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Moderne Produktion

Herausgegeben von Marion Steven

Marion Steven/Jan Niklas Dörseln (Hrsg.)

Smart Factory

Einsatzfaktoren – Technologie – Produkte

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-036468-4

E-Book-Formate:

pdf:    ISBN 978-3-17-036469-1

epub: ISBN 978-3-17-036470-7

mobi: ISBN 978-3-17-036471-4

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Vorwort

 

 

 

Der industrie- und wirtschaftspolitische Sammelbegriff »Industrie 4.0« bezeichnet die technischen und wirtschaftlichen Gestaltungsdimensionen, die sich aus der umfassenden informationstechnischen Vernetzung von Produktions- und Wertschöpfungsprozessen ergeben. Die Digitalisierung von Produktion und Logistik bringt vielfältige Entwicklungschancen für den Hightech-Produktionsstandort Deutschland mit sich. Gleichzeitig führt sie zu erheblichen Veränderungen bei den Organisationsstrukturen und den Abläufen in produzierenden Unternehmen. Wissenschaft und Praxis stehen vor der Herausforderung, die mit der Digitalisierung, Abstimmung und Vernetzung von physischen Objekten verbundenen Chancen und Risiken zu erkennen und in innovative Lösungen zur Erhöhung der langfristigen Wettbewerbsfähigkeit umzusetzen.

Die Reihe »Moderne Produktion« stellt in loser Folge aktuelle Themen aus dem Bereich Industrie 4.0 vor. Der vorliegende Sammelband »Smart Factory« thematisiert die Herausforderungen, denen sich die Wertschöpfungsaktivitäten von Unternehmen aufgrund der vierten industriellen Revolution gegenübersehen. Vielfach bestehen in den Unternehmen deutliche Informationsdefizite und mangelnde Fachkenntnisse hinsichtlich der technischen Voraussetzungen und der Einsatzmöglichkeiten und Potentiale der neuen Technologien.

Um das Konzept Industrie 4.0 in der Produktion erfolgreich umzusetzen, bedarf es des unternehmerischen Muts zur Investition in neue Technologien und einer – oft tiefgreifenden – Umgestaltung sowohl der internen als auch der die Unternehmensgrenzen überschreitenden Wertschöpfungsprozesse. Die durch die zunehmende Digitalisierung von Produkten und Produktionsprozessen getriebene vierte Industrielle Revolution erfordert nicht nur erhebliche Veränderungen bei der Organisation der Wertschöpfungsstrukturen, sondern auch bei der Gestaltung der Beziehungen zu Lieferanten und Kunden in immer umfassenderen Wertschöpfungsnetzwerken. Dies stellt die Unternehmen vor große Herausforderungen, die einer wissenschaftlichen Analyse bedürfen.

Erfreulicherweise ist es uns gelungen, eine Reihe von ausgewiesenen Expertinnen und Experten aus verschiedenen Fachdisziplinen zu gewinnen, die sich aus ihrer jeweiligen Perspektive mit den vielfältigen Facetten dieser Problematik auseinandersetzen. Der Fokus der Beiträge in diesem Sammelband liegt auf den Veränderungen im Produktions- und Logistikbereich, die sich aus der digitalen Transformation ergeben. In einer Smart Factory laufen große Teile der Wertschöpfung kundengetrieben, autonom und echtzeitgesteuert ab, indem cyberphysische Systeme eingesetzt werden, die sich untereinander vernetzen. Die Palette der behandelten Themen reicht von der Konstruktion in Form des digitalen Engineerings über die Steuerung der eigentlichen Produktionsprozesse bis hin zur Auslieferung der Produkte durch eine smarte Logistik.

Im Anschluss an eine Einführung in die Thematik sind die insgesamt zehn Beiträge entsprechend dem typischen Ablauf der Wertschöpfung den folgenden fünf Themenfeldern zugeordnet:

•  Themenfeld I »Digitalisierung« befasst sich in zwei Beiträgen von Gerhard und Sobotta mit der Frage, wie sich die Digitalisierung auf den Konstruktionsprozess in einer Smart Factory auswirkt bzw. welche Rolle der digitale Zwilling bei der Planung im administrativen Bereich spielt.

•  Die beiden dem Themenfeld II »Einsatzfaktoren« zugeordneten Beiträge von Dörseln und Stetzka setzen sich mit der veränderten Rolle der Beschaffung bzw. des Humankapitals in einer Smart Factory auseinander.

•  Im Themenfeld III »Technologie« veranschaulichen die beiden Beiträge von Volkmann et al. und Brückner et al. die Möglichkeiten des Robotereinsatzes in der Smart Factory sowie die Einsatzmöglichkeiten der additiven Fertigung.

•  Die Veränderungen auf der Ebene der Produktionsprozesse werden in Themenfeld IV »Prozesse« in den beiden Beiträgen von Dümpelmann und Henke et al. am Beispiel von Lean 4.0 bzw. der Smart Maintenance untersucht.

•  In den beiden dem Themenfeld V »Logistik« zugeordneten Beiträge von Pollmeier und Schade stehen mit Virtual und Augmented Reality bzw. smarten Identifikationstechnologien die sich aus der Digitalisierung ergebenden Potentiale zur Steuerung von Logistikprozessen im Vordergrund.

Die Zielgruppe dieses Bandes sind Praktiker aus Industrie und Beratung, aber auch Studierende der Betriebswirtschaftslehre oder des Wirtschaftsingenieurwesens sowie Dozenten und Lehrende dieser Fächer. Wir danken dem Kohlhammer Verlag, insbesondere Herrn Dr. Uwe Fliegauf, für die gute Zusammenarbeit und die Unterstützung bei der Konzeption und Herausgabe dieses Sammelbands.

 

Bochum, im Dezember 2019

Marion Steven und Jan Niklas Dörseln

Inhalt

 

 

 

  1. Vorwort
  2. 1 Smart Factory – Einführung
  3. Marion Steven, Jan Niklas Dörseln
  4. I Digitalisierung als Grundlage der Smart Factory
  5. 2 Digital Engineering – Basis für Smarte Produkte und Services
  6. Detlef Gerhard
  7. 3 Lean Digitalization – Durchlaufzeitenoptimierung in administrativen Bereichen durch Implementierung eines Digital Process Twins in der Auftragsplanung und -steuerung
  8. Richard Sobotta
  9. II Einsatzfaktoren
  10. 4 Beschaffung 4.0 als Grundlage einer Smart Factory
  11. Jan Niklas Dörseln
  12. 5 Anforderungen an Humankapital in einer Smart Factory
  13. Robin Stetzka
  14. III Technologie
  15. 6 Roboter in der autonomen Produktion der Zukunft
  16. Magnus Volkmann, Jonas Weigand, Martin Ruskowski
  17. 7 Qualitätssicherung in der additiven Fertigung
  18. Prof. Dr. Frank Brückner, Prof. Dr. Christoph Leyens, Dr. Elena López, Christoph Wilsnack
  19. IV Prozesse
  20. 8 Lean 4.0 in der Smart Factory
  21. Ina Dümpelmann
  22. 9 Transformationsmanagement für die Smart Maintenance
  23. Michael Henke, Maximilian Austerjost, Alexander Michalik, Nick Große
  24. V Logistik
  25. 10 Einsatzpotenziale von Virtual und Augmented Reality in der Logistik
  26. Inga Pollmeier
  27. 11 SMART LOGISTICS – Effizienzgewinne durch den Einsatz smarter Identifikationstechnologien in der Logistik
  28. Sonja Schade

