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Astrid Seeberger

Goodbye, Bukarest

Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek

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Für Lech

Es dunkelt.

Europas Karte ist mit Blut befleckt.

Das Violoncello aber gibt nicht auf.

Und der Chor erzeugt die Ordnung,

die der Welt misslungen ist.

Kjell Espmark aus Evangelisten

im Band Skapelsen (Die Schöpfung)

Einige Namen wurden auf Wunsch der Lebenden und Hinterbliebenen geändert.

Inhalt

Auf der Insel, 9. November 2014

Auf der Insel, 10. November 2014

Auf der Insel, 12. November 2014

Auf der Insel, 16. November 2014

Auf der Insel, 22. November 2014

Auf der Insel, 9. Dezember 2014

Auf der Insel, 22. Dezember 2014

Auf der Insel, 1. Januar 2015

Auf der Insel, 12. Januar 2015

Auf der Insel, 2. Februar 2015

Auf der Insel, 11. März 2015

Auf der Suche nach Bruno: Wannsee, im April 2015

Dmitri Fjodorows alias Hannes Grünhoffs Geschichte

Teil 1

Dmitri Fjodorows alias Hannes Grünhoffs Geschichte

Teil 2

Dmitri Fjodorows alias Hannes Grünhoffs Geschichte

Teil 3

Dmitri Fjodorows alias Hannes Grünhoffs Geschichte

Teil 4

Auf der Suche nach Bruno: Bukarest, im Juni 2015

Auf der Suche nach Bruno: Berg, Oktober 2015

Wolfgang Müllers Geschichte

Auf der Suche nach Bruno: München, Oktober 2015

Jakob Seebergers Geschichte

Auf der Suche nach Bruno: München, Oktober 2015

Dinu Adamescus Geschichte

Auf der Suche nach Bruno: Münsing, Oktober 2015

Heimkehr, Oktober 2015

Auf der Insel, 9. November 2014

Das Festland ist nicht zu sehen, nur Nebel, als wäre die Insel weit fortgetrieben. Kälte dringt durch Mark und Bein. Wäre Lech doch hier und würde mich in seinen Armen wärmen.

Einmal – es war im letzten Sommer, als wir gerade aufgewacht waren – sagte er, es gäbe Tage, in die man sich stürze wie in die Arme seiner Geliebten: Tage, an denen alles einen Glanz besaß. Dann gibt es die anderen Tage. Über die aber sprach er nicht, ich auch nicht, damals nicht. Tage, die, wie Lars Gustafsson schrieb, gleich einer Nadelspitze sind. Und »auf dieser Nadelspitze leben wir, wie die Engel«, die fallenden Engel, die »am Kometenschweif ihres langen Haares« in die Tiefe stürzen.

Heute ist so ein Nadelspitzentag. Und diese Nadelspitze ist zu spüren. Lech ist wieder ins Krankenhaus gekommen. Es hatte angefangen, als wir nach Bukarest fahren wollten. Er bekam eine Lungenentzündung. Das geschieht schnell, wenn man COPD hat. Als Ärztin weiß ich das, ich weiß mehr, als ich manchmal wissen will. Auch, dass das Schlimmste passieren kann, wenn man Lungenentzündung und zugleich COPD hat. Es gibt ein Wissen, das wie eine Nadelspitze im Herzen ist.

Gestern saß ich an seinem Krankenbett. Er schlief die meiste Zeit, eine Sauerstoffmaske über Nase und Mund. Als ich seine Hand streichelte, war die heiß. Oder wie sein Arzt sagte: Das Fieber tobt in seinem Körper. Ich musste an einen meiner Patienten denken, einen alten Priester, der lebensgefährlich erkrankt war. Er sagte mit kaum vernehmbarer Stimme, es sei wichtig, die Kategorie des Jubels lebendig zu erhalten. Ich hätte ihn fragen sollen, wie man das macht.

Hätte Lech nicht mit drei anderen Patienten im Zimmer gelegen, wäre ich dortgeblieben. Nun war ich gezwungen, ihn zu verlassen. Es war dunkel, als ich nach Hause fuhr. Kurz vor Råby graste ein Rudel Damhirsche neben der Straße, im Scheinwerferlicht leuchteten ihre Augen rot. Wie das Ewige Licht in der Kirche meiner Kindheit, das stets brannte, dank Alois, dem kleinen rundlichen Pfarrer, der Vaters Freund war. Allmorgendlich füllte er das Öl in der roten Lampe nach. Wie Lech einmal zu mir gesagt hatte: Es sind wir Menschen, die Ewigkeiten füreinander schaffen.

Ich bog von der Straße ab in die Allee. Bei den Briefkästen an der Brücke hielt ich an. Ich hatte einen Brief bekommen, von der rumänischen Fluggesellschaft TAROM. Ich legte ihn auf den Beifahrersitz und fuhr über die Brücke zu unserem Haus. Die Fenster waren dunkel, kein Laut war zu hören. Als ich aus dem Wagen stieg, fühlte ich mich wie die Letzte eines vertriebenen Volkes.

Das Erste, was ich beim Betreten des Hauses sah, war Lechs Pullover. Er lag auf dem Stuhl in der Diele, als hätte er ihn gerade dort abgelegt. Ich berührte ihn, als könnte mir das helfen, und ging ins Schreibzimmer. Dort legte ich den Brief auf den Schreibtisch, ungeöffnet. Wie soll man einen Brief, der alles entscheidet, an einem Nadelspitzentag lesen können?

