Wolfgang Wöller Astrid Lampe Helga Mattheß Julia Schellong Falk Leichsenring Johannes Kruse

Psychodynamische Therapie der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung

Ein Manual zur Behandlung nach Kindheitstrauma

Unter Mitarbeit von

Alexa Negele

Impressum

Priv.-Doz. Dr. med. Wolfgang Wöller

E-Mail: wolfgang.woeller@gmx.de

Ao. Univ.-Prof. Dr. med. Astrid Lampe

E-Mail: astrid.lampe@tirol-kliniken.at

Dr. med. Helga Mattheß

E-Mail: helga.matthess@t-online.de

Dr. med. Julia Schellong

E-Mail: Julia.Schellong@uniklinikum-dresden.de

Prof. Dr. rer. nat. Falk Leichsenring

E-Mail: falk.leichsenring@psycho.med.uni-giessen.de

Prof. Dr. med. Johannes Kruse

E-Mail: johannes.kruse@psycho.med.uni-giessen.de

Dr. phil. Alexa Negele

E-Mail: alexa.negele@gmail.com

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Besonderer Hinweis

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Schattauer

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© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Jutta Herden, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von © Robert Wnuk on Unsplash

Lektorat: Dr. Stephanie Born

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-40039-7

E-Book: ISBN 978-3-608-11632-8 | PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20474-2

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Vorwort

Das vorliegende Manual zur psychodynamischen Behandlung der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung beschreibt ein fokussiertes störungsorientiertes therapeutisches Vorgehen, das sich an den Prinzipien strukturbezogener psychodynamischer Psychotherapie orientiert und in besonderem Maße ressourcenaktivierende Interventionen nutzt. Inhaltlich sind zwei Aufgaben zu bewältigen: Zum einen muss es darum gehen, den betroffenen Patienten1 die unter beziehungstraumatischen Lebensumständen unzureichend ausgebildeten Ich-Funktionen der Selbst- und Beziehungsregulation verfügbar zu machen. Zum zweiten sollen die mit hoher Stressbelastung einhergehenden abgespaltenen traumatischen Erinnerungsfragmente so modifiziert werden, dass sie zu abgeschlossenen Erinnerungen werden, die der Vergangenheit angehören und nicht mehr die Gegenwart vergiften.

In einen psychodynamischen Behandlungskontext eingebundene ressourcenaktivierende Interventionen können dabei wesentlich zur Restitution der traumatisch geschädigten inneren Repräsentanzenwelt beitragen. Sie spielen in mehrfacher Hinsicht eine wichtige Rolle: bei der Reaktivierung einmal vorhandener, jedoch unzugänglich gewordener Ich-Funktionen, und im Rahmen der Traumabearbeitung durch Stärkung der Selbstrepräsentanz mit ihren erwachsenen und kindlichen Anteilen.

Auch und gerade bei der fokussierten Arbeit an Ich-Funktionen und traumatischen Erinnerungsfragmenten ist psychodynamisches Behandeln in erster Linie ein Arbeiten in und mit Beziehungen. Erhalten bleiben die zentralen Wesensmerkmale psychodynamischer Therapie: die auf subjektive Bedeutungen und zentrale Beziehungsbedürfnisse hin orientierte therapeutische Haltung und die Annahme, dass bei allen Geschehnissen in der Therapie unbewusste Prozesse sowohl auf Seiten der Patientin wie auch auf Seiten der Therapeutin eine wesentliche Rolle spielen.

So wichtig Expertenwissen ist, so bedeutsam ist auch die Bereitschaft, die Grenzen unseres eigenen Wissens nicht nur hinsichtlich der Besonderheiten des Patienten, sondern auch im Hinblick auf unsere unbewusste Motivierung anzuerkennen. Dazu gehört die Überzeugung, dass wir zur Korrektur unseres eigenen Unbewussten und der ihm geschuldeten Wahrnehmungsverzerrungen den fortgesetzten Dialog mit unseren Patienten suchen müssen und ihre Rückmeldungen auf verbaler und nonverbaler Ebene brauchen. Wir benötigen ihre Rückmeldung, um Hinweise zu erhalten, ob das, was wir vermitteln wollten, auch tatsächlich als hilfreich erlebt wird. Das bedeutet nicht, dass wir das Wirken unbewusster Prozesse ausschalten können, aber es lehrt uns Bescheidenheit und kann uns im Extremfall vor dem vermessenen Glauben bewahren, wir wüssten schon, was für die Patienten gut sei.