1          Smart Factory – Einführung

Marion Steven, Jan Niklas Dörseln1

1.1  Entstehung und Bedeutung der Smart Factory

1.2  Digitalisierung

1.3  Einsatzfaktoren

1.4  Technologie

1.5  Prozesse

1.6  Logistik

Literaturverzeichnis

 

1.1       Entstehung und Bedeutung der Smart Factory

In erster Näherung versteht man unter Industrie 4.0 die Durchführung von industriellen Produktionsprozessen mithilfe von hochentwickelten Informations- und Kommunikationstechnologien. Voraussetzung dafür ist eine durchgängige Digitalisierung und Vernetzung der an der Leistungserstellung beteiligten Objekte – also Maschinen, Werkzeuge, Werkstücke, Ladungsträger, Fahrzeuge usw. – sowie sämtlicher Prozessschritte. Seit der Begriff Industrie 4.0 im Jahr 2011 auf der Hannover Messe Industrie vorgestellt wurde, hat er sowohl in der wissenschaftlichen Diskussion als auch in Politik und Praxis zunehmende Aufmerksamkeit erhalten. Bei der Transformation der Gesamtwirtschaft bzw. der einzelnen Unternehmen zu Industrie 4.0 handelt es sich um eine interdisziplinäre Aufgabe, bei der Fachleute aus den Ingenieurwissenschaften, vor allem Maschinenbau, Elektrotechnik, Mess- und Automatisierungstechnik, der Informatik und den Wirtschaftswissenschaften zusammenarbeiten müssen.

Im Gegensatz zu vielen anderen Volkswirtschaften ist die Industrie in Deutschland nach wie vor das Rückgrat der Wirtschaft (vgl. Kagermann 2017, S. 235). Die Bruttowertschöpfung des Verarbeitendes Gewerbes belief sich 2018 auf 786,9 Mrd. Euro bzw. 25,8% des Bruttoinlandsprodukts (vgl. Institut der deutschen Wirtschaft 2019, S. 25). Um auf diesem hohen Niveau wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen die produzierenden Unternehmen die sich aus der Digitalisierung der Wertschöpfungsprozesse ergebenden Möglichkeiten aktiv nutzen. Der Verband BITKOM sieht das volkswirtschaftliche Potential von Industrie 4.0 in 2025 bei 78,77 Mrd. Euro, davon entfallen 61,94 Mrd. Euro auf das Verarbeitende Gewerbe (vgl. BITKOM 2014, S. 8).

Die auch als vierte Industrielle Revolution bezeichnete Digitalisierung des Fertigungsbereichs und der ihm vor- und nachgelagerten betrieblichen Funktionen führt dazu, dass sich die automatisierten Fabriken, die aus der dritten industriellen Revolution (vgl. z. B. Steven 2019, S. 18 ff.) hervorgegangen sind, zu intelligenten Fabriken bzw. Smart Factories weiterentwickeln. Diese unterscheiden sich sowohl in ihrem organisatorischen Aufbau als auch bezüglich der zur Produktionsplanung und -steuerung eingesetzten Verfahren teilweise erheblich von ihren Vorgängern.

Die Smart Factory gilt als das Herzstück von Industrie 4.0 (vgl. Lünendonk GmbH 2016, S. 9). Eine wesentliche Voraussetzung für eine smarte Fabrik ist die umfassende Digitalisierung und Automatisierung der Produktionsmittel, die über verschiedene Ebenen hinweg erfolgt. Werkzeuge, Maschinen, Lagersysteme und Transportmittel wandeln sich zu cyberphysischen Systemen (CPS) bzw. cyberphysischen Produktionssystemen (CPPS), indem sie mit Embedded Systems, bestehend aus Sensoren, Prozessoren und Aktoren, erweitert werden. Diese kommunizieren untereinander, aber auch über Mensch-Maschine-Schnittstellen mit den Mitarbeitern über das Internet der Daten, Dinge und Dienste, so dass sämtliche Instanzen in einer Wertschöpfungskette in Echtzeit mit den fertigungsrelevanten Informationen versorgt werden können. Dies führt zu einer zunehmenden Bedeutung der Informationsflüsse in der Fabrik der Zukunft.

Im Internet der Dinge wird jedes Objekt über seine IP-Adresse mit einer eindeutigen Identität versehen. So kann z. B. ein Fahrzeug die Information über seinen aktuellen Standort oder eine Maschine die Information über ihren aktuellen Betriebszustand für andere Instanzen in der Wertschöpfungskette bereitstellen. Auch die – häufig kundenindividuell konzipierten – Produkte können als Smart Objects in den Informationsfluss eingebunden werden, so dass es zu einer umfassenden Verknüpfung der physischen Welt der Objekte mit der virtuellen Welt der digitalen Daten kommt. Die intelligente Vernetzung der Fertigungsobjekte ermöglicht eine weitgehend automatisierte, dezentrale und echtzeitnahe Abstimmung von Maschinen und Abläufen in der Smart Factory. Intelligente Maschinen planen und koordinieren idealerweise selbstständig ihre Fertigungsprozesse, motorisierte Serviceroboter kooperieren in der Montage mit Menschen und Maschinen, fahrerlose Transportfahrzeuge erledigen eigenständig Logistikaufträge.

In der Zukunftsvision einer Smart Factory steuern sich die Werkstücke bzw. Aufträge mithilfe von aktiven RFID-Chips, internen und externen Netzwerken und über eindeutige IP-Adressen selbst durch die Fertigung und fordern autonom ihren Materialbedarf und die benötigten Kapazitäten bei den jeweils als nächstes in der Maschinenfolge vorgesehenen Fertigungseinrichtungen oder den benötigten smarten Ladungsträgern und Transportmitteln an. Sie sind eindeutig identifizierbar, können jederzeit lokalisiert werden und kennen zu jedem Zeitpunkt sowohl ihre bisherige Fertigungshistorie und ihren aktuellen Zustand als auch die noch ausstehenden Bearbeitungen. Weiter kennen sie verschiedene Pfade, um ihren Zielzustand zu erreichen. Die daraus resultierende große Flexibilität bezüglich der Wege durch die Fertigung führt dazu, dass auf wechselnde Kundenanforderungen und sogar auf kurzfristige Änderungswünsche umfassend reagiert werden kann. Dabei lässt sich vielfach die als One Piece Flow bezeichnete Losgröße Eins zu den Kosten der Massenfertigung erreichen.

