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Siegmund Hurwitz

 

Lilith – Die Erste Eva

 

Eine historische und psychologische Studie über dunkle Aspekte des Weiblichen

 

 

Mit einem Vorwort von Marie-Louise von Franz

 

 

DAIMON

VERLAG

 

 

ISBN 978-3-85630-932-9

 

4. Auflage 2020

 

Copyright © 2020, 1980 Daimon Verlag, Einsiedeln

Alle Rechte vorbehalten.

 

Umschlaggestaltung von Hanspeter Kälin

 

Inhalt

Vorwort zur dritten Auflage

Vorwort von Marie-Louise von Franz

Einleitung

 I. Religionsgeschichtlicher Teil: Der Mythos und seine Geschichte

1) Der Doppelaspekt der Lilith

a) Der Lamaschtû-Aspekt

b) Der Ischtar-Aspekt der Lilith

2) Die Arslan Tasch Inschriften und das Burney Relief

a) Arslan Tasch I

b) Arslan Tasch II

c) Das Burney Relief

3) Lilith in Bibel und Talmud

4) Die aramäischen Zaubertexte

5) Lilith in der Gnosis

6) Pseudepigraphische Schriften

a) Das Testament Salomos: Obyzouth

b) Das Alphabet des ben Sira

c) Das Buch Raziel

7) Lilith in der Volkslegende

8) Lilith in der arabischen Literatur: Die Karina

9) Lilith in der jüdischen Mystik: Lilith und Samael

10) Amulette gegen Lilith

II. Psychologischer Teil: Zur Psychologie des Lilith-Mythos

1) Die erste Begegnung: Der Lilith-Traum

2) Lilith und Saturn: Die Melancholie

3) Lilith und Adam: Der Machtkampf

4) Angst und Faszination

5) Die zweite Begegnung: Eine aktive Imagination

Religionspsychologische Reflexionen

Abkürzungen

Bibliographie

 

Für meine Enkelin Ruth Lena

 

Vorwort zur dritten Auflage

Die dauernde Nachfrage nach der vorliegenden Studie, deren beide früheren Auflagen vergriffen sind, haben meinen Verleger veranlaßt, eine weitere dritte Auflage herauszugeben. Der Grund für dieses Interesse dürfte m.E. in erster Linie mit dem Teil der Arbeit zusammenhängen, welcher das Rollenverständnis zwischen Frau und Mann tangiert m.a.W. ein Problem, das heute mehr denn je von aktueller Bedeutung ist.

Inzwischen ist im Jahre 1992 eine erweiterte Ausgabe in englischer Sprache erschienen. Diese liegt zur Hauptsache der dritten deutschen Auflage zu Grunde.

Seit dem Erscheinen der ersten Auflage 1980 sind eine ganze Reihe von Publikationen über das Lilith-Motiv erschienen, teils als Artikel in Fachzeitschriften und teils als Buch. Abgesehen von E. Begg handelt es sich durchwegs um Psychologinnen, welche sich offenbar von diesem Thema besonders angesprochen fühlen. Mit dem Lilith-Mythos haben sich M.T. Colonna, B. Black-Koltuv, Chr. Lenherr-Baumgartner, A. Lewandowski und E.W. Vogelsang auseinandergesetzt und sind dabei teilweise zu verschiedenen Ergebnissen gelangt.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich auf zwei Probleme hinweisen, welche von den oben genannten Autoren bzw. Autorinnen entweder gar nicht oder nicht in befriedigender Weise berücksichtigt worden sind.

Seriöse wissenschaftliche Forschung auferlegt dem Autor ein hohes Maß von Verantwortung, sofern er den Anspruch erhebt, wissenschaftlich ernst genommen zu werden. Erforderlich ist dabei vor allem Kenntnis der relevanten Quellenwerke aus erster Hand. Dies bedeutet Vertrautheit mit der hebräischen und – soweit es die jüdische Mystik betrifft – der aramaischen Sprache…. In der interdisziplinären Forschung kommt man indessen nicht darum herum, Übersetzungen und Sekundärliteratur zu verwenden.

Sind diese jedoch von zweifelhaftem Wert, dann besteht die Gefahr, daß jeder das aus den Texten herausliest, was er zuvor in sie hineinprojizierte.