So wollen wir nicht nur das vorzustellende Therapiekonzept, sondern speziell auch den Vorschlag verstanden wissen, die Patienten im Sinne des Durcharbeitens und der Vertiefung des bereits erarbeiteten Verständnisses zu »Sitzungsverbindenden Reflexionen und Übungen« anzuregen. Diese sollen nicht nur der Tatsache Rechnung tragen, dass die Modifikation neuronaler Strukturen auf ein umfangreiches »Durcharbeiten« durch Wiederholen und Üben angewiesen ist, sondern den Patienten auch eine zusätzliche Möglichkeit der Reflexion und Kommunikation schaffen. Keinesfalls sollen damit Inhalte aus der Therapiebeziehung ausgelagert werden; im Gegenteil, sie sollen die therapeutische Beziehung stabilisieren und bereichern, indem sie für die Patienten, objektbeziehungstheoretisch betrachtet, die Rolle von Übergangsobjekten einnehmen, durch die der Therapeut auch außerhalb der Therapiesitzungen symbolisch verfügbar bleibt. Sie sind – ebenso wie Arbeitsblätter zu einzelnen Techniken und Übungen – als Downloadmaterialien zu diesem Buch unter www.klett-cotta.de verfügbar und können so mühelos den behandelten Patienten zugänglich gemacht werden. Einige Beispiele für »Sitzungsverbindende Reflexionen und Übungen« sind darüber hinaus auch im Anhang dieses Buches ab S. 185 enthalten.

Das vorliegende Manual wurde im Rahmen einer multizentrischen Therapiestudie entwickelt, bei der die Wirksamkeit psychodynamischer Therapie bei der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung nach Kindheitstrauma untersucht wird. Es beansprucht nicht, die gesamte Breite der Problembereiche von Patienten mit komplexen Traumafolgestörungen abzubilden. In vielerlei Hinsicht sind herkömmliche psychodynamische Behandlungstechniken sehr wohl geeignet, um die zahlreichen konflikthaften und strukturellen Aspekte der betroffenen Patienten angemessen zu bearbeiten. Doch kann, wenn die Symptomatik der posttraumatischen Belastungsstörung und die mit ihr verbundene Störung der Erinnerungsverarbeitung im Vordergrund stehen, das gewohnte psychodynamische Instrumentarium an Grenzen gelangen. In diesen Fällen mag die Therapeutin dieses Manual zur Grundlage ihrer Therapiekonzeption machen – oder sie kann, wenn die Symptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung erst im Laufe einer schon fortgeschrittenen Therapie auftritt, das in ihm beschriebene Angebot an Interventionen mit modifizierter Behandlungstechnik der laufenden Therapie hinzufügen, um die Besonderheiten dieses Störungsbilds angemessen zu berücksichtigen.

Die Autoren

Einleitung und theoretischer Hintergrund

1 Einleitung

Traumatisierungen in Form physischer, sexueller oder emotionaler Gewalt in Kindheit und Jugend bilden den Hintergrund zahlreicher psychischer und psychosomatischer Störungsbilder, darunter auch die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Misshandlungen und Missbrauch können von Erwachsenen, aber auch von Peers ausgehen. Eine repräsentative Stichprobe der deutschen Bevölkerung nimmt eine Prävalenz von 12 % der Allgemeinbevölkerung für physische Gewalt, von 12,5 % für sexuellen Missbrauch und von 14,9 % für emotionalen Missbrauch an (Häuser et al. 2011).