Stattdessen streckte ich mich im Wohnzimmer auf dem Sofa aus, auf dem mit dem Wolfspelz, einem großen, schönen Wolfspelz. Lech hatte ihn auf einer Auktion für mich erstanden. Noch bevor ich erfahren hatte, wem Großvater seinen Wolfspelz umgelegt hatte. In meiner Kindheit hatte er ihn mir umgelegt. Und gesagt, nun könne mich keine Kälte der Welt mehr treffen. Vielleicht hat er das auch zu der anderen gesagt. Doch sagte er nie das, was Mutter sagte: dass Wölfe nie verstummen, nicht einmal, wenn sie zu Pelzen geworden sind. Erst, wenn sie auch das Letzte vom Menschen verschlungen haben, sein zitterndes Herz.

Ich fühlte die Müdigkeit bleischwer kommen. All diese unruhigen Nächte, in denen die Geräusche, die selbstverständlich waren, fehlten: Lechs Atemzüge, dicht neben mir.

Auf der Insel, 10. November 2014

Ich wachte auf dem Sofa auf, weil ich fror. Die Uhr zeigte nach Mitternacht. Ich holte Lechs Pullover und legte ihn mir um die Schultern. Dann setzte ich mich an den Schreibtisch und rief im Krankenhaus an. Es dauerte eine Weile, bis jemand antwortete, eine Krankenschwester, die barsch erklärte, Lechs Zustand sei stabil. Als Ärztin weiß man, was das bedeutet: Keine Besserung. Genauso kurzatmig. Genauso fiebrig.

Ich schaute das Bild an, das neben dem Telefon stand: ein Foto von Chopin, das einzige, das es von ihm gibt, im selben Jahr aufgenommen, als er starb, erst neununddreißig Jahre alt. Er sitzt aufrecht an einem Fenster, die eine Hand auf die andere gelegt. Das Gesicht, umrahmt von dunklem welligem Haar, ist schön, mit hoher Stirn, gerader Nase und männlich energischem Kinn. Er hätte kraftvoll aussehen können, wäre da nicht der Mund gewesen – ein feingezeichneter, sinnlicher Mund – und die Augen, vor allem die Augen, die einem Abgrund an Trauer glichen. Vielleicht wusste er, was ihn erwartete.

Das Bild stand da, weil mir ein anderes fehlte, das, das Mutter in ihrem Fotoalbum hatte und Bruno zeigte, ihren ältesten Bruder. Wenn Mutter nicht gesagt hätte, es sei Bruno, hätte man geglaubt, es wäre Chopin. Sie ähnelten einander wie Zwillingsbrüder. Der einzige Unterschied zwischen ihnen war, dass Chopin Dichterkleidung trug und Bruno die Uniform von Hitlers Luftwaffe.

Mutter hatte Brunos Bild verbrannt. Sie hatte alles verbrannt, alle Bilder, alle Papiere, alle Briefe, jedes Detail, das von ihrem früheren Leben zeugte. Sie sei rasend geworden, sagte sie, als sie daran dachte, was aus ihrem Leben geworden war. Ein Leben, das ihr ein Flüchtlingsgesicht gegeben hatte. Das Schlimmste war, dass sie dieses Gesicht noch immer hatte, als sie starb. Bevor sie selbst verbrannt wurde.

Ein einziges Bild war dem Feuer der Raserei entkommen: ein kleines vergilbtes Foto mit gezacktem weißem Rand. Es lag in Mutters Portemonnaie, das mir eine Schwester des Stuttgarter Krankenhauses nach ihrem Tod gegeben hatte. Auf dem Foto steht ein schmales dunkelhaariges Mädchen zwischen zwei jungen Männern mit dunklem welligem Haar. Alle drei lächeln mit ihrem feingezeichneten, sinnlichen Mund. Ihre Augen jedoch sind zu klein, als dass man einen Ausdruck in ihnen erkennen könnte. Das war Mutter mit ihren Brüdern, Bruno und Ewald, ein Jahr bevor der Krieg ausbrach.

Sie sagte, sie würde sie über alles lieben: Bruno, dem es gelang, dass alles, was er berührte, zu zittern aufhörte, auch die Menschen, auch Mutter, und dann Ewald, bei dem die Frauen vor Lust auf ihn erbebten, auch der eine oder andere Mann. Als Mutter erfuhr, dass Ewald den Krieg überlebt hatte, verschwand ihr Flüchtlingsgesicht, doch nur für kurze Zeit. Bruno hingegen war tot. Das hatte Mutter in meiner Kindheit immer wieder gesagt: dass Stalingrad Brunos Grab geworden war.

Als ich klein war und in meinem Bett lag, dachte ich oft an Bruno. Mutter hatte die Nachttischlampe gelöscht, und die Schatten kamen. Doch bekam ich keine Angst, wenn ich an Bruno dachte. Obgleich es Gedanken waren, die ein Kind erschrecken müssten. Ich versetzte mich nach Stalingrad, zu Bruno, der, vom Himmel geschossen, im kalten russischen Schnee lag. Ich sah, wie Stalingrads Ratten kamen und ihn wärmten, sich weich an seinen gekrümmten Körper drückten, bis er nicht mehr zitterte, nur still dalag, vollkommen still und tot. Während die Augen der Ratten im Dunkeln wie kleine rote Lämpchen leuchteten.

Mutter hat gelogen. Bruno war nicht tot. Er war aus einem anderen Grund nicht aus dem Krieg heimgekehrt. Er hatte mit seiner Familie gebrochen. Wollte sie nie mehr wiedersehen. Nicht nach dem, was Großvater getan hatte. Warum hat Mutter gelogen? War die Wahrheit allzu schändlich? Oder war sie zu schmerzhaft?

Vielleicht hätte sie es erzählt, wenn ich bei ihr geblieben wäre. Ich war kaum erwachsen, als ich auf und davon bin. Weg von Mutter, die sagte, ich sei ihr Ein und Alles. Weg von Vater, der immer mehr zusammenschrumpfte, auf jede Weise. Weg von meinem Freund, dem Dozenten für slawische Sprachen, der wollte, dass ich sein Leben mit ihm teilte. Vor allem aber weg aus Deutschland. Ich wollte keine Deutsche sein. Ich wollte zu keinem Land gehören, das so Schreckliches verbrochen hatte. Als ich nach Stockholm kam, erst siebzehn Jahre alt, war ich voller Euphorie. Und frei.