Weder E. Begg noch die erwähnten Forscherinnen verfügen über elementare Kenntnisse der hebräischen Sprache. Sie sind infolgedessen ausschließlich auf Sekundärquellen angewiesen. Dies führte teilweise zu kontroversen Auffassungen mit denen ich mich auseinandersetzen muß.

Ein weiteres Problem hat seinen Ausgangspunkt in der Frage der Autorschaft der benützten Schriften. Und hier muß klar gesagt sein: Die Verfasser unserer Texte waren durchwegs Männer, die sich auch darüber bewußt waren, daß sie für eine männliche Leserschaft schrieben. Wir müssen daher annehmen, daß diese Schriften eine patriarchale Psychologie widerspiegeln, die dem jüdischen Geist jener Zeit entspricht. Dies bedeutet, daß es hier in erster Linie um das Anima-Problem des jüdischen Mannes geht. Erst in zweiter Linie wird auch das Problem, das für die Frau von Bedeutung ist, anvisiert. Anläßlich der Herausgabe der dritten Auflage ergab sich die Notwendigkeit von einigen Textrevisionen. Durch die Einbeziehung der Auseinandersetzung mit den Auffassungen anderer Autoren erfolgte eine Erweiterung dieser Studie. Neu gestaltet wurde die Einleitung sowie das Kapitel über den Midrasch des ben Sira. Für letzteren wurde eine andere Textvariante gewählt, die sich als zuverlässiger erwiesen hatte. Im Zusammenhang damit wurde das Kapitel über den Machtkampf zwischen Lilith und Adam überarbeitet und ausführlicher dargestellt: Dadurch wurde diese Studie auch dem heutigen Stande der Forschung angepaßt. Für die Gesamtkonzeption des Themas sind indessen die vorgenommenen Textänderungen nicht von grundlegender Bedeutung. Eine Erweiterung erfolgte sodann durch Hinzufügung einer Bibliographie sowie eines Sachregisters. Dazu kommt das Bildmaterial, das mir inzwischen zugänglich wurde.

Zu großem Dank bin ich meinem verstorbenen Freund Prof. Gershom Scholem, Jerusalem, verpflichtet, welcher nicht nur den historischen Teil der Arbeit korrigierte sondern mir auch eine ganze Reihe von mündlichen und schriftlichen Hinweisen gab. Ebenso danke ich ganz besonders Frau Marie-Louise von Franz, Küsnacht, welche das gesamte Manuskript prüfte und sich bereit erklärte, ein Vorwort zu schreiben. Danken möchte ich ferner Herrn Prof. Joseph Naveh, Jerusalem, für seine wertvollen Hinweise auf die Arslan Tasch Literatur, sowie Herrn Rabbiner Jacob Teichman, Zürich, für seine Mithilfe bei der Übersetzung und Interpretation einiger schwieriger aramäischer Texte aus dem Sohar. Großen Dank schulde ich auch meinem Verleger, Herrn Robert Hinshaw für seine redaktionelle Arbeit und die Gestaltung des Buches.

 

 

Zürich, Frühjahr 1993

S. H.

 

Vorwort von Marie-Louise von Franz

 

Obwohl heute immer wieder der Ruf nach interdisziplinärer wissenschaftlicher Arbeit ertönt, wird er selten befolgt. Es ist eben schwierig, sich in mehr als einem Fache als kompetent zu erweisen. Im Falle der Göttin Lilith hat dies zu zusätzlichen Schwierigkeiten geführt, weil Lilith ein Thema in der feministisch-antifeministischen Auseinandersetzung geworden ist. So leiden auch psychologische Arbeiten, wenn sie historisches Material berücksichtigen, oft an einer Unfähigkeit, das letztere seriös darzustellen. Und wenn Historiker psychologische Deutungen wagen, gehen sie selten über das Triviale hinaus. Es scheint mir deshalb ein großes Verdienst von S. Hurwitz zu sein, daß er den Forderungen beider Disziplinen gerecht geworden ist. Seine psychologische Deutung der Träume und aktiven Imaginationen eines depressiven Mannes gehen in die Tiefe und seine Darstellung der Lilith als einer uralten mythologischen Veranschaulichung der negativen Anima als Männerverderberin, ist kompetent und gründlich. Indem S. Hurwitz das Erleben eines modernen Mannes mit diesem historischen Material zusammenbringt, werden beide neu beleuchtet. Das ist der Sinn der Jung’schen Amplifikationsmethode.