Das Charakteristikum der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) ist das Vorhandensein symbolisch nicht repräsentierter Erinnerungsfragmente traumatischer Erfahrungen, die so bedrohlich und überwältigend waren, dass sie die Fähigkeit der Psyche, die sensorischen Eindrücke in kohärente Erinnerungen zu transformieren, überfordert haben. Anstelle von Erinnerungen an ein Geschehen, das in höchstem Maße bedrohlich, verletzend, schmerzhaft und demütigend war, aber doch abgeschlossen ist und der Vergangenheit angehört, verfügen die Patienten lediglich über Erinnerungsfragmente – Bilder, Geräusche, Gerüche, Körperwahrnehmungen, Affektzustände und Handlungsmuster –, die sich durch eine hohe Intensität und das Empfinden von Gegenwärtigkeit auszeichnen: als würde das damalige Ereignis in der Gegenwart immer wieder erneut geschehen. Zentral ist der Verlust eines Grundgefühls von Sicherheit (Sandler 1960), das in einem generalisierten Bedrohungserleben zum Ausdruck kommt. Das Selbst- und Weltverständnis der Betroffenen ist dahingehend gestört, als das – zwar irrationale, für Menschen ohne traumatische Vorgeschichte aber dennoch selbstverständliche – Gefühl, in einer sicheren und einschätzbaren Welt zu leben, verlorengegangen und an seine Stelle das Grundgefühl einer unsicheren und unkalkulierbaren Welt getreten ist. Die Folge ist eine andauernde Habachtstellung, verbunden mit dem Gefühl, jederzeit wieder einer traumatischen Erfahrung ausgeliefert sein zu können.

Bei einer Vorgeschichte von Kindheitstraumatisierungen weist das Störungsbild der posttraumatischen Belastungsstörung zahlreiche Besonderheiten auf. Anders als bei einer PTBS, die nach akuten Ereignissen im Erwachsenenalter auftritt, geschehen die Misshandlungs- und Missbrauchstraumen in der Kindheit und Jugend in aller Regel in einem familiären Umfeld emotionaler Vernachlässigung. Diese Umstände sind den Patienten weniger als einzelne, abgrenzbare traumatische Ereignisse, sondern durch eine Atmosphäre allgemeiner Bedrohung, emotionalen Alleingelassenseins und fehlenden Geborgenseins präsent.

In den meisten Fällen sind die Patienten schon in der präverbalen Lebensphase einem Klima emotionaler Vernachlässigung ausgesetzt gewesen. Diese Erfahrungen, die naturgemäß im deklarativen Gedächtnis nicht als konkrete Erinnerungen repräsentiert sein können, schädigen nicht nur die Entwicklung der kindlichen Beziehungsfähigkeit, sondern verändern in gravierender Weise auch basale Ich-Funktionen ebenso wie die Repräsentanzen des Selbst und die der wichtigsten Bezugspersonen (Stoltenborgh et al. 2013).

Zu diesen hier als Bindungs- und Beziehungstraumatisierungen bezeichneten Einflüssen kommen nicht nur die Schädigungen durch die sog. »realen« Traumatisierungen in Form sexueller Übergriffe oder physischer Gewaltanwendung hinzu, sondern auch Schädigungen durch emotionale Gewalt und den Verrat durch wichtige Bezugspersonen, die bei den Übergriffen wegschauten oder sie leugneten. Zu den Formen der emotionalen Gewalt zählt das Ängstigen, Terrorisieren, Demütigen, Einsperren von Kindern. Eine weitere Form der Traumatisierung stellt das Alleinlassen dar; verlassen oder alleingelassen zu werden ist für Kinder ein existenzielles Trauma, das zentral die Bindungsbedürfnisse berührt und mit einer umfassenden Hilflosigkeitserfahrung verknüpft ist (Amos et al. 2011; Teicher et al. 2006).

Die frühen und auch späteren traumatischen Beziehungserfahrungen schlagen sich in der Entwicklung der Selbstrepräsentanz des Kindes als eines von den wichtigsten Bezugspersonen für unwert befundenen Kindes nieder, das ohne Anspruch auf Liebe ausschließlich ihrer Bedürfnisbefriedigung zu dienen hat und dem ein Recht auf die Befriedigung eigener Bedürfnisse abgesprochen wurde, und das auf der anderen Seite ohnmächtig, hilflos, voller Scham und zum Überleben auf ihre Gunst und Zuwendung angewiesen ist. Korrespondierend dazu bilden sich Objektrepräsentanzen aus, vor deren Hintergrund andere Menschen – und namentlich wichtige Bezugspersonen – als potenziell mächtige und unberechenbare Schädiger oder als mächtige omnipotente Retter aus der Not erlebt werden.

