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Das Buch vom Brüderchen

Roman einer Ehe

Gustaf af Geijerstam

Einleitung

Es war einmal ein Schriftsteller, der glücklich mit seiner Frau und seinen drei Kindern lebte. Er war so glücklich, daß er es selbst nicht begriff, und in all diesem schrieb er viele Bücher von dem Unglück der Menschen.

Es war nicht die Liebe, in der sein höchstes Glück lag; auch bestand es nicht in der Vaterfreude, die er naiv als eine so natürliche Sache nahm, als könnten Eltern nie etwas anderes als Freude an ihren Kindern erleben; auch darin lag es nicht, daß der seltene Vogel, den man ungebrochene Jugend nennt, noch nach vieljähriger Ehe in seinem Hause in sicherem Neste saß. Sein höchstes Glück bestand darin, daß ihm niemals etwas Böses begegnet oder bekannt geworden war, das er nicht durch seine Kraft und Gesundheit überwinden zu können glaubte. Die Unglücksfälle, die aufzutauchen drohten, waren wie vorübergehende Wolken vom Horizonte verschwunden und hatten seinen Himmel nur noch reiner und freier gelassen. Wenigstens glaubte er so, und dieser Glaube war die Wirklichkeit, in der er lebte. Die Armut, gegen die er einen ununterbrochenen Kampf geführt, hatte er doch stets im Abstand zu halten vermocht. Es gab bloß einen Feind, mit dem er niemals seine Kräfte gemessen, und dieser Feind war der Tod. Vielleicht war es nicht das geringste Glück dieses Mannes zu nennen, daß er lange niemals ernstlich gefürchtet hatte, der Tod könnte ihn selbst oder die, die ihm am nächsten standen, treffen.

In diesem Gefühl der Fülle des Daseins schrieb dieser Schriftsteller ein sommerhelles Buch, das von seinen eigenen zwei großen Jungen handelte, ihren Spielen und Vergnügungen, ihren Abenteuern und Mißgeschicken. Das Buch ward ein heiteres Spiel für ihn selbst, und wenn ich jetzt an diese Zeit zurückdenke, glaube ich es kaum fassen zu können, daß dieser Mann, von dem ich hier spreche, einmal ich selbst war.

Als das Buch gedruckt und geheftet und alles klipp und klar war, sodaß es in die große weite Welt hinaus ziehen konnte, da nahm der Verfasser ein paar Exemplare des im Hause ersehnten Buches mit heim. Er schrieb Olofs Namen auf ein Buch und den Svantes auf ein anderes, und überreichte den verewigten Söhnen feierlich jedem sein Exemplar.

Olof nahm sein Buch in Empfang, und Svante nahm das seinige. Von Olof, der eine praktische Natur ist und nicht zum Litterarischen neigt, wird behauptet, daß er sich bei dieser Gelegenheit zum ersten Male aus freien Stücken hinsetzte, um in einem Buche zu lesen. Ich glaube beinahe, er las drei ganze Kapitel. Svante hingegen las das ganze Buch in einem Zuge von Anfang bis zu Ende. Dann griff er gewisse Kapitel heraus, die ihm besonders gefielen, und las sie laut Jedem vor, der zuhören wollte. Es herrschte mit einem Worte großer Jubel im ganzen Hause.

Damals lief jedoch noch ein kleines Kerlchen in den Zimmern herum. Das war Olofs und Svantes kleines Brüderchen, und es hatte langes, lockiges lichtblondes Haar und die größten blauen Augen, die ein kleiner Junge nur haben konnte. Er hieß Sven und war erst zwei Jahre alt. Sprechen konnte er nicht ganz. Aber verstehen konnte er.

Als Svante ihm nun laut vorgelesen hatte, fragte Mama:

„Von wem, glaubst Du, ist da die Rede?“ Und da Sven nicht wußte, was er sagen sollte, fuhr Mama fort:

„Ja, weißt Du, von den großen Brüdern, versteht Nenne das nicht?“

Sven wurde nämlich für den Alltag Nenne gerufen. Das hatte er selbst erfunden, weil er kein S aussprechen konnte.

„Ja, aber die Brüder heißen doch nicht so, wie es im Buch steht,“ versuchte Nenne.