Für die Fertigung in einer Smart Factory müssen physische und digitale Prozesse synchronisiert, automatisiert und optimiert werden, um die Unternehmen in die Lage zu versetzen, in Echtzeit auf beliebigen Geräten von überall Einblicke in die Abläufe auf dem Shop Floor nehmen zu können, damit sofort auf Zielabweichungen reagiert werden kann. Um dies zu realisieren, ist eine Weiterentwicklung der bislang genutzten Planungs- und Steuerungssysteme für Produktion und Logistik erforderlich, die sowohl die vielfältige Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure also auch die umfassenden Möglichkeiten der speicherprogrammierbaren Steuerungen auf der operativen Ebene berücksichtigen muss (vgl. Seitz 2015, S. 303 ff.). Dazu ist eine durchgängige Integration sämtlicher Ebenen der Automatisierungspyramide – von der Prozessebene bis zur Unternehmensebene – erforderlich.

Häufig eingesetzte Instrumente in Smart Factories sind Augmented Reality (AR) bzw. Virtual Reality (VR). Diese erlauben die Simulation von Abläufen mithilfe eines digitalen Zwillings bzw. die Unterstützung von Mitarbeitern, die an entfernten Orten tätig sind, mit digitalen Ad hoc-Informationen. Der Umfang und das Tempo der in Industrie 4.0 anfallenden Datenmengen (Big Data) sind nur mithilfe von dynamischen Analysemethoden zu bewältigen, die in der Lage sind, schnell die relevanten Strukturen und Zusammenhänge zu erkennen.

Ein weiterer Trend in der Organisation von Wertschöpfungsprozessen, der durch die schnelle und ubiquitäre Verfügbarkeit von Informationen unterstützt wird, ist die zunehmende Kooperation von Smart Factories, bei der die einzelnen Prozessschritte über die Unternehmensgrenze hinweg auf denjenigen Partner in einem Industrie 4.0-Netzwerk verlagert werden, der über die entsprechenden Kompetenzen und Kapazitäten verfügt. Ein Industrie 4.0-Netzwerk umfasst Lieferanten, Produzenten, Logistikdienstleister und Absatzkanäle, die sich intelligent vernetzen und z. B. auch über Cloud-Anwendungen, d. h. die Nutzung von externen Serverkapazitäten zur Speicherung von Daten und Bereitstellung von Anwendungen innerhalb des Netzwerks, abstimmen. Die Qualität der zwischenbetrieblichen Zusammenarbeit hängt wesentlich von der effektiven und effizienten Abwicklung der Logistikprozesse ab, so dass eine Logistik 4.0 erforderlich wird.

Zur Unterstützung der Unternehmen bei der Umsetzung von Industrie 4.0 wurde u. a. die Plattform Industrie 4.0 ins Leben gerufen, in der über 300 Akteure aus Wirtschaft, Verbänden, Gewerkschaften, Wissenschaft und Politik konstruktiv zusammenarbeiten. Neben dem Informationsaustausch hinsichtlich der Möglichkeiten zur digitalen Transformation der Industrie werden in verschiedenen Arbeitsgruppen Handlungsempfehlungen, Leitfäden und Publikationen erstellt. Die Online-Landkarte Industrie 4.0 ermöglicht einen stets aktuellen Überblick über bereits erfolgreich umgesetzte Industrie 4.0-Lösungen (vgl. BMWi 2018). Aktuell wird der Umsetzungsstand von Industrie 4.0 in der deutschen Industrie als gering eingeschätzt (vgl. Rösch 2019), so dass ein erheblicher Handlungsbedarf besteht.

In dem vorliegenden Sammelband werden der aktuelle Stand sowie zukünftige Potentiale und Implikationen des Forschungsgebiets Smart Factory aus verschiedenen fachlichen Perspektiven aufgearbeitet. Dabei wird insbesondere untersucht, von welchen Faktoren der Erfolg und die Wettbewerbsfähigkeit einer Smart Factory abhängen. Die einzelnen Beitragsautoren, renommierte Fachleute der Produktionswirtschaft und verwandter Disziplinen, diskutieren die technischen Voraussetzungen und die perspektivischen Möglichkeiten eines konsequenten Übergangs von der traditionellen Produktionsweise zur Smart Factory, dem – nicht nur nach Ansicht der Beteiligten – eine zentrale Bedeutung für die Zukunftsfähigkeit des Standorts Deutschland zukommt.

Abbildung 1 gibt einen Überblick über den inhaltlichen Zusammenhang der Beiträge, die fünf aufeinander aufbauenden Themenfeldern zugeordnet sind. Im Anschluss an grundlegende Ausführungen zur Digitalisierung orientiert sich die Reihenfolge der Themenfelder am betrieblichen Wertschöpfungsprozess.

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Abb. 1: Smart Factory – Überblick über den Aufbau

•  In Themenfeld I »Digitalisierung« wird die Bedeutung dieser Basistechnologie von Industrie 4.0 für den Aufbau und die Abläufe in einer Smart Factory untersucht.

•  Themenfeld II »Einsatzfaktoren« befasst sich mit den veränderten Anforderungen an die Materialwirtschaft bzw. die Personalwirtschaft, die sich aus der digitalisierten Wertschöpfung ergeben.

•  Gegenstand von Themenfeld III »Technologie« sind die Fertigungstechnologien, die in einer Smart Factory zur Anwendung kommen.

•  Darauf aufbauend stehen in Themenfeld IV »Prozesse« die Veränderungen bei den Planungs- und Transformationsprozessen in der Smart Factory im Mittelpunkt.

•  Den Abschluss bildet das Themenfeld V »Logistik«, in dem die wesentlichen Veränderungen behandelt werden, die bei den unternehmensübergreifenden Wertschöpfungsprozessen auftreten.

1.2       Digitalisierung

Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie definiert die Digitalisierung als die umfassende datentechnische Vernetzung aller Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft in Verbindung mit der Fähigkeit, relevante Informationen zu sammeln, zu analysieren und in Handlungen umzusetzen. Durch die Digitalisierung wird die physische mit der virtuellen Welt verknüpft (vgl. BMWi 2015, S. 3). Der Prozess der Digitalisierung hat mit der wirtschaftlichen Nutzung der elektronischen Datenverarbeitung in der Mitte des 20. Jahrhunderts begonnen und sich seitdem immer weiter beschleunigt. Auch für die bei Industrie 4.0 erfolgende Verknüpfung von realer und virtueller Welt ist die Digitalisierung eine grundlegende Voraussetzung, die daher im ersten Themenfeld behandelt wird. Sie erfolgt einerseits auf der Ebene der vom Unternehmen erbrachten Leistungen und andererseits auf der Ebene der Produktionsprozesse und Abläufe.