Daß hinter der Depression, der „saturnischen Melancholie“, wie sie früher genannt wurde, ein unbändiger Lebensdrang verborgen liegt, der sich nicht assimilieren lassen will, scheint mir eine neue und wesentliche Erkenntnis zu sein. S. Hurwitz hat aber nicht nur dies, neben vielem Anderen aufgezeigt, sondern auch den Weg beleuchtet, wie ein Mann mit seiner „inneren Lilith“ umgehen könnte, um aus der saturnischen Schwermut herauszufinden.

So schenkt uns dieses Buch nicht nur Erkenntnisse, sondern auch Hilfe.

 

 

Erste bildliche Darstellung der Lilith
Terrakotta-Relief aus Sumer, ca. 1950 v. Chr.
© Trustees of the British Museum

 

Abbildung 1. Geschnitztes Elfenbeinbildnis einer Frau an ihrem Fenster
© Trustees of the British Museum

 

Abbildung 2. Silberamulett aus Kurdistan zum Schutz gegen Lilith, das ihre verschiedenen Namen verwendet.

 

Übersetzung:

Oberer Rand: 42-buchst. Name (27 Zeichen)

Unterer Rand: 42-buchst. Name (15 Zeichen),

im Namen von Shaddai, Trigrammaton.

Inneres Feld, Zeile 1. Lilith

2. Aviti, Abizu

3. Amrusu, Hakash, Odem

4. Ik, Pudu, Ayil, Matruta

5. Avgu, Kish, Shatrugah, Kali

6. Batuh (und) Hil, Pari

7. tasha

[T. Schrire, Hebrew Amulets, Tafel 53, pag. 171]

 

Abbildung 3. Schutzamulett gegen Lilith, Persien, 18. Jh.

 

Bild einer in Ketten gebundenen Lilith mit ausgestreckten Armen. Auf ihrem Körper steht geschrieben: „Schütze dieses neugeborene Kind vor allem Leid.“ Rechts und links von ihr stehen die Namen von Adam, Eva, sowie der Patriarchen und Matriarchen. Über ihr stehen die Anfangsbuchstaben der Abschnitte 6:22-27 und unter ihr die des Psalm 121.

[G. Scholem: Kabbalah, pag. 360]

 

Abbildung 4. Schutzamulett.

 

Erstes Bildnis der drei Engel Sanvai, Sansanvai und Semanglof, die entsandt wurden, um Lilith zurückzubringen, nachdem sie vor Adam zum Roten Meer floh, wo sie sich mit den Dämonen verband, die diese Wasser bewohnen. Lilith weigerte sich, den drei Engeln zu gehorchen und zurückzukehren, bis sie sich schließlich dem Willen des Propheten Elijah beugen mußte, dessen Autorität als Erzengel Sandalphon nicht bestritten werden konnte. Sie mußte anerkennen, daß die Inschrift der Namen dieser drei Engel am Kindbett einen Schutz gegen ihre bösen Absichten geben. Diese Auferlegung bleibt bis zum heutigen Tage gültig, und die drei Namen erscheinen häufig auf solchen Amuletten zum Schutz gebärender Frauen. Abweichende Darstellungen dieser Engel erscheinen rechts im Bild. [aus dem Buch Sefer Raziel, i. T. Schrire: Hebrew Amulets, pag. 118]

 

Einleitung

Die vorliegende Arbeit stellt eine wesentlich erweiterte Fassung einer ursprünglich kurzen Monographie über das Lilith-Motiv in der jüdischen Tradition dar, welche im Anschluß an ein Traumbild eines meiner Analysanden entstand. Die Arbeit hatte sich im Laufe der Zeit durch Heranziehung von parallelem Vergleichsmaterial immer mehr ausgedehnt. Im Anschluß an die analytischen Gespräche stellte es sich heraus, daß es sich bei dieser Figur nicht um eine Gestalt aus der Bewußtseinswelt des Träumers handeln konnte, sondern daß hier ein allgemein verbreitetes, mythologisches Motiv vorliegt. Damit stellte sich aber auch die Frage, ob dieser Mythos noch lebendig sei und – falls dies zutreffen sollte – was für eine Bedeutung er für den heutigen Menschen besitze.

In Berücksichtigung des wissenschaftlichen Charakters dieser Arbeit erwies es sich als notwendig, einen entsprechenden wissenschaftlichen Apparat beizufügen. Dies bedingte eine Reihe von Studien verwickelter Probleme und Kontroversen aus dem Gebiete der Archäologie, der Assyriologie, der Epigraphik, der Gnosis usw. in welche mich dieses Thema unvorhergesehenerweise hineingezogen hatte.

