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Fürstenkrone
– Box 12 –

E-Book 66-71

Judith von Eschenberg
Jutta von Kampen
Laura Martens
Britta von Meierhofen

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-795-7

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Die Erbtante

Warum gräfin Gundula ein Waisenkind ins Herz schloss

Roman von Jutta von Kampen

»Ja, mein Liebster! Du bleibst ewig jung! Aber ich habe gestern meinen siebzigsten Geburtstag gefeiert. Siebzig. Und von wegen gefeiert! Nun ja, da waren meine Freunde. Gott sei Dank habe ich einige wirkliche gute Freunde. Aber vor allem waren die Aasgeier da: Ich spreche von meiner Verwandtschaft. Nun, es ist überstanden. Und irgendwann werde ich alles überstanden haben, und dann werden wir uns wiedersehen. Ein seltsames Paar werden wir beide dann sein: Du, so jung und heiter, und ich … Aber vielleicht hat der Herr der Welten ein Einsehen und lässt mich jung und schön auferstehen. Damit du mich auch erkennst, mein Geliebter …«

Mit einem müden Seufzer stellte Fräulein Gundula von Weyarn das silbergerahmte Foto ihres im letzten Krieg gefallenen Verlobten auf seinen Platz auf ihrem Nachttisch zurück.

Es zeigte einen strahlend lächelnden jungen Mann von Mitte zwanzig, in schicker Luftwaffenoffiziersuniform. Er sah blendend aus – und würde sicher auch heute, mit Mitte siebzig, blendend aussehen, wenn das grausame Schicksal ihm erlaubt hätte, so alt zu werden.

Gundula von Weyarn wandte sich ab und setzte sich vor den Spiegel ihres Schminktisches. Sonst war sie schon immer um diese Zeit auf dem Weg durch ihr Gut. Es war ein prächtiges Rittergut, das sie von ihren Vorfahren geerbt hatte, und dank des geschickt angelegten Vermögens konnte sie sich mehr als alles leisten, was sie sich ein Leben lang erträumt hatte. Wenn sie Wünsche gehabt hätte!

Aber da sie keine eigenen Kinder hatte und ihre Neffen und Nichten nicht so waren, wie sie es sich gewünscht hätte, hatte sie sich zu einem drastischen Schritt entschlossen.

Sie hatte sich von ihrem alten Freund und Verehrer, dem Rechtsanwalt Gunther Graf von Marsik, einen Termin geben lassen, um mit ihm ihr Testament ausführlich zu besprechen.

Sorgfältig kämmte sie ihr schönes weißes Haar, legte einen Hauch von Rouge auf ihre heute etwas blassen Wangen, zog ganz zart die Augenbrauen nach, tuschte die noch immer dichten Wimpern, so dass das helle Grau ihrer Augen betont wurde, und wählte einen zartrosa Lippenstift.

Das Ergebnis war durchaus befriedigend. Sie war das, was man eine »schöne alte Dame«, nannte, und sie war froh, dass sie nicht zu jenen schnell verblühenden Hübschheiten gehörte, die ihre beste Zeit mit zwanzig hatten. Ganz bestimmt würde sie Gerhard auch heute noch gefallen – wenn er da wäre!

Wieder seufzte sie. Aber nein, sie wollte nicht traurig sein! Sie wollte gut gelaunt zu Gunther fahren und sich wieder einmal darüber amüsieren und auch ein wenig geschmeichelt fühlen, dass er noch immer in sie verliebt war.

Graf Marsik hatte erst mit achtundfünfzig Jahren geheiratet, weil er bis dahin verzweifelt darauf gehofft hatte, Gundula möchte doch noch sein Werben erhören. Aber sosehr sie ihn auch mochte und schätzte – sie konnte sich nie vorstellen, einmal einem anderen zu gehören, nachdem sie sich Gerhard auf seinem letzten Urlaub hingegeben hatte. Wohl aus einer bitteren Ahnung heraus. Und weil sie ihn wirklich von Herzen liebte.

Es tat ihr leid, dass er ausgerechnet die dumme Gans von Christa Walsenberg genommen hatte. Sie hätte ihm gleich sagen können, dass er mit ihr nicht glücklich würde – auch wenn sie eine Prinzessin war!

Ein Wunder, dass die beiden einen so reizenden Sohn wie Erik bekommen hatten! Er erinnerte sie sehr an den jungen Gunther: klug, amüsant und sehr gut aussehend. Ja, seltsam, dass sie sich nie in ihn verliebt hatte – damals …

Dafür war Eriks ältere Schwester ein Abklatsch ihrer grässlichen Mutter. Sie fing schon jetzt, mit Mitte zwanzig an, ihre Hübschheit einzubüßen. Der scharfe Zug um ihren immer schmaler werdenden Mund, der böse Blick ihrer porzellanharten blauen Augen – da konnte sie noch so süß lächeln und flöten und die Erbtante umtanzen – nein, sie war nicht der Typ, den Gundula einst nach ihrem Tod auf Weyarn sehen wollte!

Es klopfte an die Tür ihres Ankleidezimmers, und ihre Zofe trat ein.

