Hans Frey

Fortschritt und Fiasko

© 2018 by Hans Frey (Text)

Mit freundlicher Genehmigung des Autors

© dieser Ausgabe 2020 by Memoranda Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Melanie Wylutzki

Korrektur: Anne-Marie Wachs

Gestaltung: s.BENeš [www.benswerk.wordpress.com]

Memoranda Verlag

Hardy Kettlitz

Ilsenhof 12

12053 Berlin

www.memoranda.eu

ISBN: 978-3-948616-18-2 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-948616-19-9 (E-Book)

Inhalt

I. Einleitung

1. Genre-Bezeichnung und zeitliche Einordnung

1634: Johannes Kepler

1669: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen

Um 1735: Johann Gottfried Schnabel

1739: Eberhard Christian Kindermann

Um 1790: Johann Friedrich Ernst Albrecht

1790: Carl Ignaz Geiger

Um 1793: Heinrich Zschokke

1801: Jean Paul

II. Blaue Blume vs. Dampfmaschine (1810–1870)

2. Julius von Voß – der deutsche SF-Pionier

Aufklärung und Romantik im 19. Jahrhundert

Wer war Julius von Voß?

Literarische Vorurteile

Ignoriert und vergessen – und doch ein Großer in der SF

3. Mutanten und Roboter bei E. T. A. Hoffmann

4. Die Zeit bis 1870

III. Träume und Albträume in einer verfallenden Welt (1871–1918)

5. Science Fiction im deutschen Kaiserreich

Edward Bellamy

Jules Verne

H. G. Wells

George Tomkyns Chesney

Deutsch war nicht gleich deutsch

Ideologisch motivierte »Ideologiekritik«

Differenzierung ist notwendig

Der Geschichte gerecht werden

Europäische Giftpflanzen und die einmalige deutsche Sumpfblüte

IV. Progressive SF

6. Ein großer Auftakt: Kurd Laßwitz

7. SF für eine humane Gesellschaft

V. Reaktionäre und faschistische SF

8. Die rechtskonservative Dystopie

9. Die faschistische Utopie

Die literarische Vorbereitung des Faschismus

Der nächste Baustein: Rassismus

10. Zukunftskriege der Vergangenheit

Oskar Hoffmann: Die Eroberung der Luft

A. O. K.: Der Mythos der Wunderwaffen

Karl Bleibtreu: Gegen den Rest der Welt

Anonymus: Der Krieg der Zukunft

Hoppenstedt, Maurus und ein weiterer Anonymus

Max Heinrichka: Zukunft als Imperialismus

Anonymus: Krieg-mobil!

Das Grundmuster

Kretinismus und Gehirnwäsche

VI. Zwischen den Fronten

11. Außenseiter und Sonderlinge

Tragisches Leben – tragischer Tod

Verkanntes Genie oder verrückter Asozialer?

Die eine Seite: Soziales Elend und psychische Auffälligkeiten

Die andere Seite: Der visionäre Künstler

Scheerbarts Kunst- und Weltverständnis

Scheerbart und die SF

Grüne SF als Regel-Sammelsurium

Kitsch und Unredlichkeit im grünen SF-Gewand

Der ewige Kreislauf ohne Sinn

Religiöse Fantasien – Gottesstaat und das Reich Jesu

Christlich bestimmte Autoren haben auch anderes zu bieten

VII. Facetten der frühen deutschen Unterhaltungs-SF

12. Wissenschaftlich-technische Zukunftsträume

Dominiks schillerndes Bild

Wie aus Dominik ein Bestsellerautor wurde

Ein neues Paradies

Ein anonymer Philanthrop

Wie man dummen Fremdvölkern die lange Nase zeigt

Der Aufstand der Maschine

Illusionärer Skeptizismus

13. Katastrophen und Weltuntergänge

14. Weltraum-SF

Die Reisen des Kapitän Mors

Robert Kraft und der SF-Heftroman

Technik und Fortschritt bei Hertzka

Abenteuerurlaub auf dem Mond

Der Mond als britische Kronkolonie

Drohkulisse Mond

Scheerbarts Mondphilosophen

Der Ursprung des Marsmythos in der SF

Camille Flammarion und Asaph Hall

Die Marskanäle

Percival Lowell und das Ende der Kanäle

Vorab: Die Marsromane von Laßwitz und Daiber

Illusionäre Raumbewältigungsmaschinen

Der Mars als SF-Routine

Der Spießer vom Mars

Der Astronom Lowell – eine Gefahr für den Mars?