Die Auswirkungen einer solchermaßen veränderten Repräsentanzenwelt auf die zwischenmenschlichen Beziehungen manifestieren sich in der Unfähigkeit, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen, der Neigung der Patientin zu Selbstentwertung und Selbstbeschuldigung, und in der Überzeugung, eine gute Behandlung nicht verdient zu haben. Darüber hinaus haben sich aus der Notwendigkeit, mit dem missbrauchenden Täter leben und ihn sogar versorgen zu müssen, auf diese Bedingungen abgestimmte unsichere und oft auch desorganisierte Bindungsmuster entwickelt, die sich im Alltagsleben als hoch dysfunktional erweisen (Lyons-Ruth et al. 2006). Für diese schädigenden Einflüsse auf die Entwicklung des kindlichen Bindungssystems wurden Begriffe wie »Entwicklungstrauma« (van der Kolk 2009), »Bindungstrauma« (Buchheim et al. 2008; Fonagy 2008; Schore 2005) oder »Bindungs- und Beziehungstraumatisierung« (Wöller 2013) vorgeschlagen.

Nach Traumatisierungen in der Kindheit ist daher mit einer weitaus komplexeren Pathogenese und Breite der Symptomatik zu rechnen als nach Traumatisierungen im Erwachsenenalter. Klinisch bedeutsam sind neben der Symptomatik der PTBS vor allem die für komplexe Traumatisierungen charakteristischen Persönlichkeitsveränderungen im Bereich der Selbst- und Fremdwahrnehmung, die schweren Störungen der Selbstwertregulation mit chronischen Schuld- und Schamgefühlen, Veränderungen der persönlichen Glaubens- und Wertvorstellungen und die Neigung zu Traumawiederholung und Reviktimisierung. Weiterhin schlägt sich die Komplexität auch in einer breiten Komorbidität nieder. Sie umfasst depressive, somatoforme, dissoziative und Angststörungen, weiterhin Substanzabhängigkeit, Essstörungen und Persönlichkeitsstörungen, die bei der Behandlungsplanung zu berücksichtigen sind (Egle et al. 2015; Mattheß & Schüepp 2013; Reddemann & Wöller 2017; Sack 2004; Sack et al. 2013b; Schellong et al. 2018; Wöller 2005; Wöller 2006; Wöller 2013; Wöller & Mattheß 2018).

Um das Symptombild, das charakteristischerweise nach Kindheitstraumatisierungen auftritt, diagnostisch zu fassen, wurde von Herman (1992) der Begriff der »komplexen posttraumatischen Belastungsstörung« eingeführt. Er wurde in letzter Zeit wieder aufgegriffen, um im Hinblick auf die ICD-11 eine neue Diagnosekategorie zu schaffen, die neben der Kernsymptomatik der »klassischen« PTBS auch Störungen der Regulation des Selbst und der interpersonellen Beziehungen beschreibt (Maercker et al. 2013; Reed et al. 2018). Die neue diagnostische Kategorie der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung gestattet eine bisher nicht erreichte Präzisierung der Diagnosekriterien, die wir als großen Vorteil und Fortschritt gegenüber allen bisherigen Versuchen der diagnostischen Annäherung betrachten. Er wurde daher diesem Manual zugrunde gelegt ( Kap. 4.2).

Jedoch muss auch auf eine wichtige Einschränkung hingewiesen werden: Durch die Festlegung, dass als eines der Kriterien der neuen Diagnose einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung auch die Symptomatik der »klassischen« PTBS vorliegen muss, kann der von der ICD-11 verwendete Begriff naturgemäß nicht alle im Gefolge von Kindheitstraumatisierungen zu beobachtenden Symptom- und Phänomenbereiche umfassen. Verschiedene Störungsbilder – wie dissoziative Störungen, Persönlichkeitsstörungen oder Essstörungen –, die ebenfalls im Gefolge von Kindheitstraumatisierungen auftreten und insofern auch als komplexe Traumafolgestörungen aufgefasst werden können, sind in ihm nicht enthalten. Sie müssen deshalb als komorbide Störungen kodiert werden. So werden sie auch in diesem Manual behandelt. Ungeachtet der Tatsache, dass diese Störungsbilder auch dann, wenn ihnen eine Traumagenese zugrunde liegt, immer auch eigene therapeutische Konzepte erfordern, wird der Praktiker diesem Manual vermutlich dennoch wertvolle Anregungen für ihre Behandlung entnehmen können.

