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Aniela Jaffé

 

Der Mythus vom Sinn

Im Werk von C. G. Jung

 

 

DAIMON

VERLAG

 

ISBN 978-3-85630-907-7

 

6. Auflage, 2020

 

© 2020, 2010, 1983, Daimon-Verlag, Einsiedeln, Schweiz
Alle Rechte vorbehalten.

 

Umschlaggestaltung: Joel T. Miskin

Umschlagbild: Graphische Zeichnung eines Labyrinth-Reliefs aus Thrazien

 

Foto der Autorin: © Robert Hinshaw

 

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Zur ersten Auflage

Zur zweiten Auflage

Zur dritten Auflage

Das Thema

Das Unbewußte und der Archetypus

Hypothese und Modell

Der Archetypus als Instinkt und als «Element des Geistes»

Der psychoide Archetypus

Bewußtwerdung als Unterscheidung

C. G. Jungs Methode und Stil

Die Verborgene Wirklichkeit

Anordnende Faktoren in der Natur

Naturwissenschaft und Religion

Die Numinosität des Unbewußten

Erscheinung und Wirklichkeit

Die Numinosität des Selbst

Eine kabbalistische Parallele

Eine theologische Parallele (Paul Tillich)

Die innere Erfahrung

Die Alchemie als Ausdruck innerer Erfahrung

Das Unbewußte als innere Erfahrung

«Moderne Kunst» als Ausdruck innerer Erfahrung

Die innere Erfahrung durch Meskalin

Die Individuation

Aktive Imagination und Leben

Historische und ewige Ordnung

Freiheit und Gebundenheit

Gut und Böse

Der menschliche Konflikt

Wille und Gegenwille im Gottesbild

«Antwort auf Hiob»

Sprachbild und Objekt

Die Antinomie des Heiligen (Paul Tillich)

C. G. Jungs subjektive Aussage

Das Leiden der Welt

Die «Individuation der Menschheit»

Das Gottesbild des Heiligen Geistes

Die Überbrückung der Gegensätze im Gottesbild

Der Mensch im Erlösungswerk

Die «eine Wirklichkeit»

Der Einzelne

Sinn als Mythus vom Bewußtsein

Das schöpferische Bewußtsein

Das Geheimnis des Einfachen

Synchronizität

Anhang

Literaturverzeichnis

 

«Die Seele ist das größte aller kosmischen Wunder.»

C. G. Jung

 

Aniela Jaffé (1903–1991) war Analytikerin in Zürich und langjährige Mitarbeiterin C.G. Jungs. Als Herausgeberin von Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung ist sie einem großen Leserpublikum bekannt geworden. Sie hat mit ihren zahlreichen Publikationen maßgeblich dazu beigetragen, dass seine Psychologie einem breiteren Kreis näher gebracht wurde.

Ihr Interesse galt nicht nur der Analytischen Psychologie, wie viele ihrer Bücher bezeugen, sondern auch der Literatur und Parapsychologie.

Weitere Titel von Aniela Jaffé sind auf www.daimon.ch beschrieben.

 

Vorwort

Zur ersten Auflage

Es war ein strahlender Augusttag des Jahres 1940. Eine kleine Gruppe von Menschen hatte sich, trotz aller Unbill jener Zeit, zu einer «symbolischen Eranos-Tagung» in Moscia am Langensee zusammengefunden. Am Morgen sprach der Basler Mathematiker Andreas Speiser über Die Platonische Lehre vom unbekannten Gott und die christliche Trinität. Das war der einzige Vortrag, der angekündigt worden war, und mit dem man sich in diesem Jahr begnügen sollte. Es kam jedoch anders. Am Nachmittag zog sich C. G. Jung, der zu den Gästen zählte, in den schattigen Garten am Ufer des Sees zurück. Er hatte sich aus der Bibliothek eine Bibel geholt, las und machte Notizen. Am folgenden Tag überraschte er die gespannt lauschende Zuhörerschar mit einer Replik zu den Ausführungen des Basler Kollegen. Er ergänzte sie ex tempore mit dem Thema Zur Psychologie der Trinitätsidee. In der für ihn charakteristischen Weise, bedächtig, gelegentlich zögernd, formulierte er Gedanken, die er jahrelang mit sich herumgetragen, aber noch nicht endgültig gestaltet hatte.