Mutter hat es mir nie erzählt, nur dem Alois, obgleich die beiden sich seit vielen Jahren nicht gesehen hatten. Sie suchte nach ihm, als wäre er der Einzige, den sie noch hatte, um sich ihm anzuvertrauen. Ihm erzählte sie das Unfassbare, was geschehen war. Und dass sie all die Jahre nach Bruno gesucht hatte. Am Ende hatte sie herausgefunden, wo er sich befand: in Bukarest, als Pilot der rumänischen Fluggesellschaft TAROM. Sie hatte mehrere Briefe an seine Adresse gesandt, doch nie eine Antwort erhalten. Wäre sie noch bei Kräften, sagte sie zu Alois, würde sie hinfahren. Kurz nach ihrer Begegnung war sie gestorben, als der einsamste Mensch auf Erden.

Warum hatte sie Alois nicht Brunos Adresse gegeben? Und auch meine nicht, so als spielte ich in Mutters Leben keine Rolle mehr. Erst als eins meiner Bücher in Deutschland herausgekommen war, hatte mich Alois über meinen deutschen Verlag ausfindig gemacht. Er schrieb, er wolle mich treffen. Die Wahrheit über meine Familie gehöre mir. Sie sei Teil meines Erbes.

Ich vermied es, den Brief von TAROM anzusehen, obwohl er auf dem Schreibtisch lag. Vielleicht war es ja ein gutes Zeichen, dass sich die Antwort hinausgezögert hatte. Die Reaktion der rumänischen Botschaft war rasch erfolgt: Sie wollten mir gern helfen, benötigten jedoch die genauen Geburtsdaten von Bruno. Auch deutsche und polnische Archive wollten mehr wissen als nur Brunos Namen und eine vage Angabe zu seinem Alter. Doch in Mutters hinterlassenen Papieren stand nichts über Bruno. Und Alfred, Mutters jüngster Bruder, der Einzige ihrer Geschwister, der noch lebte, war schwer herzkrank und erinnerte sich an nichts.

Ich nahm den Brief zur Hand. Er wog nur wenig, obwohl er über alles entschied. Schon wollte ich ihn wieder weglegen. Aber würde es denn einfacher sein, ihn später zu öffnen? Ich riss das Kuvert auf und las. Las den Brief ein ums andere Mal. Die Buchstaben gerieten immer mehr ins Wanken. Doch stand es da, klar und deutlich: »We regret being unable to help you …«

Auf der Insel, 12. November 2014

Lech geht es besser, das Fieber hat ihn endlich aus seinen Fängen gelassen. Doch braucht er noch immer Sauerstoff. Und mit einer Sauerstoffmaske auf Nase und Mund lässt es sich nur schlecht reden. Also habe ich ihm ein Stück aus W. G. Sebalds Ringe des Saturn vorgelesen, die Geschichte vom Bauern Alec Garrard, der seit zwanzig Jahren an einem Modell des Jerusalemer Tempels baut und daran zweifelt, sein Vorhaben je beenden zu können. Denn die Archäologen kommen ständig mit neuen Erkenntnissen, Erkenntnisse, die man nicht außer Acht lassen darf, wenn man ein wahres Bild des Tempels schaffen will.

Der Erzähler, der Alec Garrard auf seinem Hof getroffen hat, ist schon im Begriff weiterzuwandern, als der Tempelbauer ihm anbietet, in seinem Wagen mitzufahren. Als er dann neben Garrard im Fahrerhaus sitzt, wünscht er, die kurze Fahrt möge nie ein Ende nehmen: »That we could go on and on, all the way to Jerusalem.«

Als ich den letzten Satz gelesen hatte, schaute ich zu Lech. Er war eingeschlafen. Ich wusste nicht, warum ich den Satz noch einmal laut wiederholte. Auch nicht, wer von uns es am meisten brauchte, dass ich meine Hand auf Lechs Hand legte.

Auf der Insel, 16. November 2014

Lech wurde heute entlassen oder, wie er es ausdrückte, freigelassen. Er bat mich, langsam zu fahren, damit er alles eingehend betrachten konnte, während seine Hand auf meinem rechten Knie lag. Als wir zu Hause angekommen waren, machte er eine Runde durch all unsere Zimmer. »Gut, dass es sie noch gibt«, sagte er.

»Das Beste ist, dass es dich gibt«, sagte ich.

»Dass es uns gibt«, sagte Lech und nahm mich in seine Arme.

Am Nachmittag unternahmen wir einen kurzen Spaziergang, ganz langsam, nur die Allee vor und zurück. Von einer der alten Linden hatte sich ein Stück Rinde gelöst und das nackte Holz war sichtbar geworden. Lech fragte, ob ich mich an die Nelly-Sachs-Ausstellung im Jüdischen Museum erinnerte. War mir das Rindenstück von einer Platane im Gedächtnis geblieben, das dort in einer Vitrine lag? Paul Celan hatte es Nelly Sachs geschickt, als sie krank wurde. Sie solle die Rinde zwischen Daumen und Zeigefinger halten, schrieb er, und gleichzeitig an etwas Schönes denken. War es aus dem Grund, weil die Platane, selbst wenn sie schutzlos ist, nicht eingeht? Sie verliert ihre Rinde im Winter, gerade dann, wenn die eisigen Winde an allem zerren und sie diese am meisten benötigt.