2 Psychodynamische Modellvorstellungen zu komplexen Traumafolgestörungen nach Kindheitstraumatisierungen

2.1 Sigmund Freud und die Renaissance seines Antipoden Pierre Janet

Historisch betrachtet, stand die Beschäftigung mit psychischen Traumatisierungen am Beginn der psychoanalytischen Bewegung (Freud & Breuer 1895; Freud 1920). Freud und Breuer haben, angeregt durch die wichtigen Arbeiten von Pierre Janet (1889) in Frankreich, Vorstellungen zur Traumagenese der Hysterie formuliert, die unter dem Blickwinkel moderner Psychotraumatologie bahnbrechend waren. In einer Serie von Fallberichten beschrieben sie bei Patienten mit hysterischen Symptomen »Verführungen« durch Erwachsene, die aus heutiger Sicht als sexuelle Übergriffe verstanden werden müssen. Auch hatten Freud und Breuer (1895), ähnlich wie Janet, bei hysterischen Patienten veränderte Bewusstseinszustände nach psychischen Traumatisierungen beschrieben und grundlegende Erkenntnisse zur Entstehung der traumatischen Dissoziation formuliert. Der auf sie zurückgehende Gedanke einer kathartischen Abfuhr »eingeklemmter« Affekte kommt dem Prinzip der Desensibilisierung in neueren Traumatherapien bereits sehr nahe (Wöller 2015b).

Durch die folgenschwere Entscheidung Freuds, seine Verführungstheorie der Neurosen – zumindest in ihrer bisherigen Reichweite – zu widerrufen und sich vor allem der Erforschung unbewusster Konflikte und ihrer Abwehr durch Verdrängung zuzuwenden, gerieten die wichtigen Arbeiten von Janet (1889), aber auch seine eigenen, zusammen mit Breuer verfassten Schriften zunehmend in Vergessenheit. Im Mainstream der psychoanalytischen Theoriediskussion spielten dissoziative Phänomene über lange Zeit kaum noch eine Rolle. Erst in den letzten Jahrzehnten wurden mit der Wiederbelebung der Forschung zu dissoziativen Phänomenen und unter dem Einfluss der modernen Gedächtnisforschung (Tulving 1972) die Beiträge Janets – und damit auch die der frühen Schriften Freuds – für ein psychodynamisches Verständnis der Traumapathologien wiederentdeckt. Auf Janet geht der Gedanke einer Schwäche der integrativen Kapazität der Persönlichkeit zurück, die genetisch verankert ist und durch traumatische Einflüsse manifest wird (van der Hart 2016; Nijenhuis & van der Hart 2011).

Bemerkenswert ist, dass Freud (1920) sich in seinen späten Schriften wieder der Traumapathologie, die mit seinem Konfliktverständnis nur schwer in Einklang zu bringen war, unter dem Blickwinkel ihrer psychoökonomischen Aspekte zuwandte. Im Gegensatz zur Angstentwicklung im Rahmen von Konfliktpathologien wird die unkontrolliert überflutende Angst von Opfern traumatischer Gewalt als Resultat einer durchbrochenen Reizschranke verstanden, bei der die traumatische Energiemenge die Verarbeitungskapazität der individuellen Psyche überschreitet.

Auch die Überlegungen zum Wiederholungscharakter traumatischer Erfahrungen gehen auf die späteren Schriften Freuds (Freud 1920) zurück; er hatte die Tendenz zur Traumawiederholung als den Versuch einer nachträglichen Bewältigung der traumatischen Erfahrung verstanden: Eine Person sucht eine der traumatischen Situation ähnliche Situation aktiv wieder auf, um sie nun – in einer Wendung vom Passiven zum Aktiven – kontrollieren und beeinflussen zu können.

2.2 Sándor Ferenczi und die strukturbildende Wirkung verinnerlichter traumatischer Beziehungsmuster

Von großer Bedeutung sind nach wie vor die Beiträge von Sándor Ferenczi (Ferenczi 1933/1972) zur Introjektionsdynamik von Opfern von Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch. Um die Bindungsbeziehung zu den wichtigsten Bezugspersonen zu erhalten, definiert sich das traumatisierte Kind als unwertes, egoistisches oder »böses« Kind. Durch seine Überzeugung von der eigenen Schlechtigkeit und moralischen Minderwertigkeit kann das Bild der guten Eltern erhalten bleiben. Mit der Übernahme der Schuld für die Misshandlung kann ein Versöhnungsversprechen verbunden sein: Sobald das Kind sich wieder den Erwartungen der Eltern entsprechend verhält, werden sie wieder liebevoll mit ihm umgehen (Ehlert & Lorke 1988; Gleiser 2003). Die verminderte Fähigkeit zur Selbstfürsorge, das schlechte Selbstwertgefühl und die negativen Überzeugungen komplex traumatisierter Patienten – die Überzeugungen, dass sie als Menschen unfähig, unwert oder moralisch schlecht sind und wertschätzende oder respektvolle Behandlung nicht verdient haben – können als Folge der Verinnerlichung traumatischer Beziehungsmuster verstanden werden.

