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Table of Contents

Titel

Impressum

Widmung

Manchmal

1

ADAM'S LISTE

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9 und 10

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Danksagung

Die Autorin Laura Garski

 

 

 

 

 

 

Laura Garski

 

 

 

 

 

Das Leuchten

in unseren Herzen

 

 

 

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

DeBehr

 

 

Copyright by: Laura Garski

Lektorat: Klaus-Dietrich Petersen

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

Erstauflage: 2019

ISBN: 9783957537300

Grafik: Copyright by anyaberkut by adobe stock

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Fotografie, Mikrofilm, oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Rechteinhabers reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt, oder verbreitet werden. Dies gilt auch für Rundfunk, Fernsehen, sowie der Übersetzung.

 

 

 

 

 

Für alle, die einen Lieben

verloren haben,

und für alle,

die von uns gegangen

sind.

 

Manchmal musst du akzeptieren

 dass einige Menschen

nur in deinem Herzen bleiben können,

aber nicht in deinem Leben.

 

1

 

EMILY

 

Man sollte meinen, nach einem Verlust geht das Leben irgendwann weiter. Man kann gar nicht ewig um etwas trauern, das nicht mehr da ist. Oder besser gesagt, um jemanden. Ich stehe vor Dr. Houseman's Praxis und traue mich nicht, hinein zu gehen. Eigentlich ist es aber albern, denn ich war schon öfter hier. Bevor ich die Tür aufmache, atme ich tief durch, in der Hoffnung, so meine Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Das Zimmer ist sehr modern eingerichtet. Vor dem großen Fenster steht ein Schreibtisch, und in der Ecke neben der Tür befinden sich zwei rote Ohrensessel. Auf dem einen sitzt Dr. Houseman bereits, und ich nehme ihr gegenüber Platz. Dies hier ist meine fünfte Sitzung mit ihr. Lange habe ich mich geweigert, mit jemandem zu reden. Es bringt mir Adam auch nicht zurück. „Wie geht es dir heute, Emily?“, fragt die Ärztin mich. Ihre Miene ist, wie immer, undurchschaubar. „Sollte ich jetzt nicht eigentlich sagen, dass es mir gut geht?“, frage ich sie, erwarte aber keine Antwort.

„Du solltest sagen, wie es dir wirklich geht. Du musst hier keine Erwartungen erfüllen“, antwortet sie.

Ich seufze. „Es geht mir nicht gut, und ich vermisse ihn. So wie jeden Tag. Ich will nicht, dass er weg ist“, beantworte ich ihre Frage. Wie soll es mir denn auch gut gehen, wenn ich meinen Freund verloren habe?

„Das verstehe ich natürlich. Warst du seit seiner Beerdigung an seinem Grab?“, ist ihre nächste Frage.

Ich schüttel den Kopf. Nein, ich konnte nicht. Ich habe es versucht, aber ich konnte es einfach nicht. Es hat sich auf einmal alles so realistisch angefühlt, als ich vor dem Friedhof stand. Und ich wollte nicht, dass es real ist. Ich bin schließlich wieder umgedreht und nach Hause gefahren.

„Das ist in Ordnung, Emily. Du sollst wissen, dass dich niemand zwingt. Du darfst dir alle Zeit nehmen, die du brauchst. So ein Verlust ist nur schwer zu verarbeiten“, erklärt sie. Adam war mein Freund. Meine erste Liebe, mein erstes Mal. Und er hatte Krebs.

Die Diagnose kam vor fast einem halben Jahr. Es war überraschend, denn Adam war jemand, der selten krank war. Mit der Diagnose hatte keiner gerechnet. Adam war ein herzensguter Mensch, der so etwas ganz und gar nicht verdient hatte. Wir hatten zusammen eine Wohnung in der Nähe vom Campus. Mittlerweile bin ich ausgezogen. Alles, was mich an ihn erinnert, tut mir nämlich weh.

„Manchmal erwische ich mich, wie ich darauf warte, dass er nach Hause kommt. Oder wenn ich morgens aufwache, immer noch denke, dass er neben mir liegt“, sage ich leise. Das ist mir gerade heute Morgen wieder passiert. Für einen kurzen Moment dachte ich, Adam würde neben mir liegen. „Auch das ist völlig normal. Du befindest dich gerade in der dritten Phase der Trauer, der des Suchens und Sich-Trennens. Da ist es absolut normal, dass du ihn in deinem Umfeld siehst oder auch suchst. Das vergeht mit der Zeit“, antwortet die Ärztin mir und versucht sich an einem aufmunternden Lächeln.

Mein Leben in den letzten Monaten hat sich nur noch um Adam gedreht. Ich habe die Uni vernachlässigt, meine Freunde und auch mich selbst.

Adam hat einen großen Teil von mir mitgenommen, als er aus dem Fenster gesprungen ist. Er war unheilbar krank, mit einer nicht sehr großen Chance auf Heilung. Er hat sich entschieden, es gar nicht erst zu versuchen. Er hat auch nicht lange genug gekämpft. Vielleicht hätte er es schaffen können, und er hätte dann überlebt. Aber er hat es gar nicht erst versucht. Knapp drei Monate nach der Diagnose – noch vor der ersten Therapie – ist er aus dem Fenster gesprungen.

Er hat nur einen Brief hinterlassen, in dem er versucht hat, sich zu erklären. Irgendwie habe ich ihn verstanden, doch irgendwie auch wieder nicht. Ich denke, ich kann nicht genau sagen, auf wen ich wütender bin. Auf mich selbst, weil ich nicht gemerkt hatte, was er vorhatte, oder auf ihn, weil er nicht kämpfen wollte.

„Woran denkst du gerade?“, stellt Dr. Houseman mir eine weitere Frage. Kurz überlege ich, ob ich ihr meine Gedanken offenbaren soll. Dann tue ich es schließlich doch. Mit meinen Gedanken kommen dann auch meine Emotionen. Ich merke, wie die Luft immer dünner wird und ich kaum noch Luft bekomme. Seit Adams Beerdigung habe ich keine Träne mehr vergossen, und das wird sicherlich auch jetzt nicht passieren. Es ist, als wäre mein Tränenvorrat aufgebraucht. Meine Hände zittern und sind schweißnass. Das ist normal bei einer Panikattacke. Ich habe sie öfter. Sie kommen meistens zusammen mit den Albträumen.

„Hast du jemanden, mit dem du reden kannst? Außerhalb dieses Zimmers?“, fragt die Ärztin. Ihre Worte kommen nur gedämpft bei mir an. Ich schüttel den Kopf.

„Nein, ich glaube nicht“, antworte ich, doch es klingt nicht wie meine Stimme. Ich erzähle ihr von Adam und meinen Freunden an der Uni. Und davon, dass ich mich seit seinem Tod von ihnen abgewandt habe. Sie sagt, auch das wäre durchaus normal. Menschen, die einen Verlust erleiden, ziehen sich zurück, weil sie alleine damit fertig werden wollen. Mit einem Blick zur Uhr wendet sich Dr. Houseman mir entschuldigend zu. „Es tut mir leid, Emily, aber unsere Sitzung ist beendet. Ich habe leider noch einen Termin“, sagt sie und sieht mich bedauernd an.

Ich nicke. „In Ordnung“, erwidere ich und stehe auf.