Ich erwiderte, dass ich mich auch an etwas anderes erinnerte. In einer weiteren Vitrine lag ein Konvulsator der Marke Siemens, einer der Art, mit dem Nelly Sachs mehr als ein Dutzend Elektroschockbehandlungen erhielt. Bekommt man Elektroschocks, sagte ich, wird man in Narkose versetzt und erhält ein Mittel zur Muskelentspannung. Sodass man, wenn der elektrische Strom durchs Gehirn gejagt wird und man einen epileptischen Anfall erleidet, nichts in seiner Hand halten kann, nicht einmal ein kleines Stück Platanenrinde. »Hauptsache, das Rindenstück lag noch auf ihrem Nachttisch«, sagte Lech, »wenn sie von der Behandlung zurückkam.«

Als wir zu unserem Haus zurückgingen, sagte Lech, es sei merkwürdig, dass Nelly Sachs am selben Tag starb, an dem Paul Celan in Paris beerdigt wurde. Als sei ihr kein anderer Ausweg geblieben, als es ihn nicht länger gab. Vor vielen Jahren hatte er selbst in Thiais an Celans Grab gestanden. Er hatte die kleinen Steine gesehen, die Menschen als eine Art Bitte um Schutz aufs Grab gelegt hatten. Auch er hatte einen kleinen schwarzen Stein hinzugefügt. »Vielleicht könnten wir hinfahren und nachsehen, ob er noch daliegt. Und auch ein Steinchen von unserer Insel mitnehmen. Irgendwann im Frühjahr. Wenn die Platanen in Paris ihre neue Rinde bekommen haben.«

Auf der Insel, 22. November 2014

Es ist Mitternacht. Lech und ich sind kurz zuvor auf die Insel heimgekehrt. Er hatte mich in Arlanda abgeholt, stand mit seinem leisen Lächeln da, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

Ich war in Oslo gewesen und hatte auf einer Konferenz gesprochen. Auf dem Hinflug, als die Maschine gerade eine Höhe von zehntausend Metern erreichte, ging mir durch den Kopf, dass nur eine dünne Metallhülle und dünnes Fensterglas mich von der kalten, eisigen Weite dort draußen trennten. Eine Weite, deren Licht zu uns dringt, doch keine Geräusche. Nicht das Tosen der explodierenden Supernoven. Nicht die Winde, die über die Planeten rasen. Auch nicht der Gesang.

Bevor ich losgefahren war, hatte Lech ihn mir auf dem Computer vorgespielt, den Gesang, den die Raumsonde Philea nach der Landung auf dem Kometen 67P/Churyumov-Gerasimenko aufgefangen hatte. Er klang wie der Trauergesang von jemandem, der nicht länger glaubt, jemals gehört zu werden. Und Lech zeigte mir die Fotos, die die Sonde aufgenommen hatte, bevor sie auf dem Kometen gelandet war: ein Steinkopf, dessen Scheitel stark leuchtete, vielleicht ja auch das Gesicht, doch ist es nicht zu sehen, nur die dunkle Rückseite des Kopfes. Wenn man aber den Kometengesang hört, weiß man, wie das Gesicht aussieht.

Als ich meinen Vortrag gehalten hatte, ging ich durch Oslo. Es war kalt. Die Atemzüge der Menschen bildeten flüchtige Nebelwolken. Und plötzlich begriff ich, dass ein Trauergesang verschiedenartig klingen kann, dass er manchmal nur ein leises Klimpern ist. Wie bei der jungen Rumänin, die auf einem Stapel alter Zeitungen saß, eingewickelt in eine schäbige graue Decke. Im Gegensatz zu den anderen Bettlern streckte sie ihren Plastikbecher den Leuten nicht hin. Er steckte festgeklemmt zwischen ihren Knien. Als ich dicht vor ihr stand, begriff ich: Sie zitterte so sehr, dass ihre Knie die im Becher liegenden Münzen zum Klimpern brachten.

Ich hätte sie in ein warmes Café bringen sollen. Das Einzige aber, was ich tat, war, ihr einen Schein in den Becher zu stopfen, einen der beiden, die ich noch besaß. Sie murmelte etwas, das wie danke klang. Während das Klimpern weiterging. Ich nahm ein Taxi zum Flugplatz, das erste freie, das vorüberkam, obwohl noch drei Stunden Zeit war, bis meine Maschine fliegen würde. Ich konnte einfach nicht dortbleiben. Obwohl das Klimpern kaum zu hören war, übertönte es einfach alles.

Auf dem Flughafen fiel es mir schwer, irgendetwas zu tun. Ich hatte ein Buch eingesteckt über den Stalinismus in Rumänien. Ich lese alles, was ich über Rumänien auftreiben kann, als könnte mir das helfen, Bruno zu finden. Jetzt aber war ich nicht imstande, es zu lesen, auch anderes nicht, nicht einmal Paul Celans Gedichte, die ich ebenfalls mitgenommen hatte, er, der sich in der Seine ertränkt hat. Auch zu schreiben vermochte ich nicht, nicht die kleinste Zeile. Alles schmerzte, auch meine Sehnsucht nach Lech.

Auf der Insel, 9. Dezember 2014

Es war Abend. Lech saß im Sessel und las. Ich blätterte Bücher durch, die früher einmal Mutter gehört hatten, Bücher über Ostpreußen, in denen sie Unterstreichungen vorgenommen und kleine Kommentare an den Rand geschrieben hatte. Doch nichts über Bruno, nirgendwo. In einem der Bücher lag ein Ausschnitt aus der Zeitschrift Riesengebirgsheimat, Jahrgang 2004, Nummer 2, Seite 30:

»Herr Jeannot Bartier ist auf der Suche nach Einwohnern Spindelmühles, die Kontakt zu seinem Vater hatten. Sein Vater Henri J. Bartier, geboren am 12. April 1922, gehörte einer Kolonne belgischer Kriegsgefangener an, die im Dienst der Firma Chemische Werke Brieg, Abteilung Straßenbau, eine Straße von Spindelmühle zum Spindlerpass anlegten. Herr Bartier junior wäre über jede Nachricht erfreut, so geringfügig sie auch ausfiele. Wer sich an seinen Vater erinnert, kann sich Fotos anschauen, die Herr Bartier senior aufgenommen hat: ein Foto, datiert 1941, das die belgischen Kriegsgefangenen De Bliek und Tobac zusammen mit zwei Spindelmühlerinnen zeigt, Frau Standera und Frau Bauer (gemäß der handschriftlichen Notiz auf der Rückseite). Auf dem Bild ist auch Frau Wiesners Kind im Kinderwagen zu sehen. Darüber hinaus gibt es Fotos von Herrn Bartiers belgischem Wehrpass und seinem Kriegsgefangenenpass. Er fotografierte auch seinen Entlassungsschein, ausgestellt am 8. Januar 1941 von der Kommandantur in Görlitz. Nach Herrn Bartiers Tod fand der Sohn die Fotos in dessen Schreibtisch. Der Vater hatte nie, mit keinem einzigen Wort, erwähnt, dass er in Spindelmühle gewesen war. Wer über Informationen verfügt, kann Kontakt aufnehmen zu Monsieur Bartier Jeannot, 38 Rue Chanoine Camerlijnck, B-7780 Comines, Belgien.«

Warum hatte Mutter diesen Ausschnitt aufbewahrt? Sie hatte ihn fein säuberlich mit der Schere ausgeschnitten. Ich zeigte ihn Lech. Das muss etwas bedeuten, sagte ich.

Er schaute ihn genau an. Das ist schwer zu verstehen, erwiderte er. Dann sagte er, dass Kafka in Spindelmühle war. Er war krank gewesen und hatte ein Jahr lang nicht schreiben können. Sein Arzt hatte ihn in diesen Kurort im Riesengebirge geschickt, damit er wieder zu Kräften kam. Als Kafka dort eintraf, hatte es heftig geschneit, als wollte der Schnee alles begraben. Noch am selben Abend begann er am Schloss zu schreiben. Und die Worte strömten.

»Wenn ich Bruno fände«, sagte ich, »würden meine Worte strömen.«

»Warum ist er so wichtig für dich?«, fragte Lech.

Ich antwortete mit einem Zitat von Kafka: »Von einem gewissen Punkt gibt es keine Rückkehr mehr.«

»Das ist keine Antwort«, sagte Lech. Er sagte es mit Wärme.

»Ich kann es nur schwer erklären«, erwiderte ich. »Er und ich gehören irgendwie zusammen. Vielleicht, weil er vor seinem Vater geflohen ist, und ich vor meiner Mutter.«

»Vielleicht«, sagte Lech. Er klang nicht überzeugt. Ich war es selber nicht.

Auf der Insel, 22. Dezember 2014

Wir saßen in der Küche beim Frühstück. Ich sagte, es sei jetzt exakt fünfundzwanzig Jahre her, dass das rumänische Volk sich gegen Ceauşescu erhoben habe. Genau am 22. Dezember war der Diktator in Panik aus Bukarest geflohen. Und die große Stille der Stadt füllte sich mit Musik. Überall spielte man Weihnachtsmusik, die all die Jahre verboten war. Vielleicht hatte ja auch Bruno »Stille Nacht« vor sich hin gesummt, während er auf einem Bahnsteig der U-Bahn auf den Zug wartete.

»Du gibst nicht auf«, sagte Lech.

»Nein«, sagte ich. »Ich will Bruno finden, auch wenn ich nicht weiß, wie.«

»Du hast keine Spur«, sagte er.

»Falls Monsieur Bartier Jeannots Annonce nicht eine Spur ist«, erwiderte ich.

»Vielleicht hat sie deine Mutter auf die Idee gebracht, selber zu annoncieren«, meinte Lech.

Ich sah ihn an. Er war gerade im Begriff, dem Ei mit dem Messer die Spitze abzuschlagen. Ich kannte niemand anderen, der das so elegant machte wie er. Und es waren auch nur wenige, die so scharf dachten.

»Du kannst recht haben«, sagte ich.

Er erwiderte, das sei jedenfalls eine einleuchtende Hypothese.

Auf der Insel, 1. Januar 2015

Lech schlief noch, als ich aufwachte, auch als ich seinen Fuß mit meinem berührte. Aus der Küche waren Geräusche zu hören. Das musste Anselm sein, unser alter Freund, der mit uns Silvester gefeiert hatte. Er wird gewöhnlich früh wach, selbst wenn er spät ins Bett gegangen ist.

Ich dachte an das, was Anselm gestern erzählt hatte. Nach dem Essen hatten wir auf den Sofas Platz genommen, Lech und ich auf dem mit dem Wolfspelz und Anselm auf dem anderen. Lech sagte, jeder Jahreswechsel mache ihm zu schaffen, sie hätten etwas von Memento mori an sich. Während ich sagte, jedes Jahr könne ein Annus mirabilis werden, ein Jahr der Wunder. Da hatte Anselm uns von einem Wunder erzählt.

Eigentlich jedoch sei es die Geschichte einer Besessenheit, sagte er. Arnold Schultze, 1875 in Köln geboren, war Offizier geworden, vielleicht in erster Linie, um in die Kolonien zu gelangen. Denn in den Kolonien gab es das, wovon er besessen war, Pflanzen und Schmetterlinge, die noch niemand beschrieben hatte. Er nahm an der deutsch-englischen Grenzexpedition im nördlichen Kamerun teil, bei der er jede freie Minute darauf verwandte, Schmetterlinge zu sammeln. Dann aber wurde er krank, so krank, dass er das Militär verlassen musste. Das war das Beste, was ihm hatte passieren können. Denn jetzt konnte er sich seiner Besessenheit hundertprozentig widmen. Vielleicht war es ja sogar so, dass ihn diese Besessenheit wieder gesunden ließ.