Die Digitalisierung der Leistungen führt zu smarten Produkten, smarten Services sowie smarten Produkt-Service-Systemen. Voraussetzung für das erfolgreiche Angebot digitaler Leistungen ist die durchgängige Digitalisierung des Erstellungsprozesses, die bereits bei der Produktentwicklung einsetzen und den gesamten Produktlebenszyklus umfassen muss. Damit befasst sich der Beitrag Digital Engineering – Basis für Smarte Produkte und Services von Detlef Gerhard. Er zeigt auf, wie die unterschiedlichen Methoden, Werkzeuge, Modelle und Prozesse des Digital Engineering zusammenwirken und welche Veränderungen der Engineering-Prozess dadurch erfährt. Inhaltliche Schwerpunkte sind dabei die Unterstützung der verschiedenen Engineering-Phasen durch das Cloud Computing auf der Datenebene und die künstliche Intelligenz, durch die insbesondere die Lebenszyklusorientierung unterstützt werden kann.

Die Verschlankung von Abläufen durch die Digitalisierung steht im Mittelpunkt des Beitrags Lean Digitalization – Durchlaufzeitenoptimierung in administrativen Bereichen durch Implementierung eines Digital Process Twins in der Auftragsplanung und -steuerung von Richard Sobotta. Im Rahmen einer Fallstudie für den Sonderfahrzeugbau zeigt er auf, wie durch den Einsatz eines digitalen Prozesszwillings die Ablaufplanung und dabei insbesondere die Einhaltung von zugesagten Lieferterminen über eine in Echtzeit auf Änderungen reagierende Durchlaufzeitplanung verbessert werden kann. Dabei konnten die Durchlaufzeiten deutlich reduziert und die Produktivität des Produktionssystems gesteigert werden. Weiter wurden Verbesserungen bei den sieben zuvor aufgezeigten Verschwendungsarten erreicht.

1.3       Einsatzfaktoren

Auch in einer Smart Factory steht die Versorgung des Unternehmens mit den für die Produktion erforderlichen Einsatzfaktoren am Anfang der betrieblichen Wertschöpfungskette. Durch die Digitalisierung werden einerseits die benötigten Materialien und die zugehörigen Beschaffungsprozesse beeinflusst, andererseits kommt es zu erheblichen Veränderungen in der Arbeitswelt, die bei der Auswahl und Weiterbildung der Mitarbeiter zu berücksichtigen sind.

Die Rolle der Beschaffung im Rahmen von Industrie 4.0 wird von Jan Niklas Dörseln in seinem Beitrag Beschaffung 4.0 als Grundlage einer Smart Factory untersucht. Er zeigt auf, durch welche Erfolgsfaktoren die Wettbewerbsfähigkeit der Smart Factory wesentlich beeinflusst wird und welchen Beitrag die Beschaffung hierfür leisten kann. Im Mittelpunkt des Beitrags steht der Einsatz verschiedener Industrie 4.0-Technologien zur Datenanalyse, Datenverwertung und Datenvisualisierung, die die Vernetzung der Smart Factory mit ihren Lieferanten fördern und den Beschaffungsprozess unterstützen.

Trotz erheblichen Technologieeinsatzes wird auch die Smart Factory nicht menschenleer sein, allerdings verändern sich die benötigten Qualifikationen und Kompetenzen. Damit setzt sich Robin Stetzka in seinem Beitrag Anforderungen an Humankapital in einer Smart Factory detailliert auseinander. Ausgehend von der Bedeutung des Humankapitals für die Wertschöpfung erarbeitet er auf Basis der Qualifikationsmatrix des Arbeitskreises Deutscher Qualifikationsrahmen (DQR) und mithilfe einer umfangreichen Literaturanalyse systematisch, welche Kompetenzen von den Mitarbeitern in einer Smart Factory auf fachlicher und persönlicher Ebene erwartet werden. Bei den Fachkompetenzen kommt dem Wissen in den Bereichen IT und Technologie und dessen Anwendung besondere Bedeutung zu, bei den personalen Kompetenzen stehen die die Interaktionsfähigkeit im Team und die Lernbereitschaft im Vordergrund.

1.4       Technologie

Von zentraler Bedeutung für die Abläufe in einer Smart Factory sind die neuen Fertigungstechnologien, die auf Basis der zunehmenden Digitalisierung entwickelt werden. Die Ausprägungen der in der Fertigung eingesetzten cyberphysischen Produktionssysteme können in Abhängigkeit von der jeweiligen Branche sehr unterschiedlich sein. Jedoch ist abzusehen, dass im Rahmen der vierten industriellen Revolution sämtliche Branchen – von der Fertigungsindustrie bis hin zur prozesstechnischen Industrie – von diesem technologischen Wandel betroffen sein werden (vgl. BMWi 2015, S. 11). Die beiden Beiträge in diesem Themenbereich fokussieren sich auf zwei innovative Technologien, die im Rahmen von Industrie 4.0 zum Einsatz kommen.

In der intelligenten Fabrik werden Fertigungsroboter eingesetzt, die vorausschauend ihre Wartung veranlassen, zu eigenständigem Lernen in der Lage sind und sich untereinander digital vernetzen. Magnus Volkmann, Jonas Weigand und Martin Ruskowski beschäftigen sich in ihrem Beitrag Roboter in der autonomen Produktion der Zukunft mit den verschiedenen Einsatzmöglichkeiten von Industrierobotern, kollaborativen Robotern, mobilen Robotern und kognitiven Robotern in der Smart Factory. Sie sehen das Potential des Robotereinsatzes vor allem in einer weitgehenden Autonomisierung der Fertigung, durch die eine immer weitere Individualisierung der Produkte unterstützt wird. Dennoch wird auch die Fabrik der Zukunft nicht menschenleer sein, denn komplexe Montageprozesse lassen sich am effizientesten in kollaborativen Bereichen für die Mensch-Maschine-Interaktion durchführen.

Die auch als 3D-Druck bezeichnete additive Fertigung, bei der ein Werkstück schichtweise aus einem pulverförmigen oder pastösen Werkstoff aufgebaut wird, ist eine Technologie mit vielfältigen Einsatzbereichen, die ebenfalls die Herstellung von kundenindividuellen Produkten unterstützt. Im Mittelpunkt des Beitrags Qualitätssicherung in der additiven Fertigung von Frank Brückner, Christoph Leyens, Elena Lopez und Christoph Wilsnack stehen verschiedene Ansätze, mit denen sich der Prozess der additiven Fertigung so gestalten lässt, dass die Endprodukte die gewünschten Qualitätseigenschaften aufweisen.