Die im Stenogramm festgehaltenen Improvisationen Jungs erwiesen sich später als annähernd druckfertig; nur umfangreiche Erweiterungen kamen noch hinzu. Kannte man Jungs Art des Gestaltens, so war das nicht erstaunlich. Er begann erst dann zu schreiben, wenn die Gedanken in ihm reif geworden waren und er das erklärende Material gesammelt und geprüft hatte. Oft lagen Jahre zwischen der ersten schöpferischen Intuition und der Niederlegung im Wort; aber von dem Augenblick an, da er die Feder ergriff, stand er unter dem Gesetz des werdenden Werkes. Er vollendete es in einem Zug, in wohl eingeteilter täglicher Arbeit, oft sogar in Zeiten von Krankheit. Langsam und bedächtig, wie die Sprache, floß die klare Schrift über das Papier. Meist waren es nur sachliche Ergänzungen, «Amplifikationen» aus allen möglichen Wissensgebieten, die beim nachträglichen Durchlesen auf zahlreiche Zettel kleinen und kleinsten Formats an den ausgesparten Rand der Folioseiten geklebt wurden. Der geschriebene Text als solcher blieb zum größten Teil unangetastet.

Jungs Improvisation über die Psychologie der Trinitätsidee beschloß die Tagung in Moscia. Es folgte noch ein ernst-heiteres Gespräch auf der Terrasse der Casa Eranos mit dem weiten Blick auf See und Berge. Jung war entspannt und – eine Seltenheit, zumal in jenen Jahren der Katastrophe – mit seiner Leistung zufrieden. Doch grenzte er seinen Stil, fast entschuldigend, von dem des Vorredners ab: «Ich kann die Gedanken nur formulieren, wie sie aus mir herausbrechen. Das ist wie ein Geysir. Die nach mir kommen, werden sie ordnen müssen!» Zwar sind diese Sätze cum grano salis zu verstehen, denn sie lassen nichts ahnen von der Gründlichkeit und der geradezu pedantischen Umsicht, mit der das empirische Material zusammengetragen, gesichtet und gedanklich verarbeitet wurde, bis die endgültige Gestaltung sich nicht länger hinausschieben ließ; doch erklären sie manche Schwierigkeit, die sich bei der Lektüre seiner Schriften, besonders seiner Alterswerke, einstellt. Aus der Überfülle schöpferischer Gedanken sowie des dargelegten Materials ergeben sich gelegentliche Unübersichtlichkeiten, und die Spontaneität des Stils führt hie und da zu Unklarheiten.

Es war die Erinnerung an jenes sommerliche Gespräch am Langensee, die mir den Mut zu meinem Vorhaben gab, einen einzelnen Themenkomplex im Werk von C. G. Jung gesondert zu betrachten: wie sich für ihn aus dem Zusammenspiel von Bewußtsein und Unbewußtem eine Antwort auf die alte Frage nach Mensch und Sinn ergab.

Mein besonderer Dank gilt Frau Marianne Niehus-Jung, die bis zu ihrem Tod (1965) das Werden der Arbeit mit Interesse verfolgt hat. Eine Reihe von Freunden sind mir beim Lesen des Manuskripts mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Ihnen allen danke ich für ihre Mitarbeit und Geduld.

 

Aniela Jaffé

 

Zürich, im Herbst 1966

 

Zur zweiten Auflage

Seit Erscheinen der ersten Auflage des Buches sind zwölf Jahre vergangen. Es hat sich gezeigt, daß die von Jung behandelten Themen, aus denen sich seine Antwort auf die Frage nach dem Sinn ergibt, heute – siebzehn Jahre nach seinem Tod – noch ebenso aktuell sind wie damals. Einmal mehr wurde deutlich, daß Jung seiner Zeit voraus war.