»Verzeihung, gnädiges Fräulein. Der Chauffeur wartet bereits. Bei dem zu erwartenden Verkehr auf der Straße meint er, dass Sie sonst zu spät zu Ihrem Anwaltstermin kommen.«

Gundula lachte leise.

»Danke, Frieda! Holen Sie mir bitte das hellgraue Kostüm und den dazugehörenden Schmuck. Ich bin schon fast fertig.«

Keine Sorge! Auch wenn sie eine Stunde zu spät kam – sie wusste, dass Gunther sich den ganzen Vormittag für sie reserviert hatte und außerdem noch auf ein gemeinsames Mittagessen hoffte.

Zu dem klassisch geschnittenen hellgrauen Kostüm trug Gundula eine Hemdbluse aus etwas dunklerer Seide im gleichen Ton und die passenden Pumps mit halbhohem Absatz. Ganz hohe Absätze waren ihr inzwischen unbequem. Man wurde eben älter! Eine lange Perlenkette aus rosig schimmernden Perlen mit einem funkelnden Brillantschloss, passende Perlen mit einem kleinen Brillanten als Ohrstecker, den Verlobungsring mit dem Wappenring an der Linken und an der Rechten den Brillantring, den ihr Gunther schenkte, als er sich damals mit der dummen Christa verlobte. Es war der Verlobungsring seiner Mutter und er bestand darauf, dass sie, Gundula, ihn annahm.

»Sie sehen wunderbar aus, gnädiges Fräulein!«, sagte Frieda. »Niemand würde glauben, dass Sie schon siebzig Jahre sind!«

»Danke, Frieda«, erwiderte Gundula und lächelte die treue Frau freundlich an. Sie waren gleich alt. Nur war Friedas Verlobter aus dem Krieg zurückgekehrt. Wenn auch nur mit einem Bein. Bis zu seiner Pensionierung hatte er im Gutsbüro als Buchhalter gearbeitet. Frieda hatte sich geweigert, in Rente zu gehen.

Mein Arzt sagt etwas anderes!, dachte Gundula, während sie durch den breiten Gang zu der schönen, geschnitzten Holztreppe ging, die hinunter in die Eingangshalle führte, in der bereits Karsten, der Chauffeur, mit der Mütze in der Hand auf sie wartete.

»Guten Morgen, gnädiges Fräulein!«, begrüßte er seine Arbeitgeberin.

»Guten Morgen, Karsten. Es tut mir leid, dass Sie warten mussten! Aber auf gestern hin, war ich heute etwas spät dran!«

»Das macht doch nichts, gnädiges Fräulein!«, antwortete er und hielt ihr mit einer Verbeugung die schwere Eingangstür auf. Dann eilte er vor ihr die Treppe hinunter und öffnete den Schlag ihres großen Wagens. Erst als er hinter dem Steuer saß, setzte er wieder seine Dienstmütze auf.

Gundula von Weyarn hatte ihr Leben lang darauf bestanden, dass man sie mit »Fräulein«, ansprach. Zu ihrer Jugendzeit war das üblich gewesen, und sie fand es albern, dass jede Achtzehnjährige heute schon auf der Anrede »Frau« bestand.

Es wurde Herbst. Auch in der Natur. Und, so fand Gundula, eigentlich war der Herbst mit seinen prächtigen Farben, den Nebelschleiern über den feuchten Wiesen und dem tiefblauen Föhnhimmel eine wunderschöne Jahreszeit!

Auch im Leben eines Menschen konnte der Herbst sehr schön sein.

Wenn man nicht allein war.

Wenn man Kinder hatte.

Oder wenigstens Verwandte, von denen man sicher sein konnte, dass sie nicht nur darauf warteten, wann man endlich das Zeitliche segnete!

Nun ja! Sie würden sich schön anschauen!

Gundula lächelte mit boshafter Freude.

Gunther Marsik tat ihr ein wenig leid. Sie wusste, dass er es gerne gesehen hätte, wenn Erik einmal alles erbte. Aber im Gegensatz zu seiner Schwester hielt der sich sehr zurück. Er besuchte die Nenntante nur bei offiziellen Anlässen – so wie dem gestrigen siebzigsten Geburtstag, oder wenn sie ihn ausdrücklich einlud. Er war nicht bereit, sich wie die anderen, bei ihr einzuschmeicheln.

Das machte ihn zwar sympathisch – aber wohl kaum zum Erben eines großen Vermögens!

Mit fünf Minuten Verspätung traf Gundula von Weyarn in der renommierten Kanzlei ihres alten Freundes ein.

»Das gnädige Fräulein ist eingetroffen!«, meldete seine Sekretärin über die Sprechanlage, und Sekunden später kam Graf Marsik aus seinem Büro.

»Mein lieber Gunther!«, begrüßte ihn Gundula mit dem leicht amüsierten Lächeln, das sie für seine überschwengliche Freude stets hatte. »Ich hoffe, es ist dir recht, dass ich dem Chauffeur gesagt habe, er solle mich erst um drei Uhr in der Kanzlei abholen, da wir zusammen essen würden!«

»Großartig, dass du noch daran gedacht hast! Bestellen Sie bitte einen Tisch für uns – Sie wissen schon!«

»Wie immer, Herr Graf!«, erwiderte die Sekretärin, die das Ritual kannte.