„Unsere nächste Sitzung ist dann in einer Woche“, verabschiedet sie mich. Ich trete hinaus in den Flur, in dem ich auch vorhin gewartet hatte. Mit meinem Fahrrad fahre ich zurück zu meiner Wohnung. Diese Wohnung kommt mir nicht vor wie ein Zuhause. Mein Zuhause war bei Adam. Dies hier ist bloß eine Wohnung, in die ich gezogen bin, nachdem Adam gestorben war. Ich habe es in der Wohnung nicht mehr ausgehalten. Alles hat mich an ihn erinnert. Bei meinem Umzug habe ich eine ganze Kiste mit Adams Sachen gefunden. Bilder von uns beiden, von ihm und von seinen Eltern. Ein paar Notizen und ein paar seiner Manuskripte.

Adam war ein wundervoller Schreiber. Er hat fast jede freie Minute damit verbracht, an seinen Manuskripten zu schreiben. Sie wurden alle nicht vollendet. Manchmal hat er mich dabei komplett vergessen, aber das war Okay. Dafür habe ich seine Werke umso mehr geliebt. Immer, wenn ich in den letzten Wochen an Adam gedacht habe, habe ich eines der Hefte aus der Kiste genommen. Wenn ich seine Texte lese, fühle ich mich ein bisschen mit ihm verbunden.

Ich fahre über die nächste Ampel und sehe den Häuserblock, in dem sich meine Wohnung befindet.

Es ist keine schlechte Wohnung, aber eine, die ich mir von meinem Gehalt gerade leisten kann. Früher haben Adam und ich uns die Miete geteilt. Adam hätte die Wohnung gemocht, denke ich nicht zum ersten Mal, als ich sie betrete. Sie hat diese typischen alten Dachbalken und eine Wohnküche. Meine Schuhe stelle ich ordentlich in das Regal. Wenn ich eines nicht mag, dann ist es Unordnung.

Ich hole die Kiste aus dem Wohnzimmerschrank und ziehe eines der unteren Manuskripte heraus. Auf dem Weg zu meiner Couch schlage ich die erste Seite auf.

Das Leuchten in unseren Herzen, steht in geschwungener Schrift auf dem Deckblatt. Ein kurzes Lächeln umspielt meine Lippen, und ich setze mich, bevor ich weiterblättere. Doch an Stelle eines Kapitels, finde ich etwas anderes. Eine Liste. Eine Liste, die Adam vor seinem Selbstmord geschrieben hat. Mit all den Dingen, die er vor seinem Tod noch erledigen wollte. Ich versuche, den Klos in meinem Hals hinunter zu schlucken. Adam hatte eine Liste, die er nie abarbeiten konnte. Er konnte diese ganzen Dinge auch nie erleben.

Mir wird schlecht, und alles dreht sich in meinem Kopf. Ich springe hoch und reiße das Fenster auf. Kalte Luft strömt mir entgegen und kühlt mich ab. Ich lese die Liste immer und immer wieder. Dann blättere ich weiter.

Auf der nächsten Seite steht mein Name. Ich atme tief durch und beginne zu lesen.

 

ADAM'S LISTE

 

· Dir ein Tattoo stechen lassen

·  Mein Grab aufsuchen

· Mit einem Hubschrauber über die Stadt fliegen

· Eine Karaoke-Bar besuchen

· Unsere Freunde wieder treffen

· Deinem Vater vergeben

· Dich neu verlieben

· Jemanden heiraten, den du liebst und eine Familie gründen

· GLÜCKLICH SEIN

 

Liebe Emily,

ich weiß, dass ich Dich enttäuscht habe. Vielleicht denkst Du Dir, dass diese Liste voll ist mit Dingen, die ich, bevor ich sterbe, noch machen möchte. Das stimmt nicht ganz. Sie ist nicht für mich, und das war sie nie. Sie ist für Dich.

Ich weiß, wie sehr Du leidest und was Du alles durchmachst. Mir ist die Entscheidung nicht leicht gefallen. Aber letzten Endes war es das einzig Richtige. Ich habe nicht nur Dir und meiner Familie damit Leid erspart, sondern auch mir selbst.

Ich habe keine Angst vor dem Fall, denn er wird wohl kaum so weh tun, wie Dich zurück zu lassen. Aber dennoch muss ich es tun.

Ich wollte immer ein glückliches Leben mit Dir. Und es tut mir leid, dass ich Dir das jetzt nicht mehr geben kann. Aber ich hätte es Dir nie geben können. Ich wäre gestorben, ob Du wolltest oder nicht, früher oder später wäre es so gewesen. Meine Chancen auf Heilung waren mehr als nur schlecht, aber das weißt Du alles schon.

Kommen wir zurück zu der Liste. Ich wünsche mir, dass Du sie abarbeitest. Jeden einzelnen Punkt. Die Reihenfolge ist egal, denke ich. So hast Du etwas, das Dich an mich erinnert. Es wird mich nicht wieder lebendig machen und zu Dir zurück bringen, aber ich werde mit Dir zusammen diese Dinge erleben und auf Dich aufpassen.

Ich weiß, dass Du dich nicht neu verlieben möchtest. Nimm Dir ruhig die Zeit, die Du brauchst.

Ich wünsche mir, dass Du dann eines Tages wieder glücklich bist. Mit einem tollen Mann an deiner Seite und ein paar fröhlichen Kindern.

Du bist eine wahnsinnig faszinierende Frau, Emily, versteck Dich nicht hinter mir. Du bist der Kapitän in Deinem Leben, nicht ich. Wenn Du meinetwegen Dein Leben nicht nutzen würdest, würde ich mir das nie verzeihen. Ich will, dass Du lebst, Emily.

Ich bin tot, aber Du lebst noch. Und dieses Leben sollst Du nutzen und jeden Tag leben. Verschwende Deine Zeit nicht mit mir, denn ich bin tot.

Ich will, dass Du weitermachst, auch wenn es für dich allein schwer ist. Du bist aber so viel stärker, als ich es je war. Bitte, gib Dich nicht auf.

Adam

 

Ich merke, wie mir eine Träne über die Wange läuft. Nur eine einzelne Träne, mehr nicht. Ich wünsche mir, dass es mehrere wären. Doch es kommen keine weiteren.

Einen Moment bin ich kurz davor, diese dämliche Liste zu zerreißen. Ich kann das aber nicht. Ich kann mich auch nicht wieder verlieben. Adam wusste, dass ich es nicht können würde. Deswegen hat er das auch geschrieben.

Mich mit meinem Vater versöhnen. Auch das kann ich nicht. Es ist für mich fast unmöglich, ihm diesen Wunsch zu erfüllen. Ich sitze auf dem Sofa, völlig ratlos, was ich tun soll. Ich würde ihm seinen Wunsch gerne erfüllen.

Aber ich müsste ihn dafür vergessen, und das kann ich nicht. Ich lese mir den Brief und die Liste immer wieder durch. Und nie ergibt es für mich einen Sinn.

Mittlerweile ist es spät geworden, und ich sitze immer noch hier. Irgendwann ist es so spät, dass ich beschließe, ins Bett zu gehen. Doch ich kann nicht schlafen. In meinem Kopf ist es viel zu laut, als dass ich jetzt in Ruhe schlafen könnte. Meine Gedanken kreisen ständig um Adam, und um die Liste.

