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Ein halbes Jahr London! Wie ein Schüler oder Student darf er in die Stadt, die ihm seit jeher Sehnsuchtsort ist. Vom East End aus zieht es ihn an die Themse, in die Parks, nach St Paul’s zum Evensong. – London sehen, London hören, Mensch im Freien sein. Er sucht nichts und findet. Jeden Tag. Bald hat er eigene Wege, eigene Orte und mit Jogging im Victoria Park, Cheesecake bei Rinkoff und dem Twentyfive nach Ilford sogar so etwas wie ein ambulantes Zuhause. Allenthalben Demos. »Wenn Burkafrauen zum Straßenbild gehören, gehören sie zum Straßenbild«, notiert er. Alltag heißt für ihn, den Zaungast, Ereignis, heißt, sich der Bauweise der Kathedralen hinzugeben, in der Tate Modern das Licht von Turner, die Wolken von Constable zu sehen. Alles zählt.

Andreas Nentwichs Journal Change Ringing ist ein Wechselspiel zwischen Brexit und Gothic Revival, zwischen der Metropole und einem inneren Koordinatensystem, zwischen Lichttagen, Grüntagen und solchen ohne Kompass. Immer ist Veränderung, und immer ist Vergänglichkeit. Das Altern sitzt im Nacken. Aber da ist der große Versuch, Wirklichkeit in der eigenen Sprache sichtbar und fühlbar werden zu lassen.

Andreas Nentwich

Change Ringing

Ein Londonjournal

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Diese Publikation erscheint mit finanzieller Unterstützung von Stadt Zürich, Kultur sowie Kanton Zürich, Fachstelle Kultur.

Der Rotpunktverlag wird vom Schweizer Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016 – 2020 unterstützt.

© 2020 Edition Blau im Rotpunktverlag, Zürich

Lektorat: Daniela Koch

eISBN 978-3-85869-880-3

»Und doch bleibt der Mensch immer im Engen, er mag noch so sehr im Weiten sein; selbst das ungeheure Meer zieht sich um ihn zusammen, als ob es ihn in seinen Busen einschließen wollte; um ihn ist beständig nur ein Stück aus dem Ganzen herausgeschnitten.«

Karl Philipp Moritz,
Reisen eines Deutschen in England

Inhalt

Change Ringing

Anhang

Über den Autor

Sein Gesicht hat sich in das eines alten Mannes verwandelt, sein Körper in den eines Knaben, auf den ersten Blick weiß und rein und schlank. Kein Befund. Diejenigen, die jetzt, in seiner Umgebung, krank werden, werden es ernstlich. Mann von sechzig Jahren, eingelaufen in die Vorhöfe todesängstlicher Wunschlosigkeit. Geduldiger geworden, zumindest beim Warten, wie es sich für Alte gehört, und schneller gelangweilt, auch von sich selbst. Die schönen Frauen sind jetzt alle nett zu ihm. Wie ein Schüler oder Student darf er ein halbes Jahr nach London gehen, das als Stadt einer Sehnsucht einen festen Platz in seinem Leben hat. Hier wird er endlich schreiben. Festhalten, was er sieht, nein, nur das Kleinste. Sich mutig wegducken unter allem, was wichtig ist. Gelegentlich schwimmt jetzt das Wort »radikal« durch seine Vorstellung. Alle freuen sich für ihn. Aber jetzt, vor dem Spiegel, ist er fast überzeugt, sich auch unter seinem Vorsatz noch wegducken zu wollen.

5. Februar ff. Der Uniformierte am London City Airport, der mich darauf hinweist, dass ich mich mit dem Gepäckwagen außerhalb der erlaubten Zone befinde, und mir dann eine Sondererlaubnis gibt, damit ich mir eine Oyster-card kaufen kann, ist der erste Mensch, mit dem ich Worte wechsle. Ein Karibe, vermute ich, und er lächelt. Erster Einkauf im Supermarkt. Ein Scherz an der Fischtheke, Socializing an den Kassen. Die schwarze Kassiererin, die mir, halb schon mit dem Nächsten beschäftigt, nachruft: »Have a lovely day, my darling.« Beim zweiten Einkauf, als ich in einer anderen Schlange lande, winkt sie mir zu. Mich macht das froh. Momente, in denen nichts einleuchtender erscheint, als dass die Menschen vollkommen verschieden und vollkommen gleich sind. So muss der Gott der Monotheisten sich das vorgestellt haben, die den jeweils Andersgläubigen immer versichern, wenn auch meistens nur zäh, dass er im Prinzip der Eine ist.

Schon am zweiten Tag sehe ich, dass ich angefangen habe, etwas nicht mehr zu sehen: Wenn Burkafrauen zum Straßenbild gehören, gehören sie zum Straßenbild. Manche scheinen mir eher mit flatternden Fähnchen behängt, wie um einer Vorschrift Genüge zu leisten und dabei schweißfrei-beweglich das Familiengewusel dirigieren zu können, in dem sie wie schwarze Bojen schwimmen. Tatsächlich kann die herrische Tracht vergessen machen, dass ihr ein doppeltes Skandalon zugrunde liegt: Die Frau ist Fleisch, und dieses Fleisch gehört einem Mann.