Der Mars und die Frauen

Vom Verteidigungskrieg zum kolonialistischen Genozid

Der sterbende Mars

Der letzte Marsianer

Ein spröder Mars des Überlebenskampfes

Die Götter sind verrückt geworden

Esoterische Reisen und pseudowissenschaftliches Kauderwelsch

Das Universum als Kulisse

Zauberhafte Sternenwelt

15. SF als Laterna Magica

VIII. Zusammenfassung

Anhang

Literaturverzeichnis

Danksagung

Mein herzlicher Dank gilt Wolfgang Both, Harun Raffael und Klaus Scheffler für die kritische Durchsicht des Manuskripts. Ihre kenntnisreichen und sachkundigen Anmerkungen und Korrekturen haben mir geholfen, den Text fachlich und sprachlich zu verbessern. Alle evtl. noch verbliebenen Fehler und Mängel sind ausschließlich mir zuzurechnen.

Hans Frey

I. Einleitung

1. Genre-Bezeichnung und zeitliche Einordnung

1.1. Der Name »Science Fiction«

Dieses Buch stellt die Geschichte der deutschen Science Fiction von 1810 bis 1918 dar. Obwohl ich sehr wohl weiß, dass im Kaiserreich und davor noch kein Mensch in Deutschland von Science Fiction gesprochen hat, benutze ich trotzdem bewusst und konsequent diese Bezeichnung bzw. das Kürzel SF. Deshalb vorab ein Wort zum Genrenamen »Science Fiction«.

Tatsache ist, dass sich der heute unumstrittene Gattungsname paradoxerweise erst durchsetzte, als die SF schon mehr als 100 Jahre alt war. Als Erfinder des Begriffs gilt der aus Luxemburg stammende US-Amerikaner Hugo Gernsback (1884–1967), der in den 1920er-Jahren in seinen Magazinen den Begriff verbreitete. Diese gängige Einschätzung ist allerdings nicht ganz korrekt, da laut Hans Joachim Alpers der britische Essayist William Wilson bereits 1851 in seinem A Little Earnest Book Upon A Great Old Subject die Bezeichnung »Science Fiction« verwendete (Alpers, Bd. 1, S. 24). Das war indes eine einsame Ausnahme. Es bleibt dabei: Gernsback hat den Begriff zum allgemeingültigen Namen des Genres gemacht.

Sprach man in den USA schon Ende der 1920er-Jahre generell von SF, so wurde der Begriff in Deutschland erst ab den 1960er-Jahren zum Allgemeingut. Zuvor waren Etikettierungen wie »technisches Märchen«, »naturwissenschaftlich-fantastischer Roman«, »Zukunftsroman«, »utopischer Roman«, »utopisch-technischer Zukunftsroman« oder auch nur »Zukunftsbild«, »Phantasiestück« bzw. »Phantasie« üblich. Faktisch beschreiben sie aber genau die Werke, die wir heute der SF zuordnen.

Daraus folgt: Unter dem Aspekt der internationalen literaturhistorischen Einheitlichkeit wie auch aufgrund der Tatsache, dass »Science Fiction« die Vielfalt des Genres weit besser zu erfassen vermag als die o. g. alten deutschen Begriffe, benutze ich in diesem Buch durchgehend die Bezeichnung Science Fiction.

1.2. Gab es vor 1800 Science Fiction?

Die Science Fiction ist als Zweig der Literatur eine originär neue geistige Schöpfung des mit der Aufklärung und der Dampfmaschine heraufziehenden Industriezeitalters. Sie ist untrennbar mit der explosionsartigen Entfaltung von Wissenschaft und Technik verbunden, welche die nicht zufällig so genannte industrielle Revolution erst möglich machte. Da dieser Umbruch in der Menschheitsgeschichte im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert seinen Anfang nahm, ist mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts auch die Entstehung des Genres zu datieren.

Kurz: Vor 1800 gab es keine SF! Allerdings gab es durchaus fantastisch-szientistische und futuristische Elemente in einzelnen literarischen Werken, die bereits, ihrer Zeit oft weit vorausgreifend, mit wissenschaftlich-technischen und sozialen Entwicklungen spekulierten und deren Auswirkungen auf die Menschen darstellten (z. B. die Fliegerei, die Raumfahrt, erste Außerirdische, utopische Idealgesellschaften u. v. m.). Derartige Geschichten werden als Proto-SF bezeichnet.

1.3. Was ist Proto-SF?

Die Proto-SF ist zeitlich und inhaltlich bestimmt.