Jungs Antwort auf die Sinnfrage kann nur aus der Fülle der Probleme erschlossen werden, die ihn zutiefst angingen. In seinem Werk hat er sie dargestellt, psychologisch gedeutet und geistesgeschichtlich eingeordnet. Es gehören dazu u. a. die Frage nach der inneren Erfahrung, nach einer Transzendenz des Lebens und Bewußtseins, sowie nach den Grenzen der Erkenntnis. Eine entscheidende Rolle spielt die Beziehung von Psychologie und Naturwissenschaft, sowie derjenigen von Psychologie und Religion, vor allem aber: das Hineinwirken der geistigen Wirklichkeiten in das Leben der Gruppe und des Einzelnen in seiner Zeit. Die sich daraus ergebende praktische Anwendung war für Jung das Kriterium für die Gültigkeit seiner Gedanken.

Durch die Fülle der Themenkreise kann das Buch als eine kurze und leicht verständliche Einführung in die Gedanken- und Geisteswelt C. G. Jungs gelesen werden. Darum ist es sehr dankenswert, daß der Walter-Verlag eine Neu-Auflage des ursprünglich im Rascher-Verlag Zürich erschienenen Buches veranstaltet, wozu er auch durch das wachsende Interesse an der Jungschen Psychologie ermutigt wird. – Auch sei all denen, die die Neu-Auflage mit ihrem Interesse unterstützten, an dieser Stelle noch einmal gedankt.

 

Aniela Jaffé

 

Zürich, Februar 1978

 

 

 

Zur dritten Auflage

Der Mythus vom Sinn im Werk von C. G. Jung handelt von der allmählichen Erweiterung des menschlichen Bewußtseins. Dieser durch die Jahrhunderte sich hinziehende Prozeß mündet in der Erkenntnis einer Einheit des Seins, wobei Geist und Materie, Wissenschaft und Glaube, Bewußtsein und Unbewußtes keine Gegensätze bilden, sondern als zwei Seiten einer und derselben Wirklichkeit aufgefaßt werden müssen.

In diesen Zusammenhang gehören einige Bemerkungen des Physikers Fritjof Capra in seinem Buch «Wendezeit». Er spricht von einer «Übereinstimmung zwischen der Jungschen Psychologie und der modernen Naturwissenschaft» und: «In seinem Versuch, das kollektive Unbewußte zu beschreiben, benutzte Jung auch Vorstellungen, die überraschende Ähnlichkeiten mit denen aufweisen, die moderne Physiker zur Beschreibung subatomarer Phänomene benutzen.»

Das vorliegende Buch bringt die Darstellung einiger psychologischer Voraussetzungen und Aspekte des Jungschen Erkenntnisweges. Er führt – wie auch die moderne Naturwissenschaft – zu einer Überwindung des rationalen, mechanistischen Weltbildes.

Es ist dankenswert, daß der Daimon-Verlag eine dritte Auflage des Buches herausbringt.

 

Aniela Jaffé

Zürich, Herbst 1983

 

 

 

 

 

Die Seitenangaben in den Anmerkungen beziehen sich auf die jeweils erste Auflage der einzelnen Bände der Gesammelten Werke. Die Seitenangaben von GW VIII beziehen sich auf die 2. Aufl., 1976.

 

Das Thema

Die Frage «Wozu das Leben?» ist so alt wie die Menschheit, und jede Antwort ist Deutung einer von Rätseln umgebenen Welt. Keine Antwort ist die letzte, und keine ist imstande, die Frage restlos zu beantworten. Sie wandelt sich, wie Welterkenntnis sich wandelt, und Sinnlosigkeit gehört neben Sinn zur Fülle des Lebens. «Das Leben ist närrisch und bedeutend. Und wenn über das eine nicht gelacht und über das andere nicht spekuliert wird, dann ist das Leben banal; dann hat alles kleinstes Ausmaß. Es gibt dann nur einen kleinen Sinn und einen kleinen Unsinn.»1 So schrieb Jung2 als Neunundfünfzigjähriger. Ein Vierteljahrhundert später erhält der gleiche Gedanke eine seltsam andere Betonung: «Es ist Temperamentssache zu glauben, was überwiegt: die Sinnlosigkeit oder der Sinn. Wenn die Sinnlosigkeit absolut überwöge, würde mit höherer Entwicklung die Sinnerfülltheit des Lebens in zunehmendem Maße verschwinden. Aber das ist nicht – oder scheint mir – nicht der Fall. Wahrscheinlich ist, wie bei allen metaphysischen Fragen, beides wahr: das Leben ist Sinn und Unsinn, oder es hat Sinn und Unsinn. Ich habe die ängstliche Hoffnung, der Sinn werde überwiegen und die Schlacht gewinnen.»3 In hohem Alter wird die Frage nach dem Sinn zu einer Schicksalsfrage, die über Wert und Unwert des eigenen Lebens entscheidet. Jung ist zutiefst von ihr berührt und weiß doch, daß es eine endgültige oder eindeutige Antwort nicht gibt.

