich des menschlichen Lebensweges und seiner Phasen brachte folgende Gedanken hervor: Wir werden geboren, entwickeln unsere körperlichen und geistigen Fähigkeiten, lernen, werden erwachsen und von den Eltern unabhängig, machen Ausbildungen, ergreifen einen Beruf. Wir gehen Beziehungen ein, gründen vielleicht eine Familie, ziehen Kinder groß. Es kann auch sein, dass wir andere Wege einschlagen. Unser Leben wird immer vielseitiger, wir werden älter und reifer und suchen vielleicht nach Ende eines aktiven Berufslebens neue Ziele oder entfalten neue Aktivitäten. Aber zum Leben gehört auch die Überlegung, was wir vom Leben wollen, wohin es führt, warum wir überhaupt leben. Es tauchen möglicherweise die Fragen nach Seele, Gott, dem eigenen Sterben, einem Leben nach dem Tod auf.

Das “Lebensfeld” ist trotz seiner Ganzheit tatsächlich eine Vielheit. Wir nehmen nur das Gesamtbild wahr, nicht aber die vielen Einzelheiten, die in der Ganzheit versammelt sind. Wir sehen sie nicht, wenn wir sie nicht fokussieren. Wir sehen nur den „Griesbrei“, der aber weder einfach zu kochen ist, noch ohne Zimt und Zucker (oder sonst eine Zutat) genießbar sein wird.

Wenn wir anfangen, die vielen Aspekte einer Ganzheit zu erkennen, müssen wir feststellen, dass alles zusammen beinahe unerschöpflich ist, es kommt immer mehr hinzu. Wenn Sie einmal anfangen, über eine einfache Sache nachzudenken, umso mehr Gedanken werden Ihnen dazu einfallen. Sie sollten diese Übung keinesfalls unterschätzen, denn sie liefert wertvolles Material für das weitere Vorgehen!

Monade

Im System der Monade existieren viele Elemente ohne Unterscheidung. Die Einheit hat jedoch keine Struktur. Eine Monade wird durch ihre Ganzheit ausgedrückt. Beim systemischen Denken mit Zahlenqualitäten ist jedes System zugleich eine Monade, eine Einheit, die alle Bedeutungen in sich enthält.

Systemeigenschaft: Vielheit in der Einheit

Mit der Fragestellung nach der Gesamtheit der eigenen Lebenswelt bin ich beim System der Monade, der Einheit, Einfachheit, Ganzheit angekommen. Wie wird eine Zahl zum System? Das Systemische an der Monade ist, dass sie aus vielen Einzelteilen besteht, die alle aufeinander bezogen sind und in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen. Nicht jeder Teilaspekt gehört zu einer Monade.

Der dritte Schritt ist nun, diese Faktoren in sinnvolle Gruppen einzuteilen.

Das ist wichtig, weil Ihnen sonst die Bäume den Blick auf den Wald versperren.

Leben beginnt mit Lernen - und das lebenslang

Eine Motte flatterte vor einem Fenster auf und ab, weil sie im Raum dahinter Licht gesehen hatte. Da sagte eine Spinne zu ihr: Wann lernt ihr Motten endlich, dass Flammen heiß und zerstörerisch sind? Das Glas schützt Dich doch. Die Motte lachte über die Spinne: Ich bin ja nicht dumm, ich weiß, dass das Licht im Zimmer ‘kaltes Licht’ ist und mich nicht verbrennt. Irgendwie fand sie eine Ritze und flog zum Licht. Was sie noch nicht gewusst hatte war, dass man Insektengift auf die Lampe gesprüht hatte…

Der Erwerb von Fähigkeiten ist der erste Entfaltungsschritt im Leben. Egal wohin das Leben führt, immer werde ich versuchen - bewusst oder unbewusst - die ganz eigenen Lebensziele zu verwirklichen. Lernen beginnt schon vor der Geburt. Danach intensiviert es sich extrem. Die aktuelle Gehirnforschung macht immer deutlicher, dass die meisten Nervenbahnen und neuronalen Netze durch intensives Training im Kleinkindalter angelegt werden. Manche Fähigkeiten lassen sich nach der Pubertät nur mit größerer Anstrengung trainieren. Schulisches Lernen und Berufsausbildung begründen wesentliche weitere Qualifikationen. Darüber hinaus sind Arbeit und Beruf in unserer Gesellschaft vorrangige Aspekte des Lebenswegs eines Menschen, da der Beruf einen großen Teil des Lebens bestimmt.