Sobald sich die gepolsterte  Tür seines eleganten Büros geschlossen hatte, küsste Gunther nochmals beide Hände seiner Klientin.

»Wie machst du das nur? Du wirst immer jünger und schöner!«

»Sei nicht albern!« Gundula lachte. »Oder solltest du eine neue Brille brauchen?«

»Du weißt, dass ich es so meine!«, erwiderte er etwas gekränkt und schob ihr den Sessel vor seinem antiken Schreibtisch zurecht, ehe er sich selbst wieder in den gobelinbezogenen Renaissancesessel, der dazu passte, setzte.

Dank der hohen Fenster war das Büro trotz seiner schweren, alten Möbel und der in dunklen Farben gehaltenen  Ahnenbilder an den Wänden nicht düster, sondern nur sehr exklusiv und vornehm.

Graf Marsik war wohlhabend, wenn auch nicht im entferntesten so reich wie seine über Jahrzehnte hinweg vergeblich Angebetete. Trotzdem wusste Gundula, dass er nie an ihr Vermögen, sondern immer nur an ihre Person gedacht hatte, wenn er um sie warb.

»Ich kann mir vorstellen, weshalb du hier bist«, sagte er mit einem tiefen Seufzer.

»Nun, wir sind beide in dem Alter, in dem man an so etwas denken muss!«, erwiderte sie leichthin. »Und es gibt niemandem, dem ich so vertraue wie dir.«

»Also. Bringen wir es hinter uns!«, sagte er mit einem nochmaligen Seufzer. »Wie hast du es dir vorgestellt?«

»Ich habe es schon fertig!«, erwiderte Gundula lächelnd. »Ich möchte nur, dass es hieb- und stichfest ist. Und diesbezüglich sollst du mich beraten.«

Sie nahm aus ihrer passend zu ihrem Outfit hellgrauen Lacktasche einen eng beschriebenen Bogen. »Kannst du das in die juristisch unanfechtbare Form bringen?«

Er überflog das Schreiben, zuckte ein wenig und nickte dann.

»Selbstverständlich. Ich hatte so etwas – erwartet.«

Gundula nickte.

»Es tut dir leid wegen Erik?«

»Ja!«, erwiderte er ehrlich. »Aber ich weiß, dass es eine Menge Verwandte gibt, die mehr Rechte haben als er. Zumindest nach ihrer Ansicht«, schränkte er ein.

»So ist es«, lächelte Gundula. »Mach’ mir also bitte ein schönes, unanfechtbares Testament daraus und sorge dafür, dass die Legate alle ausbezahlt werden.«

Er sah sie erschrocken an:

»Gundula! Ich bin drei Jahre älter als du!«

»Manche werden neunzig – andere – sterben früher. Es kommt nicht auf die Jahre an, lieber Gunther!«

»Hat der Arzt …« Er war so entsetzt, dass er nicht weitersprechen konnte.

»Lass uns nicht über so unangenehme Dinge sprechen«, schlug Gundula ausweichend vor. »Wann kann ich zur Unterschrift kommen?«

»Heute in einer Woche?« Am liebsten hätte er sie gleich für den nächsten Tag bestellt.

»Einverstanden. Wieder einschließlich Mittagessen?« Sie sah ihn ein wenig kokett an.

»Ach, Gundula, du machst mich wirklich zu einem alten Esel«, murmelte er und trug den Termin in seinen Kalender ein. In seinen privaten.

*

Dieses Mal würde man sie nicht so schnell wiederfinden! Viola Blau hatte sich nicht, wie die letzten Male, aus dem Waisenhaus davongemacht, um in der Stadt unterzutauchen. Sie war in den nächsten Bus gestiegen und hinaus aufs Land gefahren.

Auch nicht mit der S-Bahn! Da würde man zuerst suchen.

Sie kicherte vergnügt vor sich hin, obwohl sie eigentlich keinen Grund zu lachen hatte.

Sie hatte ihr ganzes Leben im Waisenhaus verbracht. Ihre Mutter hatte sie gleich nach der Geburt auf den Stufen des Waisenhauses ausgesetzt und sich dann nie wieder gemeldet. Sie nahm an, dass sie zwar einen Vater hatte, einfach, weil jeder Mensch einen Vater und eine Mutter haben musste. Aber offensichtlich hatte er sich nicht mehr für sie interessiert als ihre Mutter.

Die Schwestern, die damals noch das Waisenhaus leiteten, hatten sie »Viola« getauft – Viola Maria natürlich, – weil damals gerade die ersten Veilchen blühten. Und als Familiennamen hatten sie ihr »Blau« eingetragen – weil sie von der Kälte ganz blau gefroren war und es die ersten Tage ziemlich unsicher schien, dass sie überleben würde.

So hatte sie nun den komischen Namen: Viola Blau.

Doch im Grund war er genauso gut wie jeder andere Name auch. Fand jedenfalls Viola.

Die frommen Schwestern waren schon alt gewesen, als sie Viola fanden. Inzwischen waren sie uralt, soweit sie überhaupt noch am Leben waren, und die Leitung und Betreuung des Hauses war allmählich ganz in die Hände weltlicher Erzieherinnen übergegangen.

Und diese waren nicht nach Violas Geschmack.