Gleichzeitig ist hier im East End die Nähe von Universitäten sichtbar. Viele der Männer und Frauen, die allein, zu zweit oder in kleinen Gruppen über die Mile End Road gehen, sind Mitte zwanzig, lachen, sprechen schön. Die angehenden Akademikerinnen mit den Kopftüchern und den forschen Schritten erscheinen mir gestylt nach Maßgabe ethnischer Abwandlungen all der diffizilen globalen Codes, von denen ich nur weiß, dass es sie gibt. Puma ist ein No-Go, hat mir Antonia erzählt, oder Adidas, ich habe es schon wieder vergessen.

Gesang der Fremde. Change Ringing und Ambulanzgeheul. Das Change Ringing der Kirchenglocken als Versprechen von Harmonie, immer knapp vor der Einlösung. Gleich wird sie kommen, die Harmonie, ganz sicher noch bevor das Läuten zu Ende ist. Man könnte die britische Abweichung darin hören, das Exzentrische. Das Geläut diringdoingt sich ins Gehör, nie ganz werdender Ohrwurm.

Denk nie, das Leben sei auch nur einen Augenblick heil, heulen die Ambulanzen: Es ist schrecklich in jedem Moment, iuiuiu, und auch du wirst dich einmal in myokarditischem Elend winden, wirst verkrebsen oder auf der Straße zusammenbrechen.

Aber das ist so wenig wie das Geläut die ganze Wahrheit über das Leben, wenn da, wo man wohnt, eine Schule in Hörweite ist. Winzig kleine Buben und Mädchen, lachende Pflänzchen in ihren Schuluniformen, die junge, ernste muslimische Lehrerin mit Aktenordnern unter dem Arm.

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8. Februar. Das London Aquatics Centre im Queen Elizabeth Olympic Park von Zaha Hadid. Es gehört wie alle Freizeitzentren in der Stadt zur »Better«-Gruppe. Außen wie ein Rochen, innen wie der Wal, in dem Jonas kauerte oder hin- und herplätscherte, bis er wieder hinausdurfte. Der biblische Wal allerdings hatte keine blauen Fenster und war vermutlich nicht einmal mit Fackeln erleuchtet.

Die Halle imitiert die Meereswesen nicht zum Freizeitspaß. Sie ist, nach dem Bild von Wal und Rochen, zum ergonomisch optimalen Skelett für den Schwimmsport als Idee geformt: cranio-sacral.

Als ich mit meinen Utensilien in die Halle komme, sagt ein Bademeister: »No bags.« Ein reiner Ort. Um das Bassin stehen Hochsitze, von wo aus Aufsichthabende die Szene überwachen. Man schwimmt wie auf der Straße, links herauf, rechts herunter oder umgekehrt: »Clockwise«, »Anti-clockwise«. Erst nach einer halben Stunde Jagd sehe ich, dass ich mich als Verkehrshindernis in einer Schnellschwimmerbahn bewege. Mein Hauptgegner ist ein muskulöser junger Mann, der grunzt und röhrt. Er schuftet wie ein Arbeiter im Stahlwerk. Schilder am Ende der Bahnen weisen es aus: »Fast«, »Medium«, »Slow«. Man war so höflich, mich nicht darauf hinzuweisen. Oder so grausam. Beschämt trolle ich mich nach »Slow«.

Streng und nachsichtig, clockwise, anti-clockwise, erzieht man den Neuling. Sofort bin ich begeistert von der erhabenen Vernunft einer Schwimmverkehrsregel, die einen Hochbetrieb im Fließen hält, wenn sich alle nach ihr richten.

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Ein alter Karibe geht durch die Passage zur Jubilee Street vor mir her. Er hat einen schwarzen Kautschukmantel bis zum Boden und einen schweren Holzstock, mit dem er regelmäßig auf den Gehweg klopft. Es knallt. Eine schreckenerregende Autorität. Ich sehe im East End viele Alte mit Stöcken, Männer und Frauen. Bei uns sind sie aus dem Straßenbild verschwunden, dafür gibt es praktische Wägelchen. Stöcke nehmen nicht Würde, sondern geben sie, manchmal geben sie sogar etwas Böses.

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9. Februar. Unfroher Morgen. Die blicklosen alten Muslime in ihren Ramschläden und Marktzelten, die alten Musliminnen im schwarzen Kokon ihres dumpfen Schon-immer. Sie wissen nichts und wollen nichts wissen. Genauso wie die bösen Betschwestern, die man an katholischen Wallfahrtsorten immer noch sehen kann. Halten den bigotten Flachsinn, den sie von ihrer Kultur aufgeschnappt haben, für das Äußerste, was einem Menschen im Leben zukommt.