Der Gewinn an Lebenserfahrung und ihre Vertiefung bis hin zur Entfaltung aller menschlichen Potenziale ist ein weitaus schwierigeres Unterfangen. Außerdem unterliegt jedes Leben vielfältigen Unwägbarkeiten und die Verwirklichung dieses Prozesses birgt Risiken, die selten rechtzeitig erkannt und ausgeschaltet werden. Ein guter Grund, das Leben als vernetzten Prozess darstellen, der durch sich gegenseitig beeinflussende Variablen immer wieder angepasst werden muss.

Man kann von drei grundlegenden Lebensphasen ausgehen:

0-3: der Erwerb von Fähigkeiten,

4-6: die Vertiefung der Erfahrungen und

7-9: die Verwirklichung des Lebensziels.

Alle drei Phasen greifen ineinander und verstärken sich so. Sie enthalten aber zugleich auch konkrete Schritte in einer Zeitabfolge.

Der Lebensphilosoph G. I. Gurdjieff (1866-1949) sagte einmal: “Etwas zu wissen, bedeutet alles zu wissen. Nicht alles zu wissen, ist gleichbedeutend mit Nichtwissen. Um alles zu wissen, ist es notwendig, ein klein wenig zu wissen, aber um dieses Wenige tatsächlich zu wissen, muss man zuerst eine ganze Menge wissen.” Das systemische Modell des Enneagramms, das durch Gurdjieff bekannt wurde, ermöglicht die Erfahrung dieses Wenigen. Um dieses jedoch zu verstehen, müssen wir viel Erfahrung gewonnen haben. Dann kann die Arbeit mit diesem Modell eine unendliche Quelle des Verstehens und der Inspiration sein. Das Enneagramm lässt an der Vielheit in der Einheit teilnehmen und den ganzen Prozess überblicken.

Wir bekommen eine Ahnung von dieser Quelle, wenn wir dieses System auf das Leben beziehen, nicht auf irgendeinen abstrakten Prozess. Das Leben hat außerdem eine ihm eigene Dynamik. Wenn wir die vernetzte Komplexität unseres Lebensprozesses verstehen lernen, wird es möglich, äußere Einflüsse zu erkennen und das eigene Leben in die Richtung zu bringen, die wir ihm selbst gehen möchten - allen gelegentlichen Abweichungen zum Trotz, die man als “Gesetz des Fallens” bezeichnen kann.3

Unsere gewöhnliche Erfahrung ist, dass jeder Ablauf eine zeitliche oder lineare Folge hat. Etwas wird begonnen, wird in einer bestimmten Reihenfolge abgearbeitet und am Ende ist das Ziel erreicht, das wir uns gesetzt haben. Es gibt eine Vorbereitungsphase, die auf eine Initiative zurückgeht, eine Umsetzungsphase und eine Phase der Verwirklichung. In einer vernetzten Welt ist jedoch niemals garantiert, dass ein Prozess ohne weitere Einflüsse von außen sein Ziel erreicht.

Wenn der Prozess unterwegs einen positiven oder negativen Input erfährt, kann er sich so verändern, dass ein neues Ziel erreicht wird:

Wenn man diese Tatsache sieht und berücksichtigt, kann eine Korrektur vorgenommen werden.

Fragen Sie sich einmal: Wann, wie oft und warum haben Sie in Ihrem Leben schon eine Korrektur vorgenommen? Sammeln Sie alles, an das Sie sich erinnern können.

Sie werden erstaunliche Brüche feststellen, ohne dass Sie das Gefühl haben, vom Weg abgewichen zu sein!

Das “Enneagramm”, das ich im Zusammenhang des System-Mappings als “Enneade” bezeichne, ist ein außerordentliches System, denn es lässt uns die harmonische Verwirklichung eines Prozesses verstehen.4 Auch wenn einzelne Phasen und Aspekte in diesem Modell aufgegliedert sind, bleibt die Ganzheit, die Monade bestehen. Das Leben ist eine Einheit, aber innerhalb dieser Einheit wird eine Differenzierung vorgenommen. Wir betrachten die Teile und Phasen aus dem Blickwinkel des Ganzen.