„Wie dumm Du bist,“ sagte Olof, „so hat er uns eben genannt.“

Da verstand Sven, und mit Augen, die vor Ungeduld leuchteten, fragte er:

„Steht da nichts von Nenne drin?“

Papa war inzwischen hereingekommen, er hob den Kleinen bis zur Decke empor, setzte ihn wieder nieder und sagte:

„Was sollte wohl von einem Knirpschen stehen, das so klein ist, daß es noch nichts gethan hat?“

Aber Sven gab sich nicht zufrieden. Er führte seine großen blauen Augen ins Treffen, so gut er nur konnte, er teilte mit seinem kleinen roten Munde Küsse aus, er kämpfte mit allen Waffen, die ihm zu Gebote standen. Er wollte ein Buch für sich haben.

„Ja, aber Nenne kann ja nicht lesen.“

Dieser Grund machte auf Nenne nicht den geringsten Eindruck. Er lief durch die Zimmer aus und ein, und sein ganzes kleines lebendiges Gesichtchen war vor Eifer rosenrot. Olof hatte ein Buch bekommen, und Svante hatte ein Buch bekommen. Warum sollte Sven allein leer ausgehen?

Und da half nichts. Der Schriftsteller hatte kein anderes Exemplar bei der Hand. Darum gab Mama ihres her, und nachdem ihr Name ordentlich ausradiert worden war, schrieb Papa feierlich auf das Buch:

Dem kleinen Nenne
von Papa.

Und erst da war Sven zufrieden.

Das heißt, es sah aus, als wäre er zufrieden. Denn er erhob keine weiteren Einwände. Er ging nur herum und las in seinem neuen Buch. Er konnte von vorwärts und von rückwärts lesen, er hielt das Buch nach oben und nach unten, und er las laut, so daß es im ganzen Hause wiederhallte.

Endlich setzte er sich für eine Weile allein hin und dachte nach. Und dann ging es durch alle Zimmer, als könnte er gar nicht rasch genug ans Ziel kommen. Sven lief direkt in Papas Stube, wo Papa am Schreibtisch saß und qualmte. Da machte er sich so klein, daß er zwischen Papas Stuhl und dem Tische durchkriechen konnte, und dann steckte er den Kopf durch und versuchte Papa ins Gesicht zu sehen.

„Was giebt es, Sven?“ fragte Papa, der es nicht liebte, gestört zu werden.

Aber Sven gab sich nicht früher zufrieden, bis der Stuhl weggeschoben wurde, so daß er heran kommen konnte. Dann stellte er sich zwischen Papas Kniee, sah zu Papas Gesicht auf und sagte milde, aber bestimmt:

„Papa ein Buch nur Nenne schreiben.“

„Was ist das?“ fragte Papa.

„Papa ein Buch nur Nenne schreiben,“ wiederholte der Kleine. Und diesmal erhob er die Stimme.

Da begriff Papa.

Es hatte das kleine Brüderchen gegrämt, daß er nicht mit in dem Buche hatte sein dürfen. So klein er war, hatte er seine Ansprüche an Gerechtigkeit. So klein er war, fand er vielleicht, daß er ein ebenso großes Recht an Papa hatte, wie die anderen Brüder, und so klein er war, wußte er, daß, wo Papa, Mama und die Brüder waren, auch sein Platz sein mußte. Er sah Papa mit großen, fragenden Augen an, und er war so eifrig, als gälte es Leben oder Tod.

Papa nahm die Sache auch sehr ernst und antwortete:

„Ich verspreche Dir, daß ich einmal auch über Dich ein Buch schreiben werde.“

Nur Nenne,“ wiederholte das kleine Brüderchen, deutlich zeigend, daß darin eben das Hauptgewicht lag.

„Nur Nenne,“ sagte Papa ernst. Recht muß Recht bleiben.

Das kleine Brüderchen lief fort. Es verkündete die Neuigkeit bis in die Küche, und seine Ehrenrettung war in diesem Augenblick vollkommen.

Das kleine Brüderchen verabsäumte es auch nicht, daran zu erinnern. Aber ein Schriftsteller hat ja so viel zu schreiben. Er kann nicht jederzeit dazu kommen, über ein kleines helllockiges Kerlchen zu schreiben, das in der Welt nichts anderes ausgerichtet hat, als daß es kam und ging und Allen Freude machte. Und in der Dichtung wie im Leben müssen die Kleinen warten, weil die Großen sie nicht früher vorlassen wollen, bis die Reihe an sie kommt.

Darum hat das kleine Brüderchen auf sein Buch warten müssen, bis zum heutigen Tag. Jetzt bin ich selbst ein Anderer, und alles um mich ist neu. Der Kleine wußte wohl nicht, um was er mich bat, ebensowenig wie ich wußte, was ich versprach.