Es ist das Ziel des Buches, aufzuzeigen, was Jung dem «Unsinn des Lebens» als «Sinn» entgegenstellte. Sinn ergab sich ihm aus der Erfahrung eines reichen und langen Lebens und aus jahrzehntelanger Erforschung der Seele. Er fand eine ihn befriedigende Antwort, die an seine Wissenschaft und seine Erkenntnisse anknüpfte, ohne jedoch den Anspruch an Wissenschaftlichkeit zu erheben. Es gibt keine objektiv gültige Antwort auf die Frage nach dem Sinn; denn objektives Denken ist ebenso an ihr beteiligt wie subjektives Werten. Jede Formulierung ist ein Mythus, den der Mensch erschafft, um Unbeantwortbares zu beantworten.

Die Frage nach dem Sinn war für Jung kein philosophisches oder theoretisches Problem, sondern entsprang, wie die meisten Themen seines Werkes, den Erfahrungen und Notwendigkeiten seiner täglichen Sprechstunde. Jung war in erster Linie Arzt, und seine dem Helfen und Heilen verpflichtete Einstellung blieb bis in seine letzten Lebensjahre maßgebend. Die seinem Buch Antwort auf Hiob vorangestellten Worte «Doleo super te frater mi …» (II. Sam. I, 26) geben einem mächtigen Antrieb in seinem Schaffen und Denken Ausdruck. Das Fehlen eines Lebenssinns spielt in der Aetiologie der Neurosen eine entscheidende Rolle: «Die Psychoneurose ist im letzten Verstande ein Leiden der Seele, die ihren Sinn nicht gefunden hat.»4

Etwa ein Drittel seiner Patienten litt, wie Jung berichtete, «überhaupt an keiner klinisch bestimmbaren Neurose, sondern an der Sinn- und Gegenstandslosigkeit ihres Lebens».5 Es waren keine «krankhaften Sonderlinge», die auf die Frage nach dem Sinn beim Arzt eine Antwort suchten, «sondern sehr oft besonders tüchtige, tapfere und gute Menschen».6 Neurotisch waren sie nur insofern, als sie teilhatten an dem, was Jung als «allgemeine Neurose unserer Zeit» bezeichnete, nämlich am immer weiter um sich greifenden Gefühl der Sinnlosigkeit des Lebens. In den meisten Fällen ging es Hand in Hand mit dem Gefühl einer religiösen Leere. Diese Menschen konnten nicht mehr glauben, sei es, daß sie nicht imstande waren, wissenschaftliches Denken und die Aussagen der Religion in Einklang zu bringen, sei es, daß die im Dogma verkündeten Wahrheiten für sie Autorität und psychologische Daseinsberechtigung verloren hatten. Waren es Christen, so fühlten sie sich durch Christi Opfertod nicht erlöst, waren es Juden, durch die Thora nicht getragen. So entbehrten sie des Schutzes, den die Verwurzelung in religiösen Traditionen gewährt. Der in einer Religion geborgene Mensch wird sich nie ganz im Dunkel und der Einsamkeit einer sinnlosen Welt verlieren; und nach Jungs Erfahrung ist keiner wirklich geheilt, und keiner findet seinen Sinn, «der seine religiöse Einstellung nicht wieder erreicht, was mit Konfession oder Zugehörigkeit zu einer Kirche natürlich nichts zu tun hat».7