Irgendwann muss ich eingeschlafen sein, denn ich werde am nächsten Morgen von meinem Wecker geweckt. Meine Vorlesung in der Uni fängt in zwei Stunden an. Ich studiere Englisch auf Lehramt im Hauptfach. Früher war es immer mein Traum, Grundschullehrerin zu werden, doch mittlerweile weiß ich nicht mehr, ob ich das will.

Als ich unter der Dusche stehe, kommen die Geschehnisse von Gestern wieder hoch. Und auch, als ich mit dem Fahrrad zur Uni fahre, sind sie immer noch da. Um diese Uhrzeit sind noch nicht viele Menschen hier. Ich bin auch mit eine der ersten.

Ich stelle mein Fahrrad ab und mache das Schloss zu. Mir wurde hier schon mal ein Fahrrad geklaut, deswegen gehe ich auf Nummer sicher. Auch in dem Gebäude sind nicht viele Leute unterwegs, doch weitaus mehr, als auf dem Campus. Ich werfe einen Blick auf meine Uhr. In einer halben Stunde fängt die Vorlesung an.

Ich biege um die Ecke, als ich mit jemandem zusammenstoße. Erschrocken versuche ich, mein Gleichgewicht zu halten, schaffe es jedoch nicht. Beinahe wäre ich auf den Boden gefallen, doch ich werde am Arm festgehalten und davor bewahrt. Als ich wieder aufrecht stehe, werfe ich einen Blick auf meinen Gegenüber.

„Entschuldige“, sagen wir beide gleichzeitig und fangen dann an zu lachen.

„Tut mir leid, wirklich. Ich habe dich nicht kommen sehen“, lächelt er und sieht mir in die Augen. Seine Augen leuchten in einem strahlenden Grün.

„Kein Problem, ist ja nichts passiert. Du hast mich gerade noch halten können, bevor ich gefallen bin“, sage ich und lege ein Lächeln auf meine Lippen. Er lacht kurz.

„Das stimmt. Ein Glück. Es wäre schade gewesen, wenn ich so eine schöne Frau zu Boden geschubst hätte. Ehrlich, das hätte ich mir nie verziehen“, grinst er. Es ist nicht die aufdringliche Art von Grinsen. Es ist ein Grinsen, das seine Augen erreicht und Grübchen in seine Wange zaubert. Betreten sehe ich auf den Boden. Der einzige Junge, der mit mir so geredet hat, war Adam. Dieser Gedanke trifft mich wie ein Schlag.

„Danke, aber ich muss jetzt wirklich los. Vielleicht sieht man sich ja“, sage ich und bin bereit zu gehen.

„Ich hoffe doch“, ruft er mir hinterher, und ich kann sein Lächeln förmlich hören. Ohne dass ich es verhindern kann, schleicht sich auch ein Lächeln auf meine Lippen. Es kommt unerwartet und hält auch nicht lange, aber es war da. In diesem Moment fasse ich einen Entschluss. Ich werde jetzt die Liste abarbeiten. Jeden einzelnen Punkt. Egal, wie schwer es mir dabei wird.

 

2

 

JAKE

 

Heute ist Donnerstag. Nachdem ich vor zwei Tagen in der Uni dieses Mädchen angerempelt hatte, geht sie mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich habe sie noch nie zuvor gesehen, sie wäre mir definitiv aufgefallen.

„Verdammt, tut das weh“, jammert Jimmy, der vor mir auf dem Stuhl sitzt. „Halt die Klappe, Mann. Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn du so jammerst“, entgegne ich und konzentriere mich weiter auf die Linien vor mir. „Jammern? Mein Rücken steht in Flammen, Jake. Du hast ja keine Ahnung. Du bist nur der Tätowierer“, brummt er, was mir ein Lachen entlockt.

„Stimmt, die Tattoos auf meinen Armen sind dahin gezaubert worden. Wie konnte ich das nur vergessen“, grinse ich, während ich weiter die blauen Linien nachfahre. Jimmy brummt nur etwas Unverständliches vor sich hin, hält aber den Mund und lässt mich meine Arbeit machen. Nach meiner Ausbildung habe ich dieses Studio hier eröffnet, um mich über Wasser zu halten. Meine Studiengebühren zahlen sich leider nicht von selbst.

„Du hast es gleich geschafft, es dauert nicht mehr lange“, versuche ich ihn zu ermutigen. Er nickt vorsichtig und atmet tief durch. Ein bisschen lustig ist es ja schon.

„Bitte, nimm noch einen Augenblick hier Platz. Ich frage Jake eben, ob er gleich Zeit hat“, höre ich Warren vorne sagen, bevor er nach hinten kommt.

„Neue Kundschaft?“, frage ich, ohne den Blick von Jimmys Rücken abzuwenden. „Ja, sie hat keinen Termin. Eine spontane Aktion. Hast du Zeit?“, fragt er und begrüßt Jimmy dann kurz. Kurz überlege ich. „Ja, ich denke, das lässt sich einrichten. Der nächste Termin ist erst in zwei Stunden“, antworte ich ihm, und er verschwindet wieder. Warren ist mein kleiner Bruder. Mittlerweile haben wir einen guten Draht zueinander, aber das war nicht immer so. Ich steche die letzte Linie von Jimmys Totenkopf und tupfe es danach ab. „Du hast es geschafft, Jimmy“, lobe ich ihn und klopfe ihm auf die Schulter.

Erleichtert atmet er durch und steht auf. „Ich spüre meinen Körper nicht mehr, alles ist taub, Mann“, sagt er und lässt seine Gelenke knacken. Auch an mir geht so eine lange Sitzung nicht spurlos vorbei. Ich rolle mit meinem Stuhl nach hinten und reiche ihm eine Tube.

„Hier, das musst du am besten abends auftragen. Beugt Entzündungen und so vor“, erkläre ich ihm, aber er hört mir nur mit halbem Ohr zu, denn er bewundert sein neues Rückentattoo im Spiegel.

„Das ist der Hammer“, grinst er und schlägt mit mir ein. Ich grinse ebenfalls und scheuche ihn dann davon, damit ich hier hinten sauber machen kann. Jimmy kenne ich von der Uni. Er ist ein ganz netter Kerl, kann aber manchmal etwas aufdringlich wirken. Ich ziehe mir die schwarzen Handschuhe aus und gehe nach vorne in den Eingangsbereich. Warren steht hinter dem Tresen, und in dem Wartebereich sitzt ein Mädchen, ungefähr in meinem Alter.

Als ich näher komme, erkenne ich sie. Und ich hätte nicht erwartet, ausgerechnet sie hier zu sehen.

„Hey, ich bin Jake. Mir gehört das Studio hier. Meinen Bruder Warren hast du ja schon kennengelernt“, begrüße ich sie und halte ihr meine Hand entgegen. Man kann ihr die Überraschung deutlich ansehen, aber sie versucht es zu verstecken.

„Ich bin Emily“, sagt sie und schüttelt meine Hand. Ihre Hand ist klein und warm und passt perfekt in meine. Viel zu schnell entzieht sie mir ihre Hand wieder.

„Gut, dann ein mal hier entlang bitte“, ich deute mit dem Kopf in Richtung des Raumes, aus dem ich gekommen bin und folge ihr dann. Sie lässt sich auf dem Stuhl nieder und sieht sich um. Ihre Füße baumeln in der Luft, so klein ist sie. Ein Grinsen schleicht sich auf meine Lippen. Ich lasse mich vor ihr auf meinem Drehstuhl nieder und mustere sie.