Aber ich höre eine Stimme, die mich zwingt, das, was ich versprach, zu halten.

Erster Teil

1.

Dieses ganze Buch ist ein Buch vom Tode, und doch handelt es, wie mir scheint, mehr von Glück als von Unglück. Denn Unglück heißt nicht, das verlieren, was Einem teuer ist, das Unglück liegt darin, es zu beschmutzen, zu verderben oder zu entstellen. Und es giebt ein Geheimnis, ich mußte lange leben, bevor ich es lernte. Die Liebe steht niemals stille. Sie muß mit den Jahren entweder wachsen oder abnehmen. Und nicht nur in dem letzten Fall kann sie Leiden verursachen. Der gewaltigste Eros ist der, der Leiden bringt, weil er immer stärker wird.

Aber ich will beim Anfange beginnen und all das, was in diesem Buch geschrieben ist, will ich so erzählen, wie man einen Traum erzählt. Und so seltsam es auch dem Leser klingen mag — all das zusammen ist nur das Buch, um das das kleine Brüderchen mich bat.

Habe ich geträumt, daß ich geliebt, geheiratet und Kinder bekommen habe? Habe ich geträumt, daß ich unsäglich glücklich und unsäglich unglücklich war? Habe ich geträumt? Oder habe ich wirklich all dies erlebt, das mich an nichts anderes von menschlichem Leben, das in meinen Gesichtskreis gekommen, zu erinnern scheint? Es kommt mir jetzt vor, als stünde ich in irgend einer unfaßbaren Weise — nicht über, ach, alles andere eher als über — aber wohl ferne von all dem, und das Einzige, das jetzt zu mir dringt, ist ein Ton der Andacht, so überschwänglich, daß nicht einmal Musik ihn fassen und in greifbarer Weise ausdrücken könnte. Ja, wenn ich einstmals das niedergeschrieben habe, was sich jetzt seinen Weg zu den unbeschriebenen Bogen sucht, die eines Tages vielleicht ein Buch bilden werden, glaube ich hoffen zu können, daß die Erzählung selbst mir den Leitfaden geben wird, um das Rätsel zu lösen, das mich jetzt quält und beunruhigt: was in meinem Leben Traum gewesen und was Wirklichkeit.

Es ist nämlich nicht nur der Kummer, der mich drückt. Es ist auch ein Wundern über das, was geschehen, dasselbe Wundern, das sich auf dem Grunde alles bewußten Lebens regt. — — —

Ich erinnere mich in diesem Augenblick, wie ich eines Abends in das Zimmer meiner Frau kam und sie grübelnd fand, mit einem aufgeschlagenen Buch vor sich. Sie las nicht in dem Buche, und ihr Gesicht drückte Unzufriedenheit aus.

Ich beugte mich über ihre Schulter und sah, daß sie in der Bibel gelesen hatte. Das Buch lag beim ersten Buch Mosis aufgeschlagen, und auf meine Frage, was sie gelesen, wies sie bloß auf ein paar Zeilen, die ich noch zu unterst auf einer Seite lesen zu können vermeine. — Und ich las die Worte:

Verflucht sei die Erde um deinetwillen ... Mit Schmerzen sollst du deine Kinder gebären.

„Ist das nicht gräßlich?“ sagte sie. „Ich erinnere mich nicht, ob ich mit Schmerzen geboren habe. Ich habe nie daran gedacht.“

Sie erhob sich und ging zu einem kleinen Bettchen, das quer hinter unseren eigenen Betten stand, und sie beugte sich hinab über ein rundes, blühendes, schlafendes Kindergesicht, dessen Lippen sich saugend regten, als läge der Knabe an der Mutterbrust.

„Habe ich Dich in Schmerzen geboren?“ sagte sie wie zu sich selbst. „Nein, in Glück habe ich Dich geboren, in Glück und Jubel, ein Glück, so namenlos groß, daß ich es nie gewußt habe, bis jetzt.“

Sie zog mich hinab aufs Sopha und lehnte ihren Kopf an meine Schulter, schmiegte sich in meine Arme, als wollte sie dort Schutz vor allem Ungemach und Schmerz der Welt finden. Ohne ihre Stellung zu ändern, streckte sie die Hand aus und schlug das Buch zu.

„Das ist ein dummes Buch,“ sagte sie. „Ich habe mich nie darauf verstanden.“

„Das ist es wohl nicht,“ sagte ich lächelnd.