1.5       Prozesse

In der Prozessperspektive stehen die operativen Abläufe innerhalb einer Smart Factory im Vordergrund. Durch die Autonomisierung der cyberphysischen Produktionssysteme werden einerseits Abläufe vereinfacht, andererseits steigt in vielen Bereichen die Komplexität erheblich an. Große Bedeutung kommt dabei der Sicherstellung der jederzeitigen Verfügbarkeit der teuren Produktionsanlagen sowie der konzeptionellen Unterstützung der Produktionsplanung und -steuerung zu.

Ina Dümpelmann untersucht in ihrem Beitrag Lean 4.0 in der Smart Factory, inwiefern sich das Produktionskonzept des Lean Management mit Industrie 4.0 verknüpfen lässt und mithilfe welcher Instrumente das sich daraus ergebende Lean 4.0 in der Smart Factory umgesetzt werden kann, um die Erreichung der in Kontext von Industrie 4.0 relevanten Zielsetzungen Qualität, Flexibilität, Wirtschaftlichkeit und Vernetzung zu unterstützen. Dabei zeigt sich, dass das traditionelle Instrumentarium des Lean Managements nicht ausreicht, um sämtlichen Zielen gerecht zu werden. Daher nimmt Dümpelmann eine Anpassung vor, bei der insbesondere der Einfluss der cyberphysischen Systeme auf die für die Produktionsplanung und -steuerung benötigten Methoden und Instrumente berücksichtigt wird.

Der Beitrag Transformationsmanagement für die Smart Maintenance von Michael Henke, Maximilian Austerjost, Alexander Michalik und Nick Große zielt auf die Veränderungen bei den Aufgaben und der Durchführung der Instandhaltung von Produktionsanlagen im Industrie 4.0-Umfeld ab. Unter Smart Maintenance versteht man eine proaktive, verfügbarkeitsorientierte Instandhaltung, die in Abstimmung mit der Produktionsplanung flexibel auf die Nutzung der Anlagen reagiert. Die Autoren zeigen mithilfe des Dortmunder Management-Modells auf, welche Transformationsprozesse in den verschiedenen Handlungsfeldern erforderlich sind, um von der traditionellen Instandhaltung zur Smart Maintenance zu gelangen. Dies ermöglicht letztlich einen Wertbeitrag der Instandhaltung im Sinne eines »Return on Maintenance«.

1.6       Logistik

Auch in der Logistik besteht ein großes Potential für die Anwendung von Industrie 4.0-Technologien. Während der Einsatz von RFID-Systemen zur schnellen und sicheren Identifikation von Warenströmen bei der innerbetrieblichen Logistik bereits seit mehr als zehn Jahren erfolgreich vorangetrieben wird, besteht in der zwischenbetrieblichen Logistik noch ein erhebliches Defizit bei der durchgängigen Erfassung aller relevanten Transportdaten und der onlinebasierten Bearbeitung von materialflussbezogenen Dokumenten auf sämtlichen Wertschöpfungsstufen.

Inga Pollmeier befasst sich in ihrem Beitrag Einsatzpotenziale von Virtual und Augmented Reality in der Logistik mit zwei vielversprechenden Technologien zur Verbesserung der Interaktion von Menschen und Maschinen, die vor allem in der innerbetrieblichen Logistik zum Einsatz kommen. Ausgehend von den jeweiligen technischen Grundlagen und der Funktionsweise stellt sie exemplarische Anwendungen der beiden Technologien im Kontext der Smart Factory vor. Weiter führt sie eine SWOT-Analyse durch, bei der sie die Stärken und Schwächen sowie die Chancen und Risiken des Einsatzes von Virtual Reality und Augmented Reality im Unternehmen analysiert. Als entscheidende Einflussgrößen für den Erfolg des Technologieeinsatzes arbeitet sie die Anwenderfreundlichkeit heraus, die wesentlich für die Akzeptanz bei den Mitarbeitern ist.

Smart Logistics – Effizienzgewinne durch den Einsatz smarter Identifikationstechnologien in der Logistik ist das Thema von Sonja Schade. Aufgrund der großen Bedeutung der Informationsversorgung für die Automatisierung von Logistikprozessen legt sie den Schwerpunkt auf den Einsatz der RFID-Technologie zur Identifikation von Warenströmen und zur Unterstützung der Abläufe in einer Smart Factory. Im Anschluss an eine umfassende Darstellung der verschiedenen technologischen Lösungen und ihrer Einsatzmöglichkeiten werden Wirtschaftlichkeitskriterien herangezogen, um die Auswahl der für verschiedene Prozessumgebungen geeigneten Systemkomponenten zu unterstützen. Die durchgängige Nutzung von RFID-Transpondern in Verbindung mit Industrie 4.0-Technologien verspricht erhebliche Effizienzgewinne sowohl in der innerbetrieblichen Logistik als auch innerhalb des gesamten Industrie 4.0-Netzwerks.

Literaturverzeichnis

 

BITKOM (Hrsg.): Industrie 4.0 – Volkswirtschaftliches Potenzial für Deutschland, Berlin 2014

Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) (Hrsg.): Industrie 4.0 und Digitale Wirtschaft, Berlin 2015

Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) (Hrsg.): Plattform Industrie 4.0 – Digitale Transformation »Made in Germany«, Köln 2018

Institut der deutschen Wirtschaft Köln e. V. (Hrsg.): Deutschland in Zahlen 2019, Köln 2019

Kagermann, H.: Chancen von Industrie 4.0 nutzen, in: Vogel-Heuser, B., Bauernhansl, T., ten Hompel, M. (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0 Band 4, 2. Auflage, Springer Vieweg, Berlin 2017, S. 235-246

Lünendonk GmbH: Smart Factory – Wie die Digitalisierung Fabriken verändert, Mindelheim 2016

Rösch, F.: Technologien sind noch zu wenig bekannt, in: Best in Procurement 10, 2019, S. 42

Seitz, M.: Speicherprogrammierbare Steuerungen für die Fabrik- und Prozessautomation, 4. Auflage, Hanser, München 2015

Steven, M.: Industrie 4.0: Grundlagen – Teilbereiche – Perspektiven, Kohlhammer, Stuttgart 2019

1     Lehrstuhl für Produktionswirtschaft, Ruhr-Universität Bochum. Kontakt: Marion.Steven@rub.de; Jan.Doerseln@rub.de. Homepage: www.prowi.rub.de

 

 

 

I           Digitalisierung als Grundlage der Smart Factory

2          Digital Engineering – Basis für Smarte Produkte und Services

Detlef Gerhard2

2.1  Von CAD zu Digital Engineering

2.2  Smarte Produkte und Services als Treiber für die Digitale Transformation

2.2.1 Erweiterung des Engineering Prozesses auf die Nutzungsphase

2.2.2 Funktionale Absicherung von Produkten durch Co-Simulation

2.3  Anwendung von Methoden der Künstlichen Intelligenz im Digital Engineering Prozess

2.3.1 Einsatz von KI in Engineering Software-Werkzeugen

2.3.2 Einsatz von KI beim Betrieb von PSS am Beispiel der Produktion

2.4  Zusammenfassung und Ausblick

Literaturverzeichnis

 