Zeitlich bezieht sie sich auf den Bereich zwischen 1500 und 1800, beginnt also mit der Neuzeit und den drei wegweisenden Utopien von Morus (Utopia), Campanella (Der Sonnenstaat) und Bacon (Nova Atlantis) und endet mit dem Beginn der SF am Anfang des 19. Jahrhunderts (Julius von Voß, Mary W. Shelley, E. T. A. Hoffmann).

Inhaltlich müssen die Werke der Proto-SF einen klaren Bezug zu den Botschaften der späteren SF haben, d. h. sie müssen in wichtigen Passagen Aussagen und Erzählelemente enthalten, die die SF dann aufgriff, ausführte, vertiefte oder sie inspirierte, neue Konzepte und Ideen zu entwickeln. Bedeutende internationale Werke der Proto-SF sind (neben den schon genannten drei Utopie-Büchern) Voltaires Micromegas, de Bergeracs Reise zum Mond und zur Sonne, Defoes Robinson Crusoe, Swifts Gullivers Reisen und Merciers Das Jahr 2440, der wohl erste Zeitreiseroman.

1.4. Deutsche Proto-SF: Kepler und andere

Auch die deutsche Literatur hat Werke vorzuweisen, die man ganz oder zumindest in Teilen der Proto-SF zuordnen kann.

1634: Johannes Kepler

Einer der wichtigsten Romane der deutschen Proto-SF ist das Buch Somnium (Der Traum) von Johannes Kepler (1571–1630). Es erschien 1634, also vier Jahre nach dem Tod des großen Astronomen. Kepler beschreibt die Reise eines gewissen Duracotus zum Mond und das, was ihm dort begegnet. Wer das Buch heute liest, wird es zwar als Proto-SF bezeichnen, es aber in die Kategorie »belehrender Wissenschaftsroman« einzuordnen, scheint danebengegriffen zu sein, wirken Keplers Gedanken nun doch zu fantastisch.

So gelangt Duracotus durch übernatürliche Kräfte auf den Mond. Der Mond selbst hat eine stürmische Atmosphäre und ist von völlig andersartigen, äußerst kurzlebigen Wesen bewohnt, sodass an jedem Tag eine Generation stirbt und eine neue entsteht. (Dieses Motiv finden wir später auch bei der Mondgeschichte des sog. Lügenbarons Börries Freiherr von Münchhausen, unters Volk gebracht von Gottfried August Bürger, und 1943 von der UFA mit Hans Albers verschwenderisch verfilmt und bei H. G. Wells in Die ersten Menschen auf dem Mond.)

Bei genauerer Betrachtung wird jedoch klar, dass Kepler seinen Mondroman dazu benutzt, den Wissensstand seiner Zeit über den Erdtrabanten und seine eigenen astronomischen Erkenntnisse, die er mittels eines kleinen Fernrohrs gewonnen hatte, an die Leser zu bringen. Ihm ist bekannt, dass ein Tag auf dem Mond einen Monat dauert und dass man von der Erde aus die Rückseite des Mondes nicht sehen kann. Uns begegnen eine zerklüftete Felslandschaft mit Bergen, die weit höher sind als die auf der Erde, und gewaltige Furchen und Abgründe. Kepler versucht durchaus, einen Eindruck von der Andersartigkeit des Mondes zu vermitteln – das allerdings auf der zugegebenermaßen mangelhaften, dennoch wissenschaftlichen Grundlage seines Jahrhunderts. Gleichzeitig verpackt er seine Erkenntnisse in einen belletristischen Text und erfindet so das Grundmuster der belehrenden Wissenschaftserzählung in der späteren SF.

1669: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen

Neben Kepler gibt es noch andere interessante Namen und Bücher zum Thema »deutsche Proto-SF«. Zu nennen ist Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen (1622–1676) und sein Hauptwerk Der abenteuerliche Simplicius Simplicissimus (1669). Der Simplicius, insgesamt eine Schilderung der Wirren und Schrecken des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648), die Grimmelshausen am eigenen Leib erfuhr, gilt als wichtigster Roman des deutschen Barock und stellt eine gelungene Mischung aus Abenteuererzählung, Bildungsroman, Kultur- und Gesellschaftskritik, Satire und pikareskem Roman (Schelmenroman) dar. Er besteht aus zehn Büchern, wobei die Bücher 1 bis 5 der »eigentliche« Simplicius sind.