Angesichts der Frage nach einem Sinn des Lebens kann keine Wissenschaft die Religion in diesem weiten Sinn ersetzen. Biologische, physikalische oder kosmische Ordnungsgesetze geben ebensowenig Antwort wie die Deutung seelischer Inhalte ausschließlich auf Grund von Erfahrungen des persönlichen Lebens oder des Bewußtseins. Sinn ist ein Ganzheitserlebnis. Seine Umschreibung setzt ebenso die in der Zeit gelebte Wirklichkeit voraus wie eine Ewigkeitsqualität des Lebens; die persönlichen und bewußten Erfahrungen ebenso wie einen Bereich, der Bewußtsein und Welt transzendiert. Fehlt die Spannung zwischen der einen und der anderen Qualität des Seins, dann entsteht «das Gefühl von Zufälligkeit und Sinnlosigkeit, und dieses Gefühl ist es, das uns verhindert, das Leben mit jener Bedeutungsschwere zu leben, die es verlangt, um völlig ausgeschöpft zu werden. Das Leben wird flach und stellt den Menschen nicht mehr völlig dar».8 Für Jung ist das Leben nur dann gelebt, wenn es zum «Kriterium der Wahrheit des Geistes»9 wird.

 

 

 

 


1 C.G. Jung, Über die Archetypen des koll. Unbewußten, GW IX, I, p. 31.

2 Um das Schriftbild nicht zu stören, wird der im Text ständig vorkommende Name C. G. Jungs nicht hervorgehoben.

3 Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung. Auf gezeichnet und herausgegeben von Aniela Jaffé. (Im folgenden «Erinnerungen von C. G. Jung» genannt), p. 360.

4 C. G. Jung, Psychotherapie und Seelsorge, GW XI, p. 358. – Vgl. auch G. Adler, Die Sinnfrage in der Psychotherapie, in: Studien aus dem C. G. Jung-Institut, Band XVII, 1964. H. K. Fierz, Sinn im Wahn, in: Studien aus dem C. G. Jung-Institut, Band XV, 1963. E. Neumann, Die Sinnfrage und das Individuum, Eranos-Jahrbuch 1957.

5 C. G. Jung, Ziele der Psychotherapie, GW XVI, p. 44.

6 C. G. Jung, Psychotherapie und Seelsorge, GW XI, p. 365.

7 C. G. Jung, Psychotherapie und Seelsorge, GW XI, p. 362.

8 C. G. Jung, Analytische Psychologie und Weltanschauung, GW VIII, p. 417.

9 C. G. Jung, Geist und Leben, GW VIII, p. 369.

 

Das Unbewußte und der Archetypus

Hypothese und Modell

Die Wirklichkeit, welche das Bewußtsein transzendiert und als geistiger Hintergrund der Welt erscheint, ist, in psychologischer Terminologie, das Unbewußte. Aus diesem Grunde müssen wir die Aufmerksamkeit des mit der Jungschen Psychologie nicht vertrauten Lesers zuerst mit einigen theoretischen Ausführungen über das Unbewußte und seine Inhalte, die sogenannten Archetypen, in Anspruch nehmen. Sie bilden die Grundlage zum Verständnis der nachfolgenden Kapitel.

Es ging Jung weniger um den relativ begrenzten Bereich des Verdrängten und Vergessenen, welchen er als das «persönliche Unbewußte» bezeichnete, als um eine von ihm entdeckte – historisch gesehen: wieder entdeckte10 – seelische Hintergrundswelt, das «kollektive Unbewußte». (Wenn im folgenden vom «Unbewußten» die Rede ist, so immer im Sinn des «kollektiven Unbewußten».) Im Gegensatz zum persönlichen Unbewußten ist es ein grenzenloser Bereich, der verborgen bleibt, da er mit dem Ichbewußtsein nicht verbunden ist. «Das Wunderbare am Unbewußten ist, daß es wirklich unbewußt ist», sagte Jung einmal, und: «Der Begriff des Unbewußten setzt nichts, er benennt nur mein Nichtwissen.» (Brief Februar 1946)