Zu den Schamgefühlen als Folge der Degradierung zum reinen Objekt der Bedürfnisbefriedigung der erwachsenen Person und den Schuldgefühlen aufgrund des Empfindens, »ein schlechtes Kind« zu sein, kommen zudem von den Tätern implantierte Scham- und Schuldgefühle: Nicht wenige Opfer traumatischer Gewalt mussten erleben, wie sie zum Sündenbock für alles Schlechte in der Familie gemacht wurden, wie ihnen die Schuld an der Misshandlung oder dem Missbrauch zugeschoben wurde oder wie ihnen vorgeworfen wurde, sie hätten die Täter verführt oder den an ihnen vollzogenen sexuellen Handlungen bereitwillig zugestimmt. Aus dieser Familiendynamik resultieren umfassende Gefühle von Ohnmacht und Ausgeliefertsein, existenzielle Ängste vor dem Verlassenwerden, eine massive Störung des Selbstwertgefühls und die tief verwurzelte Überzeugung auf Seiten des Opfers, kein Recht auf eigene Gefühle und Wünsche zu haben. Oft werden die von traumatischen Introjekten ausgehenden Gefühle von Selbsthass und die daraus hervorgehenden selbstzerstörerischen Tendenzen als nicht zur eigenen Person gehörig und wie Fremdkörper im Selbst empfunden (Ferenczi 2013; Hirsch 1994; Hirsch 1996; Hirsch 1995).

Die Tendenz zur Wiederholung traumatischer Erfahrungen kann ebenfalls als Folge der Introjektion negativer Beziehungserfahrungen verstanden werden. Die Überzeugung, als Person wertlos, moralisch schlecht und schuldig zu sein, erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Reviktimisierung, wenn gleichzeitig die Überzeugung vorherrscht, Misshandlung als gerechte Strafe verdient zu haben oder als Normalität hinnehmen zu müssen. Der Druck traumatischer Introjekte kann so hoch sein und sich derartig in Stimmungen verzweifelter Lähmung niederschlagen, dass traumatisierte Patienten unbewusst oder bewusst Situationen aufsuchen, die ihnen Entlastung verschaffen können, selbst wenn sie mit Gefahren oder sogar mit Gewaltandrohung verbunden sind. Masochistisch anmutende Verhaltensweisen traumatisierter Patienten können ihren Ursprung in derartigen unerträglichen emotionalen Zuständen haben (Hirsch 1996).

Aber auch andere Aspekte können zur Reviktimisierung beitragen. So kann das Bedürfnis, aus der Kindheit Vertrautes in aktuellen Beziehungen wiederzufinden, Betroffene veranlassen, Kontakt zu gewaltsamen oder grenzüberschreitenden Menschen zu suchen. Es kann auch vorkommen, dass Patienten unbewusst Trigger-Situationen aufsuchen in der Hoffnung, dadurch das Trauma »meistern« zu können (Freud 1920). Schließlich kann die bei komplex traumatisierten Patienten häufig anzutreffende Schwierigkeit, Bedrohliches zu antizipieren, und die daraus resultierende Unfähigkeit, sich zu schützen oder sich von unangemessenen Ansprüchen anderer abzugrenzen, zur Reviktimisierung führen (Bockers et al. 2014; Wöller 2005).