Er nahm an Herzog Adolf Friedrich zu Mecklenburgs zweiter deutscher Expedition nach Zentralafrika teil. Fuhr nach Kolumbien, wo er sich in den 1920er-Jahren acht Jahre lang aufhielt und eine Arbeit nach der anderen über seine Schmetterlingsfunde verfasste. Und über die Zerstörung des Regenwaldes, vor der er bereits damals warnte. Später dann, nach Abstechern in den Kongo und auf die Balearen, war er zu einer neuen großen Expedition bereit. Und brach mit Hertha, seiner zweiten Frau, nach Ecuador auf. Dort wollte er die Schmetterlinge und Pflanzen erfassen, insbesondere die des Regenwaldes. All das, was dort emporrankte und flatterte, war von so überwältigender Schönheit. Und am wundervollsten war es, all das zusammen mit Hertha zu sehen.

Sie verbrachten fünf Jahre in Ecuador. Fünf Jahre im Paradies, mit einem erstaunlichen Fund nach dem anderen. Dann fuhren Hertha und er heim, zusammen mit einer phänomenalen Sammlung seltener Pflanzen und Schmetterlinge. Am 25. August 1939 gingen sie an Bord des deutschen Handelsschiffes Inn, das nach Hamburg zurückkehren sollte, beladen mit Holz, zweihundertfünfzig Tonnen Gummi und fünfhundert Tierhäuten. Und mit Schultzes Sammlung, die ihn berühmt machen sollte.

Doch hatten sie nicht mit der Weltgeschichte gerechnet. Am 3. September 1939 erklärten Großbritannien und Frankreich Nazideutschland den Krieg. Und die Alliierten verhängten eine Blockade über den Atlantik. Am 5. September wurde die Inn von einem britischen Kriegsschiff gestoppt. Alle an Bord durften das Schiff verlassen, bevor die Briten zwölf Kanonenschüsse auf die Inn abgaben. Und Schultze und seine Frau sahen, wie das Schiff unwiderruflich sank, mit der Sammlung und allem, was sie besaßen.

Nach kurzem Aufenthalt in einem Internierungslager in Dakar – auf Intervention eines französischen Anthropologen ließ man sie frei – landeten sie in Funchal auf Madeira, wo sie den Rest ihres Lebens verbrachten. Ein besessener Mensch aber gibt nicht auf. Wenn Schultze seine Funde schon nicht vorzeigen konnte, musste er über sie schreiben und sie malen. Denn an das, was einen begeistert hat, erinnert man sich in allen Details. Er setzte sich an die Arbeit, mit der gleichen Besessenheit wie immer. Und starb mitten in seiner Besessenheit, mitten im Schreiben und Malen, nicht älter als dreiundsiebzig Jahre.

Damit könnte die Geschichte zu Ende sein, sagte Anselm. Dann aber gab es den Autor Hannes Zischler und die Illustratorin Hanna Zeckau, die planten, ein Buch über eine Kongo-Expedition zu schreiben. Als sie im Berliner Museum für Naturkunde den Fundus durchgingen, stießen sie auf einen alten verstaubten Koffer – das Objekt 1939-08-12/1 –, von dem niemand etwas wusste. Als sie ihn öffneten, verschlug es ihnen die Sprache.

Der Koffer war bis zum Rand mit Zigarrenkästen gefüllt. Und in den Zigarrenkästen lagen kleine, adrette Päckchen: alles in allem achtzehntausend Regenwaldschmetterlinge, eingeschlagen in Zeitungsausschnitte, Hotelrechnungen, herausgerissene Buchseiten und zerschnittene Briefe. Es war einer von Schultzes Koffern, der, wie sich herausstellte, mit einem anderen Schiff verschickt worden war. Ein Teil der Sammlung war auf wunderbare Weise gerettet worden. Und Arnold Schultze, den man vergessen hatte, gelangte ins Rampenlicht. Denn Zischler und Zeckau ließen das Buch über die Kongo-Expedition sausen. Und schrieben stattdessen über den großen Schmetterlingsforscher.

Ich spürte plötzlich eine Hand, die meine Hüfte streichelte. Lech war aufgewacht. Als ich mich ihm zuwandte, sagte er, ihm sei gerade ein Gedanke gekommen. Wenn man seine Frau nur Tag für Tag und Nacht für Nacht streicheln kann, dann werde jedes Jahr ein Annus mirabilis.

Auf der Insel, 12. Januar 2015

Ich fühle mich guter Dinge. Ein rumänischer Forscherkollege hat mir geholfen, eine Annonce in einer der großen Tageszeitungen seines Landes zu schalten:

»Suche nach meinem Onkel Bruno Seeberger, geboren in Ostpreußen, der nach dem Zweiten Weltkrieg, als er um die dreißig Jahre alt war, nach Bukarest gekommen war. Dem Vernehmen nach hat er als Pilot gearbeitet. Informationen bitte an …«

»Vielleicht lebt ja Bruno noch«, sagte ich zu Lech. »Vielleicht sitzt er im Rollstuhl, fast hundert Jahre alt, und liest die Zeitung mit einer Lupe.«

»Und dann rollt er ans Telefon und ruft dich an«, erwiderte Lech.

Wir lachten. Vor allem, weil das Leben so schön war. Und weil es uns gab.

Auf der Insel, 2. Februar 2015

Es hat die ganze Nacht geschneit. Die Schneehauben wachsen, Büsche und Bäume biegen sich unter der Fülle, der See ist zum großen weißen Flachland geworden. Wie leben die Fische jetzt ihr Leben? Stehen sie unterm Eis reglos in der Dunkelheit? Oder schwimmen sie umher, als gäbe es kein Eis?