„Das hast Du selbst gesagt,“ sagte sie und richtete sich zur Hälfte auf.

„Ich? Nie!“

„Nun, dann hast Du etwas anderes gesagt.“

Sie beugte sich wieder hinab.

„Ich erinnere mich nicht. Ich weiß nur, daß ich denken will wie Du, glauben wie Du, sein wie Du. Denn Niemand ist wie Du, Niemand auf der Welt.“

Auf solche Worte kann kein Mann antworten. Man braucht sie nicht abzuwehren, denn sie sind nicht als Rauchopfer der Eitelkeit gedacht. Sie kommen wie eine Liebkosung, so wie wenn ein Mann seine Frau ansieht und sagt: „Es giebt für mich kein Weib außer Dir.“ Meine Frau fuhr auch nach einer Pause, so kurz, daß ich sie kaum gemerkt hatte, fort:

„Ich habe Dir gewiß noch nie dafür gedankt, daß Du mich gelehrt hast, zu glauben, wie Du glaubst, aber ich bin so froh, daß Du es gethan. Du kannst es nicht so fühlen, wie ich es fühle. Du kannst es nie so fühlen. Jeder Tag, der vergeht, macht mich reicher. Jede Stunde scheint mir erfüllt von meinem Glück. Es ist so merkwürdig, mir jetzt zu denken, daß ich einmal, als ich um vieles jünger war, mich sehnte, sterben zu können, um in den Himmel zu kommen. Was meinte ich da, und wonach sehnte ich mich? Ich glaube, ich habe es vergessen, als wäre es nie gewesen. Das Einzige, was ich früher manchmal schwer empfand, war, daß ich niemals meinen Vater wiedersehen sollte, der tot ist. Aber jetzt kommt es mir vor, daß ich nichts anderes verlange, als mit Dir und den Knaben leben zu können. Ich würde nicht wünschen, daß es etwas anderes gäbe als das Leben, das Du und ich leben durften. Ich will mit Dir leben, bis die Knaben groß sind und hinausziehen. Dann wollen wir zusammen altern — Du und ich — und etwas anderes kann ich mir nicht denken.“

„Glaubst Du nicht an irgend eine Möglichkeit eines anderen Lebens?“ fragte ich.

Sie schüttelte mit einer energischen Geberde den Kopf.

„Nein,“ rief sie aus, „ich will nichts anderes als das, was ist. Ich will einmal in der Erde unter einem schönen Blumenhügel schlafen. Das ist Alles für mich, und darum bitte ich Gott jeden Abend.“

Sie betete jeden Abend zu Gott, und sie glaubte nicht an ein unsterbliches Leben. Ich wußte es, und fühlte aufs Neue das Wunderbare in diesem, ihrem eigenen Rätsel, das für sie bloß natürliche Wirklichkeit war. Ich streichelte ihre Schulter, um sie wissen zu lassen, daß ich gehört und verstanden hatte, und mit einem plötzlichen Uebergang fragte sie:

„Glaubst Du an etwas anderes?“

„Ich glaube weder, noch glaube ich nicht.“

Sie wiederholte meine Worte ganz tonlos, obgleich sie sie schon mehrere Male zuvor gehört, wiederholte sie, als enthielten sie etwas ganz Unfaßbares, und rief plötzlich:

„Dann hast Du Dich verändert.“

„Das glaube ich nicht.“

„Ja, das hast Du. Wie hätte ich sonst glauben können, daß das Leben mit dem Tode zu Ende sei? Du hast es mich gelehrt. Warum willst Du jetzt nicht glauben, wie ich?“

Bei ihren Worten flog eine Erinnerung durch meine Seele. Ich sah sie und mich auf einem schmalen Pfad unter den hellen Birken der Schären wandeln. Ueber uns funkelten des Himmels Sterne, und zu unseren Füßen zitterte im Grase der matte Lichtschein aus den Fenstern unseres ersten Sommerheims. Ich vermeinte noch die Worte hören zu können, die in der Stille des Abends zwischen uns geflüstert wurden, Worte vom Leben und vom Tode, von Gott und dem Kommenden, diese Worte, die von unserem ersten Liebesrausch Ernst und Glut empfingen. Ich erinnerte mich, daß sie es war, die fragte, und ich antwortete. Ich erinnerte mich, daß sie tief betrübt und stumm wurde, während sie über meine Antwort nachdachte, und als nun diese Erinnerung durch meine Seele zog, mit einer Deutlichkeit, die keine Worte wiederzugeben vermögen, war es mir, als müßte das, was ich damals gesagt, sie in ganz anderer Weise getroffen haben, als ich eigentlich gemeint, und ich fühlte einen Stich im Herzen, als hätte ich, ohne es zu wollen, ihr etwas zu Leide gethan.