2.1       Von CAD zu Digital Engineering

Produkte bzw. technische Systeme müssen soweit wie möglich auf der virtuellen Ebene durch entsprechende rechnergestützte Werkzeuge und Modellrepräsentationen entwickelt und Entscheidungen abgesichert werden, um zeit- und kosteneffizient zu arbeiten. Dieses Paradigma besteht schon seit mindestens drei Jahrzehnten und hat sich ständig weiterentwickelt, ebenso wie die Begrifflichkeiten: Von CAD bzw. CAx über Virtuelle Produktentwicklung (VPE) und Digital Mock-Up (DMU) bis hin zum Model Based Systems Engineering (MBSE). Entwicklung und Produktion in der Industrie wären schon heute ohne die massive Nutzung rechnergestützter Verfahren nicht mehr wettbewerbsfähig.

Der Begriff Digital Engineering adressiert gegenüber den nahe an der Produktentwicklung orientierten oben genannten Begriffen einen erweiterten Umfang über alle Phasen des Lebenszyklus’ eines Produkts. Unter Digital Engineering wird die durchgängige Anwendung funktional geeigneter IT Verfahren und Software-Werkzeuge für die Entwicklung, Herstellung und Nutzung von Produkten verstanden. Das Wesentliche ist die digitale Abbildung sämtlicher Schritte der Wertschöpfungskette mit allen entstehenden Informationsflüssen. Von der Planungsphase über Entwurf und Ausgestaltung und den Produktionsprozess bis hin zum nutzungsbegleitenden Monitoring der Produkte werden virtuelle Produkt- und Prozessmodelle übergreifend über alle Lebenszyklusphasen miteinander vernetzt. Digital Engineering umfasst also insbesondere auch das Management der benötigten Informationen über den gesamten Produktlebenszyklus verbunden mit geeigneten Repräsentationsformen und einer systematischen Vorgehensweise bzw. abgestimmten Abläufen. Hauptziele sind die Prozessbeherrschung sowie die Sicherstellung der Qualität und Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen. Diese spielen eine bedeutende Rolle für die Fähigkeit eines Unternehmens, Wettbewerbsvorteile zu erzielen. Im Vordergrund steht also nicht mehr das einzelne System bzw. Werkzeug für CAD oder Simulation, sondern der gesamte Prozess bzw. Prozessketten für bestimmte Teilprozesse.

Das durchgängige Daten- und Informationsmanagement innerhalb der Digital Engineering Prozesse ist jedoch eine komplexe Aufgabe, die eine Reihe von Herausforderungen mit sich bringt, wie z. B. die Einbeziehung mehrerer Unternehmen oder Organisationseinheiten, die Integration unterschiedlicher Disziplinen oder der Umgang mit Unsicherheit im Prozess bei individualisierten Projekten (Smith und Morrow, 1999; Browning et al., 2006). Diese Herausforderungen nehmen im aktuellen Kontext immer komplexer werdender Produkte und Systeme (Feldhusen und Grote, 2013) und zunehmend geforderter Agilität und Flexibilität (Rebentisch et al., 2018) im Prozess stetig zu. Cyber-Physical Systems (Rizvi et al., 2018), nachhaltige Produktentwicklung (Buchert et al., 2017) und kombinierte Produkt-Service-Systeme (PSS) (Nguyen et al., 2014) stellen zudem neue Anforderungen an die bereits stark in ein enges Korsett an Vorgaben und Randbedingungen gepressten Entwicklungsaktivitäten. Insbesondere bei der Kombination von Produkten und Dienstleistungen ist jede Lösung aufgrund der Menge möglicher Konfigurationen für einzelne Angebote stark individualisiert (Meier et al., 2010). Diese Individualisierung führt zu einer geringeren Wiederholbarkeit von Aufgaben im Engineering und erfordert daher mehr Flexibilität bei deren Management (Hernandez-Pardo et al., 2013). Die Anwendung von systematischen Vorgehensweisen bzw. Vorgehensmodellen ist anerkannte Praxis, um die oben genannten Herausforderungen zu bewältigen und die Effizienz der Produktentwicklung zu steigern (Engwall et al., 2005). Solche Modelle ermöglichen eine Rationalisierung der kreativen Arbeit, verringern die Wahrscheinlichkeit, dass wichtige oder sogar kritische Aufgaben vergessen werden, erleichtern die Planung und verbessern die Kommunikation zwischen den am Prozess beteiligten Personen und Fachdisziplinen (Gericke und Blessing, 2011). Das in der VDI Richtlinie 2206 (2004) beschriebene V-Modell oder der in der VDI Richtlinie 2221 (2018) beschriebene »systematische Ansatz zur Entwicklung und zum Entwurf technischer Systeme und Produkte« liefern eine sehr gute, wenn auch allgemein formulierte und auf betriebliche Spezifika anzupassende Basis hierfür. Ein Vorgehensmodell für einen Entwicklungsprozess definiert üblicherweise die Aktivitäten auf einem generischen Niveau bzw. die Art und Weise, wie ein Prozess durchgeführt wird, die zu verwendenden Methoden, erwartete Ergebnisse pro Aufgabe und Informationsflüsse (Wynn und Clarkson, 2018). Der letztgenannte Aspekt ist für den Themenkomplex Digital Engineering besonders relevant. Hier kommen eine Vielzahl unterschiedlicher (Partial-)Modelle zum Einsatz, die jeweils formal einen bestimmten Teilaspekt oder Ausschnitt der Informationen des gesamten Entstehungsprozesses umfassen. Die Definition zielgruppenspezifischer Sichten auf dieselben Daten für unterschiedliche Akteure des interdisziplinär ausgerichteten Produktentstehungsprozesses erfordert die Nutzung geeigneter Informationssysteme (Madni und Sievers, 2018). Die verschiedenen Dimensionen und Aspekte von Digital Engineering sind in Abbildung 2 dargestellt.