Das kollektive Unbewußte ist direkter Beobachtung nicht zugänglich. Seine Erforschung kann aber auf indirekte Weise geschehen, über den Umweg der Beobachtung von bewußten und darum faßbaren Inhalten, die Rückschlüsse auf sein Wesen und seine Struktur zulassen. Dieser methodische Weg wurde auch von Freud beschritten, der aus den Symptomen der Hysterie, aus Träumen, Fehlleistungen, dem Witz usw. in die «Verborgenheit des Eigentlichen» drang und auf das Unbewußte als einen unbekannten, verhüllten psychischen Bereich schloß. Auch für Jung war «das Vorhandensein einer unbewußten Psyche … etwa so wahrscheinlich wie die Existenz eines noch unentdeckten Planeten, auf den aus den Störungen einer bekannten Planetenbahn geschlossen wird. Leider fehlt das hilfreiche Teleskop, das uns Gewißheit verschaffen könnte».11 Das Unbewußte ist eine Hypothese.12

Der Weg zur Unterbauung der Hypothese zeigte sich Jung durch die Untersuchung seelischer Bilder und Vorstellungen. Sorgfältig beobachtete er die eigenen Träume und diejenigen seiner Patienten; er analysierte Phantasien und Wahngebilde von Geisteskranken und vertiefte sich in die vergleichende Religions- und Mythengeschichte. Die entscheidende Erkenntnis ergab sich ihm aus der Tatsache, daß zu allen Zeiten und überall, wo Menschen leben, denken und handeln, analoge seelische Bilder oder Bildmotive vorkommen. Aus diesem «universalen Parallelismus»13 schloß er auf das Vorhandensein von typischen Dispositionen im Unbewußten, die mit der Anlage des Menschen gegeben sind. Als unbewußte Operatoren ordnen sie überall und immer wieder Bewußtseinsinhalte nach ihrer eigenen Strukturform an, woraus sich die Analogie der Bildmotive ergibt. Jung nannte die inneren Dispositionen Archetypen und charakterisierte die von ihnen angeordneten Bewußtseinsinhalte und Motive durch das Adjektiv archetypisch.14

Das Wort «Archetypus» kommt aus dem Griechischen; «archetypos» bedeutet das «Ur-Prägende». Bei Handschriften meint es das Original, die Grundform späterer Abschriften.15 In der Psychologie stellen die Archetypen Grundformen menschlichen Wesens, «die Menschenart des Menschen» dar. Da es unbewußte Größen sind, bleiben sie selber unanschaulich und verborgen; aber sie werden indirekt erkennbar durch ihre Anordnungen im Bewußtsein: in den analogen Motiven seelischer Bilder, wie auch in typischen Motiven des Handelns bei Ursituationen des Lebens, bei Geburt, Tod, Liebe, Mutterschaft, Wandlung etc. Der Archetypus als solcher steht gestaltend hinter den archetypischen Motiven, aber nur diese sind dem Bewußtsein zugänglich.

Irgendwann einmal tauchten die archetypischen Motive aus der unbewußten Anlage der Menschheit auf; ebenso können sie jederzeit und überall wieder aus der gleichen Disposition spontan entstehen. Auch da, wo religiöse oder mythische Bilder durch Migration oder Tradition überliefert werden, wirken die Archetypen als unbewußte Bereitschaften, die von außen kommenden Inhalte zu «wählen», aufzunehmen und zu integrieren. Philosophisch gesehen ist der Archetypus nicht die Ursache seiner Manifestationen, sondern deren Bedingung.

Im Lauf der Zeit erweiterte Jung den Archetypusbegriff. Er erkannte, daß er auch als unbewußte formative Grundlage abstrakter Gedanken und wissenschaftlicher Theorien angesehen werden müsse. «Die größten und besten Gedanken der Menschheit formen sich über den urtümlichen Bildern wie über einer Grundzeichnung.»16 Es war der Physiker Wolfgang Pauli, der hier anknüpfte und auf den Einfluß archetypischer Vorstellungen beim Zustandekommen naturwissenschaftlicher Theorien hinwies, da auch in der «objektiven Wissenschaft» die Aussage der Einwirkung «anordnender Operatoren und Bildner im Unbewußten» unterliegt.17 Das wird uns noch ausführlich beschäftigen.