Eine Bedeutung für die deutsche Proto-SF bekommt Grimmelshausen durch die utopischen Passagen, die sein Simplicius enthält. Das sind vor allem die »Mummelsee-Episode«, das »Wiedertäufer-Kapitel« und insbesondere die sog. Jupiter-Episode (Buch III). Hier entrollt sich ein Frage-und-Antwort-Spiel zwischen dem Helden des Romans und einem obskuren Mann, der sich Jupiter nennt, weil er sich für eine Reinkarnation des römischen Göttervaters hält. Beide spekulieren über die Zukunft Deutschlands. Der Diskurs enthält Vorstellungen über eine Abschaffung der Adelsherrschaft und der Einführung demokratischer Strukturen, über autonome Städte, die in einem freiwilligen Staatsverbund zusammenarbeiten, und über einen »ewigen Frieden«.

Ob Grimmelshausen das Ganze ernst meint, ist schwer zu sagen, weil die Figur des Jupiter, die das Zukunftsbild malt, in sich völlig widersprüchlich ist und als verrückt gilt. Ständig vermengt sie vernünftige Gedanken mit blankem Unsinn. Somit scheint sich der Autor von einem Großteil des Gesagten zu distanzieren, deutet aber auch an, dass Jupiter zuweilen durchaus Wahres und Richtiges von sich gibt – war man doch gerade zu jener Zeit davon überzeugt, dass geistig Verwirrte auch Tiefsinniges mitzuteilen hätten. Noch heute spiegelt sich diese Vorstellung in dem volkstümlichen Sprichwort »Narrenmund tut Wahrheit kund«.

Um 1735: Johann Gottfried Schnabel

Die vierteilige Wunderliche Fata einiger Seefahrer (1731–1743), auch als Insel Felsenburg bekannt, von Johann Gottfried Schnabel (1692–1752) ist das nächste erwähnenswerte Werk. Auch diese »Fata« enthält neben vielen fantastischen Beigaben utopische Elemente wie z. B. eine Vorzeigekultur zivilisatorisch hochstehender Menschen, die auf ihrer Insel demonstrieren, dass es auch anders und besser geht.

Immerhin griff Kurd Laßwitz mit seiner Erzählung ›Apoikis‹ auf die Insel Felsenburg zurück. ›Apoikis‹ wiederum ist eine Vorarbeit zu seinem Roman Auf zwei Planeten (siehe 6.4.). In gewisser Weise kann Johann Gottfried Schnabel als Autor gelten, der einen Vorläufer des exotischen SF-Abenteuerromans erschuf.

1739: Eberhard Christian Kindermann

1739 (es wird auch das Jahr 1744 angegeben) veröffentlichte der Hofastronom Eberhard Christian Kindermann (1715–?) den ersten »unechten« Marsroman der Weltgeschichte mit dem Titel Die geschwinde Reise auf dem Luftschiff in die obere Welt. Der Erzähler Fama fliegt mit einem Segelschiff, das von Vakuumkugeln hochgezogen wird, und fünf Begleitern, die Allegorien der fünf Sinne sind, durch den Weltraum, der eigentlich nur eine endlos verlängerte, allerdings sehr dünne Erdatmosphäre ist. Fama landet nicht direkt auf dem Mars, sondern auf einem Marsmond und begegnet hochentwickelten Intelligenzen, deren Technik, Gesellschaft und Ethik weit über denen der Menschheit stehen. Das Buch hat auch eine religiöse Schlagseite, da die Außerirdischen direkt mit ihrem Gott reden, also eine Vermittlung z. B. durch Priester und heilige Bücher nicht brauchen. Wieder auf der Erde stellen die Forscher fest, dass die Reise acht Jahre gedauert hat, obwohl sie ihnen subjektiv ganz kurz vorkam.

Um 1790: Johann Friedrich Ernst Albrecht

Der Schriftsteller Johann Friedrich Ernst Albrecht (1752–1814), der eigentlich auf Ritter- und Räubergeschichten spezialisiert war, legte gleich drei Werke der deutschen Proto-SF vor. Das sind Dreyerley Wirkungen: Eine Geschichte aus der Planetenwelt (1789–1792), Die Affenkönige oder Die Reformation des Affenlandes (1788) und Uranie: Königin von Sardanapalien im Planeten Sirius (1790). Inhaltlich sind alle drei Romane Satiren, die in utopischer Form die irdische Gesellschaft kritisieren.

1790: Carl Ignaz Geiger

1790 publizierte Carl Ignaz Geiger (1756–1791) mit Reise eines Erdbewohners in den Mars den ersten originären Marsroman, weil sein Protagonist direkt den Mars besucht und nicht wie bei Kindermann »nur« einen Mond. Hier dient ein Ballon als Weltraumgefährt, und man findet eine Marskultur vor, die – wenigstens in Teilen – bedeutend besser ist als die irdische. Im Prinzip ist Geigers Geschichte eine gesellschaftskritische Satire, die in Konfrontation zum europäischen Despotentum die Demokratie feiert, wie sie gerade in den blutjungen USA in der Entstehung ist. Das macht Geiger an verschiedenen Marsstaaten fest, die einerseits die alte Adelsherrschaft, andererseits die neue Demokratie repräsentieren.