Ihre braunen Haare gehen ihr bis über die Schulter und umrahmen ihr Gesicht perfekt. Ihre Augen schimmern in einem tiefen Grau Blau. Und links über ihren vollen Lippen hat sie ein kleines Muttermal. Sie ist wirklich sehr hübsch. „Was kann ich für dich tun, Emily?“, frage ich sie und ziehe mir ein neues Paar Handschuhe an.

„Ehrlich gesagt, habe ich mir noch nicht so viele Gedanken gemacht. Es soll etwas von Bedeutung sein“, erzählt sie. Ich überlege, während sie mich ansieht.

„Erzähl mir etwas von dir. Es muss nichts großes sein, aber etwas, das mit dem Tattoo zu tun hat, wäre gut. Vielleicht kann ich dir dann helfen“, schlage ich vor. Ich studiere ihre Gesichtszüge und merke, wie sie sich versteifen. Es fällt ihr offensichtlich schwer, darüber zu reden. Sie fängt an, mit ihren Händen in ihrem Schoß zu spielen und lässt ihre Füße baumeln.

„Ich habe jemanden verloren, der mir sehr wichtig war. Er hatte Krebs. Er ist nicht daran gestorben. Er ist aus dem Fenster gesprungen, um Erlösung zu finden. Seine Chancen auf Heilung standen nicht besonders gut. Am Montag habe ich eine Liste gefunden, die er für mich geschrieben hat. Mit lauter Dingen, die ich machen soll. Unter anderem, mir ein Tattoo stechen lassen. Ich hätte gerne eins, das mich mit ihm verbindet“, gibt sie schließlich von sich. Jetzt muss ich mich beherrschen, meine Gesichtszüge nicht entgleisen zu lassen.

Als Tätowierer bin ich es gewohnt, dass meine Kunden mir eine persönliche Geschichte erzählen. Aber im Normalfall kenne ich meine Kunden auch nicht. Ihre Geschichte berührt mich. Ich frage mich, wen sie wohl verloren hat, aber spreche den Gedanken nicht aus.

„Das tut mir leid“, sage ich, weil es das erste ist, das mir einfällt. Und plötzlich kommt mir eine Idee.

„Wo möchtest du dein Tattoo?“, frage ich sie.

„Ich habe überlegt im Nacken. Oder am Handgelenk“, entgegnet sie.

„Am Nacken ist perfekt, wenn es in Ordnung ist?“, es klingt mehr wie eine Frage, aber sie nickt. Ich hole meinen Block und fange an zu zeichnen. Sie sieht mir interessiert dabei zu, wie ich eine Linie nach der anderen auf das Blatt male. Als ich fertig bin, höre ich sie scharf die Luft einziehen. Sie ist mir während des Zeichnens etwas näher gekommen, und ich rieche ihren Duft. Sie riecht nach Vanille und etwas Honig.

„Gefällt es dir?“, unsicher reiche ich ihr das Papier. Ich weiß nicht, warum ich so unsicher bin, sonst bin ich es auch nicht. Vielleicht liegt es daran, dass sie mich ein klein wenig nervös macht.

„Das ist wunderschön. Du hast echt Talent“, antwortet sie. Dankend lächle ich sie an. Das Bild zeigt zwei Schwalben, die fliegen. Darunter ist ein kleines Semikolon, welches man von weiter weg kaum sieht. Ein Semikolon-Tattoo steht dafür, dass man etwas beenden konnte, es aber nicht getan hat.

Bei ihr ist das etwas anders, aber ich hatte das Gefühl, dass dieses Zeichen dieses Tattoo perfektionieren würde.

„Ich muss dich jetzt leider bitten, dein Shirt auszuziehen und dich mit dem Rücken zu mir auf den Stuhl zu setzen“, lache ich und versuche so, meine Unsicherheit zu überspielen. Ein kleines, schüchternes Lächeln umspielt ihre Lippen, und sie zieht sich langsam das Shirt über den Kopf und bindet ihre Haare zu einem Zopf. Ich versuche nicht hinzusehen, doch es gelingt mir nicht ganz. Sie ist wirklich wunderschön. Ich fahre den Stuhl etwas zurück, so dass sie es bequem hat und lege dann die Vorlage auf ihren Nacken, bevor ich sie leicht festdrücke und dann abziehe. Auf ihrem Nacken sind jetzt die blauen Kugelschreiber Linien zu sehen, die ich gleich nachstechen werde.

„Ich will dich nicht anlügen, es wird weh tun. Wenn du eine Pause brauchst, sag mit bitte Bescheid“, informiere ich sie. Sie gibt mir mit einem Nicken zu verstehen, dass sie verstanden hat und ich suche die Nadelgröße, die ich brauche. Dann bereite ich alles Weitere vor.

„Ich fange jetzt an“, flüstere ich, als ich soweit bin. Auch jetzt nickt sie wieder. Als ich die Nadel ansetze, atmet sie laut aus, zuckt aber nicht einmal zusammen. Ich bewundere ihre Stärke. Immer wieder tupfe ich das Tattoo vorsichtig ab, bevor ich weiter steche. Sie ist wirklich tapfer. Nach fast einer Stunde ist das Tattoo fertig. Ich tupfe es ein letztes Mal ab und creme es ein, bevor ich sie erlöse.

 „Hinter dir ist ein Spiegel, für den Fall, dass du es sehen möchtest“, lächle ich und reiche ihr meine Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Dankend nimmt sie meine Hand an und stellt sich vor den Spiegel. Ein bisschen mühsam dreht sie sich so, dass sie ihr Tattoo sehen kann, während ich ihr dabei zusehe und nicht weiß, wohin mit mir.

Auf ihrem Gesicht breitet sich ein Lächeln aus. Es ist ein echtes Lächeln, das sogar ihre Augen erreicht. Und ich kann nur wieder daran denken, wie schön sie ist.

„Vielen Dank, Jake. Du hast mir mit diesem Tattoo so sehr geholfen. Es ist wirklich wunderschön. Ich kann dir gar nicht genug danken“, freut sie sich, und ehe ich mich versehe, hat sie mich in den Arm genommen.

Etwas benebelt von der plötzlichen Geste und ihrem Geruch umarme ich sie einfach zurück. Ganz davon abgesehen, dass sie ihr Shirt noch nicht wieder angezogen hat. Ich weiß nicht, wie lange wir so dastehen, aber Warren unterbricht unsere Umarmung. In diesem Moment würde ich meinen Bruder am liebsten auf den Mond schießen.

 „Jake, dein neuer Termin ist da“, ruft er mir zu, woraufhin Emily sich von mir löst, das Lächeln immer noch auf ihren Lippen. Sie zieht sich ihr Shirt wieder an und schnappt sich ihre Tasche.

„Ich schätze, man sieht sich vielleicht mal auf dem Campus“, sagt sie und will gerade gehen, doch ich halte sie sanft am Arm fest.

„Was studierst du eigentlich?“, frage ich sie und halte ihren Arm immer noch fest.

„Englisch auf Lehramt im Hauptfach. Und du?“, stellt sie mir eine Gegenfrage.

„Jura“, antworte ich und schaue in ihr schönes Gesicht. „Jura? Das überrascht mich“, lacht sie. Es ist ein herzliches Lachen, wie das, welches wir im Flur gelacht haben.