 

Mit dem Begriff des Archetypus setzte Jung die alte platonische Denktradition fort. Wie nach Plato dem Erscheinenden die «Idee», eine Art geistiges Vorbild, präexistent und übergeordnet ist, so nach Jung der Archetypus. « ‚Archetypus‘ ist nun nichts anderes als ein schon in der Antike vorkommender Ausdruck, welcher mit ‚Idee‘ im platonischen Sinn synonym ist.»18 Oder: Archetypen sind «aktive, d. h. lebendige Bereitschaften, Formen, eben Ideen in platonischem Sinn».19 Sie sind in jeder Psyche vorhanden, deren Denken, Fühlen und Handeln sie instinktmäßig präformieren.

1919 brauchte Jung zum ersten Mal den Begriff Archetypus.20 In seinen frühen Schriften findet sich dafür die auch später noch gelegentlich gebrauchte Bezeichnung «Urbild» oder «urtümliches Bild».21 Doch erwies sich diese Umschreibung nicht immer als glücklich. Sie führte zu Mißverständnissen, weil unter «Urbild» meist etwas inhaltlich Bestimmtes, eben ein «Bild», verstanden wird, während es nach Jungs Definition unbewußt und unanschaulich ist und erst im Bewußtsein als Bild, als «archetypischer Inhalt» erscheint.

Eine andere frühe Umschreibung der Archetypen war ihre Bezeichnung als «Bahnungen». Diese entstanden, wie Jung annahm, im Laufe von Generationen als Prägungen und Entsprechungen immer wiederkehrender typischer Lebenserfahrungen. Später ließ er diese Bezeichnung wieder fallen, da sie auf ein allmählich Gewordenes und inhaltlich weiter Vererbtes schließen läßt; während er erkannt hatte, daß die Archetypen mit dem Menschsein von vornherein gegeben sind. Der Archetypus als solcher ist zeitlos, ist «reine unverfälschte Natur».22 Sein Ursprung ist verborgen und liegt jenseits der Grenze psychologischer oder naturwissenschaftlicher Erfaßbarkeit. «Ob die seelische Struktur und ihre Elemente, eben die Archetypen, überhaupt je entstanden sind, das ist eine Frage der Metaphysik und daher nicht zu beantworten.»23 Mit Sicherheit kann nur gesagt werden, daß die Archetypen sich in ihrer Eigenschaft als unanschauliche Dispositionen im Unbewußten, als zeitlose Konstanten der menschlichen Natur, vererben. Hingegen formen sich ihre Anordnungen (die archetypischen Bilder und Vorstellungen) in jedem Leben neu als individuelle, zeitbedingte Varianten des zeitlosen Motivs. Zu ihrer Gestaltung trägt die unbewußte Disposition (der anordnende Archetypus) ebenso bei wie die Umwelt, die persönliche Erfahrung, die jeweilige Kultur.

Um den Unterschied zwischen dem Archetypus als solchem und seiner Erscheinung als archetypischem Inhalt im Bewußtsein zu verdeutlichen, brauchte Jung gern den Vergleich mit dem in der Lauge vorhandenen, aber unerkennbaren Kristallgitter (der Archetypus an sich, die unanschauliche regulierende Strukturform im Unbewußten), das erst durch das Anschießen der Ionen und Moleküle (das Erfahrungsmaterial) als Kristall in die Erscheinung tritt. Jeder einzelne Kristall verwirklicht die Grundform des Gitters, aber in vielfältig variierter, individueller Gestalt (das archetypische Bild im Bewußtsein).