Um 1793: Heinrich Zschokke

Heinrich Zschokkes (1771–1848) Trilogie Die schwarzen Brüder (1791–1795) befasst sich mit einer Geheimgesellschaft, die aus dem Hintergrund heraus die Entwicklung zu Aufklärung und Demokratie steuert. Im 3. Teil springt Zschokke ins 24. Jahrhundert. Hier wird der fortschrittliche Ansatz zurückgenommen, da in dieser Zukunft die Menschheit nur noch als Haustier und Nutzvieh für »höhere Intelligenzen« dient. Möglicherweise fühlte sich Zschokke von den Gräueln der Französischen Revolution abgestoßen, sodass er eine gewisse Kehrtwendung unternahm. Unabhängig davon gewann seine Idee ein Eigenleben, da sie in der SF des 19. und 20. Jahrhunderts öfter wieder aufgegriffen wurde – man denke an den weltberühmten SF-Roman Die Zeitmaschine (1895) von H. G. Wells, in dem sich die Reste der Menschenwelt (800.000 Jahre in der Zukunft) auch genetisch in zwei Gruppen aufgespalten haben. Es gibt die zarten, schönen, aber naiven Eloi, die in herrlichen Gärten wohnen, und die unter der Erde hausenden, tierhaften Morlocks. Die Morlocks aber (auch Morlocken genannt) sind die eigentlichen Herren, während die Eloi ihr »Vieh« sind, das sie auffressen.

1801: Jean Paul

Der zwischen Klassik und Romantik stehende Autor Jean Paul (1763–1825), eigentlich Johann Paul Friedrich Richter, schuf 1801 mit Des Luftschiffers Giannozo Seebuch einen der ersten originären Luftschifferromane der deutschen Literaturgeschichte (Seebuch = Logbuch).

Giannozos Ballon, faktisch ein lenkbares Luftschiff, ist nur vordergründig ein bloßes Instrument, um von A nach B zu gelangen. Tatsächlich gewinnt es eine eigenständige Qualität, weil sich der Held der Geschichte damit über die Menschenwelt erheben und aus einer keineswegs nur räumlich gemeinten Vogelperspektive ihre Dummheit, Banalität und Verkommenheit kommentieren kann. (Giannozo lässt sein Schiff zuweilen auch landen, um gegen besonders starke Auswüchse vorgehen zu können, scheitert allerdings regelmäßig.) Das Luftschiff in Jean Pauls Roman ist also nicht nur ein profanes Vehikel, sondern der Ausdruck der persönlichen Autonomie und Souveränität des Protagonisten. Somit kann Jean Pauls Werk in Teilen als Proto-SF gelten, weil er einen Topos vorgibt, der ca. 70 Jahre später in der boomenden Luftschiff-SF fest verankert ist – wenn auch meistens in ganz anderen Zusammenhängen.

II. Blaue Blume vs. Dampfmaschine (1810–1870)

2. Julius von Voß – der deutsche SF-Pionier

2.1. Die gescheiterte deutsche Revolution von 1848 und ihre Folgen

Napoleon Bonaparte (1769–1821), der geniale, aber eigensinnige und größenwahnsinnige Emporkömmling, wollte nicht nur Kaiser von Frankreich, sondern auch Oberherr von Europa einschließlich Russlands werden. Damit scheiterte er 1815 in der Schlacht von Waterloo endgültig. Nachdem der Korse entmachtet worden war, verteilten die restaurativen Kräfte (der europäische Adel) auf dem Wiener Kongress 1814–1815 unter der Ägide des Fürsten von Metternich ihre Einflusssphären neu.

Gleichzeitig bildeten sich neue Kräfte und Einflüsse heraus, die sich (nicht nur) in Deutschland wissenschaftlich-technisch in der Fortentwicklung der Dampfmaschine (v. a. der Lokomotive), ökonomisch in einem rasant fortschreitenden Industriekapitalismus und politisch in einflussreichen Strömungen äußerten, die den glühenden Wunsch nach nationaler Einheit mit freiheitlichen und demokratischen Vorstellungen verbanden.