Ich bin der kleine Mann mit der Wut der Aufklärung, ich fege wie ein Sturm. Sehen sie mich vielleicht doch? Schätzen sie mich ein hinter ihren fernen Augen?

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Ewige Untertemperatur der Aufklärung. Aus meinen kühlen Nichtüberzeugtheiten, auch aus der Ängstlichkeit eines in fremder Sprache Herumirrenden, flüchte ich mich zu den Evensongs in der St Paul’s Cathedral. Bei vielen Migranten, ob sie zur Moschee gehen oder in eine dieser armen katholischen oder baptistischen Kirchen, entlädt sich das Leben ganz vorn, in der Mimik, in den Bewegungen. Leben, denke ich plötzlich, ist Grenzüberschreitung im Bewusstsein der Grenze. Nie wird man den Menschen die Religion austreiben. Selbst wenn sie Ersatz ist, ersetzt sie etwas im Zweifelsfall Schlimmeres. Womöglich ist sie sogar der einzige Wahn, der heilt, wenn er sich nicht mit anderen Explosivstoffen vermengt.

Dass man dahin kommen kann, die Religion und ihre Verheißungen einfach nicht mehr im eigenen Leben haben zu wollen, ist etwas anderes. Im eigenen Leben heißt: im eigenen Tod. Auf den legen die Kirchen, so leise sie sonst treten, immer noch lüstern die Hand. Und selbst glaubt man, wenn es um den Tod geht, zu gern an Magie. Zum Beispiel daran, dass sich mit ihm feilschen lässt.

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10. Februar: Evensong in Westminster Abbey. Kirchen sind ja selbstverpflichtet, Heimat zu sein und jeden persönlich zu meinen. Das macht sie tatsächlich zum Exil in jeder Fremde, auch wenn das, wovor man flieht, nur ein Zuviel ist.

Im Evensong ein vielleicht mehr höfisches als sakrales Formbewusstsein. Aber es funktioniert auch sakral, über die Musik. Katholizismus in Dur. Christopher Wrens St Paul’s Cathedral, obwohl sie verschiedene Vorbilder hat, kommt mir vor wie eine anglikanische Antwort auf den Petersdom, bis hin zum Baldachin über dem Hochaltar. Der Puritaner Paulus gegen den Sünder Petrus, moralische Übertrumpfung durch diskrete Unterbietung des Maßstabs. Aber in beiden Kirchen die gleiche hartherzige Säulenkraft.

In Westminster Abbey, wo ich heute Abend zum ersten Mal war, gleitet es ein wenig in Pomp and Circumstance, aber das mag am Sonntag liegen. Viele verlassen die Sitzreihen nach einer Frist ohne Anstand, sie wollten einen kostenlosen Gebäudescan, eine verschwimmende Impression.

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11. Februar. Die Müdigkeit morgens beim Aufwachen hat sich ganz in die Augen hinein gezogen. Es macht Lustgefühle, sie geschlossen zu halten. Alles, nur sie noch nicht aufmachen müssen. Das ist das Einzige, wovon ich denke, dass es beim Sterben schön ist.

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12. Februar. Das York Leisure Centre in Bethnal Green mit Schwimmhalle wäre nach Laufnähe sozusagen meins. Vergammelt im Vergleich zu Zaha Hadids London Aquatics Centre, aber das ist kein Kunststück. Das Gebäude ist von 1929 und sieht aus, als sei es seither immer wieder ausgebessert worden. Das ist nicht gut für die Bausubstanz, aber erfreut den Freund der Lebensspuren. Später lese ich, dass hier legendäre Boxkämpfe stattgefunden haben. Die Umkleidezone labyrinthisch. In der Schwimmhalle all der Krempel, den es für Wassergymnastik braucht. Ein Fünf-Meter-Turm wie von Alvar Aalto, die drei Sprungbretter sind mit Noppenfolie verklebt, als sei er gerade frisch angeliefert worden.

An der Seite hängt ein Werbeplakat. Es zeigt eine Frau im Badeanzug, die gerade ins Wasser gleitet.

Plötzlich scheint mir, als hätte ich bei meinem ersten Schwimmbadbesuch im Aquatics Centre nur aerodynamisch geformte Menschen gesehen. Hier im Quartierbad herrscht eine andere Ordnung, eher ein bändigender Interessenausgleich, die Hochsitze für die Aufsicht allerdings sind die gleichen wie im Olympic Park. Im Becken, das in mehrere, ungleich breite Bahnen unterteilt ist, sind Medium- und Fast-Schwimmer, Schulklassen und eine weibliche Aquafitness-Gruppe so untergebracht, dass alles irgendwie geht. Die korpulenten Damen zwischen vierzig und sechzig, Eingeborene verschiedener Hautfarbe, haben Spaß. Sobald eine Körperfülle mit glucksenden Seufzern hingenommen wird, schlägt sie sich dem Wesen als Fülle zu.