Sie unterbrach mich, indem sie sagte:

„Ich kann das nicht fassen, das, weder zu glauben, noch nicht zu glauben. Ich muß eines von Beiden thun.“

Sie sprach diese Worte mit einem Ton aus, als bäte sie mich, ihr nicht zu widersprechen, und ich that es auch nicht. Ich behielt bloß in mir die Stimmung der lichten Insel unserer Jugend und wunderte mich darüber, daß ich die ganze Zeit die Sterne durch das Laubwerk der Birken zu sehen meinte.

Meine Frau hatte sich, während wir sprachen, erhoben und stand wieder neben dem kleinen Bette. Mitten im Gespräche hatte sie gemerkt, daß der Kleine sich bewegte. Sie hob ihn empor, nahm ihn in ihre Arme in jener sicheren, schützenden Art, wie nur Mütter es können, und legte ihn an die Brust. Ihr Gesicht strahlte, als sie sah und fühlte, wie er ihre Milch mit jener unbeschreiblichen Ruhe sog, die das Vorrecht des Kindes ist.

Wovon wir eben gesprochen und was ich jetzt sah, verschmolz in eigentümlicher Weise in meinem Gefühl zur Einheit, und ich erinnerte mich der Worte, die den Anfang des kurzen Gesprächs gebildet hatten. Lange saß ich und dachte an das, was ich sagen wollte. Ich dachte an die grausamen Worte: „Verflucht sei die Erde um Deinetwillen“ und an den Zusatz an die arme Erde: „Dornen und Disteln sollst Du tragen.“ Das Gefühl dessen, was ich besaß und was ich sah, war mir so übermächtig, daß ich fürchtete zu sprechen, nur um meine Bewegung nicht durch Thränen zu verraten, und gleichzeitig versuchte ich, meine eigenen Gedanken davor zurückzuhalten, die Form des Worts anzunehmen, um meiner Frau nicht pathetisch zu erscheinen.

Endlich nahm ich die Bibel in die Hand und legte sie weg.

„Du hast Recht,“ sagte ich, „und das harte Wort hat Unrecht. Da sollte stehen: ‚Gesegnet sei die Erde um Deinetwillen. Trauben und Rosen soll sie tragen.‘“

Und nachdem ich dies gesagt, beugte ich das Knie und lehnte die Stirn zugleich an mein Weib und an mein Kind. Mit der Hand, die sie frei hatte, strich sie mir übers Haar.

„Ach! Wir waren jung damals, jung und sehr glücklich.“

2.

Ich habe bis jetzt nicht den Namen meiner Frau genannt, und es fällt mir noch schwer, es zu thun. In meinen Gedanken nenne ich sie zuweilen Mignon, weil dieser Name der einzige ist, unter welchem ich sie sehen kann, so wie sie kam und ging. Was weiß ich im Uebrigen, ob ich jetzt sie selbst male oder die Erinnerung, die sie zurückgelassen? Ist ein Mensch das, was er Jenen zu sein scheint, die ihn nicht so gesehen, wie vielleicht bloß Einer ihn zu sehen vermag? Ist er nicht vielmehr in seinem innersten Wesen gerade das, was bleibt, nachdem das Aeußere und Zufällige verblaßt ist? Ist es nicht möglich, daß das, was Mancher Idealisierung nennt, eigentlich die innerste Aehnlichkeit ist, die, welche einmal in einer Welt, die kein menschliches Auge erreicht, unser wirkliches Ich werden wird, Allen sichtbar?

Sie war klein von Gestalt und zart, und als ich sie zum ersten Mal sah, war es bei einer flüchtigen Vorstellung auf der Straße beim Schein einer Gaslaterne. Als ich sie verlassen hatte, blieben mir ein paar wunderbar große und tiefe Augen in der Erinnerung. Im Uebrigen erinnerte ich mich nur an einen schwarzen Pelzkragen, ein paar lange schwarze Handschuhe und den Druck einer Hand, die einen plötzlichen und starken Eindruck von etwas Aufrichtigem, Wachem und Wahrem hervorrief. Sonst erinnerte ich mich an ihr ganzes Aussehen so wenig, daß ich ein paar Tage später an ihr vorbei ging, ohne sie zu erkennen. Und doch hatten mir diese Augen keine Ruhe gelassen, sie waren immer wieder vor meiner Phantasie aufgetaucht, gleichzeitig strahlend und schmerzgebunden, etwas zugleich Lebenverlangendes und Andachtsvolles bergend. Wenn je ein paar Augen eine Seele gespiegelt haben, waren es die ihren.