Und ich? Ich gleiche einem Faultier, das sich im Baum festgehakt hat. Ich habe mich an Bruno festgehakt. Und kann meinen Griff nicht lockern, nicht einmal jetzt. Obgleich sich die Annonce als verlorene Liebesmüh erwiesen hat. Nicht eine einzige Antwort war gekommen. Lech fragte mich heute, warum es mir so schwerfiel aufzugeben.

Ich fragte ihn, ob er sich an Elisabeth Costello, den Roman von J. M. Coetzee, erinnerte. Am Ende des Buches will die gealterte Autorin die Grenze zur anderen Seite passieren. Um das tun zu können, muss sie jedoch eine Erklärung abgeben. Und sie schreibt, dass sie Sekretärin des Unsichtbaren sei, eine von vielen Sekretären im Laufe der Jahrhunderte. Sie schreibe nur auf, was sie höre, so genau sie es vermöge. Das sei ihr Beruf: Texte nach Diktat zu schreiben.

Und ich höre Bruno, sage ich. Schon als ich noch ein Kind war und daran dachte, wie er tot im Schnee von Stalingrad lag, redete er zu mir. Und als ich erfuhr, dass er nicht tot war, redete er noch mehr. Er ist jedoch zu weit weg, als dass ich seine Worte vernehmen könnte. Das Einzige, was ich höre, ist seine Stimme, eine Stimme, von der ich mich nicht abwenden kann. Ich muss näher an sie heran, obwohl ich nicht weiß, wie.

Lech fragte, warum gerade Brunos Stimme so zwingend war. Vielleicht geht es um ein Wiedererkennen, sagte ich, so wie man sich von gewissen Menschen angezogen fühlt, auch von gewissen Büchern, gewissen Bildern und gewisser Musik. Man erkennt etwas aus der eigenen tiefsten Tiefe wieder, etwas, was den Boden für all das bildet, was man ist.

Lech sagte, er glaube zu verstehen. Dann erzählte er eine Geschichte, an die er sich ausgerechnet jetzt erinnerte, aus einem Grund, den er nicht begriff. Bevor wir uns begegnet waren, hatte er eine Zeit lang in Österlen gewohnt. Dort hatte er einen langen Spaziergang unternommen, als er an einer umzäunten Wiese vorbeigekommen war, auf der es überall Maulwurfshügel gab. Ein Mann mit Sportmütze war gerade beim Reparieren des Zauns. Als Lech mit ihm sprach, erzählte der Mann, dass er neugeborene Maulwurfjunge in der Hand gehalten hatte. Dass sie nackt und blind waren und nicht größer als eine Puffbohne, hatte ihm nichts ausgemacht. Aber, dass sie zitterten. Auch als er sie weggelegt hatte, war das Zittern in seiner Hand verblieben.

Auf der Insel, 11. März 2015

Ich packte Mutters Sachen in einen Karton. Auch ihr Adressbuch. Ich wusste, was auf der Seite neun (bei den Buchstaben I und J) stand, in ihrer kindlichen Handschrift geschrieben, etwas, was ich nicht sehen wollte:

Hingeschüttet bin ich wie Wasser,

gelöst haben sich alle meine Glieder,

mein Herz ist geworden wie Wachs,

in meinen Eingeweiden zerflossen.

Warum blätterte ich die Seiten wieder durch? Nur um mir erneut bewusst zu machen, wie wenig Menschen Mutter verblieben waren? Die meisten Adressen und Telefonnummern betrafen Ärzte, Handwerker und Ämter. Dann gab es da meine Nummer, ich, die in ein anderes Land geflohen war. Und die Nummer ihres Friseurs, der ihr die grauen Haare schnitt, dass sie einem Helm aus Stahl glichen. Und die Nummer von Vaters Verwandten in der Schweiz, die sie seit Vaters Tod nicht mehr getroffen hatte. Und die eines Pflegeheims in Güstrow, wo der Einzige von Mutters Geschwistern, der noch am Leben war, sich an nichts erinnerte. Und die von Alois, der das erfahren durfte, was Mutter mir nie erzählt hatte. Und die von Hannes Grünhoff in Berlin, ein Name, den ich noch nie gehört hatte.

Auf der Suche nach Bruno

Wannsee, im April 2015

Dass ein Garten so üppig blühen konnte – überall Tulpen und Osterglocken und ein großer alter Kirschbaum, dessen Äste vor lauter Blüten kaum zu sehen waren. Und dann die Wärme! Mit einem Mal gingen die Berliner Frauen in dünnen flatternden Kleidern umher, mit nackten Armen und Beinen.

Ich stand am Gartentor mit dem eisernen Türgriff in der Hand, der von der Sonne erwärmt war. Der Schotterweg, der zum Haus führte, war frisch geharkt, ein weiß gekalktes Haus, die Wände mit wildem Wein bewachsen. Einen Moment lang hielt ich inne. Es war, als würde der Kirschbaum klingen, als säße dort jemand und ließe den Bogen über ein Cello gleiten, nur ganz leicht über eine der Saiten. Wie wenn es auf unserer Insel die Bienen zu den Kirschbäumen zieht und Lech sagt: Jetzt singen unsere Bäume.

Ich öffnete das Tor und ging zum Haus hinauf. Die Tür war blau gestrichen, als hätte sie die Farbe vom Himmel entliehen. Ich drückte auf die Klingel. Es ertönte ein Dreiklang, ein Klang in Dur hätte Vater gesagt, der das absolute Gehör besaß. Eine kleine, rundliche Frau öffnete, gekleidet in ein taubengraues Leinenkleid. Auch ihr Haar war grau, langes, geflochtenes graues Haar, das sie als Kranz um den Kopf gelegt hatte. Ihr Gesicht wirkte glatt. Erst als das Licht darauf fiel, wurde ein Netz feiner Falten sichtbar. Sie lächelte, als ich meinen Namen sagte, und wir gaben uns die Hand. Ihre Hand war warm, hatte einen festen, freundlichen Griff. Und sie sagte ihren Namen mit klingender Stimme: Sabine Grünhoff.