Deutschland war zu dieser Zeit ein politischer Flickenteppich, der sich aus Kleinststaaten sowie größeren bis großen Ländern (z. B. Sachsen oder Bayern) sowie dem mächtigsten deutschen Staat, dem Königtum Preußen, zusammensetzte und ohne Ausnahme von Feudalherren regiert wurde. Das wollten die neuen Bewegungen ändern. Sie favorisierten ein einiges Deutschland unter der Herrschaft des Volkes (gemeint war allerdings von den meisten eine Herrschaft des Bürgertums). In der deutschen Revolution von 1848 brachen sich diese Ideen Bahn. Ein erstes frei gewähltes deutsches Parlament trat in der Paulskirche zu Frankfurt am Main zusammen, um eine Verfassung für das neue, demokratische deutsche Reich zu beschließen.

Doch man hatte die Härte der Reaktion unterschätzt. Die feudale Klasse ließ mit einem ihr treu ergebenen Militär die Revolutionäre gnadenlos zusammenschießen, und es dauerte nicht lange, bis der »demokratische Spuk« zu Ende war. Die Stimmung kippte. Viele wollten zwar immer noch ein einiges Deutschland, aber Demokratie war in den bürgerlichen Kreisen kein Thema mehr.

Der Adel hatte triumphiert, und die neue Klasse der klein- und großbürgerlichen Kapitalisten arrangierte sich mit ihm prächtig. Die Leidtragenden waren ökonomisch vor allem die Arbeiter und politisch die fortschrittlich Gesinnten. Das war die Hypothek, mit der das deutsche Kaiserreich 1871 startete. Es trug gerade wegen dieses Vorlaufs bereits den Keim des Untergangs in sich, bevor es überhaupt zur echten historischen Qualität werden konnte.

2.2. Wer hat das Geburtsrecht an der SF?

In meinem Buch Philosophie und Science Fiction habe ich, Brian W. Aldiss folgend, die Meinung vertreten, dass die Engländerin Mary Wollstonecraft Shelley mit Frankenstein oder Der neue Prometheus den ersten originären SF-Roman der Welt geschrieben hat. Shelleys Buch erschien 1818. Die Beschäftigung mit Julius von Voß, auf dessen Spur mich Claus Ritter setzte, brachte jedoch diese These ins Wanken. Tatsächlich hat der Deutsche schon acht Jahre vor Shelley im Jahr 1810 einen SF-Roman vorgelegt. Fakt ist, dass von Voß nach meinem jetzigen Wissen in der Tat für sich das Geburtsrecht des Genres in Anspruch nehmen kann.

Fakt ist aber auch, dass Mary Shelley den ersten weltweit bekannten SF-Roman erschaffen hat. Shelleys literarische Durchschlagskraft ist ungleich größer und mächtiger als die des Preußen. Während die Motivstruktur von Frankenstein als klar zuzuordnendes Metapherngeflecht bis heute wirkmächtig ist, kann man das von dem Roman Ini, dem Werk des Julius von Voß, nicht behaupten. Der Einfluss der von Voß’schen SF ist fast durchgehend namenlos und verhalten indirekt, der Einfluss von Mary Shelley dagegen eindeutig identifizierbar und überwältigend direkt.

Kann man die beiden trotzdem zusammenbringen?

Ich meine: Sie können je nach Perspektive als Vater oder Mutter der SF bezeichnet werden. Und ist die Vorstellung nicht schön und amüsant zugleich, dass eine wunderbare Engländerin und ein preußischer Haudegen ein Kind gezeugt haben, das später Science Fiction heißen sollte?

2.3. Leben und Werk des Julius von Voß

Aufklärung und Romantik im 19. Jahrhundert

Schon in der Französischen Revolution von 1789, die die direkte Grundlage für die heutige demokratische Kultur des Westens darstellt, bildeten sich widersprüchliche Strömungen heraus, die später als die »Dialektik der Aufklärung« bezeichnet wurden. Eine wesentliche davon war die Romantik. Ihr war der scharfe Geist der Aufklärung zu rational und verkopft, man vermisste das Gefühl und die schwärmerische Sicht auf Mensch und Natur. Der Entfaltung von Wissenschaft und Technik stand man sowieso skeptisch bis offen ablehnend gegenüber, und auch die aufklärerische Geschichtsbetrachtung war der Romantik viel zu kalt und zu vernünftig.

So machte sie eine Kehrtwendung, indem sie sich ins Märchenhaft-Mythische flüchtete, mystische Elemente zu neuem Leben erweckte, rückwärtsgewandt ein fabulöses Mittelalter, das so nie existiert hatte, zum Vorbild nahm und gegen Wissenschaft und Technik eine individualistisch überhöhte Kunst ausspielte. In der Metapher der magischen »blauen Blume«, eine Erfindung des Dichters Novalis, eigentlich Friedrich Freiherr von Hardenberg (1772–1801), einem Hauptvertreter der Romantik, versinnbildlichte sich unter anderem diese Geisteshaltung.