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Am 13. Februar steige ich aus Westminster Underground und denke: Jetzt nimmst du einen Bus, der dich durch die ganze City wieder nach Osten fährt. Bei den Bushaltestellen am Anfang der Parliament Street ein Taxistandplatz, wie ich ihn so groß noch nie gesehen habe, auch nicht vor Flughäfen. Nach einer Weile fällt mir auf, dass die Taxis nicht warten, im Übrigen auch die Busse nicht kommen.

Die Black Cabs demonstrieren. Gegen die Pläne von Mayor Sadiq Khan, sie zwecks Luftreinhaltung aus Teilen des Zentrums zu verbannen. Polizei regelt friedlich den Stillstand. Dann sehe ich hinter der Churchill-Statue plötzlich Europafahnen und den Union Jack mit Europasternen. Da hinten, auf der Höhe der Lady Chapel von Westminster Abbey, demonstrieren die Brexitgegner, und noch halb in den Taxis und vielleicht auch besser zu ihnen passend, die Brexiteers. Das Parlamentsgebäude ist lang genug für alles, verhüllt steht Big Ben und stumm, zur Enttäuschung vieler Touristen. Von ihm wird man zum Brexit nichts hören. Bei den Brexitgegnern mehr Junge, ein paar filzig-wollene Alte und Bekenntnistouristen: »North Yorkshire for Europe«. Auf einem großen Transparent steht: »What unites human beings is huge and wonderful. What divides human beings is small and mean.«

Die Befürworter erscheinen homogener. Zwei, drei Alte mit knorpeligem Bluthochdruck, aber überwiegend gepflegte ältere Herren, eine ältere jüngere Dame, Gesichter, die man als prägnant bezeichnen würde, Excentrics. Ihre Transparente verkünden »Leave means leave«, »Hoot for Brexit«, »Brexit is not in crisis. Democracy is«. Und nebenan an der Ecke zur Bridge Street, die gleich in die Brücke über die Themse übergeht, da demonstriert noch eine Schwarze für Gott. Sie ist die Einzige, die lärmt. Sie kann es sich nicht leisten, die Menschen nicht auf Gott aufmerksam gemacht zu haben.

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Westminster Cathedral, irreversibel weihrauchgeschwängert. Die Kuppeln vergehen in Brikettschwärze, nie sind die falschen byzantinischen Mosaiken, die auch die St Paul’s Cathedral so sehr verderben, bis hierherauf gekrochen. Das macht dieses drachenartige Gebäude, als dessen Referenz immer der Markusdom genannt wird, zu einem Ort alter Kulte, auch wenn sie hier nie stattgefunden haben, sondern nur trotzige Pomp-Hochämter einer lange gedrückt gehaltenen Kirche. Aber das Pariahafte, geschaffen für den schlechten gottesfürchtigen Geschmack irischer, italienischer oder polnischer Einwanderer, gefällt mir. Ein fast terrorhaft um Glanz bemühter Dom, in dem man dennoch an lungenkranke Höfe und elende Spitäler denkt, kann nicht ganz schlecht sein.

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Very british. Ich überhole den Postman, Man of Colour, der neben meiner Tür sein Depot hat. Schon sein Rücken ist mir sympathisch. Ich drehe mich um und sage Hello. Er lacht: »Oh! Have a nice afternoon, Sir!« Heute, am 14. Februar, aufgewacht mit den Wörtern »kostbare Zeit«. Was früher der Weihnachtsmorgen war, ist jetzt das große Jetzt.

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15. Februar. Ein Männerpaar, Deutsche, in meinem Alter hat die Plätze neben mir im Gestühl der St Paul’s Cathedral zugewiesen bekommen. Der eine schaut zum Deckengewölbe und sagt: »Ist das schön.« Ich finde das nicht einmal, aber ich finde schön, dass er es sagt. Er kann es nicht fassen, oder ist es sein Partner, dass sie jetzt hier im Gestühl sitzen dürfen. So geht es mir auch. Beim Evensong sprechen sie das Glaubensbekenntnis nicht mit, im Gegensatz zu mir, der es gar nicht abwarten kann. Im schönen Englisch und wohltemperierten Katholisch des Anglikanischen schmeckt mir meine Lüge süßer als meine deutsch-schweizerische Wahrheit. Beim Hinausgehen versäumen die beiden nicht, einige Worte der Begeisterung bei dem hübschen, rosig-schlanken Kirchendiener zu deponieren.