Eine weitere Schwierigkeit ergab sich aus der Art der Fragestellung. Da es sich um eine religionspsychologische Arbeit handelt, wurde das vorliegende Material aus der Mythologie, der Religionsgeschichte, der Legende, Folklore usw. sowohl vom historischen, wie vom psychologischen Standpunkt aus untersucht. Es besteht infolgedessen eine gewisse Gefahr, daß der vorzugsweise psychologisch interessierte Leser den Vorwurf erheben könnte, die Arbeit sei allzusehr mit religionshistorischem Material belastet. Auf der anderen Seite aber wird der Religionshistoriker möglicherweise einer psychologischen Interpretation des Materials mit einer gewissen Skepsis gegenüberstehen oder sie sogar ablehnen, und mich überdies des Psychologismus verdächtigen.

Es dürfte schwierig, wenn nicht unmöglich sein, sich völlig aus diesem Dilemma herauszuhalten. Immerhin ist es das Anliegen der vorliegenden Arbeit, beiden Standpunkten einigermaßen gerecht zu werden. Daher wird im religionshistorischen Teil das gesamte historische Material – soweit es mir zugänglich war – untersucht und jeweils ein historischer Kommentar beigefügt. Im psychologischen Teil wird der Versuch unternommen, einige psychologische Aspekte des Problems aufzuzeigen. Die aktuelle Bedeutung des Lilith-Mythos wird dadurch unterstrichen, daß in diesem Zusammenhang zwei Spontanmanifestationen aus dem Unbewußten eines modernen Menschen vorgelegt und kommentiert werden, in welchen Lilith erscheint.

Das Lilith-Motiv hat eine ganze Reihe von literarischen sowie bildlichen Darstellungen erfahren, so – um nur einige wenige zu erwähnen – durch G. Apollinaire, R. Browning, A.L. Collier, M. Corelli, G. Flaubert, A. France, M.J. Erskine, R. Garnett, V. Hugo, I. Kurz, M. Magre, J. Milton, D.G. Rossetti, B. Shaw, J. Wedde und J.V. Widmann. 1 Sie bleiben in dieser Untersuchung unberücksichtigt, da ich mich auf die mythologischen und psychologischen Aspekte des Problems beschränke. Dazu kommt, daß die genannten Autoren in sozusagen allen Fallen nur den einen Aspekt des Lilith-Motivs behandeln, nämlich Lilith in ihrer Beziehung zum Manne, also jene Seite, welche die Psychologie C.G. Jungs als die Anima zu bezeichnen pflegt. 2 Alle anderen Wesensseiten, die Lilith insbesondere in der Legende und der Folklore ebenfalls besitzt, treten hier überhaupt nicht in Erscheinung. Dies dürfte in erster Linie damit zusammenhängen, daß es sich bei den erwähnten Schriftstellern – mit Ausnahme von I. Kurz – durchwegs um Männer handelt, die sich vom Anima-Aspekt der Lilith besonders angesprochen fühlen.

Eine zusammenfassende wissenschaftliche Darstellung des Problems fehlte bis jetzt. G. Scholem 3 hat in seinem Sammelband über jüdische Mystik einen kurzen historischen Überblick gegeben. Das Buch von R. Patai 4 über das Problem des Weiblichen im Judentum enthält ein größeres Kapitel über Lilith. Da die Arbeit von Patai und die vorliegende Studie teilweise dasselbe Quellenmaterial benützen, ließen sich – namentlich im Kapitel über Lilith in der jüdischen Mystik – gewisse Überschneidungen nicht immer vermeiden. Hingegen sind sowohl der Ausgangspunkt wie die Zielsetzung der beiden Arbeiten und meiner Studie verschieden. Während die Arbeiten von G. Scholem und R. Patai das Motiv ausschließlich vom historischen Standpunkt aus behandeln, kommt es mir weniger darauf an, neue historische Bezüge und Zusammenhänge anzuvisieren. Das Anliegen der vorliegenden Studie besteht vielmehr darin, neben der Darstellung des Lilith-Mythos vor allem die archetypischen Hintergründe aufzuzeigen, welche ihm zu Grunde liegen, und die sich aus dieser Sicht ergebenden psychologischen Konsequenzen für den modernen Menschen herauszuarbeiten.