Der «Archetypus an sich» ist unerkennbar; er stellt eine «hypothetische unanschauliche Vorlage»24 dar. Wenn Jung ihn trotzdem als Begriff in die Wissenschaft einführte und im Verlauf der Jahrzehnte seine Struktur immer genauer zu erfassen suchte, so ging es ihm – vor allem bei den späteren, differenzierteren Umschreibungen – um die Konstruktion eines Modells und um dessen Veranschaulichung. Die Konstruktion von Modellen ist in der Wissenschaft nichts Ungewöhnliches. Jede Wissenschaft, die mit unanschaulichen Wirklichkeiten konfrontiert ist, sieht sich gezwungen, Modelle zu entwerfen. Auch das Atom ist eine an sich unanschauliche, d. h. in Zeit und Raum nicht vorstellbare Größe. Aus seinen erkennbaren Wirkungen konstruiert es die Physik als Modell. Das Gleiche tut auch die Biologie in Fällen, wo sie nur die Oberfläche ihres Objektes direkt studieren kann, während ihr die inneren Vorgänge der Organismen unzugänglich bleiben.25 Das Gleiche tat Jung, als er den «Archetypus an sich» aus seinen erkennbaren Wirkungen als Modell konstruierte.

 

 

 

 


10 Lancelot L. Whyte behandelt in seinem Buch, The Unconscious before Freud, New York, 1962, die Konzeption des Unbewußten bei Shakespeare, Leibniz, Goethe, Schopenhauer, Nietzsche, v. Hartmann und anderen. – Ein dem Unbewußten analoger philosophischer Begriff findet sich schon in der Spätantike, vor allem bei Plotin (205–270 n. Chr.).

11 C. G. Jung, Medizin und Psychotherapie, GW XVI, p. 97.

12 Vgl. dazu C. G. Jung, Die Psychologie der Übertragung, GW XVI, p. 181, Fußnote 12: «Ich bezeichne die unbewußten Vorgänge als hypothetisch», weil das Unbewußte per definitionem keiner direkten Beobachtung zugänglich ist, sondern nur ‚erschlossen‘ werden kann.»

13 C. G. Jung, Über den Archetypus mit besonderer Berücksichtigung des Animabegriffs, GW IX, I, p. 73.

14 Eine ausführliche Darstellung des Archetypus-Begriffs bei C. G. Jung findet sich in J. Jacobi, Komplex, Archetypus, Symbol in der Psychologie C. G. Jungs, Zürich, 1957, p. 36 ff.

15 Vgl. K. Kerényi, Umgang mit Göttlichem, Göttingen, 1961, p. 53. – Die älteste bekannte Literaturstelle, welche das griechische Wort «archetypos» erwähnt, findet sich bei Cicero (106–43 v. Chr.). In seinen Briefen an Atticus übersetzte er das Wort ins Lateinische, wodurch es in den Sprachgebrauch der Spätantike einging.

16 C. G. Jung, Über die Psychologie des Unbewußten, GW VII, p. 74 f. Aus Jungs Formulierung geht nicht mit Deutlichkeit hervor, daß er unter «urtümlichen Bildern» unanschauliche psychische Strukturformen im Unbewußten verstand.

17 Vgl. W. Pauli, «Der Einfluß archetypischer Vorstellungen auf die Bildung naturwissenschaftlicher Theorien bei Kepler.» (Im folgenden «Kepler» genannt.) In: Jung-Pauli, Naturerklärung und Psyche, Studien aus dem C. G. Jung-Institut, Zürich, Band IV, 1952.

18 C. G. Jung, Mutterarchetypus, GW IX, I, p. 91.

19 Ebda, p. 95.

20 Vgl. «Instinkt und Unbewußtes», GW VIII, p. 147 ff.

21 In Anlehnung an den von Jacob Burckhardt geprägten Begriff «urtümliche Bilder».

22 C. G. Jung, Theoret. Überlegungen, GW VIII, p. 236.

23 C. G. Jung, Mutterarchetypus, GW IX, I, p. 114 f.

24 C. G. Jung, Archetypen des koll. Unbewußten, GW IX, I, p. 15, Fn. 8.

25 Vgl. E. R. Weibel, Modell und Wirklichkeit in der biologischen Forschung. Neue Zürcher Zeitung, Nr. 3809, 13. September 1964: «Innere Vorgänge kann der Biologe nur indirekt über ihre Wirkungen auf oberflächlich gelegene und damit zugängliche Abschnitte seines Objektes erfassen. Und deshalb muß er sich diese Wirkung mit Hilfe von Modellvorstellungen und Theorien denken.»