Die Romantik hat eine immense Bedeutung für das 19. Jahrhundert (und noch weit darüber hinaus) wie auch in ihren Leistungen für die Kunst und selbst für die Wissenschaft (so sind die moderne Altertumsforschung, die Geschichtswissenschaft, die Romanistik und die Germanistik aus dem Geist der Romantik entstanden). Die Romantik, so meine ich, hätte die Chance gehabt, Tendenzen der Aufklärung, die in der Tat zu sehr ins Mechanistische abdrifteten, korrigieren zu können, hätte sie sich nicht von vornherein auf eine scharfe und unversöhnliche Konfrontation zur Moderne festgelegt. Leider verlief die Entwicklung anders. So verkam die Romantik mehr und mehr zu einem Ideenlieferanten für reaktionäre, antirationale und antidemokratische Kräfte.

In dem Konflikt zwischen Dampfmaschine und »blauer Blume« spiegelten sich vor allem die Realentwicklung der Industriegesellschaft mit ihren ökonomischen und politisch-sozialen Konsequenzen und ein mächtiger ideologischer Überbau wider, der das alles nicht wahrhaben wollte. Er kennzeichnete in Deutschland das gesamte 19. Jahrhundert und produzierte eine geistig-emotionale Befindlichkeit, die sich gerade in der aufkeimenden deutschen SF ihren widersprüchlichen Weg bahnte.

Vor diesem Hintergrund kommt zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Mann daher, der Kraft seines eigenen ungewöhnlichen Lebenswandels, seines Bildungshungers und seiner Fantasie etwas schuf, das tendenziell über diese Konfrontation hinausgriff. Sein Name ist Julius von Voß. Es ist die Leistung des Literaturwissenschaftlers Dr. Claus Ritter, ihn als den ersten SF-Autor Deutschlands (und damit sogar der Welt) wiederentdeckt zu haben (siehe Ritter, Anno Utopia oder So war die Zukunft, S. 57 ff.).

Wer war Julius von Voß?

Julius von Voß lebte von 1768–1832. Ritter nennt in Anno Utopia fälschlicherweise 1778 als Geburtsjahr; vielleicht ist es aber nur ein Druckfehler, da alle sonstigen Daten bei Ritter korrekt sind. Von Voß entstammte einer brandenburgischen Adels- und Offiziersfamilie. So war für ihn eine Karriere beim preußischen Heer vorprogrammiert. Schon mit 14 Jahren wurde er Fahnenjunker und geriet damit in ein rohes Milieu, das durch Zechgelage, Raufereien, flüchtige Affären und Schuldenmacherei gekennzeichnet war. Dieses »Landsknechtsleben« befriedigte ihn auf Dauer nicht. Er begann, sich autodidaktisch einen ansehnlichen Bildungsfundus anzueignen und sich seinen literarischen und künstlerischen Neigungen zuzuwenden. Außerdem machte er kleine Erfindungen, mit denen er allerdings bei der preußischen Obrigkeit keinen Erfolg hatte. Da er durch seine kritische Haltung zu bestimmten Praktiken in der Truppe (z. B. dem Spießrutenlaufen) und auch sonst durch aufmüpfiges Verhalten immer wieder mit seinen Vorgesetzten aneinandergeriet, reichte er 1798 seinen Abschied ein. In einer seiner ersten Publikationen machte er seinem Zorn Luft, indem er die Zustände beim Militär scharf geißelte und sich nicht scheute, den Adel anzugreifen – obwohl er selbst ein Adeliger war. Das machte ihn bei den hohen Herrschaften auch nicht beliebter.

Im selben Jahr verlobte er sich mit einer Tochter aus begütertem Hause. Die Verlobung platzte jedoch mit der für ihn günstigen Folge, dass er eine »Entschädigung« bekam. Mit dem Geld finanzierte er eine Bildungsreise, die ihn durch weite Teile Europas führte. Zurückgekehrt stellte sich die Frage nach seiner weiteren beruflichen Existenz. Er entschied sich (angeblich durch Knopfabzählen), freier Schriftsteller zu werden. Zudem entflammte etwa um 1806 sein Interesse an Zukunftsfragen, der entscheidende Grundstein, auf dem dann seine späteren SF-Werke aufbauten.

In seinen letzten Jahren verarmte er zunehmend. Von Voß wohnte zeitweise in einem Berliner Elendsquartier, konnte dann zwar wieder in eine bessere Gegend umziehen, führte aber dennoch bis zu seinem Tod ein karges und vereinsamtes Leben. 1832 – übrigens auch das Todesjahr Goethes – starb er an der Cholera.