„Ich bin wohl immer für eine Überraschung zu haben“, grinse ich, „Hast du Lust, mit mir morgen nach der Uni einen Kaffee trinken zu gehen? Ich hab morgen frei.“

Sie sieht auf den Boden und wirkt plötzlich so weit weg, obwohl sie genau vor mir steht. Dann schaut sie mir wieder in die Augen. Auf ihren Lippen liegt ein Lächeln, aber es wirkt eher gezwungen.

„Gerne, ich würde mich freuen“, antwortet sie, aber ihre Augen sagen etwas anderes. Da fällt mir ein, dass sie einen schweren Verlust erlitten hat, und vielleicht noch nicht soweit ist. Ich weiß nicht, wen sie verloren hat, aber er muss ihr sehr viel bedeutet haben.

„Dann hole ich dich nach Schluss an deinem Raum ab“, sage ich und greife zu meinem Block, um meine Nummer aufzuschreiben, „Hier, falls du es dir anders überlegen solltest.“ Ich sage es, als wäre es ein Spaß, aber es liegt ein Hauch Ernsthaftigkeit in meinen Worten. Ich würde verstehen, wenn sie absagt, weil sie noch nicht so weit ist. „Danke, Jake. Aber das werde ich nicht“, versichert sie mir, bevor sie nach vorne zu Warren geht, um zu bezahlen. Ich öffne die Tür, um Warren ein Zeichen zu geben, und er versteht, was ich ihm sagen wollte. Dann schließe ich die Tür wieder und mache mich daran, alles für die nächste Sitzung sauber zu machen.

Das ist mein letzter Termin für heute, dann bin ich endlich fertig und kann nach Hause gehen. Warren ist noch in seiner Ausbildung, weswegen ich ihn eigentlich nicht alleine tätowieren lassen darf. Ab und zu lasse ich mir ein paar Tattoos stechen, damit er üben kann. Das Talent, mit der Nadel umzugehen, hat er von mir.

Emily schleicht sich nach wie vor in meinen Kopf. Mit dem Unterschied, dass ich jetzt einen Namen zu diesem unglaublichen Mädchen habe. Dieses Mädchen hat es innerhalb von einer kurzen Begegnung geschafft, mir den Kopf zu verdrehen. Lächelnd über diesen Gedanken, schüttel ich den Kopf und versuche, mich zu konzentrieren.

Der nächste Kunde ist ein junger Mann, der eine Wette verloren hat. Armer Kerl. Ehrlich, er tut mir fast ein bisschen leid.

„Meine Freundin und ich haben gewettet. Erinnere mich daran, dass ich nie wieder mit ihr wette“, lacht er und hält dabei liebevoll die Hand seiner Freundin. Ich kenne sie, sie war letzte Woche schon einmal hier und hat sich mit meiner Hilfe ein Motiv ausgesucht. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, wer unter diesem Motiv leiden darf, jetzt schon. „Es tut mir leid, dass ich dich so verunstalten muss“, grinse ich und sehe seine Freundin daraufhin wissend an. Sie unterdrückt sich nur mit Mühe ein Lachen.

„Wenigstens durfte ich mir die Stelle selbst aussuchen. Ich hätte Holly alles zugetraut“, sagt er und wirft einen warnenden Blick Richtung Holly. Diese schickt ihm einen Luftkuss zurück, was mich zum Lachen bringt.

„Sei ein Mann, Grayson“, zwitschert sie und lässt sich auf einem der Stühle nieder, die ich hier stehen habe. Grayson wirft einen letzten Blick zu ihr und hält mir dann seinen Oberarm hin. Ich nicke und passe die Vorlage auf seinem Arm an. Dann bereite ich die Nadeln und Farben vor, denn dieses Tattoo wird nicht bloß schwarz.

„Bist du bereit?“, frage ich ihn, um sicher zu gehen. Er nickt.

„Sowas von bereit, es ihr heimzuzahlen“, grinst er, und ich mache mich an die Arbeit.

Zwei Stunden später ist der Seestern fertig. Holly hat mir erzählt, dass Grayson früher total auf Spongebob und Patrick abgefahren ist. Jetzt hat er die beiden für immer auf seinem Oberarm.

„Du bist durch, Grayson“, beende ich die letzte Sitzung für heute.

„Endlich“, brummt er und steht von dem Stuhl auf, um sein Tattoo im Spiegel anzusehen. Kaum sieht er es, fängt er an zu lachen.

„Das ist nicht dein Ernst, Holly? Spongebob und Patrick? Und ich hatte Angst, dass ich mich danach nie wieder irgendwo blicken lassen kann.“ Vielleicht ist das nicht ganz die Reaktion, die ich erwartet hatte, aber sie gefällt mir. „Sieht so aus, als wäre er doch ganz zufrieden mit seinem Tattoo“, sage ich zu Holly, die ihren Freund mit einem glückseligen Lächeln betrachtet. Man sieht, dass die beiden sich lieben. So, wie die beiden sich ansehen, würde das sogar ein Blinder sehen können.

„Das Schöne an unserer Beziehung ist, dass wir beide eine Menge Humor haben. Wir sind beide für alles zu haben. Nächste Woche gehen wir Fallschirm springen, das hat Grayson von mir zum Geburtstag bekommen“, erzählt sie mir, während sie ihren Freund beobachtet, der den Blick nicht von seinem Tattoo lösen kann.

„Das klingt wirklich nach sehr viel Action. Ich denke, ihr werdet viel Spaß haben“, antworte ich und krame eine Tube der Tattoo-Creme hervor, um sie Holly zu geben.

„Die hier soll er jeden Abend auftragen, damit es sich nicht entzünden kann“, sage ich und verabschiede mich anschließend von ihr.

„Mach's gut, Grayson“, verabschiede ich mich auch von ihm mit einem Handschlag. Sie gehen zum Bezahlen nach vorne zu Warren, und ich räume hinten auf.

„Wer war die Kleine heute?“, fragt Warren, der plötzlich neben mir steht. Ich habe ihn gar nicht kommen hören. „Jemand aus der Uni“, beantworte ich seine Frage, obwohl das nicht die Antwort ist, die er sich erhofft hat.

„Hattest du was mit ihr?“, ist seine nächste Frage. Ich lache auf. „Nein, Warren. Nur weil ich sie einmal in der Uni gesehen habe, heißt das nicht, dass ich gleich etwas mit ihr habe. Ich bin nicht wie du, der jedes Wochenende eine andere abschleppt“, erwidere ich und wische weiter über die Arbeitsfläche.

„Ihr habt euch sehr lange umarmt, und sie musste nur die Hälfte bezahlen, deswegen frage ich“, erklärt er sich.

Ich seufze lange, bevor ich ihm erneut antworte. „Sie hat nach einem Tattoo gebeten, das sie mit einem Toten Freund verbindet. Sie hat sich nur bei mir bedankt, mehr nicht.“

Er sieht mich wissend an und hilft mir dann, damit wir schneller fertig werden.

„Ich muss mir noch ein Motiv für meine Abschlussprüfung überlegen“, sagt Warren irgendwann. Bei seiner Prüfung muss er einem Modell ein Tattoo stechen, das er selbst entworfen hat.

„Wenn du willst, helfe ich dir dabei“, biete ich ihm an, doch er lehnt dankend ab.

Eine halbe Stunde später sind wir fertig mit dem aufräumen, und Warren verabschiedet sich von mir.