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Alles geht bei Rot über die Straße, sogar die Polizei. Im britischen Menschen sind Ordnungssinn und Vernünftigkeit mit Oppositionsgeist zusammengesperrt, Perpendicular und Decorated. Karl Heinz Bohrer spricht in seinen England-Studien vom »Explosivstoff spezifisch britischer Hemmungslosigkeit und Vabanque-Haltung«. Für mich, der ich nicht nur auf Rechtsverkehr gepolt, sondern auch noch ein seitenverwirrbarer Linkshänder bin, ist es doppelt gefährlich, hier erscheinen zu wollen wie alle. Ich versuche mir einzuprägen, dass ich immer so schauen muss, wie mein Gefühl mir sagt, dass ich nicht schauen darf. Dieser 15. Februar ist schon, mehr noch als die vorausgegangenen Tage, ein Frühlingstag. Inzwischen habe ich eine ausgefeilte Joggingrunde, zusammengesetzt aus zaghaften Abweichungen von den sicheren Routen, die mich durch Nebenstraßen und die Peripherie kleiner Parks zum Victoria Park führen und am Regent’s Canal entlang wieder zurück. Der Himmel ist blau, weiß strahlt die Sonne, das Licht schneidet die Silhouetten aus, nicht so scharf wie im Herbst, über Bäumen und Hausfassaden liegt milchiger Glast.

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Samstag, 16. Februar. Fog-Smog-Tag. Ich gehe von Stepney, meinem Quartier, hinunter nach Wapping. Wapping ist das Urdorf der Gentrifizierung in Europa. Die Docklands, seit den 1980ern in Lofts und Büros umgewidmete Lagerhäuser, verschatten Wapping High Street, eine enge Gasse, die sich von Osten über rund zwei Kilometer bis zur Tower Bridge zieht. Ein schmaler Streifen aus zwei, drei Häuserreihen entlang der Themse bildet ein eigenes Biotop, am knappsten bezeichnet durch die außerordentliche Dichte überwiegend männlicher Jogger zwischen dreißig und vierzig. In der High Street gibt es ein Urban Baristas Café und ein paar überauthentische Pubs, einer nennt sich nach Käpt’n Kidd, einem Piratenhäuptling, der 1701 hingerichtet wurde. Das Lokal, in dem sich der Wapping Rotary Club trifft, wirbt mit einem Henkersseil. In den Hafenkneipen, die im 17. und 18. Jahrhundert hier waren, durften Piraten, Schmuggler und Meuterer ihr letztes Quart Bier herunterschütten, einen guten Liter. Den brauchte es. Sie wurden, zur Warnung und zum Gaudi, so gehenkt, dass ihr Genick nicht brach, sondern sie langsam erstickten und lange zappelten. Die einzigen Läden, die ich ausmache, sind Immobilienläden, vor einem hängt eine Plexiglasbox, der ich ein kostenloses London Property Magazine für »Luxury London Living«-Interessenten entnehme. Außer den Joggern und mir sind noch einige Besucher unterwegs, Londonwanderer mit Londonbüchern auf dem Themsepfad, der hier zwischen der Gasse und Uferabschnitten mäandert, die von Durchgängen unter den schwermütigen Gebäuden erschlossen werden. Auf der Seaside weisen Tafeln darauf hin, dass es sich durch die Großzügigkeit eines »private walkway« hier wandeln lässt: »Keep quiet – residential area«. Auf der Pubseite lese ich: »Polite notice: This is a residential area. Please respect our neighbours and leave quietly, thank you.«

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Unter Tower Bridge, wo die Docklands enden, beginnt die Touristenzone. All Nations Food, also indisch, Thai und Beef. Ein Bengale verkauft unter deutscher Flagge German Saussage, Bratwurst in einem Riesensandwich, die mit Gurke, Ketchup und Mayonnaise dekoriert ist. Ein Dudelsackspieler im Schottenrock spielt dazu »Muss i denn zum Städtele hinaus« für Hitlers harmlose Ururenkel. Aber die kommen nicht, es ist denn doch nicht Mallorca. Am Würstelstand sehe ich nur Asiaten und einmal eine Engländerin. Jungen Menschen, die aus Karlsruhe oder Mettmann nach London reisen, ist so etwas peinlich. Und wer eigentlich kennt noch solche Lieder?

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16. Februar, später Nachmittag. Ich habe wie oft einen Platz vorn im Oberdeck. Der 388er von Elephant & Castle nach Stratford City bringt mich nach einem langen Spaziergang durch Southwark zurück in den Osten. Neben mir platziert sich ein Bobo-Pärchen. Er, ein Milchgesicht mit dem Dreitagebart der Bartlosen, trägt karierte Hosen, einen dicken Siegelring und ein Hipsterhütchen. Unbewegt, auch wenn er redet, schaut er nach vorn, in vollendeter Beherrschung eines Ausdrucks von friedlicher Arroganz und milder Dummheit. Leider verbirgt er mir sie, die mir beim Heraufrauschen der beiden als Schönheit erschien. Sie hat Haare wie eine Angorakatze um den Leib, das konnte ich noch sehen, einen Kunstpelz, nehme ich an, hoffe ich brav. Eine schwarze Rockabillyfrisur wölbt sich als Full-Size-Kühlergrill über hochgewölbten Augenbrauen. Im Virgina-Woolf-haft müden Profil, das womöglich sogar ungeschminkt ist (aber das kann nicht sein), gibt ein feiner Nasenring davon Kunde, dass diese hier dann doch nicht 1954, sondern 2019 Mitte zwanzig ist.