Sicher, sie waren kompetent und tüchtig und bestimmt besser ausgebildet als die guten Nonnen. Aber sie hielten sich strikt an die vorgeschriebenen Arbeitsstunden, weil draußen der Freund oder die Familie wartete, und kaum eine schenkte den armen Würmern, die in dem Haus ihr Zuhause haben sollten, die mütterliche Zuneigung und vor allem Allgegenwart, die gerade solche Kinder brauchten.

Viola war ein besonders liebebedürftiges Kind gewesen und war es mit ihren jetzt vierzehn Jahren eigentlich immer noch. Sie hatte tagelang geweint, als die letzte Klosterfrau vor einem Jahr das Waisenhaus verlassen hatte. Obgleich es nur mehr die schwerhörige Schwester Pförtnerin gewesen war, und dann hatte sie beschlossen, das Heim aufzusuchen, in welchem die alten Schwestern bis zu ihrem Tode untergebracht waren.

Es war einfach, die Adresse herauszufinden, da sie behauptete, den Schwestern schreiben zu wollen.

Bereits am nächsten Tag war sie verschwunden.

Die alten Klosterfrauen freuten sich unbeschreiblich über ihren Besuch und ihre Anhänglichkeit. Aber natürlich konnte sie nicht bei ihnen bleiben! Sie mussten der Heimleitung mitteilen, dass Viola bei ihnen aufgetaucht war, und sie wurde umgehend wieder abgeholt.

Sie musste also, wenn sie aus dem schrecklichen Heim wegwollte, es anders anfangen …

Sie verschwand nach einiger Zeit wieder, und dieses Mal ging es nicht so glimpflich ab wie das erste Mal, wo man ihr Ausreißen ihrer Anhänglichkeit zugute schrieb.

Die Polizei griff das Kind auf dem Bahnhof auf, wo es ziemlich hilflos herumstand.

Als sie es trotzdem nochmals versuchte, wenn es auch erst nach geraumer Zeit gelang, hatte sie endgültig den Ruf einer Streunerin weg.

Im Grunde war das Viola egal. Es hatte nur den Nachteil, dass man sie besonders streng überwachte!

Für ihr diesmaliges Ausreißen hatte sie ein halbes Jahr ihr Taschengeld gespart. Sie kam sich mit ihren über hundert Euro geradezu wohlhabend und auf alle Fälle sehr unabhängig vor.

Mit ihrem Schulsack auf dem Rücken war sie bis zur Bus-Endstation gefahren und hatte dann den nächsten Weg über die Felder eingeschlagen. Auf dem Wegweiser stand Weyarn, 3 km.

Gut. Vielleicht fand sie Arbeit auf einem Bauernhof. Jetzt um die Zeit war doch Kartoffelernte. Sicher, es gab inzwischen Maschinen für alles, aber für die Nachlese oder auch im Wald für das Aufpflanzen neuer Baumkulturen wurden immer noch Hilfskräfte gebraucht.

Gerade weil sie immer mitten in der Stadt, in einer Steinwüste gelebt hatte, hatte sich Viola immer besonders für die Natur interessiert.

Nachdem sie eine Weile marschiert war, kam sie zu einem weiteren Wegweiser. Auf dem einen Arm stand: Dorf Weyarn und auf dem anderen Schloss Weyarn.

Schloss! Ein richtiges Schloss!

Natürlich kannte Viola verschiedene Schlösser, die sie auf Schulausflügen besucht hatte. Aber das waren irgendwie keine echten Schlösser mehr. Weil niemand mehr darinnen wohnte. Es waren nur mehr Museen, die von einer märchenhaften Zeit berichteten. Wunderschön und großartig natürlich – aber nach Violas Ansicht nicht mehr ganz »echt«.

Ob in diesem Schloss noch jemand lebte? Sie beschloss nachzusehen. Die schmale geteerte Straße führte durch einen herrlichen herbstgoldenen Buchenwald. Dann kam ein Schlag mit Kiefern und dann wieder ein wunderschöner Mischwald, der von Gold über Braun und Rot in allen Farben prangte.

Eine Zugmaschine ratterte an ihr vorbei. Sie winkte, und der Mann hielt an.

»Gehört das alles zum Schloss?«, fragte sie mit einer weit ausholenden Gebärde.

Der Mann sah sie überrascht an, grinste dann und erwiderte:

»Allerdings! Das gehört alles dem Fräulein von Weyarn. Wo willst du denn hin?«

»Och, ich – gehe spazieren!«, erwiderte Viola ausweichend.

»Soso, mir scheint, du schwänzt die Schule?« Er war voller Verständnis.

»Bitte, nicht verraten!«, bat Viola.

Er lachte, nickte ihr zu und wollte weiterfahren.

»Kann man hier irgendwo was zu essen kaufen?«, fragte Viola.

»Da musst du schon ins Dorf gehen«, erwiderte der Mann. »Soll ich dich ein Stück mitnehmen? Ich arbeite dort unten in der Fichtenschonung!«

»Danke, nein!« Viola erinnerte sich an die Warnungen, die man ihnen im Waisenhaus eingebläut hatte. »Kann ich quer durch den Wald laufen? Er ist so schön!«

»Natürlich. Wenn du dich genau in die Richtung hältst, kommst du direkt ins Dorf!« Er wies mit der Hand schräg in den Mischwald.