Die Enneade ist ein “nicht-lineares” Modell, da es räumliche mit zeitlichen und willentlichen Elementen verbindet. Ich kann in einem Prozess nur eine Korrektur vornehmen, wenn ich willentlich oder absichtlich eingreife. Und ich kann nur eingreifen, wenn ich die unsichtbaren “inneren” Abläufe des Prozesses erkenne und die sichtbaren “äußeren” Einflüsse verstehe.

Die Enneade setzt sich aus drei Systemen zusammen.

1. Prozesse sind zyklisch und laufen in Phasen ab - Kreis. Wer nicht in den “gewöhnlichen” Lebensfeldern verankert bleibt, sondern eine geistige Entwicklung anstrebt, kann diese Phasen auch als eine Stufenfolge erkennen.

2. Prozesse haben eine innere Verbindung und können absichtsvoll gesteuert werden - Dreieck.

3. Prozesse sind vernetzt. Durch die periodische Schleife - symbolisiert durch ein dynamisches Sechseck - können Abläufe aufeinander abgestimmt werden. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft können als Einheit gesehen werden.

Die Enneade ist ein Werkzeug, das helfen kann, von einer linearen Sichtweise zu einer dynamischen, ganzheitlichen Wahrnehmung zu gelangen, eine Ganzheit, die sich durch drei verschränkte eigenständige Prozesse darstellt. Die erste Dreiheit, mit der wir es zu tun bekommen, ist die Definition des Zwecks eines Prozesses, den wir verstehen möchten.

Was sind die wesentlichen Aspekte der Fragestellung? In meinem Modellbeispiel ist das der lebenslange Prozess der menschlichen Entfaltung. Die Seiten des inneren Dreiecks entsprechen in meinem Anwendungsbeispiel den drei Lebensphasen zwischen den Punkten 3, 6, 9. Das ist der äußere, sichtbare Ablauf. Dieser Ablauf eines Lebens hat Kreuzungspunkte mit dem Leben anderer Menschen und der Gesellschaft im Allgemeinen. Auf diese Eckpunkte des inneren Dreiecks wirken Impulse von außen, auf die ich selbst keinen Einfluss habe - nur indirekt, indem ich diese Impulse berücksichtige.

Wichtig ist auch zu verstehen, dass die Impulse über einen Punkt der Triade die anderen Eckpunkte mit beeinflussen - jedoch nicht linear, also von Punkt 3 zu 6 zu 9, sondern auch von 6 zu 9/0 zu 3 usw. Die Triade stellt innerhalb der Enneade eine virtuelle Dynamik dar, die sich immer wieder neu aktualisiert und durch äußere oder innere Anstöße beeinflusst wird.

Die eigene Vision verwirklichen

“Die verborgenen, unsichtbaren Muster in die sichtbare Welt zu bringen, ist ein Teil der Arbeit an der Entfaltung der Fähigkeit, bewusste Menschen zu werden, die absichtsvoll handeln können.”

John G. Bennett

Selbstverständlich gibt es unterschiedliche Meinungen zum “Sinn des Lebens”. Eines ist aber in beinahe jeder Lebensphilosophie unbestritten, dass der Mensch außer seinem körperlichen Wachstum auch ein seelisches und geistiges “Wachstum” durchläuft. Alle drei Prozesse sind eng miteinander verwoben.

“Wachstum” ist in allen Fällen eine Transformation, eine Umwandlung von Materie in Energie und Bewusstsein. Der Erwerb von Fähigkeiten hat eine andere innere Qualität als die Verwirklichung der Dinge, die durch unsere Fähigkeiten möglich werden, zum Beispiel die Herstellung eines Möbelstücks oder das Schreiben eines Buches. Die erworbenen Fähigkeiten werden zusammen mit der Erfahrung eines Menschen in eine konkrete Verwirklichung gebracht. Umgekehrt kann die praktische Umsetzung von Fähigkeiten weitere “innere” Qualitäten entfalten. Alle diese Prozesse stoßen sich gegenseitig an.

Das menschliche Leben verläuft nicht einfach “geradlinig” von der Geburt (Vergangenheit) über das Leben (Gegenwart) bis zum Tod (Zukunft). Vielmehr ist dieser Prozess als eine Art Kreislauf oder Zyklus zu sehen, der verschiedene Phasen enthält, die wiederum einen eigenen enneadischen Zyklus durchgehen.