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Abb. 2: Digital Engineering Dimensionen und Aspekte

Neuerdings wird in diesem Zusammenhang wieder verstärkt der Begriff Digitaler Zwilling (Glaessgen und Stargel, 2012) verwendet, obwohl auch dieser bereits vor knapp 20 Jahren von M. Grieves geprägt wurde (Grieves, 2002). Die Bezeichnung ist – wenn auch sehr plakativ – insofern etwas irreführend, da man implizit davon ausgeht, dass es nur einen einzigen Zwilling gibt, der als virtuelles Modell im Rechner alle Informationen beinhaltet, die für ein technisches System vom Engineering bis zum Betrieb relevant sind. Dies entspricht möglicherweise der Vision, welche bereits seit den 1980er Jahren insbesondere auch durch die NASA und ihre Raumfahrtaktivitäten gedanklich und konzeptionell angestrebt wurde, ist jedoch bislang nicht in der Form umgesetzt worden und erscheint auch nicht realistisch. Digitale Zwillinge sind Repräsentationen von Dingen aus der realen Welt, bilden aber immer nur einen bestimmten Teilausschnitt bzw. Partialmodelle ab. Sie können sowohl physische Objekte als auch nicht physische Dinge wie z. B. Dienste beschreiben, indem sie alle relevanten Informationen und Dienste mithilfe einer einheitlichen Schnittstelle zur Verfügung stellen (Kuhn, 2017). Auch wenn z. B. ein Produktionssystem erst in der Entwicklungsphase ist, wird es bereits einen digitalen Zwilling bzw. üblicherweise eine Kombination aus mehreren Partialmodellen besitzen, welche die zentralen Eigenschaften dieser Anlage im Sinne der virtuellen Produktentwicklung beschreiben. Noch bevor die Produktion beginnt und Daten aus dem realen System in eine modellhafte Repräsentation übernommen werden können, kann mit dem digitalen Zwilling die Fertigungslinie virtuell erprobt und optimiert werden. Ebenso hat das Produkt, welches auf der Fertigungslinie produziert wird, einen digitalen Zwilling, so dass im Idealfall der digitale Zwilling der Fertigungslinie und der digitale Zwilling des Werkstücks eine gemeinsame Schnittstelle definieren.

Die Digital Engineering Prozesse entwickeln sich ständig weiter, da sich die unterstützenden Technologien wie beispielsweise Cloud Computing und Services exponentiell entwickeln und sich dadurch neue Möglichkeiten eröffnen. Technologien von heute werden bald veraltet sein und durch schnellere und effizientere Tools ersetzt. Die Art und Weise, wie wir Produkte entwickeln und Projekte umsetzen, verändert sich stetig. Kollaborative Echtzeitprozesse für Co-Design und Review rücken in den Vordergrund und lösen konventionelle, papierbasierte Prozesse ab. Die zeichnungslose Fertigung beispielsweise wird jetzt in Industrieunternehmen umgesetzt, obwohl sie konzeptionell seit mindestens zwei Dekaden verfügbar und auch technisch möglich ist.

2.2       Smarte Produkte und Services als Treiber für die Digitale Transformation

Smarte Produkte und Produkt Service Systeme sind wesentliche Treiber für die Digitale Transformation der Unternehmen (Abramovici et. al., 2016). Lange Zeit betrachteten Unternehmen den Gewinn aus dem Verkauf von Produkten als Haupteinnahmequelle. Im Sondermaschinen- und Anlagenbau ist allenfalls der Verkauf von produktbezogenen Wartungsverträgen und die damit verbundenen Services als zusätzliche Möglichkeit, Geschäft zu generieren, schon seit einiger Zeit erschlossen. Kunden, die komplexe technische Systeme nutzen oder betreiben, fordern jedoch schon länger zunehmend ganzheitliche Lösungen für ihre individuellen Problemstellungen, und ihre Kaufentscheidung basiert oft maßgeblich darauf, möglichst umfangreiche Services im Betrieb nutzen zu können und dadurch Stillstands- bzw. Ausfallzeiten zu vermeiden. Nicht allein der Verkaufspreis ist bzw. die Anschaffungskosten sind also die kaufbestimmende Größe (Vandermerwe und Rada 1988). Das Angebot von »hybriden« (Spath und Demuß, 2006) Produkt-Dienstleistungs Bündeln bzw. Product Service Systems (Wiesner et al., 2014) ist also in den letzten Jahren massiv in den Vordergrund gerückt, insbesondere da es durch den technologischen Fortschritt im Bereich der eingebetteten Systeme sowie der Informations- und Kommunikationstechnologie bzw. der Realisierung sogenannter Cyber-Physischer Systeme (CPS) stark vereinfachte Möglichkeiten gibt, Maschinen- und Anlagensysteme zu überwachen, Fernwartungen durchzuführen, und basierend auf der Zustandsüberwachung gezielt vorausschauende und vorbeugende Wartungsmaßnahmen durchzuführen, um einen optimalen und störungsfreien Betrieb zu gewährleisten. Wiesner und Thoben (2017) unterscheiden in diesem Zusammenhang vier Stufen der Entwicklung vom Produkt zum Produkt-Service System, welche in der folgenden Abbildung 3 dargestellt und anschließend erläutert sind.

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Abb. 3: Entwicklungsstufen vom Produkt zum PSS (Quelle: In Anlehnung an Wiesner und Thoben, 2017)

1.  Das (materielle) Produkt wird ohne Dienstleistungskomponente verkauft und vom Käufer betrieben.

2.  Die Funktionalität des materiellen Produkts wird durch eine Dienstleistung, die sehr eng an den Betrieb des Produkts gebunden ist (Wartung, Ersatzteillieferung usw.), erweitert. In diesem Fall dominiert immer noch die Rolle bzw. auch der Kauf des materiellen Produkts.

3.  Die Verfügbarkeit des materiellen Produkts für seinen Verwendungszweck wird z. B. durch gezielte Zustandsüberwachung verbunden mit entsprechenden Wartungsmaßnahmen, welche die Ausfallwahrscheinlichkeit minimieren, verbessert und vom Anbieter durch eine Service-Level-Vereinbarung (SLV) garantiert. Das materielle Produkt wird zwar noch separat verkauft, oftmals jedoch nur in Verbindung mit der Dienstleistungserbringung und dem SLV.

4.  Das materielle Produkt wird von den Ergebnissen seiner Anwendung entkoppelt. Der Kunde kauft Produkt und Dienstleistung, die zur Lösung seines spezifischen Problems gebündelt sind. Das materielle Produkt wird nicht separat, sondern nur zur Erbringung der Dienstleistungen verwendet. Es tritt nicht mehr separat als Komponente der Leistungserbringung in Erscheinung. Abrechnungsformen für dieses PSS-Modell sind beispielsweise Pay-per-Use oder Pay-for-Performance.