»Danke!« Sie lachte ihn an.

»Bitte schön!« Er lachte zurück. Ein nettes Mädel. Und so gut erzogen. Wem die wohl gehörte? Er hatte sie noch nie hier in der Gegend gesehen. Doch dann dachte er nicht länger darüber nach, stellte den Motor wieder an und ratterte weiter.

*

Eigentlich hatte sie keinen Grund, besonders deprimiert zu sein. Der Vormittag und das Essen mit Gunther Marsik waren wie immer sehr unterhaltsam gewesen, und seine treue, unübersehbare Verehrung war sonst doch immer sehr aufbauend! Aber irgendwie … Wahrscheinlich lag es an dem Testament und ihrem gestrigen Geburtstag.

Sicher, sie wischte den »Aasgeiern« eins aus. Aber befriedigend war das im Grunde auch nicht! Befriedigend wäre nur, wenn sie es jemandem hinterlassen könnte, den sie liebte – und der sie liebte. Sie seufzte.

Prompt erkundigte sich der Chauffeur:

»Ist Ihnen nicht gut, gnädiges Fräulein?«

»Wie nett, dass Sie so fürsorglich sind«, erwiderte Gundula. Aber sofort schoss ihr der hässliche Gedanke ein: wahrscheinlich fürchtete er nur um seinen Arbeitsplatz! »Nein«, sagte sie entschlossen, nicht länger so hässlichen Gedanken nachzuhängen, »nein, ich fühle mich wirklich nicht besonders. Bestimmt war es die Stadtluft. Oder das zu üppige Essen.«

»Soll ich langsamer fahren?«, fragte der Chauffeur besorgt.

»Nein. Halten Sie an: Ich gehe das letzte Stück zu Fuß! Die frische Luft wird mir guttun.«

Der Chauffeur war aufrichtig besorgt.

»Soll ich Sie begleiten? Oder Ihnen jemanden vom Schloss entgegenschicken?«

»Danke, nein! Wirklich nicht! Man würde mich womöglich verfehlen, da ich nicht auf der Straße gehen möchte. Fahren Sie ruhig zu, Karsten!«

Er sprang aus dem Wagen und riss den Schlag für sie auf. Dann sah er ihr zweifelnd hinterher. Sie war wirklich erschreckend blass! Er würde auf alle Fälle Frieda Bescheid geben. Die konnte ihr dann entgegengehen oder noch besser, jemanden schicken, der kräftig genug war, die alte Dame zu stützen. Er mochte sie aufrichtig! Und war sich sicher, nie wieder einen Dienstherren oder eine Dienstherrin wie sie zu finden.

Endlich hörte Gundula hinter sich, dass Karsten losfuhr. Schrecklich langsam. Sah sie denn wirklich so kränklich aus? Nun, Gunther hatte jedenfalls nichts bemerkt. Freilich war er, was ihr Aussehen anging, ziemlich blind. Und ihre Blässe schrieb er wahrscheinlich dem gestrigen, für sie doch ziemlich anstrengenden Fest zu.

Ja, es war anstrengend gewesen! Morgens der Dank-Gottesdienst, anschließend der Empfang der ländlichen Honoratioren, ihres Arztes und der Vorstände der Firmen, mit denen sie geschäftlich zu tun hatte.

Anschließend das Mittagessen mit den »Aasgeiern« und den engsten Freunden. Dann, nach einer kurzen Mittagspause, die Führung durch Betrieb, Schloss und den naheliegenden Teil des Waldes, was natürlich die Aasgeier besonders interessierte und sehr befriedigte, weil alles in so exzellentem Zustand war! – und dann der abschließende Nachmittagskaffee.

Und der zog sich unbarmherzig hin, weil niemand als Erster gehen wollte! Sie alle wollten die Letzten sein, um vielleicht noch etwas zu hören – oder zumindest zu verhindern, dass jemand anderer etwas hörte.

Zuletzt war sie einfach aufgestanden und hatte erklärt, sie wäre nun erschöpft und wünsche allen eine gute Heimfahrt.

Am schlimmsten von allen waren der gute Klaus Weyarn, ihr Neffe zweiten Grades, und seine Frau Margret gewesen. Auch deren Kinder Alma und Frank gefielen ihr nicht. Frank hatte mindestens dreimal erzählt, dass er Landwirtschaft studiere und selbstverständlich auch Forstwirtschaft höre. Und Alma erwähnte, wenn möglich noch öfter, dass sie eine Banklehre mache und immer wieder gelobt würde. Und statt dass Klaus oder Margret ihnen den Mund verboten, forderten sie die beiden nur noch auf, der lieben Tante Gundula alles von ihrer Ausbildung genauestens zu erzählen. Als ob an so einem Tag dafür Zeit wäre!

Außerdem sahen beide nicht gut aus – und Gundula hatte eine Schwäche für gut aussehende Menschen. Sie waren, wenn man mit ihnen zusammen war, angenehmer zu betrachten und man überhörte dann auch einmal, wenn es allzu viel jugendlicher Unsinn war, den sie erzählten.