Außerhalb meiner Untersuchung bleiben die Beziehungen Liliths zur Königin von Saba und dem Dämonenfürsten Asmedai, da diese Themen bereits eingehend von G. Scholem 5 behandelt wurden. Außerdem haben sich in neuerer Zeit sowohl R. Beyer 6 und W. Daum 7 mit diesem Thema befaßt. In ihrem wertvollen Beitrag im Werke von W. Daum hat überdies A. Klein-Franke 8 eine Fülle von bisher unbekanntem Material beigetragen.

Der historische Teil dieser Arbeit basiert hauptsächlich auf den Ergebnissen der modernen religigionshistorischen Forschung von G. Scholem, während der psychologische Teil der Analytischen Psychologie meines Lehrers C.G. Jung verpflichtet ist. Eine gewisse Kenntnis der Jung’schen Psychologie, insbesondere die Lehre von den Archetypen d.h. den Strukturelementen der menschlichen Psyche wird vorausgesetzt. Dies gilt vor allem für das Verständnis des zweiten Teils der Arbeit, namentlich für die Deutung der beiden Lilith-Begegnungen.

Das zur Deutung der Träume, sowie des Lilith-Mythos überhaupt herangezogene Material aus der vergleichenden Religionsgeschichte, aus parallelen Mythen, Legenden und der Folklore mag bisweilen etwas weit hergeholt erscheinen. Indessen muß darauf hingewiesen werden, daß die Arbeiten von C.G. Jung und seiner Schule den Nachweis erbracht haben, daß die Methode der sog. Amplifikation im Unterschied zu der von S. Freud angewendeten Methode der freien Assoziation sich ganz besonders dazu eignet, eine Erhellung, Verdeutlichung und ein psychologisches Verständnis schwer deutbarer Träume zu vermitteln. Was aber im individuellen Bereich, nämlich für den Traum eines einzelnen Menschen gilt, hat gleicherweise auch Geltung für die kollektiven Inhalte des Unbewußten, die sich in Mythen, Märchen, Legenden usw. äußern. Denn wie man den Traum eines individuellen Menschen als seinen individuellen Mythos bezeichnen kann, so ist der Mythos eines Volkes gewissermaßen der Traum dieses Kollektivs. 9

Diese von C.G. Jung entwickelte und von seinen Schülern 10 weiter ausgebaute Methode der Amplifikation, welche aus der allgemeinen Religionsgeschichte, der vergleichenden Mythenforschung, der Archäologie, der Prähistorie, der Ethnologie und anderen Wissenschaften paralleles Vergleichsmaterial heranzieht, ist ganz besonders geeignet, ein vertieftes Verständnis der Archetypen und der archetypischen Bilder, in welchen sich erstere manifestieren, zu vermitteln. Sie ist infolgedessen nach C.G. Jung 11 in erster Linie

„da am Platz, wo es sich um ein dunkles Erlebnis handelt, dessen spärliche Andeutungen durch psychologischen Kontext vermehrt und erweitert werden müssen, um verständlich zu werden.“

Bei der Methode der Amplifikation bestehen allerdings, genau so wie bei S. Freuds Methode der freien Assoziation, gewisse Gefahren: eine solche Gefahr besteht darin, daß durch eine ins Unendliche fortgesetzte Amplifikation bzw. Assoziation der Zusammenhang mit dem Ausgangspunkt, nämlich dem aktuellen Problem oder dem vorliegenden Text, schließlich verloren gehen kann. Mit Recht hat daher E. Neumann 12 darauf hingewiesen, daß im Anschluß an die Amplifikation immer auch eine Art Aktualisierung folgen müsse, bei welcher eine Bezugnahme zum Ausgangspunkt hergestellt wird. Ähnlich, wie in Kultus und Ritus ein Wiedererleben einer einmaligen, historischen Situation vermittelt wird, soll in der Aktualisierung der Amplifikation das persönliche Moment mit dem archetypischen Hintergrund in Zusammenhang gebracht werden. Dabei genügt es aber nicht, daß das durch die Amplifikation gewonnene Material ausschließlich intellektuell verstanden wird. Es muß auch emotional erlebt und nachvollzogen werden.