Bald redet sie am Smartphone unentwegt mit jemandem, ihr Snob-Ton muss ausgeführt werden, damit er schlank und beweglich bleibt wie ein Windspiel. Ich verstehe nicht viel, aber Wörter wie »vintage« oder »party foul« leuchten mir sofort ein. Manchmal sehe ich aus dem Augenwinkel eine schmale Hand, ringlos, mit dunkelviolett lackierten Nägeln nach oben schnellen.

Das Outrierte ist immer dann zielführend, zur wunden Stelle, wenn die Menschen, die es einstudiert haben, nicht hübsch sind. Sind sie aber hübsch oder sogar schön, dann bekommen sie etwas Unantastbares, das hingenommen werden muss. Eisige Ikonen für die Désinvolture der Jugend. Im Übrigen stelle ich fest, dass ich zu wenig Jugend kenne, um spekulieren zu können, womit sich erhabene Indifferenz heute gegebenenfalls einlässt. Veganismus? Engagement für den Regenwald? Greenpeace-Aktivismus? Antifremdenhass-Demos?

Ich steige vor ihnen aus (wohin, zu was fahren sie bloß?), und so kann ich nicht mehr überprüfen, wie viel von ihr ich erfunden habe, damit mir einmal wieder der Atem stockt.

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Ich habe mich entschlossen, jetzt immer ins York Leisure Centre nach Bethnal Green zum Schwimmen zu gehen, nicht zu den Olympioniken in Stratford. Heute war ein Bangladeshi-Vater mit seinen Jungs da, um ihnen das Kraulen beizubringen, später kamen noch andere Bangladeshis. Ein Junge war schön, die anderen etwas übergewichtig, aber bewegungslustig. Im Wasser werden die Dicken, wenngleich auf etwas unkoordinierte Weise, agil. Da gehöre ich hin, ich war auch ein dicker Junge, im Wasser so wie sie, und auch bei ihnen muss der Speck nicht für alle Zeiten festgeschrieben sein.

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17. Februar. An meinen Tisch im Garten des Gallery Café setzt sich, nach dem sie gefragt hat, ob ein Platz frei sei, eine junge Frau. Sie isst ein Croissant und fängt dann an, mit einem Kugelschreiber in ein ledergebundenes Buch zu schreiben. Ich schaue hin und sehe, dass schon recht viel Text da ist und dass sie eine runde Handschrift hat. Erst hinterher wird mir bewusst, dass sie ohne Smartphone und Tablet dort saß, wie früher, und einfach mit einem Kugelschreiber in dieses Buch schrieb.

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Ruben, der vierzehnjährige Sohn meines Nachbar-Fellow, hat mir einen Bleistiftstummel – »… eraturhausnoe.at« – geschenkt, damit ich mir Notizen machen kann, wenn mir beim Joggen etwas auffällt. Zusammen mit einem 10,3-mal-6,3-Zentimeter Notizbuch und dem Schlüssel hat er in der Reißverschlusstasche meiner Laufhose Platz. Am sonnig-klaren 18. Februar mache ich zum ersten Mal von dem Geschenk Gebrauch und kritzele auf einer Bank am Regent’s Canal etwas hin: Junge Menschen sind schön. Noch schöner werden sie, wie die meisten Menschen (aber nicht alle), wenn sie lächeln, dazu noch mit ihren heutzutage immer prächtigen Zähnen. Viele lächeln mich an, weil aus ihren Earphones etwas dringt, was ihnen Freude macht.

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Die Gutmütigkeit der Busse.

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Neue Capriccios. Am Beginn des Films sitzt Muhammed, von dem ich lese, dass er dreizehn ist, in einem mit Teppichen ausgelegten Zimmer. Hellblaues Hemd und Jeans. Die Wände des Zimmers sind mit grüner Ölfarbe gestrichen. Im Hintergrund steht ein wuchtiger, rustikal wirkender Wohnzimmerschrank, dessen Scheiben im hereinfallenden Licht schmierig aufglänzen. Die Wände haben Risse, der Putz ist abgefallen, weiße Streifen ziehen durchs Grün. Ich muss kurz an Matisse und an engagierte Starfotografen denken, das Zimmer ist gewaltig und verführt dazu, der Armut Glanz beizulegen.

Jetzt steht Muhammed auf, macht Gesten, begleitet von den kurzen Schreilauten eines Stummen. Er spielt: Jemand greift nach einer Flasche, es ist klar: Wasser. Jetzt ist er jemand, der einem die Flasche wegnimmt. Jemand fleht, jemand verschränkt die Arme vor dem Gesicht, um sich vor Schlägen zu schützen. Jemandem werden die Hände auf den Rücken gebunden. Jemand wird gewürgt. Ohne Zweifel wird jetzt jemandem der Bauch aufgeschlitzt, jemand hält sich ungläubig die Eingeweide. Zum Schluss macht Muhammed die Geste des Kehle-Durchschneidens. Cut. Knapp vier Minuten dauert der Film mit dem Titel Wonderland 2016.