„Was hast du noch vor?“, frage ich ihn, mit einer leisen Vorahnung.

„Ich treffe mich mit ein paar Leuten. Willst du mitkommen?“, antwortet er und sieht mich eindringlich an. Dankend verneine ich das Angebot.

„Ich muss morgen früh zur Uni, das weißt du doch“, grinse ich. Warren ist jemand, der immer wieder versucht, mich zum Feiern unter der Woche zu überreden. Leider sind seine Überredungskünste nicht ganz so gut, wie er es sich vorstellt.

„So ein Spielverderber“, brummt er, aber ich kann sein Lächeln heraus hören. „Wir sehen uns dann morgen Nachmittag, nehme ich an?“, möchte er von mir wissen und zieht sich seine Jacke an. Ich schüttel den Kopf.

„Ich bin verabredet. Du müsstest morgen den Laden alleine schmeißen. Ich habe morgen keine Termine, wenn jemand kommt, dann überlasse ich es dir. Ich vertraue dir, Warren“, verkünde ich ihm. Warren hat großes Talent und seine Ausbildung fast abgeschlossen, deswegen lasse ich ihn manchmal alleine arbeiten. Das einzige, was Warren aus meinen Worten raushört, ist meine Verabredung. Er hört eben nur das, was er hören will.

„Mit wem denn das?“, möchte er wissen, doch ich sage nichts. „Meine Lippen sind versiegelt, Warren“, feixe ich und sehe ihn spekulieren, wer meine Verabredung sein könnte.

„Es ist die Kleine von heute“, stellt er fest und trifft damit genau ins Schwarze, aber das werde ich ihm gegenüber natürlich nicht zugeben. „Du brauchst nichts sagen, Jake. Ich kenne dich schon ziemlich lange“, entgegnet er, und schon ist er schnell verschwunden. Etwas perplex stehe ich da und sehe ihm hinterher, auch wenn er längst weg ist. Dann lache ich, schnappe mir meine Sachen und verlasse ebenfalls das Studio. Hinter mir verschließe ich die Tür und mache mich auf den Weg nach Hause.

Auf dem Weg dorthin halte ich in unserem Lieblings Bistro an und bestelle mir eine Salami Pizza zum Mitnehmen. Dann setze ich meinen Weg nach Hause fort. Mein Studio liegt nur fünf Minuten zu Fuß von unserer Wohnung entfernt, weswegen es sich nicht lohnt, mit dem Auto zur Arbeit zu fahren. Ich sehe meinen VW auf dem großen Gemeinschaftsparkplatz stehen, als ich um die Ecke biege. Warren und ich haben ihn zusammen gekauft, als wir vor ein paar Jahren hierher gezogen sind. Ich war damals neunzehn, Warren erst siebzehn. Ich betrete den Flur und hoffe, dass der Aufzug wieder funktioniert. Doch das tut er nicht, so dass ich die Treppen nehmen muss. Wir wohnen im obersten Stockwerk. Hoffentlich funktioniert der Fahrstuhl bald wieder. Nach den unzähligen Treppen schließe ich erschöpft unsere Wohnungstür auf.

Ein Gefühl von Zuhause umgibt mich, als ich in die vertrauten Wände komme. Dieses Gefühl gab es für Warren und mich eine sehr lange Zeit nicht.

Ich ziehe meine Schuhe aus und lasse sie neben der Tür liegen und hänge meine Jacke an die Garderobe. Meine Schlüssel kommen in die Schüssel, die auf der Kommode steht. Jetzt kann ich endlich meinen wohlverdienten Feierabend genießen. Mit meiner Pizza setze ich mich auf die Couch und schalte den Fernseher an. Da nichts Interessantes läuft, schalte ich ihn nach einer Weile wieder aus. Irgendwann greife ich in meine Hosentasche und werfe einen Blick auf mein Handy.

Eine unbekannte Nummer hat mir eine Nachricht geschickt. Raum 103, lese ich leise vor. Mehr steht nicht drinnen. Ich brauche einen Moment, bis ich es verstehe. Emily hat mir geschrieben. Ich habe ihr gesagt, ich würde sie an ihrem Raum nach Schluss abholen, nur, dass ich keine Ahnung hatte, in welchem Raum ihre Vorlesung stattfindet. Jetzt weiß ich es. Freut mich, dass du es dir nicht doch anders überlegt hast, schreibe ich zurück und kann nicht verhindern, dass sich ein Lächeln auf meine Lippen schleicht.

Nach ein paar Minuten, in denen ich ununterbrochen auf mein Handy gestarrt habe, kommt ihre Antwort. Was nicht ist, kann ja noch werden, schreibt sie zurück. Mir entfährt ein Lachen, und ich lehne mich entspannt auf dem Sofa zurück. Ich überlege, wie ich darauf am besten antworten kann. Das wäre aber wirklich sehr schade, antworte ich dann und warte erneut auf ihre Antwort.

Da könntest du Recht haben, ist ihre Antwort. Das Lächeln ist aus meinem Gesicht nicht mehr wegzudenken. Das erste Mal in meinem Leben hat es jemand geschafft, nach so kurzer Zeit zu mir durchzudringen. Mir wird fast schmerzhaft bewusst, dass andere dafür Monate brauchen. Noch ein Grund mehr, warum ich diese unglaubliche junge Frau unbedingt kennenlernen muss.

 

3

 

EMILY

 

An diesem Morgen fällt mir das Aufstehen erstaunlich leicht. Mein Nacken schmerzt manchmal etwas, was an dem frisch gestochenen Tattoo liegt. Ich habe Jakes Anweisungen befolgt, wie er es mir geraten hat. Nachdem ich gestern nach Hause gekommen bin, habe ich den ersten Punkt auf der Liste gestrichen. Es hat sich irgendwie gut und befreiend angefühlt, aber gleichzeitig, wie ein Verrat.

Irgendwann gestern habe ich Jake geschrieben, an welchem Raum er mich finden wird. Es hat mich sehr viel Mühe und sehr viel Überwindung gekostet, ihm zu schreiben. Als er gesagt hat, ich könne es mir anders überlegen, war es, als könne er in mich hineinblicken. Denn genau das hatte ich zu dem Zeitpunkt in Betracht gezogen. Doch dann habe ich die Zähne zusammengebissen und es mir überlegt. Er ist ein netter Kerl und irgendwie ganz anders, als Adam es war. Jake hat Tattoos auf seinen Armen, hat ein eigenes Studio und grüne Augen. Vielleicht ist es das, was mich ein wenig beruhigt hat. Ich meide nämlich männliche Wesen, die Adam ähnlich sehen. Jake tut das in keinster Weise, er ist vollkommen er selbst. Dazu habe ich etwas gespürt, als ich ihn umarmt habe. Etwas wie Vollkommenheit, was mir nur Adam geben konnte. Es war fast, als könne er mein kaputtes Herz wieder ein wenig zusammenflicken.

Ich springe schnell unter die Dusche und suche mir dann etwas zum Anziehen heraus, das ich zur Uni, aber auch zum Kaffee trinken mit Jake anziehen kann. Schließlich entscheide ich mich einfach für eine blaue Jeans und ein weißes Hemd. Etwas, das ich auch an einem normalen Tag anziehen würde. Meine Haare binde ich zu einem Dutt, so dass man mein neues Tattoo sehen kann.