Ja, die vier waren die Schlimmsten gewesen! Ach nein, Nedda, die Schwester von Klaus, jetzige Baronin Holsten, war genauso lästig. Ihr Sohn, Klein Werner, war zwar erst zwölf, doch von seiner Mama bereits hervorragend auf Erbtanten dressiert. Ein Junge seines Alters sollte weiß Gott andere Interessen haben!

Plötzlich verschwamm alles vor Gundulas Augen. Das Rot und Gold der Blätter, das tiefe Grün der Nadelbäume, alles ertrank in einem grauen Nebelschleier. Ihr Herz pochte wild, und sie fühlte heftiges Stechen in der Brust, bis in ihren linken Arm.

Sie durfte nicht an so unangenehme Dinge denken! Wenn sie jetzt einen Herzanfall bekam – allein mitten im Wald – nun, Gott sei Dank! Das Testament war unter Dach und Fach!

Halb blind tastete sie um sich. Dann stolperte sie über einen Baumstamm. Sie ließ sich darauf nieder. Es war ihr nicht bewusst, dass sie laut stöhnte.

Ruhig atmen!, ermahnte sie sich. Ganz gelassen sein!

Aber es wollte ihr nicht gelingen – sie hatte panische Angst.

Sollte sie rufen? Aber wer würde sie hier schon finden?!

Trotzdem versuchte sie es.

»Hilfe! Hilfe!« Sie verstummte. Ihre Stimme war so schwach, dass sie bestimmt niemand hörte. Es war besser, sie sparte ihre Kräfte, damit sie sich so schnell wie möglich erholte und zum Weg zurückgehen konnte.

In ihren Ohren rauschte es, und der dichte Nebel, der sie noch immer zu umgeben schien, ließ sie das Gefühl haben, in Watte gepackt zu sein.

Auf einmal hörte sie eine Stimme neben sich:

»Hallo! Hallo! Ist Ihnen nicht gut?«

So ein Glück! Man hatte sie gefunden!

Sie benetzte mit der Zunge die Lippen, brachte aber keinen Ton heraus.

»Sprechen Sie bitte nicht. Legen Sie sich ruhig hin!« Es war eine junge Stimme. Fast noch eine Kinderstimme. »Hier auf den Baumstämmen geht es ganz gut. Ich decke Sie zu. Da, meinen Mantel können Sie auch noch haben. Und dann hole ich Ihnen Hilfe. Ist es denn weit bis zum Schloss? Oder ist das Dorf näher?«

»Schloss!«, ächzte Gundula.

»Gut! Ich bin gleich wieder da! Machen Sie sich keine Sorgen!« Und dann hörte sie, wie jemand davonlief.

Gott sei Dank, dachte Gundula nochmals und überlegte, ob sie die Stimme kannte. Allmählich wurde ihr besser. Schon das Gefühl, dass sich jemand um sie kümmerte, ließ ihre Angst verschwinden. Der watteartige Nebel wurde durchsichtiger, und als sie nach einer Weile sich nähernde Stimmen hörte, konnte sie bereits wieder die bunten Blätter der Bäume unterscheiden und wusste auch genau, in welchem Schlag ihres Waldes sie sich befand.

Es war zum Glück wirklich ganz in der Nähe des Schlosses!

Es waren Josef, der Gärtner, und Peter, der Diener, die mit einer Trage kamen, neben der die aufgelöste Frieda lief.

Und dann war da noch ein halbwüchsiges Mädchen.

Die Männer hoben Fräulein von Weyarn auf die Trage und trugen sie zum Wagen, den Karsten wieder zurückgefahren hatte. Frieda lief händeringend nebenher.

»Herr Stammen«, – das war der Butler –, »telefoniert bereits mit dem Arzt!«, sagte sie zum dritten Mal, als müsse sie nicht nur ihre Herrin, sondern vor allem sich selbst beruhigen.

»Danke!«, murmelte Gundula. Dann fiel es ihr ein: »Was ist mit dem Mädchen?«

»Oh, ich habe auch sie vergessen!«, Frieda war über sich selbst entsetzt.

»Sie soll mitkommen – wir warten!«, ordnete ihre Herrin an.

»Aber Sie müssen so schnell wie möglich ins Bett!«, jammerte Frieda.

»Haben Sie nicht gehört, was ich sagte?«

»Bitte, regen Sie sich nicht auf, gnädiges Fräulein! Josef ist schon unterwegs. Bitte, lassen Sie sich in den Wagen helfen!«

»Nein!«, beharrte Gundula eigensinnig. »Erst wenn die Kleine hier ist!«

Es dauerte zehn Minuten, die den aufgeregten Leuten mindestens wie eine Stunde vorkam, bis Josef das Mädchen brachte. Sie hatte sich inzwischen wieder auf den Weg ins Dorf gemacht und war jetzt etwas verlegen, aber zugleich sehr neugierig, als sie hörte, dass sie mit ins Schloss kommen sollte, weil das gnädige Fräulein von Weyarn es so wünschte.

»Ist das die, der dieses hier alles gehört?«, erkundigte sie sich vorsichtig.

»Der Besitz gehört seit Jahrhunderten der Familie Weyarn!«, erklärte der Gärtner streng.

»Ich bin nicht von hier«, gab das Mädchen zur Antwort.

»So? Woher kommst du?«

Nun, das würde sie ihm nicht auf die Nase binden!