Literarische Vorurteile

Zu der Verelendung, die kein Mensch verdient, trug bei, dass Julius von Voß sein kleines Vermögen durch die Pleite einer Bank verlor. Auch wird berichtet, dass ihn die Finanzierung der Aussteuer seiner Tochter erheblich zur Ader gelassen hatte.

Mir erscheint jedoch gerade für unser Thema ein Umstand besonders erwähnenswert. Als freier Schriftsteller musste von Voß ständig produzieren, um von seinen Publikationen leben zu können. Das müssen heutige Autoren in der Regel auch. Verschärfend für von Voß kam aber hinzu, dass es zu seiner Zeit kein Urheberrecht gab. Das bedeutete: Sobald ein Roman von ihm auf dem Markt war, konnte ihn jeder nachdrucken, ohne ihm einen einzigen Pfennig dafür bezahlen zu müssen. Erst 1837 kam es in Preußen zu einem ersten Urheberschutz.

Ist das Copyright heute allgemein akzeptiert, so scheint das Klischee vom »hohen« und vom »niederen« Autor, das an der Geldfrage festgemacht wird, unausrottbar zu sein – vornehmlich beim elitär-bürgerlichen Feuilleton wie auch in breiten, literarisch eher ungebildeten Schichten. Das klingt dann so: Während sich der »hohe« Autor nur seiner Kunst widmet und seine genialischen Geistesblitze losgelöst vom schnöden Mammon zu Papier bringt, ist der »niedere« Autor ein Lohn- oder Vielschreiber, der seine Texte wie am Fließband produziert und dementsprechend nur Abfall zustande bringt.

Julius von Voß ist ein frühes Beispiel dafür, dass weder das eine noch das andere stimmt. Jeder Autor, der vom Schreiben lebt, muss das Materielle berücksichtigen. Gleichzeitig heißt das keineswegs, dass er deshalb quasi automatisch nur minderwertige Dutzendware hervorbringen kann. Es gibt viele Genreautoren, die hervorragende Werke geschaffen haben, obwohl sie erheblichen ökonomischen Zwängen unterlagen und entsprechend viel schrieben (z. B. Philip K. Dick).

Es verwundert unter diesen von Vorurteilen geprägten Umständen nicht, dass von Voß in der Kritik schlecht weg kam. Er wurde erst stark kritisiert und anschließend totgeschwiegen. Das hing weniger mit den Qualitäten seines Werks zusammen, sondern mit der verächtlichen Art und Weise, mit der eine blasierte Literaturkritik auf die Lebenssitutation von Schriftstellern herabsah, die von der gymnasialen, humanistischen Idealdoktrin abwich. Auch die Auffassung, in der aufblühenden Wissenschaft und Technik durchaus einen literaturwürdigen Gegenstand sehen zu können, fand bis auf Ausnahmen im zeitgenössischen Feuilleton kein Gehör.

Ignoriert und vergessen – und doch ein Großer in der SF

Ca. 150 Jahre lang war Julius von Voß vergessen. Insgesamt schrieb von Voß über 100 Romane, Theaterstücke und Broschüren (in einigen Quellen wird sogar die Zahl 200 genannt), dazu noch eine unübersehbare Zahl von Zeitungsartikeln. In diesem Sinne war er tatsächlich ein Vielschreiber, weil er es aus finanziellen Gründen sein musste. Andererseits hat er literarische Leistungen vor allem in der deutschen SF vorzuweisen, die aus ihm deutlich mehr machen als einen sog. Zeilenschinder. Julius von Voß – lebenszugewandt, trinkfest, keinem Streit aus dem Wege gehend und keinem amourösen Abenteuer abgeneigt – war zeitweise als Autor sehr bekannt und bei einem breiten Publikum (im Gegensatz zur Literaturkritik) ausgesprochen beliebt. Davon blieb allerdings zum Schluss nicht mehr viel übrig. Dennoch kann ihm keiner den Ruhm nehmen, einen Meilenstein in der SF gesetzt zu haben. Das zu würdigen, gehört auch zu den Absichten dieses Buches.

Aus der Fülle seiner Arbeiten greife ich hier zwei heraus, weil sie für die SF bedeutsam sind. Gemeint sind sein Roman Ini. Ein Roman aus dem ein und zwanzigsten Jahrhundert von 1810 und das Theaterstück Berlin im Jahr 1924 von 1824. Beide zeigen, wie von Voß mit den sog. Zukunftsfragen umging und zu welchen Schlüssen er kam.