Eine Reihe von Beiträgen zu unserem Thema versucht, Lilith „La lune noire“ vom Standpunkte der Astrologie aus zu beleuchten. Gestützt auf angebliche Beobachtungen älterer Astrologen hatte der bekannte Astrologe A. Fankhauser 13 die Behauptung aufgestellt, daß die Erde neben dem Mond einen zweiten Trabanten besitze, welcher Lilith genannt werde. Er beruft sich dabei auf A. Jenik 14 sowie eine ganze Reihe von Astrologen, wie einen gewissen Riccioli, Cassini, Walthemath und W. Gama. Lilith sei zum ersten Male im Jahre 1618 entdeckt worden, zuletzt soll er 1898 von zwölf Personen in Greifswald beobachtet worden sein. Von W. Gama sei festgestellt worden, daß Lilith vor allem eine destruktive Wirkung auf jene Menschen habe, deren Horoskop eine dominierende Stellung der Lilith aufweise, nämlich „Psychische Perversionen aller Art, vor allem wenn sie in die erotische Zone“ hinein wirke. Sie verursache ferner eine gewisse Bestialität und einen Hang zu Sadismus.

Vorsichtshalber fügt A. Fankhauser hinzu, „Die Beobachtungen sind aber neu und bedürfen jahrelanger Bestätigungen“.

Ähnliche Spekulationen wurden von einigen französischen Astrologen veröffentlicht. So gehen J. Desmoulins & R. Ambelain 15 von der angeblich gesicherten Annahme aus, daß Lilith der zweite Erdtrabant sei. Unter Berufung auf einen gewissen „docteur Wynn Westcott, particulièrement versé en Kabbale“ sowie einen anderen Autor mit dem geheimnisvollen Namen Sepharial behaupten sie, daß Lilith, der schwarze Mond „favorisera le libertinage, les contes gaillards, les conversations perverses“ und verursache überdies „un certain amoralisme“. Andere Autoren wie J. de Gravelaine & J. Aimé geben immerhin zu bedenken, daß „L’Étude de la lune noire se trouve encore à un stade de recherche“. Deswegen sei es voreilig, Beziehungen zu den Göttinnen der griechischen Mythologie herzustellen. Wie verworren die Auffassungen über Lilith in astrologischen Kreisen sind, ergibt sich aus einem Artikel des Nicolas de Vore 16: „Lilith. A minor planet of magnitude 14,1. It is too faint to be seen other than with the aid of a telescope. It is not a dark moon, but a planet that shines by reflected light from the Sun – as does the Earth. Lilith is mentioned in the apocryphal writings as the other woman in the original triangle that rendered the Garden of Eden no longer a paradise.“ Ich möchte hier nicht auf die umstrittene Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Astrologie eingehen. Daß es sich hier nicht um einen antiquierten Aberglauben handelt, scheint mir einigermaßen gesichert zu sein 17. Wie mir indessen von kompetenter Seite 18 versichert wurde, kann die Existenz eines zweiten Erdtrabanten mit Sicherheit ausgeschlossen werden. In diesem Falle stellen die Spekulationen der erwähnten Astrolologen nichts anderes als Projektionen ihrer eigenen seelischen Vorgänge in den ihnen unbekannten kosmischen Raum dar, ähnlich wie seinerzeit die Alchemisten ihre unbewußten psychischen Inhalte in die Dunkelheit der geheimnisvollen Materie hinein projizierten. Einen wissenschaftlichen Wert besitzen daher weder die Aussagen der genannten Astrologen noch diejenigen der Alchemisten. 19 Immerhin stellen sie interessante Spiegelungen der innerseelischen Geschehnisse ihrer Autoren dar.

Wesentlich seriöser als die astrologischen Arbeiten scheinen mir die Untersuchungen, welche das Problem von der psychologischen Seite her anzugehen versuchen.

Zu erwähnen ist hier in erster Linie die Studie von M.T. Colonna 20 welche als erste Psychologin sich mit diesem Problem auseinandergesetzt hat. Ihre Arbeit erschien gleichzeitig und unabhängig von meiner Studie.

Da die Autorin keine Kenntnisse der ursprünglichen Quellen besitzt, ist sie ausschließlich auf Sekundärliteratur angewiesen. Sie stützt sich einerseits auf das wissenschaftlich fragwürdige Buch der Autoren R. von Ranke-Graves und R. Patai 21 sowie auf die Arbeiten der genannten französischen Astrologen. Trotzdem sie sämtliche Fehler ihrer Bezugspersonen übernimmt, ist es im Grunde genommen erstaunlich, daß die Autorin klar erkannt hat, daß es sich beim Lilith-Mythos um ein archetypisches Problem handelt. Sie sieht m.E. mit Recht in Lilith eine Spiegelung der Anima des Mannes, wobei sie aber auch auf die Bedeutung des Mythos für die Frau hinweist.