Die erste Lebensphase besteht darin, die Fähigkeiten zu erwerben, die für das Erwachsenenleben in einer Gesellschaft notwendig sind (Phasen 0-3). Dazu gehört vor allem das Lernen aller Lebensfähigkeiten wie Sprache, Verhalten, Wissen. All das beginnt im Kindesalter, setzt sich fort als Jugendlicher und junger Mensch, bis der erste Schritt ins eigene Leben verbunden mit einem Beruf oder einer Anstellung zum Lebensunterhalt getan ist. Selbstverständlich hört das Lernen nie auf, diese Phase läuft während des ganzen Zyklus bis Punkt 9 (und darüber hinaus) immer mit. Hinsichtlich der klassischen dreiheitlichen Einheit “Körper, Seele, Geist” entspricht dieser Bereich dem Körperlichen, Funktionalen. Wie wir lernen, hängt von vielen möglichen inneren und äußeren Faktoren ab.5

Die zweite Lebensphase besteht in der Sammlung und bewussten Vertiefung von Erfahrungen (Phasen 4-6). Dieser Prozess beinhaltet nicht nur Berufserfahrung, Beziehungen, Familie usw. sondern auch die Suche nach der Sinnfrage - bei manchen Menschen mehr, bei anderen weniger, aber irgendwann wird dieser Frage in der zweiten Lebensphase einmal nachgegangen. Wie bei der vorherigen Phase gilt auch hier, dass Erfahrungen von Beginn des Lebens bis zum Lebensende gemacht werden. Dennoch kann man sagen, dass der bewusstere Erfahrungsprozess, den wir selbst steuern, zu einem späteren Zeitpunkt einsetzt. Ich werde darauf zurückkommen.

Die dritte Lebensphase beginnt mit dem Erwachen in einer Situation, die entscheidend für den Rest des Lebens wird (Phasen 7-9). Wenn Menschen die Frage nach dem Lebenssinn weiterverfolgt haben, wird ihnen klar, dass das Leben endlich ist und sie sich nun noch intensiver um ihre innere Entwicklung bemühen und der Verwirklichung ihres eigenen seelischen Musters widmen müssen. Andere Menschen ohne diese Ausrichtung erreichen in dieser Phase möglicherweise die höchste Karrierestufe, die sie mit Ehrgeiz und Kompetenz in einem Betrieb, Unternehmen oder der Politik zur vollen Verwirklichung bringen können. Auch wenn Menschen sich hauptsächlich auf “weltliche” Verwirklichungen konzentrieren, kann es durchaus sein, dass sie dies auf eine Art und Weise machen, die ihre innerseelische Entfaltung fördert, ohne dass sie sich dessen direkt bewusst sind. Mit oder ohne Karrieresprung, mit tieferer geistiger Verwirklichung oder ohne diese führt diese Phase ins Alter und schließlich (Punkt 9) in eine weitere Transformationsphase, von der wir nichts wissen.

Die Eckpunkte der inneren Triade, die Punkte 3, 6 und 9 markieren entscheidende Wandlungen im Leben. An Punkt 3 ist der Mensch verstärkt äußeren Einflüssen ausgesetzt mit all den Risiken, die für seine Entwicklung von Entscheidung sind. An Punkt 6 sind innere, bewusste Einflüsse von Bedeutung, während an Punkt 9 die “geistige Welt” den weiteren Verlauf bestimmt:

Betrachten wir die drei Einflussfaktoren und die drei Lebensphasen einmal zusammen:

Die erste Phase des Lebenszyklus geht im zeitlichen Kreisablauf nach dem Uhrzeigersinn6 von Punkt 0 (Empfängnis bis Geburt) in der Enneade über Punkt 1 (Geburt) und Punkt 2 (Lernen und Reifen) zu Punkt 3, der ersten Wandlung im Leben, dem eigenständigen Erwachsenensein; das heißt, in der ersten Phase bestimmt die funktionale Entwicklung - körperliches, sinnliches und intellektuelles Lernen - das Kind und den Jugendlichen. Die Grundlagen für emotionale, soziale und kreative Intelligenz werden in dieser Zeit gelegt.

Die Neunfältigkeit der Enneade lässt auch die Folgerung zu, dass jeder zeitliche Abschnitt ebenfalls in “Neunerschritten” vorangeht: von Punkt 0, der Empfängnis, bis Punkt 1, der Geburt, vergehen 9 Monate (im “Zeitraffer”, vergleichbar mit der Entwicklung nach der Geburt). Von Punkt 1 bis 2, Heranwachsen und erste Schuljahre und Abschluss der ersten Kindheitsphase, vergehen 9 Jahre. Von Punkt 3 bis zur ersten großen Wandlung mit 18 Jahren vergehen wiederum 9 Jahre.