Wenn ich an Alles denke, was ich durch meine Frau erlebt habe, weiß ich, daß durch all die bunten Lebensjahre meines Daseins Niemand mich so wie sie gelehrt hat, das Gefühl für das Religiöse beizubehalten. Ich glaube jedoch nicht, daß ich sie je das Wort Religion habe nennen hören, und man hätte sie sicher narren können, Abraham mit dem Apostel Paulus zu verwechseln. Aber Alles, was sie mit ihrem Denken oder Fühlen umfaßte, wurde ihr in irgend einer besonderen Weise heilig. Ihr Wesen war Zärtlichkeit, und das Leben, das sie leben wollte, war ein Fest, ein Fest, bei dem ihr Gefühl für den Wert und die Heiligkeit des Lebens keinen Mißton ertragen konnte. Aber Alles, was in ihr stark und lebendig war, war zu gleicher Zeit gebrechlich und spröde. In der Tiefe ihrer Seele war eine Ganzheitsanbetung, die das Leben nicht ertrug, weil sie auf einem höheren Plan zu stehen schien als das Leben selbst.

Wir waren viele Jahre verheiratet gewesen, als sie eines Tages zu mir sagte, plötzlich, unvorbereitet und ohne äußeren Anlaß, sowie ihre stärksten Gefühle immer kamen:

„Du darfst mich nie, nie fühlen lassen, daß Etwas zwischen mir und Dir alt und gewohnt geworden ist. An dem Tage, wo das geschieht, will ich sterben.“

Wie viele Frauen haben nicht dasselbe gesagt, und wie Viele haben nicht gelebt, um nachher über ihre eigenen Worte zu lächeln! Ich habe einmal von einer Frau gehört, die zu einem Manne sagte:

„Glaubst Du nicht, daß es einige Frauen geben kann, die das fühlen, was alle Frauen sagen?“

Ich erinnere mich, daß dies mir bei den Worten meiner Frau in den Sinn kam und daß ich in dem Gefühl ihrer Wahrheit zur Antwort nur ihre Hand drückte. Ich begriff, daß das, was sie gesagt, ihr tiefster Ernst war, und ich wußte, daß hier das Wort Sentimentalität nicht am Platze war. Aber ich sah auch, daß sie ein Wort von mir erwartete, das ihr etwas sagte, und darum antwortete ich:

„Glaubst Du nicht, daß etwas alt und gewohnt werden kann, ohne darum an Stärke, Freudigkeit und Heiligkeit einzubüßen?“

Sie sah mich mit großen Augen an, als wollte sie auf den Grund meiner Seele sehen. Dann ging sie auf mich zu und küßte mich, und ich merkte, daß ihre Augen feucht waren, während ich fühlte, wie ihre ganze Gestalt sich zu der meinen neigte, in einer einzigen großen Zärtlichkeit.

„Laß es dann alt und gewohnt werden,“ sagte sie. „Ich sehne mich darnach, daß es so wird.“

Nicht ein Wort mehr wurde gesprochen. Aber den ganzen Tag sah ich, daß sie wie in stillem, stummem Jubel umherging. Am Nachmittag war sie draußen im Garten, und ich hörte von meinem Fenster, daß sie allein sang, mit vollen, glockenreinen Tönen.

Nach einer Weile kam sie mit einem kunstvoll gebundenen Strauß von Wiesenblumen herein, in dem die Flora des Sommers sich mischte, wie die Töne in einem Lied. Sie stellte ihn ohne ein Wort auf meinen Tisch und lächelte still, um meine Arbeit nicht zu stören. Dann setzte sie sich selbst ein Stück weit weg, und während ich schrieb, blickte ich zuweilen auf, nur um sie anzusehen. Die Abendsonne färbte ihr dunkles Haar und spielte in den Farben ihres Antlitzes, das stets neu war, niemals sich gleich.

3.