Muhammed ist mit seinen Eltern aus Syrien nach Derik in die Südosttürkei geflüchtet. Dort hat ihn der Künstler Erkan Özgen kennengelernt und seine Erzählung vom Krieg in diesem Film festgehalten. Wenn der Film endet und bevor er wieder anfängt, sitzt man ein paar ewige Sekunden ganz im Dunkeln und kann nicht weg, in einer winzigen Black Box in den Ganglien der Tate Modern.

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19. Februar. Gary kommt, um die Armaturen in Bad und Küche zu überprüfen. Er hat eine Wollkappe, halblange weiße Haare und einen weißen Spitzbart. Ein Pirat. Einer wie er kann nicht nur den Hauswart machen, sondern muss damit seine Band oder seine Kunst oder seinen Kahn finanzieren, doch fällt mir nicht ein, ihn nach seiner wahren Berufung zu fragen. Üblicherweise komme er ja vor dem Einzug der Stipendiaten, aber er sei in Marokko gewesen, vierzehn Tage. Er liebe die Wüste, die Sahara. Das Land selbst sei unwirtlich und die Armut der Menschen deprimierend. »Weißt du, alle da verkaufen etwas, aber es gibt absolut niemanden, der etwas kauft. Und weil du keine Steuern zahlen musst, wenn du gerade ein Haus baust, ist das Land überzogen mit künstlichen Ruinen, wie hohle Zähne. Du siehst gerade mal drei Gebäude, die den Namen verdienen.«

Gary Armstrong ist in Stepney aufgewachsen, hier um die Ecke hat seine Großmutter gewohnt. So rasend wie jetzt habe es sich noch nie verändert. Täglich sei etwas Neues da oder wieder etwas weg. Und rundherum schössen die Hochhaustürme in die Höhe, hohle Zähne auch die, einfach verbautes Geld, eine verworrene, konzeptlose Skyline. »Als ich jung war, sind hier noch viele Juden gewesen, und Afrikaner. Die sind alle weiter nach Westen gezogen. Und meine Jungs sind schon in eine Klasse gegangen mit 85 Prozent Bengalen, Bangladeshis. Das ist nicht gut für beide Seiten, so gibt es keine Integration. Da drüben ist eine Schule, in der praktisch alle Kinder Muslime sind. Nein, keine Koranschule, eine staatliche.« Viele Mütter sprächen kein Englisch, und so bliebe es bei den Parallelgesellschaften. Das sei verheerend, ob ich von den islamischen Milizen gehört habe, die zeitweise ganze Straßen unter Kontrolle hatten. Natürlich sei diese Situation ein Nährboden für den IS.

Ich frage ihn nach der Gegenparallelwelt, den Docklands. »Ha!«, sagt er. »Ich habe noch erlebt, dass das eine richtige Hafengegend war, in der hart gearbeitet wurde. Raue Kerle, aber, weißt du, real. Ehrlich, geradeheraus. Heute wohnen da Leute, die gar nicht wissen, wo sie sind. Die arbeiten irgendwo in der City und tragen absolut nichts zum Leben dort bei. Es ist tot. A nightmare!« Aber mit den Armaturen ist Gary zufrieden. Ich sage ihm so etwas wie, dass er ein Poet des Realen sei. Er schnippt es mit einem Lacher weg und wir geben uns die Hand.

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Im Evening Standard, der mit dem Tod des kuriosen Karl Lagerfeld aufmacht, lese ich, dass die neunzehnjährige IS-»Braut« Shamina Begum aus Syrien zurückkommen will, weil ihr neugeborenes Kind dort nicht sicher ist. Ihr Anwalt steht vor einer komplexen Aufgabe, nachdem sie das Selbstmordattentat, das 2017 in der Manchester Arena 22 jungen Menschen das Leben kostete, eine »fair justification« nannte. »I suspect she was brainwashed.« Mir fällt der Bericht ins Auge, weil mir Gary am Morgen erzählt hat, dass Shamina Begum gleich hier, dort, er zeigte irgendwohin, zur Schule gegangen sei.

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Als ich mit siebenundzwanzig das erste und einzige Mal vor dem jetzigen Aufenthalt in London war, hatte ich plötzlich die Idee, dass die amerikanischen Wolkenkratzer von den hohen Geschäfts- und Bankhäusern in der City inspiriert sein müssen. Sie ragen über die Bahnhöfe, die Kirchen, sogar über die Kirchtürme hinaus. Ehrliche Bauweise.