Ich weiß gar nicht, warum ich mich selbst so verrückt mache, es ist nur ein Treffen unter Bekannten, die einen Kaffee trinken gehen.

Bevor ich zur Uni fahre, schaue ich mir Adams Liste noch einmal an. Er will, dass ich mich mit unseren Freunden treffe, die ich seit seiner Beerdigung nicht mehr gesehen habe. Vielleicht würden sie sich freuen, mich zu sehen, vielleicht aber auch nicht.

Ich nehme mir vor, diesen Punkt als nächsten zu erledigen. Es könnte etwas unangenehm werden, aber ich weiß, dass ich mich nicht ewig von ihnen fernhalten kann. Sie haben immerhin auch einen Freund verloren und trauern um ihn, genau wie ich. Auch heute fahre ich wieder mit dem Fahrrad zur Uni. Adam hatte zwar ein Auto, aber ich habe es nach seinem Tod verkauft. Er braucht es nicht mehr, und ich schaffe es nicht, damit zu fahren. Auf dem Weg zur Uni halte ich in einem Café an, um mir einen Kaffee zu holen. Ich habe gestern vergessen einzukaufen, und deswegen gab es keinen Kaffee mehr im Haus. Aber so geht es auch. Die restlichen zehn Minuten fahre ich etwas langsamer, damit ich nebenbei meinen Kaffee trinken kann. Einhändig fahren, war noch nie meine Stärke. Adam konnte es.

Er konnte sogar freihändig fahren. Ihm fiel alles, was ich nicht konnte, sehr viel leichter. Er war ein Mensch der großen Worte, während ich lieber still war. Er mochte den Winter, ich konnte mit Kälte nichts anfangen. Ich war immer schon mehr der Sommer-Typ. Während Adam nicht oft an die Zukunft gedacht hat, habe ich immer eine Ewigkeit für uns beide gesehen.

Selbst dann noch, als es keine mehr geben sollte. Ich stelle mein Fahrrad an dem gleichen Platz wie gestern und schließe es fest. Dann betrete ich, ziemlich gut gelaunt, das Gebäude, das sich vor mir erstreckt. Heute bin ich ein bisschen später dran, weshalb sich hier schon etwas mehr Leute aufhalten. Ich laufe zielstrebig auf meinen Raum zu und werfe vorher den leeren Becher in einen der Mülleimer, die hier auf dem Gang stehen.

Ich biege um die Ecke und stoße wieder mit jemandem zusammen. Wieder werde ich sanft am Arm festgehalten und vor einem Sturz bewahrt.

„Irgendwie habe ich das schon mal erlebt“, lacht mein Gegenüber. Jetzt erkenne auch ich ihn. Jake steht vor mir, mit einem Lächeln im Gesicht und seiner Hand an meinem Oberarm. Auch mir entwischt ein kleines Lachen, als ich mich an Dienstag erinnere. Es war die gleiche Stelle, wie dieses Mal.

„Wenn das so weiter geht, muss ich mir eine gute Versicherung suchen“, scherzt er und lässt langsam meinen Arm los. Dabei streichen seine langen Finger über meinen Arm, was eine Gänsehaut bei mir auslöst. Hoffentlich bemerkt er es nicht.

„Du hast mich jedes Mal aufgefangen, da verzichte ich auf eine Anklage“, spiele ich mit und lächle ihn an.

„Da bin aber beruhigt“, er hält sich theatralisch die Hand aufs Herz, was mich zum Lachen bringt. Es ist ein echtes Lachen, das tief aus meinem Inneren kommt.

„Nimm es mir nicht übel, aber ich muss zu meiner Vorlesung. Wir sehen uns später“, verabschiede ich mich und lege eine Hand auf seine Schulter, bevor ich an ihm vorbeigehe, um zu meiner Vorlesung zu kommen.

Ich suche mir einen Platz weiter hinten, um ungestört zu sein. Meistens sitze ich alleine. Meine Freunde studieren alle etwas anderes, deswegen haben wir keinen Kurs zusammen. Ich fand es gut so, doch jetzt frage ich mich, wie ich sonst Adams Liste abarbeiten soll. Alleine schaffe ich es nämlich nicht.

Ich denke an Jake. Er könnte mir helfen. Doch so schnell dieser Gedanke gekommen ist, so schnell verwerfe ich ihn auch wieder. Ich will nicht, dass Jake mein Geheimnis erfährt. Indirekt weiß er es, aber die Wahrheit muss er nicht kennen.

Das war noch so ein Unterschied zwischen mir und Adam. Er war immer ehrlich, während ich es oft ungewollt war. Ich habe oft die Wahrheit totgeschwiegen, wenn sie jemanden verletzen konnte. Mittlerweile tue ich es nicht mehr, denn, die Wahrheit muss gesagt werden, auch wenn sie wehtut.

Die ganzen zwei Stunden über kann ich mich nicht konzentrieren. In meinem Kopf spielen sich die verschiedensten Szenarien ab, wie ich mit meinen Freunden rede. Ich hätte nicht gedacht, dass es mir einmal so schwer fallen würde, mit ihnen zu reden. Für heute steht jedoch erst mal das Treffen mit Jake, dass mich schon genug Überwindung gekostet hat.

Denn auch, wenn Jake wirklich ein toller Kerl ist, ich will Adam nicht vergessen. Ich weiß auch gar nicht, ob ich je wieder jemanden so lieben kann, wie ich ihn geliebt habe. Er war mein bester Freund, mein Seelenverwandter und meine zweite Hälfte. Und mein Freund. Wir haben so viel zusammen erlebt, so viel durchgemacht und so viele Hürden überwunden, das verschwindet nicht innerhalb von einem Tag.

Dr. Houseman würde sagen, dass es völlig normal ist, wenn ich Zweifel habe, neue Männer zu treffen. Adam hat geschrieben, ich soll mir die Zeit nehmen, die ich brauche. Aber was ist, wenn ich es nicht schaffe, über ihn hinweg zu kommen, und ewig um ihn trauern werde? Wenn ich mich gar nicht wieder verlieben kann? Das sind alles Fragen, die ich mir nicht zum ersten Mal stelle. Mir bleibt nur eins übrig, ich muss es herausfinden. Anders bekomme ich keine Antwort auf meine Fragen, denn, egal wie lange und wie viel ich darüber nachdenke, ich finde nie eine Antwort, die mich zufriedenstellt.

Meine erste Vorlesung ist vorbei, doch ich sitze immer noch an meinem Platz und starre nach vorne. Erst, als mich der Dozent höflich bittet den Raum zu verlassen, befreie ich mich aus meiner Starre. Ich verlasse den Raum und steuere auf die Cafeteria zu. Doch als ich sie betrete und meine und auch Adams Freunde dort sitzen sehe, drehe ich wieder um.

Wenn das Wetter gut war, saßen wir oft draußen auf der Wiese. Heute ist das Wetter nicht unbedingt gut, aber auch nicht schlecht. Einige der anderen Studenten sitzen draußen auf der Wiese, also entscheide ich mich, auch dorthin zu gehen. Ich lasse mich ein bisschen abseits von dem Trubel an einem Baum nieder und schlage mein Buch auf, das ich zurzeit lese. Ein ganzes halbes Leben. Ich habe es letzte Woche angefangen, nachdem Dr. Houseman es in ihrem Regal stehen und mir ausgeliehen hat. Sie sagte, lesen könne mir helfen, zur Ruhe zu kommen.