Es begab sich nie, daß etwas zwischen uns alt und gewohnt wurde. Ich weiß, daß ich ein großes Wort ausspreche. Aber es ist wahr. Und darum kann ich noch sagen: Gesegnet sei das Leben und was das Leben gab! Das Leben für das segnen, was es nahm, das kann ich nicht.

Aber es geschah uns, daß die Sorge in unser Haus kam, und ich begreife jetzt, daß sie uns hätte trennen können, weil ich es nicht vermochte, so zu trauern wie sie. Aber ich weiß mit demütiger Dankbarkeit, daß dies doch nie geschah. Und doch, hätten Menschen es vermocht, es würde gelungen sein.

Wie bald ich es sah, weiß ich noch nicht. Aber ich weiß, daß der Eindruck so innig mit der Erinnerung an meine Frau verwoben ist, daß ich es jetzt nicht mehr fassen zu können glaube, daß ich sie je in dem Lichte der Jugend und des Glücks allein gesehen. Sie war nämlich frühzeitig krank, ja, ich habe sie eigentlich nie anders gekannt als mit dem Keim der Krankheit. Wie kam es da, daß ich bis zuletzt lange Zeiten vergessen konnte, daß ihre Gesundheit untergraben war und daß der Krankheitskeim, der bestand, sich entwickeln oder ganz verschwinden mußte? Ich wußte ja nur zu gut, daß er nicht verschwand. Und doch lernte ich nie ihr Leben in einem anderen Lichte sehen, als dem gewöhnlichen. Horchte ich nicht auf die Vorboten, die kamen? Stellte ich mich blind und taub gegen die Ahnungen, die in mir aufloderten, wie Feuersflammen meines Glückes Haus bedrohend, das ich so fest gemauert wähnte? Ich weiß nicht, ob es so war. Aber ich weiß, daß, als ich heiratete, ich so jung war, daß ich glaubte, die Liebe sei ein Heilmittel gegen alles Unglück der Welt, und wenn ich Elsa strahlend und glücklich sah, wenn wir uns gemeinsam in Wald und Wellen tummelten, wenn ich sah, wie die Sonne sie bräunte und die Sommerwellen ihre weißen Glieder bespülten, da vergaß ich, daß das Unglück kommen konnte, und ich spiegelte mir vor, daß das, was ich befürchtet hatte, nur Einbildung war. Ach, ich wurde schließlich so bewandert in der Kunst, das zu vergessen, was ich nicht sehen wollte, daß ich von Gesundheit und langem Leben träumte, auch nachdem Elsa dem Tod so nahe gewesen, daß es ein Wunder war, daß sie ihm entrann, und sie unter ihrem Kleid verborgen die Spuren des Messers des Operateurs trug, nie ganz frei von Schmerzen, sie nur dadurch vergessend, daß sie sich selbst Gewalt anthat, um uns, die sie liebte, den Kindern und mir, Freude und das Fest des Lebens zu schenken.

Aber ich erinnere mich doch, wie bald ich dieses Etwas sah, das zu vergessen unsere ganze Ehe ein wechselnder Kampf war. Ich sah es an ihrem Gesichte, wenn sie allein saß und sich unbeobachtet glaubte, und anfangs meinte ich, als ich dies sah, daß zwischen mir und ihr etwas stünde. Ich pflegte sie darnach zu fragen, und es ist schwer zu sagen, ob es meine Liebe oder meine Eigenliebe war, die mich glauben ließ, daß nichts anderes, als was mich selbst berührte, ihr Glück trüben konnte. Ich sah, daß ich sie mit meinen Fragen unsäglich quälte, aber ich fragte sie doch, und bei solchen Anlässen konnte sie mit einem Ausdruck lächeln, als weilte ihre Seele weit weg, einem Ausdruck, der mich noch in der Erinnerung quält, weil es dieser Ausdruck war, den ich jahrelang zu besiegen strebte, aber der schließlich die Oberhand bekam und mich besiegte.

„Du sollst mich nicht fragen,“ sagte sie einmal. „Ich weiß selbst nicht, was es ist. Ich weiß nur, daß kein Mensch es verstehen kann.“

In was sie da blickte, gehört dem Unbekannten an, wonach Alle fragen, aber worauf Niemandem eine Antwort wird. Doch wie hätte ich das damals verstehen können? Unser Leben war glücklich, unsere Tage froh, unsere Knaben wuchsen heran und erfüllten unser Heim mit ihrer frohen Munterkeit. Und niemals war Elsa zärtlicher gegen mich, als wenn ich diese Momente schweigender Betrübtheit bemerkt hatte, die ich das Recht gehabt hätte, unmotiviert zu nennen, wenn es keine anderen Motive gäbe als die, welche die Menschen in Worte kleiden können.