“Heute, wo man sich um das Äußerliche viel mehr bekümmert als um das Innerliche, lenkt man gerade auf diesen Umschwung im 9., 10. Lebensjahre viel zu wenig Aufmerksamkeit.”

Rudolf Steiner

Die zweite Phase beginnt mit Punkt 3 und verläuft nun über die Stadien des Erkennens und Erwachens der eigenen Kraft sowie der Beendigung einer Ausbildung bis Punkt 4 - bis zum Alter von 27 Jahren. Während dieser Phase bis hinein in die nächste werden auf privater Ebene auch Sexualität und Beziehungen eine wichtige Rolle spielen. An Punkt 5, im Alter von 36 Jahren, wird die Lebenssinnfrage oder die Frage nach beruflicher Entwicklung verstärkt gestellt. Viele Menschen, die gerade in dieser Phase arbeitslos werden, fallen deshalb auch oft in ein seelisches “Loch“.

Der Zeitraum zwischen dem ersten Einflusspunkt 3 und dem zweiten Einflusspunkt 6 ist eine turbulente Phase, insbesondere zwischen 4 und 5, wenn die Lebenserfahrungen und die Herausforderungen auf vielen Ebenen sehr intensiv auf die meisten Menschen in westlichen Gesellschaften einwirken. Ab dem 36. Lebensjahr mögen dann einige Entscheidungen getroffen sein, doch nun kommt langsam der innere Einfluss aus dem Bewusstsein oder dem Unterbewusstsein (je nach Anschauung) verstärkt zum Tragen.

Mit 45 Jahren - an Punkt 6 - geschieht eine neue Wandlung bei vielen Menschen. Dieser neue “Schub” beginnt heutzutage zwischen 45 und 50 - nachdem zum Beispiel die Kinder aus dem Haus sind “und der Hund tot ist”. Es beginnt bei vielen eine neue Lebensphase und die Sinnfrage, für die vorher wenig Zeit war, wird jetzt gestellt. Bei einigen Menschen geschieht “die Auswanderung aus der persönlichen Biographie” - wie es in einem Zeitschriftenartikel thematisiert wurde. In einem Beispiel dieses Artikels begann eine Frau im Alter von 45 Jahren “wie aus dem Nichts” eine neue Existenz “wie eine Zwanzigjährige” aufzubauen. Das ist die direkte Verbindung von Punkt 6 zu 3. Es geschieht auch häufig, dass der Ausbruch aus dem bisherigen Leben dazu führt, dass dieser Mensch sich plötzlich wieder so verhält als sei er erst 18-20 Jahre alt. Viele Menschen fangen jedoch verstärkt auch an, nach dem Sinn ihres Lebens zu fragen und eine entsprechende Suche anzufangen.

Die Jahreszahlen sind nicht so eng zu sehen. Der Abschied vom Elternhaus kann gut mit 19 oder 20 geschehen, wobei schon mit 16 Jahren heftige Ablösungsprozesse beginnen. Dasselbe gilt für alle anderen Jahresangaben. Und dennoch: nach vielen Umfragen und Kenntnissen aus dem privaten Umfeld sind die Zahlen ungefähr zutreffend. Meiner Meinung nach hat diese Neunerabfolge die alten Siebenjahreszyklen der astrologischen Weltsicht in mancher Hinsicht abgelöst, auch wenn für die seelische Entwicklung durchaus unterschwellig der Siebenjahreszyklus parallel verlaufen mag. Manchmal fallen die zyklischen Planetenumläufe, die einen Einfluss auf das persönliche Verhalten haben sollen, genau mit bestimmten Punkten in der Enneade zusammen. Machen Sie selbst den Umfragetest in Ihrem Bekanntenkreis!

Die dritte Lebensphase ist nun entweder durch Karrieresprung, neue Positionen und Verantwortungen und/oder die Arbeit an der Verwirklichung der Lebensvision bestimmt. Es sind bewusste, willentliche Entscheidungen, die hier zum Tragen kommen, weniger die gefühlsmäßigen, die in der zweiten Phase eine große Bedeutung hatten.