Und sie hatte Recht. Das Lesen lässt mich in eine andere Welt eintauchen, in der ich niemanden verloren habe, und in der ich immer noch Ich bin. So muss Adam sich gefühlt haben, wenn er geschrieben hat. Frei, vollkommen und in einer Welt, die er sich selbst aussucht. Ohne den Krebs, ohne seine Diagnose. In einer glücklichen Welt, ohne Schmerzen.

„Ist hier noch frei?“, höre ich eine Stimme, die mir bekannt vorkommt. Ich blicke von meinem Buch auf und sehe ihn an.

„Verfolgst du mich etwa?“, scherze ich und klappe mein Buch zu.

„Nein. Ich habe dich nur hier sitzen sehen und wollte die Gesellschaft leisten. Mir wurde es drinnen zu laut“, bemerkt er und setzt sich neben mich.

„Was liest du?“, fragt er, und sein Lächeln zeigt mir, dass er fragt, weil es ihn wirklich interessiert. Ich halte ihm das Buch hin, und er liest sich den Titel aufmerksam durch.

 „Das klingt spannend“, sagt er und schenkt mir ein breites Lächeln.

„Es ist ein sehr gutes Buch“, stimme ich ihm zu. Dann herrscht Stille, aber es ist keine unangenehme Stille. Im Gegenteil, es ist eher ein angenehmes Schweigen. Jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach, aber man ist nicht alleine. Man genießt die Stille so sehr, weil man weiß, dass man nicht alleine ist.

Wenn man alleine ist und schweigt, dann fühlt man sich oft einsam. Das ist hier nicht der Fall. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass es Jake ist, der neben mir sitzt.

„An was denkst du gerade?“, fragt er plötzlich so leise, dass ich mir kurz nicht sicher bin, ob er es wirklich gesagt hat. Doch sein Blick, der auf mir liegt, unterstreicht seine Frage. „Daran, dass man nicht mit vielen auf eine angenehme Art schweigen kann“, spreche ich einen Teil meiner Gedanken aus. Jake sieht mich eindringlich an, bevor er etwas sagt.

„Ich denke, wenn man alleine schweigt, fühlt man sich recht einsam. Aber wenn man in guter Gesellschaft schweigt, hat man Gewissheit, dass man nicht alleine ist“.

Ich weiß nicht, was ich darauf noch sagen soll. Er hat den Teil meiner Gedanken ausgesprochen, den ich ihm vorerst vorenthalten habe. Ich beschließe, einfach ehrlich zu ihm zu sein.

„Daran habe ich auch gerade gedacht, ich habe es nur nicht ausgesprochen“, erwidere ich und sehe ihm in die Augen. Einen Moment lang sehen wir uns einfach an, bevor die Pause vorbei ist und wir wieder in unsere Kurse müssen.

„Wir sehen uns später“, verabschiedet er sich von mir und läuft in die entgegengesetzte Richtung. Mit einem Lächeln im Gesicht laufe ich in meinen nächsten Kurs. Ich glaube, Jake und ich können gute Freunde werden.

Nach meiner nächsten Stunde halte ich vor meinem Raum Ausschau nach Jake. Es dauert nicht lange, da habe ich ihn bereits entdeckt. Er lehnt lässig an der Wand gegenüber der Tür und kommt auf mich zu, als er mich sieht. Zusammen gehen wir über den Campus auf den Parkplatz, ohne ein Wort zu sagen.

„Bist du mit dem Auto hier?“, fragt er, als wir den Parkplatz erreicht haben.

„Mit dem Fahrrad“, antworte ich und schüttel mit dem Kopf.

„Auch kein Problem. Ich nehme dich mit dem Auto mit und fahre dich dann anschließend wieder her, damit du dein Fahrrad holen kannst. Ist das in Ordnung?“, schlägt er vor und sieht mich an. Seine Augen bohren sich in meine. Grün trifft grau. Ich nicke nur, zu mehr bin ich nicht im Stande.

 „Gut, mein Wagen steht da vorne“, er deutet auf einen schwarzen VW, der schon ein bisschen älter ist. Adam hätte dieses Auto geliebt, und aus diesem Grund gefällt es mir gleich doppelt so gut.

Jake hält mir die Beifahrertür auf, und ich lasse mich auf den Sitz fallen. Dann geht er einmal um das Auto herum, um selbst einzusteigen. Früher hätte ich so eine Geste kitschig gefunden, doch bei Jake wirkt es irgendwie ehrlich, anstatt kitschig.

„Wo fahren wir hin?“, erkundige ich mich, als wir den Campus verlassen. Jake wirft einen kurzen Blick zu mir, bevor er sich wieder auf die Straße konzentriert.

„Das ist eine Überraschung“, entgegnet er. Ich verkneife mir ein Seufzen. Eigentlich mag ich keine Überraschungen, denn Adams Diagnose und sein Selbstmord waren Überraschung genug in meinem Leben. Ich versuche mir nichts anmerken zu lassen und schaue einfach aus dem Fenster. „Darf ich?“, frage ich und deute auf das Radio. Jake wirft mir einen kurzen Blick zu, bevor er nickt.

„Klar“, erwidert er und beobachtet mich, wie ich das Radio anschalte. Ich wechsle auf den CD-Spieler und bin überrascht, als ich eines meiner Lieblings-Alben zu hören bekomme.

„Ich weiß, dass ist bestimmt nicht deine Musik-Richtung. Im Handschuhfach sind andere CD's“, entschuldigt er sich kleinlaut bei mir, als wäre ihm sein Musikgeschmack peinlich.

„Nein, nein. Das ist eines meiner Lieblings-Alben von ihm“, sage ich schnell. Gerade läuft Billie Jean von Michael Jackson.

„Ehrlich?“, fragt Jake nach, als wäre er sich noch immer unsicher.

„Und wie“, wiederhole ich und fange an, leise mitzusingen. Nach einer Weile steigt auch Jake mit ein, und zusammen singen wir den Song immer lauter mit.

Es ist unbeschwert, und es fühlt sich leicht an, Spaß zu haben. Doch ich fühle mich auch ein wenig schuldig Adam gegenüber. Ich bin hier und bin seit langem wieder, wenn auch nur für den Moment, glücklich, während er dies hier nicht erleben kann. Es war nicht der Krebs, der ihm diese Chance genommen hat. Es war Adam selbst. Wenn er gewollt hätte, hätte er gegen den Krebs kämpfen können. Der Krebs hat ihn in die Knie gezwungen, und Adam ist nicht mehr aufgestanden. Er ist einfach gefallen. Weil er es für richtig hielt, aufzugeben.

„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragt Jake, der rechts rangefahren ist und mich besorgt ansieht. Ich reiße den Kopf rum und sehe direkt in seine besorgten Augen.

„Ja, mir geht es gut. Ich musste nur gerade an etwas denken. Lass uns weiterfahren“, antworte ich und blicke aus dem Fenster. Er seufzt, sagt aber nichts und ordnet sich wieder in den Verkehr ein.

Kurze Zeit später halten wir auf dem Parkplatz von einem kleinen Café, das etwas versteckt liegt. Es ist schön hier.

„Wow. Das ist echt wunderschön“, staune ich, als wir aus dem Auto aussteigen und auf das Gebäude zugehen.