4.

Zu dieser Zeit waren unsere Knaben herangewachsen und waren schon große Jungen. Olof hatte bereits mit der Schule angefangen, und Svante näherte sich auch schon der Zeit, wo er beginnen sollte, die trockenen Nüsse vom Baume der Erkenntnis zu knacken.

Zu dieser Zeit war es, daß die dunklen Stunden zum ersten Male anfingen, meiner Frau übermächtig zu werden, und mehr als einmal sah ich, daß sie geweint hatte. Sie wich mir in ihrer stillen Weise aus, und sie that es, damit ich sie bei solchen Anlässen nicht fragen sollte. Ich kann nie vergessen, welche Angst mich in dieser Zeit beherrschte. Diese Angst schlich sich Nachts an mich heran, wenn ich einsam an meinem Schreibtisch saß. Sie folgte mir, wenn ich ging, um mich zur Ruhe zu legen, und sie blieb in der Dunkelheit auf dem Rande des Bettes sitzen, während ich wach lag und den Atemzügen meiner Frau lauschte, um zu hören, ob sie schlief.

So still wurde es zwischen uns in dieser Zeit, so wunderlich still. Wir konnten in unser Wohnzimmer kommen und die Lampe anzünden, und wir konnten dort sitzen, ohne ein Wort zu sagen, und wir fühlten, wie das Schweigen sich gleich einer Mauer zwischen uns aufrichtete, die Niemand aufgebaut, aber die auch Niemand niederreißen konnte. Und wenn unsere Hände sich suchten, war es nur, weil wir es mußten und Keiner von uns es ertragen konnte, ferne von dem Anderen zu sein, obgleich wir Beide fühlten, daß wir es im Grunde doch waren.

Die Knaben kamen herein, um Gutenacht zu sagen. Wir küßten sie Beide, und wir sahen ihnen nach, wenn sie gegangen waren. Aber kein Wort wurde gesprochen, und wenn ich meinen Kopf wieder nach der Richtung wandte, wo meine Frau saß, fühlte ich, daß sie weinte, aber ich hörte es nicht. Wir hätten nicht unglücklicher sein können, wenn Eines von uns oder wir Beide ein dunkles Geheimnis zu verbergen gehabt hätten. Und doch wußten wir Beide, daß es kein solches gab.

„Bist Du unglücklich mit mir, Elsa?“ fragte ich sie.

Und zur Antwort hörte ich sie schluchzen, wie in höchster Angst:

„Wenn ich Dich nicht hätte, glaubst Du, daß ich da leben könnte?“

5.

Wie lange diese Zeit währte, kann ich mich nicht mit Bestimmtheit entsinnen. Ich weiß nur, daß ich mich ihrer wie eines einzigen entsetzlichen Winters ohne Schnee erinnere, eines langen, dunklen Strichs in unserem Leben, das mich leer und ohne Sinn dünkte. Nachher habe ich den Tod das Teuerste, was ich besaß, aus meinen Armen reißen sehen, ich sah Freunde sterben, ich habe mich von Allem verlassen gefühlt, wofür ich geistig sterben oder leben wollte. Aber etwas, das sich mit diesem Winter vergleichen läßt, habe ich niemals erlebt, denn damals glaubte ich, daß Elsa im Begriffe stand, von mir fortzugleiten, und dieser Gedanke war mir furchtbarer als irgend etwas, das andere Menschen mir zufügen konnten oder das mich überhaupt im Leben zu treffen vermochte.

Diese Zeit war so bitter, weil ich damals das einzige Mal in meinem Leben in meinem Herzen hart gegen sie wurde, und ich wurde es, weil ich es nicht besser verstand. Ich kam schließlich dazu, mich in mich selbst zurückzuziehen so wie sie, denn der Gram beherrschte mich; endlich bekam der Gram Stimme, und die harten Worte zitterten in der Luft um uns.

Eines Tages fand ich sie in Thränen, und mit einer Stimme, die nicht mehr meine war, rief ich aus:

„Wie lange glaubst Du, daß ich das aushalten werde?“

Im selben Augenblick, in dem ich es gesagt, bereute ich meine Worte, und niemals werde ich den Ausdruck des Schreckens vergessen, der ihr ganzes Antlitz versteinerte.

„Was meinst Du?“ sagte sie.

„Das, was ich sage.“