In einem Artikel von E. Begg 22, dem ein Seminar im Analytical Club London zu Grunde liegt und welcher teilweise später in das Buch 23 des Autors aufgenommen wurde, stellt der Autor Lilith in den weiteren Rahmen der Verehrung der schwarzen Mutter-Göttinnen. Soweit das Lilith Problem behandelt wird, stützt sich der Autor weitgehend auf meine Studie sowie die Arbeiten von R. Patai 24 und S.B. Perera 25.

Leider sind dem Verfasser eine ganze Reihe von gravierenden Fehlern unterlaufen. So behauptet er u.a., daß „even Jewish Orthodoxy in its strictest periods never succeeded completely in eradicating the worship of the Goddess, who as Lilith was reinstated and honoured by the Cabbalists“ 26 oder wenn er schreibt, daß „in the Jewish esoteric tradition Lilith appears sometimes in a favorable light.“ 27 Davon kann überhaupt nicht die Rede sein. Die jüdische Orthodoxie ist durch ein ausschließlich männlich-partriarchalisches Gottesbild geprägt. Die Einstellung der Kabbalisten Lilith gegenüber war von Angst und Schrecken erfüllt. Von positiven Zügen ist hier nichts zu finden. Völlig aus der Luft gegriffen ist E. Beggs Behauptung, Lilith „was cursed by God and banished to the bottom of the Red Sea.“ 28 Wie er zur Feststellung kommt, daß Lilith aus Verzweiflung „cast herself into the Red Sea“ 29 ist völlig unverständlich, so daß man G. Scholem beipflichten muß, der feststellt, über das Thema Lilith „sei viel Unsinn geschrieben“ worden. Da überdies der Verfasser weder in seinem Artikel noch in seinem Buch irgendwelche Belegstellen für seine Behauptungen angibt, lassen sich diese nicht überprüfen.

Aus dem C.G. Jung Institut Küsnacht liegen zwei Diplomarbeiten vor, welche sich u.a. auch mit Lilith beschäftigen. Beide Arbeiten haben einen ähnlichen Ausgangspunkt, nämlich das Problem des Bösen bzw. des Dämonischen und das Verhalten des Menschen zu dieser Frage. A. Lewandowski 30 basiert in ihrer Arbeit auf dem Manuskript meiner Studie, das ich ihr zur Verfügung stellte. E.W. Vogelsang 31 beschäftigt sich ausschließlich mit der Rolle der Lilith, wie sie im Midrasch des ben Sira geschildert wird. Eine weitere Diplomarbeit aus dem Institut für Angewandte Psychologie (IAP) Zürich legt Chr. Lenherr-Baumgartner 32 vor. Auf diese drei Arbeiten werde ich später eingehen.

Ziemlich mißglückt scheint mir der Versuch von B. Black-Koltuv 33 zu sein, dem Lilith-Mythos psychologisch näher zu kommen. Auch sie basiert ausschließlich auf Übersetzungen und Sekundärliteratur. Ihre Hauptquelle ist der Sohar, welcher 300 Jahre später als der Midrasch des ben Sira geschrieben wurde. Die englische Übersetzung des Sohar durch H. Sperling & M. Simon 34 ist fragmentarisch und wird teilweise bestritten. Daneben stützt sie sich auch auf die deutsche Übersetzung von Teilen des Sohar durch E. Müller 35, dessen ausgesprochen anthroposophische Sicht für das Verständnis der Texte eher hinderlich ist. Eine der wichtigsten Quellen, nämlich der Midrasch des ben Sira wird in einer unzulänglichen Übersetzung vorgelegt. Ein größerer Teil des Buches besteht aus Gedichten, persönlichen Phantasien und angeblichen Forschungen moderner Frauen, die im besten Falle etwas über die psychologische Einstellung ihrer Autorinnen aussagen. Dazu kommt, daß in der ausführlichen Bibliographie nicht eine einzige der bereits vorliegenden psychologischen Arbeiten über dieses Thema erwähnt wird. Auch läßt der Titel des Buches „The Book of Lilith“ den Eindruck aufkommen, es handle sich hier um die erste Publikation zu diesem Thema. Einen seriösen wissenschaftlichen Wert besitzt diese Arbeit nicht.