2.2.1     Erweiterung des Engineering Prozesses auf die Nutzungsphase

Durch die oben skizzierte Entwicklung gewinnt die Betrachtung der Nutzungsphase eines Produktes stark an Bedeutung. Während sich bislang die Engineering Prozesse stark auf die frühen Produktlebenszyklusphasen, also insbesondere Produktentwicklung und Produktionssystementwicklung sowie Herstellung fokussiert haben, müssen Betrieb und Services insbesondere durch Entwicklung entsprechender Lösungs-Architekturen und Umsetzung von spezifischen Produktfunktionen zur Unterstützung von Services bereits im Digital Engineering Prozess frühzeitig und integrativ mitberücksichtigt werden. Auch wenn der Produktlebenszyklus oft als lineare Abfolge von aufeinander abfolgenden Phasen dargestellt wird, ergibt sich in der Realität für Industrieunternehmen aufgrund parallel laufender Produktentwicklungsprojekte, parallel abzuarbeitender Kunden- und Produktionsaufträge im Wertschöpfungsnetzwerk oder Entwicklungsverbund und parallelen Betriebs von Maschinen bzw. Anlagen im Sinne des PSS-Konzepts ein mehrdimensionales und vielschichtiges Geflecht aus unterschiedlichen Informationsverarbeitungsbedarfen (Gerhard, 2017). Die entstehenden Daten und damit verbunden die eingesetzten IT-Verfahren und Informationsflüsse in beide Richtungen weisen enorme Unterschiede auf. In der Produktentwicklungsphase liegt der Schwerpunkt auf abstrakten Modellen, welche möglichst gut das reale Verhalten eines Systems widerspiegeln sollen. In der Nutzungsphase entstehen in erster Linie Zeitreihendaten bzw. sensorisch erfasste Messwerte eines konkreten Betriebszustands, teilweise mit der Notwendigkeit der Echtzeitdatenverarbeitung. Die Art und Weise, wie Durchgängigkeit von Informationen gewährleistet, Abhängigkeiten transparent gemacht und Korrelationen bzw. Kausalzusammenhänge für verschiedene Fragestellungen abgeleitet werden können, muss konzeptionell und methodisch auf einer generischen Ebene vorgedacht und dann unternehmensspezifisch umgesetzt werden.

Bisher lag der Fokus aus Sicht des Digital Engineering auf der modellhaften Repräsentation und der Erstellung aller notwendigen Unterlagen zur Entwicklung und Herstellung eines Produkts sowie dem Management dieser produktbezogenen Informationen im Sinne von Transparenz und Nachvollziehbarkeit. Die weiter oben auch als Digitaler Zwilling bezeichnete Ansammlung verschiedener miteinander in Beziehung stehender Partialmodelle bezieht sich auf ein generisches Produkt bzw. eine Produktklasse, gegebenenfalls mit Varianten. Für Smarte Produkte bzw. Produkt Service Systeme, welche die eingebettete »Intelligenz« der Produkte als Basis für eine erweiterte Dienstleistung nutzen, ist es aber essenziell wichtig, zusätzlich die modellhafte Repräsentation des Produkts im Betrieb, also die aktuellen Nutzungsdaten und darüber hinaus auch die fortlaufende Dokumentation aller Änderungen bzw. MRO-Operationen (Maintenance, Repair, Overhaul) des Produkts im Betrieb zur Verfügung zu haben. Dies muss dann zwangsläufig auf Ebene der Produktinstanz passieren, d. h. ein Digitaler Zwilling existiert dann für jedes individuelle Produkt, bildet das digitale Abbild, welches in der Entwicklungsphase entsteht und fortlaufend mit Daten aus Herstellung und später der Nutzung gespeist und angereichert werden kann. Dadurch werden die Änderungen im Betrieb und der Einsatzkontext entsprechend berücksichtigt.

Die Herausforderung besteht nun darin, den digitalen Zwilling über den Lebenszyklus eines komplexen technischen Systems hinweg permanent aktuell zu halten bzw. Änderungen nachzuhalten (Traceability). Für die Optimierung des operativen Betriebs (Betriebsphase) einer Anlage werden im allgemeinen Daten, die sensorisch erfasst oder in der Steuerungssoftware einer Anlage vorhanden sind, für den digitalen Zwilling verwendet. Diese können über entsprechende IoT Devices, ggf. unter Nutzung von Edge Computing erfasst und verarbeitet werden. Wenn es um planerische Aktivitäten bzw. Aufgaben geht (Engineering Phase), beispielsweise für Service-Aufgaben, für den Austausch von Anlagenkomponenten, für das Einbringen zusätzlicher Sicherheits- oder Versorgungseinrichtungen oder für die dynamische Simulation von Platzverhältnissen und Kollisionen bei beweglichen Teilen, reichen Sensoren und IoT Devices der Anlage zur Datenerfassung nicht aus. Stattdessen muss eine räumliche Erfassung des Systems mit seinen Komponenten erfolgen sowie eine Identifikation dieser Komponenten auf Basis von geometrischen oder anderen Merkmalen. Bei einer Lebensdauer von 30 oder mehr Jahren ist dies eine permanent wiederkehrende Aufgabe. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund zu sehen, dass es in der industriellen Praxis i. d. R. immer zu Abweichungen zwischen Planung und Ausführung kommt, d. h. die Informationen »as designed«, »as planned«, »as built« und »as maintained« gegeneinander abgeglichen werden müssen, um die modellhafte Repräsentation aktuell zu halten. Die Gründe für die Abweichungen sind vielschichtig. Im Wesentlichen liegt es wohl daran, dass beispielsweise bei Produktionssystemen oder in der industriellen Prozessindustrie üblicherweise multi-disziplinäre Teams bzw. viele Gewerke aus dem Bauwesen, dem Maschinen- und Anlagenbau, der Elektro- und Sicherheitstechnik etc. beteiligt und eine Vielzahl von Softwaresystemen im Einsatz sind.

Für den Erfassungs- und Abgleichprozess von räumlich-geometrischen Informationen wird eine Kombination verschiedener Technologien aus dem Bereich der Bildverarbeitung, Virtual und Augmented Reality (VR/AR) sowie ggf. die Nutzung von Drohnen für die Automatisierung verwendet. AR-Anwendungen auf Smart Devices verarbeiten heute nicht nur rein visuelle Informationen, sondern kombinieren diese mit den Messwerten der integrierten Bewegungs- und Beschleunigungssensoren mittels Sensorfusion (Yousif et al., 2015). Spezielle Bilderkennungsalgorithmen, die häufig auf Methoden des maschinellen Lernens (ML) basieren, ermöglichen eine automatische Erkennung von Objekten auf Kamerabildern, wodurch sich diese wiederum mit ihren 3D-Koordinaten im Raum lokalisieren lassen (Witten et al., 2017). Damit lassen sich Bilder und Videos mit Referenzdaten der geometrischen Modellierung vergleichen und Komponenten erkennen, um sie eindeutig identifizieren, verorten und kontextbezogen die für diese Komponenten relevanten Informationen aufbereiten zu können.

2.2.2     Funktionale Absicherung von Produkten durch Co-Simulation

Bei komplexen und vernetzten technischen Systemen (Systems of Systems) ist es enorm wichtig, die funktionale Ebene bzw. die Logik und das Verhalten bereits im Engineering zu modellieren und zu simulieren, um robust die geforderte Produktfunktion bei unterschiedlichen Betriebszuständen absichern zu können. Dies gilt