Sie würde Hannes holen, sagte sie. Er befände sich in der Werkstatt, obwohl Sonntag war. Er konnte nicht anders. Ob ich einen Moment auf der Terrasse Platz nehmen wollte? Ich fragte, ob ich sie nicht begleiten könnte. Werkstätten fand ich immer verlockend. Und so gingen wir zusammen hin.

Es war eine große, helle Werkstatt, nach Malerfarbe und Holz duftend. An der Arbeitsbank stand Hannes D. M. Grünhoff, der einst Dmitri H. Michailowitsch Fjodorow hieß: ein großer, breiter Mann im langen weißen Kittel wie ein Doktor. Seine Unterschenkel waren nackt und bleich, um die Knöchel ein Netz blau schimmernder Venen. Die Füße steckten in schwarzen Holzpantoffeln. Das Gesicht war rund und rosig, das Haar weiß gelockt. Doch was den Blick an ihm am meisten anzog, waren seine braunen Augen: Sie strahlten hinter der Brille wie die eines glücklich Verliebten.

Er war dabei, die Teile für einen Stuhl zu schleifen. Denn Stühle seien seine Spezialität, sagte er, selbst wenn er auch Tische und Schränke gemacht habe. Doch Stühle zu bauen wäre das Schönste überhaupt. Und zugleich das Schwierigste: einen Stuhl anzufertigen, der den Menschen trägt, sodass er seinen Körper vergisst und sich dem widmen kann, was ihn vom Tier unterscheidet, dem Denken. Fantasie – wenn sie frei sein soll – erfordert einen guten Stuhl. Und es ist in der Tat eine Kunst, einen solchen zu bauen. Es hatte ihn viele Jahre gekostet, das zu erlernen. Und jetzt konnte er es einfach nicht lassen, obwohl er schon dreiundachtzig und seit Langem in Rente war.

Er zeigte mir die Werkstatt, die unterschiedlichen Holzsorten, die Leinölfarben und Werkzeuge. Das Holz sei das Wichtigste, sagte er, Holz zu finden, das sich formen lässt und das nicht müde wird, die Schwere des Menschen zu tragen, auch nicht nach Jahrhunderten. Bei Stradivaris Geigen hatte er gelesen, dass sie aus Ahornholz gebaut waren, mit einer Dichte, die alles übertraf. Und dass es dieses Ahornholz in den Bergen des Balkans gab. Die dortigen Winter mit ihren eisigen Stürmen und die Sommer mit ihrer brennenden Hitze bewirkten, dass die Bäume nur langsam wuchsen, mit ungewöhnlich starkem Holz. Holz, das auch für seine Stühle passen könnte. Denn war es nicht schließlich so, dass Geigen und Stühle zusammengehörten? Beide befreiten den Menschen von seiner Schwere.

Wir nahmen auf der Terrasse auf Ahornstühlen Platz, gestrichen mit hellgrüner Leinölfarbe, es war genau die Farbe, sagte Grünhoff, die das Ahornlaub der Karpaten im Frühjahr zeigte. Er saß mir gegenüber, in weißem Leinenhemd und beigefarbenen Shorts, zwischen uns ein Tisch, gestrichen in derselben hellgrünen Farbe. Neben ihm saß seine Frau. Sie wollte seine Geschichte gern hören, sagte sie, obgleich sie sie schon früher vernommen hatte. Wie zu dem Zeitpunkt, als meine Mutter vor einer Reihe von Jahren zu ihnen gekommen war.

Mutter hatte erwähnt, dass sie Witwe war. Vater war im Dezember 2002 gestorben, Mutter im November 2007. Also musste sie irgendwann in diesen fünf Jahren hier gewesen sein. Es regnete, als sie kam, sagte Grünhoff, ein gewaltiger Regen, als wollte eine Sintflut Berlin ertränken. Als Mutter vor seiner Tür stand, dachte er, sie sähe aus wie jemand, der in Noahs Arche keinen Platz bekommen hatte. Also sah er sich gezwungen, ihr Tee mit Rum anzubieten. Und seinen schönsten Sitzplatz, einen Stuhl aus transsylvanischem Ahorn.

Ich fragte, ob Mutter mich erwähnt hatte. Grünhoff sah das vor ihm stehende Glas an, eins der drei Gläser, die seine Frau auf den Tisch gestellt hatte, gefüllt mit Berliner Weiße, einem hellen kalten Bier, gewürzt mit Waldmeister, der es grün schimmern ließ. Nein, sagte er nach einer Weile, sie sprach nur von Bruno. Er erinnerte sich genau, dass sie gesagt hatte, er wäre der letzte Mensch, den sie, falls er also am Leben war, noch hatte.

»Wir sollten das Bier jetzt trinken«, sagte Grünhoffs Frau. Und Grünhoff hob sein Glas und rief: »Prost!« Ich nahm einen Schluck. Es schmeckte gut. Ich dachte an Mutter, die als Kind in Ostpreußens Wäldern Waldmeister gepflückt hatte, große Büschel blühenden Waldmeisters, aus denen Großmutter Sirup kochte. Sirup, der der Bowle Duft und Geschmack verlieh, die auf den samstäglichen Abendgesellschaften in Mutters Elternhaus serviert wurde, einem großen weißen alten Gutshaus ein Stück vor Pieniȩżno, das damals Mehlsack hieß. Die Bowle kam auf den Tisch, wenn der Tanz begann, eine grün schimmernde Bowle, mit der sich Großvater erfrischte, nachdem er die schönsten Frauen Mehlsacks in seinen Armen herumgewirbelt hatte, so lange, bis sie seine Ansicht teilten: dass die Menschen füreinander geschaffen waren, ganz besonders sie und er.