 

 

 

 


1. A.M. Killen: La Légende de Lilith i. RLC Vol. XII pag. 277ff (unvollständig)

2. Als Anima wird in der Psychologie C.G. Jungs der unbewußte, weibliche Seelenanteil des Mannes bezeichnet. Umgekehrt entspricht der Animus der Frau ihrem unbewußten geistig-männlichen Persönlichkeitsanteil.

3. G. Scholem: Art. Lilith i. Kabbalah, pag. 356ff

4. R. Patai: The Hebrew Goddess, pag. 207ff

5. G. Scholem: Lilith u’malkat scheva i. Peraqim chadaschim me’injenei Aschmedai ve’Lilith i. TZ Vol. XIX pag. 165ff

6. R. Beyer: Die Königin von Saba. Engel und Dämon. Der Mythos einer Frau, pag. 27ff

7. W. Daum: Die Königin von Saba. Kunst, Legende und Archäologie zwischen Morgenland und Abendland

8. A. Klein-Franke: Lilith in der jüdischen Tradition. i. W. Daum, l.c.

9. S. Hurwitz: Die Gestalt des sterbenden Messias i. Studien aus dem C.G. Jung Institut Zürich, Vol. VIII pag. 11f

10. M.-L. von Franz: Die Passio Perpetuae. Versuch einer psychologischen Deutung i. C.G. Jung: Aion. Untersuchungen zur Symbolgeschichte, pag. 387ff (eigenständige Ausgabe der Passio Perpetua in Vorbereitung)

M.-L. von Franz: Der Traum des Descartes i. Studien aus dem C.G. Jung Institut Zürich, Vol. III (Zeitlose Dokumente der Seele) pag. 51ff

M.-L. von Franz: Die Visionen des Niklaus von Flüe, Zürich, 1980

A. Jaffé: Bilder und Symbole aus E.T.A. Hoffmanns Märchen „Der Goldene Topf“ i. C.G. Jung: Gestaltungen des Unbewußten, pag. 239ff

E. Neumann: Die Große Mutter, pag. 27

11. C.G. Jung: Psychologie und Alchemie. GW Vol. XII pag. 333

12. E. Neumann: Die mythische Welt und der Einzelne i. Kulturentwicklung und Religion, pag. 108f

13. A. Fankhauser: Das wahre Gesicht der Astrologie, pag. 79f

14. A. Jenik: Lilith – der schwarze Mond, pag. 154ff

15. J. Desmoulins & R. Ambelain: Elements d’Astrologie scientifique. Lilith le second satellite de la terre, pag. 6

16. N. de Vore: Lilith i. Encyclopaedia of Astrology, 1976 pag. 242

17. C.G. Jung: Die Dynamik des Unbewußten i. GW Vol. VIII pag. 515ff

18. Mitteilung des Astronomischen Instituts der Universität Zürich

19. Ein in der Schweiz lebender bekannter Astrologe untersuchte nach der Lektüre meiner Studie mein Horoskop mit den entsprechenden Positionen und Transiten der vermuteten Lilith. Keines der darauf basierenden prognostischen Ereignisse während der nächsten fünf Jahren konnte verifiziert werden.

20. M.T. Colonna: Lilith or the Black Moon i. Journal of Analytical Psychology, pag. 326ff

21. R. von Ranke-Graves & R. Patai: Hebräische Mythologie

22. E. Begg: From Lilith to Lourdes i. Journal of Analytical Psychology, pag. 77ff

23. E. Begg: The Cult of the Black Virgin, pag. 34ff

24. R. Patai: The Hebrew Goddess, pag. 207ff

25. S.B. Perera: Der Weg zur Göttin in der Tiefe

26. E. Begg: Artikel l.c. pag. 85

27. E. Begg: Buch l.c. pag. 39

28. E. Begg: Buch l.c. pag. 37

29. G. Scholem: i. W. Daum l.c. pag. 167 Fußnote 3

30. A. Lewandowski: The God Image, Source of Evil, pag. 54ff

31. E.W. Vogelsang: To Redeem the Demonic

32. Chr. Lenherr-Baumgartner: Lilith – Eva

33. B. Black-Koltuv: The Book of Lilith

34. H. Sperling & M. Simon: The Zohar, Vol. V

35. E. Müller: Der Sohar. Das heilige Buch der Kabbala