»Ich gehe hier nur spazieren«, wich sie aus.

»Schuleschwänzen?«

Sie lachte. Offensichtlich hatten die Bewohner dieser Gegend Verständnis, weil alle darauf tippten.

»Genau!«

»Nun, dieses Mal kriegst du dafür sogar noch eine Belohnung«, meinte Josef. Er wusste, wie großzügig seine Herrin war.

»Wenn ich was zu essen bekäme, wäre es wunderbar!« Viola hatte inzwischen richtig Hunger.

»Das kriegst du garantiert!«, versprach Josef lachend.

»Ach, da kommt ja meine Lebensretterin«, begrüßte Gundula das Mädchen und lächelte schwach. »Danke, mein Kind. Setz’ dich neben mich und erzähle mir genau, wer du bist und wie du heißt und woher du kommst …«

Viola zögerte. Sie überlegte, ob sie nicht lieber schnell davonlaufen sollte, bevor man sie wieder zurück ins Heim schickte.

»Nun steig’ schon ein!«, ermahnte Frieda sie ungeduldig und stieß sie leicht an. »Der Arzt ist schon unterwegs zum gnädigen Fräulein!«

Zumindest würde sie etwas zu essen bekommen.

»Sie hat Hunger!«, sagte Josef, der vorne neben Karsten einstieg, um diesem und Peter beim Tragen zu helfen.

»Frau Frieda wird dafür sorgen, dass du etwas Gutes bekommst«, sagte Gundula leise.

»Sie sollten nicht so viel sprechen! Sie sollten sich ausruhen!«, jammerte die prompt.

»Frau Frieda hat recht«, flüsterte Gundula und lächelte ein wenig. »Du bist jetzt dran! Erzähle mal!«

Viola holte tief Luft. Unmöglich konnte sie die Wahrheit sagen! So begann sie langsam, fand dann selbst Gefallen an ihrer Geschichte und plapperte recht fröhlich drauflos:

»Ich heiße – Maria. Maria Meier. Meine Eltern – sind in Urlaub. Ich wohne zur Zeit bei einer alten Tante. Aber die ist nicht nett. Und schimpft, wenn ich schlechte Noten bekomme! Und in Mathe hatte ich eine Vier. Und da bin ich lieber nicht heimgegangen, sondern hier ein wenig im Wald herumspaziert. Er ist so wunderschön – fast wie im Märchen!«

»Meinst du nicht, dass die Tante recht hat zu schelten, wenn du nicht nur schlechte Noten heimbringst, sondern außerdem auch noch wegläufst?«, fand Frieda.

Viola sah sie verschmitzt lachend an:

»Ich glaub’ nicht! Dann ist sie so froh, wenn ich wieder da bin, dass sie nichts sagt! Wegen der Verantwortung, wissen Sie!«

Frieda schüttelte tadelnd den Kopf, aber Fräulein von Weyarn stimmte in Violas Lachen ein.

Während das Mädchen weitererzählte, betrachtete sie es mit amüsierter Zuneigung. Sie war ein hübsches, kleines Ding. Sehr zart, mit feinen Knochen, einem blassen, schmalen Gesicht – Stadtkind, vermutete Gundula, übergroßen Augen von dunklem Grün, einer kleinen Nase mit ausgeprägten Flügeln und einem weichen, viel Gefühl verratenden Mund.

Ganz bestimmt hieß sie nicht Maria Meier!

Gundula nahm an, dass sie aus irgendwelchen Gründen von zu Hause fortgelaufen war. Nun, sie würde es herausfinden! Und zudem hatte sie den sicheren Eindruck, dass das Mädchen nicht aus der Gegend stammte.

Als sie im Schloss ankamen, trugen der Diener und Josef das gnädige Fräulein auf der Trage zu seinem Schlafzimmer, Frieda sorgte dafür, dass das Mädchen in der Küche das beste Essen bekam, das Viola in ihrem vierzehnjährigen Leben jemals gegessen hatte – Weihnachten und Ostern mit eingerechnet! Der Butler wartete auf den Stufen zum Eingang ungeduldig darauf, dass der Arzt käme, damit er ihn gleich zu der Patientin führen könnte.

In der Küche ließen sich die Köchin und das übrige Hauspersonal erst von Frieda und, als diese dann zu ihrer Herrin eilte, das gleiche nochmals von Viola erzählen, einschließlich der Geschichte, die sie im Auto dem Fräulein von Weyarn aufgetischt hatte.

Das Essen schmeckte fabelhaft, und Viola bekam dreimal Nachschlag und erzählte voller Dankbarkeit immer wieder und immer ausführlicher, wie alles gewesen war.

Schließlich konnte sie nichts mehr essen und war zudem von der ganzen Aufregung so müde, dass ihr der Kopf auf die Brust sank.

»Die arme Kleine!«, fand die Köchin. Und sorgte dafür, dass sie in einem der einfacheren Gästezimmer sich hinlegen konnte, um ein wenig auszuruhen.

»Schlaf dich aus! Sobald dich das gnädige Fräulein sehen will, sagen wir dir Bescheid. Sie möchte dich nämlich unbedingt sprechen! Bestimmt hat sie etwas Schönes für dich!«, meinte die Köchin und zwinkerte ihr gutmütig zu.