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20. Februar. Ein Abendessen auf Einladung der Schweizer Botschaft für Stipendiaten und andere Gäste. Mein Tischnachbar, ein Jurist, ist von Berufs wegen verpflichtet, den britischen Charakter zu interpretieren. Ich sage zu ihm, wie überrascht ich bin von der lebendigen Debattenkultur in diesem Land. Täglich auf allen BBC-Kanälen Diskussionsrunden zum Brexit, zum Antisemitismus bei Labour, zur inneren Spaltung der beiden großen Parteien, zum Fall Shamina Begum. Und immer klug, differenziert, leidenschaftlich. »Nichts von ›Die spinnen, die Briten‹, wie man auf dem Festland denkt.« – »Ja«, sagt er, »eine Debattenkultur. Und das ist das Fatale. Immer entscheidet die beste, fundierteste, eleganteste Rede. Public Speech. Das ist schon Hauptfach in der Schule.» Er geht noch weiter. Natürlich, ich verstünde, alles cum grano salis. »Wenn sich zeigt«, sagt er, »dass es ungemütlich wird oder im anderen Lager größere rhetorische Entfaltungsmöglichkeiten winken, werden auch schon mal die Seiten gewechselt. Und drüben geht es dann weiter, genauso logisch, geschliffen und leidenschaftlich. Nur nach den Prämissen dürfen Sie nicht fragen. Die Briten haben eigentlich keine Moral.« – »Keine Moral?« – »Nein.« Ich sage: »Dann erlauben Sie mir eine Frage zu dieser Moral oder Nichtmoral aus einem etwas anderen Blickwinkel. Ich interessiere mich für Architektur. In diesem Land wurde ja bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts gotisch gebaut. Und alles sieht so echt aus, wie es in der Schweiz, in Frankreich oder in Deutschland seit 1830 falsch aussieht. Ich erkläre mir das damit, dass die englische Architektur schon im Mittelalter den Hang zum Seriellen und Repetitiven hatte.« Er nickt fragend. Wieder ich: »Worauf ich hinauswill: Haben denn Ihrer Ansicht nach Traditionen in diesem Land diese ungeheure Bedeutung, weil sie echte Prinzipien gewissermaßen substituieren?« Er bejaht und sagt: »Zu den Traditionen gehört noch etwas. Das Formelhafte im Sozialen. Die sozialen Regeln sind so ausgefuchst, dass jeder sofort weiß, wo das Gegenüber herkommt und wie und worüber man mit ihm reden muss. Allerdings halten die Regeln auch diese extrem zerklüftete und grenzenlos widersprüchliche Klassengesellschaft zusammen. Nebenbei: Die Briten sind hinter ihrem Traditionalismus technologisch hoch innovativ und modern.« Ich möchte noch einmal zur Moral zurück und beginne wieder mit der Kunst: »In der Tate Modern ist mir eine Tafel aufgefallen, die Besucher auf die Betrachtung zweier Grafiken vorbereitet, die schockierend ausfallen könnte. Die eine, von George Grosz, zeigt das grausam zugerichtete weibliche Opfer eines Lustmords, die andere ein Selbstporträt von Rudolf Schlichter mit zwei erhängten Frauen. ›Some visitors may find upsetting‹, steht auf der Tafel, und sie werden eingeladen, sich für mehr Information ans Personal zu wenden. Das klingt nach moralischer Krisenintervention. Was ich damit sagen will: Political und Gender Correctness begegnen einem auf Schritt und Tritt, jede Kirchengemeinde preist sich als ›inclusive‹ an, das ist doch alles hohe Moral.« Er sagt: »Auch PC ist ja ein Formalismus. Somit ist sie bestens integrierbar in ein System, das von Kodizes konstituiert wird, und abrufbar, wo es opportun erscheint. In der internationalen Kunstwelt ist PC natürlich Religion.«

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Jetzt weiß ich es wieder: Ich bin schon einmal in Soho gewesen. Als ich das erste Mal in London war, 1986. Bei der Wiederbegegnung mit dem vermutlich schon damals überlaufenen Viertel begegne ich noch einmal dem, der seine romantischen Lektüren ins Gässchengewirr hineingelesen hat. Verpickwickierisierung. Jung war ich ja nur noch relativ mit siebenundzwanzig, aber wenn es um erste Male und eingelöste Träume geht, hält sich das Jugendfeuer wohl ein paar Jahre über die Jahre. Darüber, dass selbst bei der schwärmerischsten Begegnung mit einer Realität die Vorstellungen, die man über sie mitgebracht hat, Federn lassen müssen, schummelt man sich hinweg. Man muss nur wollen. Novalis: »Die Welt muss romantisiert werden.« Bei mir waren diese romantisch-narzisstischen Parallelwelten Basis aller Nostalgien: »Als ich zum ersten Mal in London war«. Menschenleere Traumstädte aus Projiziertem und selektiv Gesehenem. In den realen Träumen haben sie sich weiter aufgeladen, verzweigt, vernestelt, vergeheimnist. Aber wenn ich diese piranesische Üppigkeit dann zeichnen wollte, wurden sie dürr.