Neben der traumatischen Introjektbildung sind auch Prozesse der Identifikation für ein Verständnis der Persönlichkeitsentwicklung von Opfern traumatischer Gewalt von Bedeutung (Ferenczi 1933/1972). Nach Anna Freud kann einem traumatisierten Kind mithilfe des Abwehrmechanismus der »Identifizierung mit dem Aggressor« (Freud 1936/2012) nicht nur eine Anpassungsleistung im Dienst des Überlebens unter widrigen Lebensumständen gelingen, die es vor Gefühlen überwältigender Ohnmacht und Hilflosigkeit schützt; es kann auch die dringend benötigte Bindungsbeziehung und Nähe zum Täter aufrechterhalten. Die aus der unbewussten Identifizierung mit misshandelnden Bezugspersonen entstehenden aggressiven Persönlichkeitsanteile sind für eine Vielzahl dysfunktionaler Verhaltensmuster verantwortlich. Ihr Einfluss wird spürbar, wenn misshandelte Kinder sich selbst verletzen, wenn sie jüngere Geschwisterkinder misshandeln, wenn Opfer von Kindesmissbrauch eigene Kinder traumatisieren oder wenn sich therapeutische Situationen konstellieren, bei der die Therapeutin zum Opfer der Patientin wird.

2.3 Objektbeziehungstheoretische Modelle

Vertreter der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie haben wichtige Beiträge zu einem neuartigen therapeutischen Zugang bei Opfern traumatischer Gewalt geleistet. So hat, im Anschluss an Ferenczi, Michael Balint (1956; Balint 1969; Balint 1968) auf die Bedeutung einer heilsamen therapeutischen Beziehung hingewiesen (Norcross & Lambert 2011). Patienten, bei denen er eine »Grundstörung« – im Gegensatz zur ödipal-neurotischen Störung – annahm, profitieren nach seiner Auffassung mehr von der Wirkung einer positiven Beziehungserfahrung als von der Einsicht in unbewusste Zusammenhänge.

Auch die Gedanken von Winnicott (1960/2006; Winnicott 1955/1983) haben sich für den Umgang mit komplex traumatisierten Patienten als äußerst fruchtbar erwiesen. Ihm verdanken wir wichtige Beiträge zur »mütterlichen« Funktion des »Haltens« (holding), zur entwicklungsfördernden Wirkung einer unaufdringlichen therapeutischen Beziehung und zur Rolle des Therapeuten in seiner Funktion der »Objektverwendung«. Auch wenn das therapeutische Prinzip der Regressionsförderung für die Behandlung komplex traumatisierter Patienten in dem hier vorgestellten Therapiekonzept nicht befürwortet und stattdessen der Selbstfürsorge auf der inneren Bühne der Vorzug gegeben wird, bleibt aufgrund der Bedeutung des zutiefst erschütterten Vertrauens und der schwerwiegenden Bindungs- und Beziehungsstörungen die herausragende Rolle einer heilsamen therapeutischen Beziehung ein Grundpfeiler psychodynamischer Traumabehandlung.

Spätere objektbeziehungstheoretische Beiträge haben entscheidend zu einem Verständnis der Psychodynamik der traumatischen Situation bei Opfern von Vergewaltigung und sexuellen Übergriffen beigetragen. Ehlert-Balzer (1996) hat dargestellt, wie unter dem absoluten Macht-Ohnmacht-Gefälle einer Vergewaltigungssituation und unter den Bedingungen völligen Ausgeliefertseins und einer tiefen Verachtung und Demütigung des Opfers eine Ich-Regression einsetzt, in deren Folge die Person des Täters als eine strenge, aber im Grunde liebende Elternfigur fantasiert wird, die sich nach vollzogener Strafe wieder versöhnlich zeigen wird. Im Zuge dieser Regression wird die eigene Person zu einem unwerten und schuldigen Kind, das die schlechte Behandlung verdient hat. Die gleichzeitig einsetzende Erkenntnis, dass der Täter im Gegenteil rücksichtslos schädigt, wird dann zum eigentlichen und existenziell erlebten Trauma, bei dem frühkindliche Ängste vor völligem Alleingelassenwerden aktiviert werden.

2.4 Ich-psychologische Modelle und strukturbezogenes Vorgehen

Ich-psychologische Modelle haben sich als zweckmäßig erwiesen, um die regelmäßig bei komplex traumatisierten Patienten auftretenden Störungen basaler Ich-Funktionen zu konzeptualisieren. Diese betreffen vor allem die Störung der Emotionsregulierung sowie Veränderungen der Selbstwahrnehmung und die daraus resultierenden interpersonellen Kompetenzdefizite.

Schädigung der emotionsregulierenden kortikalen und limbischen StrukturenBokanowski 2005Hopper et al. 2007