»Danke!«, antwortete Viola-Maria und gähnte.

Was war sie müde! Trotzdem sah sie sich erst einmal um. So ein schönes Zimmer – ganz für sie allein! Und der riesige Schrank – hoffentlich fand sie ihre paar Sachen darin wieder. Sie grinste. Und das Bett! So breit! Und so weich! Und die Daunendecke – mit Spitzen besetzte Bettwäsche! Fast getraute Viola sich nicht, in das Bett zu steigen.

Sie wusch sich sehr gründlich, dann kroch sie in das »Prinzessinnenbett«, wie sie es nannte, kam sich vor wie mindestens die Prinzessin auf der Erbse – ohne freilich irgendwo etwas zu spüren, das sie drückte! – wollte noch dem lieben Gott für dieses bisher so schön verlaufene Abenteuer danken, war aber bereits eingeschlafen, als sie die Hände faltete.

*

Als Viola wieder aufwachte, war es dunkel im Zimmer. Es dauerte, bis sie ganz begriff, was geschehen war und wo sie sich befand. Mit einem zufriedenen Lächeln kuschelte sie sich nochmals in das wunderbare, weiche Bett. Wie das Abenteuer wohl weiterging?

Dann sprang sie mit einem Ruck aus dem Bett und lief ans Fenster. War es jetzt Abend oder war es Morgen? Sie konnte am Himmel keine Sterne erkennen. Es war bewölkt. Und das Haus – nein: das Schloss! – war umstanden von hohen Bäumen, die geheimnisvoll rauschten.

Herrlich! Wie im Märchen! Sie öffnete vorsichtig die Tür und spähte hinaus. Der lange Gang war nur dämmrig erleuchtet von zwei Appliquen, die an seinem Ende brannten. Viola erinnerte sich nicht mehr, von welchem Ende sie gekommen war und auch nicht, ob sie irgendwo abgebogen oder Treppen hinauf- oder hinuntergestiegen war: Sie war einfach zu müde gewesen!

Barfuß schlich sie auf Zehenspitzen aufs Geratewohl los.

»Hallo, Fräuleinchen! Wo willst du hin?«

Sie schrak zusammen und drehte sich um. Aus einem der Zimmer kam ein Hausmädchen in hellblauem Dienstkleid mit weißer Schürze.

»Ich – ich weiß nicht …«

»Das kommt mir auch so vor!« Das Mädchen lachte freundlich. »Es ist erst halb sieben Uhr morgens. Du hast lange geschlafen! Zieh dich an, dann komm’ zu uns in die Küche, dort kriegst du Frühstück. Und sobald das gnädige Fräulein wach ist, will sie dich sehen!«

Viola nickte.

»Und – wie komme ich in die Küche?«

»Ich hole dich in einer halben Stunde ab. Du findest sonst kaum hin, so verwinkelt, wie in dem alten Schloss alles ist.«

Viola nickte wieder und sah sich suchend um.

»Jetzt weißt du bestimmt nicht mehr, welche Tür in dein Zimmer führt!«

»Stimmt!«, erwiderte Viola kläglich und kam sich schrecklich dumm vor.

»Mir ging es genauso, als ich hier anfing«, tröstete das Mädchen sie. »Es dauerte ein paar Wochen, bis ich mich einigermaßen auskannte. Hier! Das ist dein Zimmer!«

Viola bedankte sich und begann, sich anzuziehen. Sie wusch sich mit Genuss: das Wasser, das aus dem Heißwasserhahn kam, war wirklich heiß und nicht nur lauwarm. Auch Seife und eine Zahnbürste waren für sie da und ein himmlisch kuscheliges Handtuch. Sie war längst fertig, bevor das Mädchen wiederkam. Sie stand am Fenster und schaute hinaus, wie es über den Bäumen langsam licht wurde. Der Himmel blieb verhangen, aber das Grau wurde durchsichtig, und man unterschied inzwischen die bunte Färbung des Herbstlaubs. Viola musste tief seufzen – so wunderschön war es. Ihr Fenster schaute auf einen kiesbestreuten Hof hinaus. Niedrigere Gebäude, von einem runden Turm begrenzt, schlossen sich im rechten Winkel an den Mitteltrakt, den Wohntrakt des Schlosses, an.

Jetzt ging ein Mann über den Hof mit einem dampfenden Eimer. Er sperrte die Tür auf, die unten im Turm war, und sofort drängten mehrere Hunde heraus, die jaulend an ihm hochsprangen. Aha: er brachte ihnen das Frühstück! Viola sah so fasziniert zu, dass sie das Klopfen überhörte.

»Guten Morgen!«, sagte eine Frauenstimme. Es war Frieda. Ihre Herrin hatte sie geschickt, da sie zusammen mit dem Mädchen frühstücken wollte.

»Oh, ich habe Sie gar nicht gehört!«, entschuldigte sich Viola. »Tut mir leid!«

»Macht doch nichts!«, meinte Frieda und musterte sie streng von Kopf bis Fuß. »Hm«, machte sie dann. Es war nichts an ihr auszusetzen! Sogar die Fingernägel, die sie sich zeigen ließ, waren sauber.

»Der Arzt hat dem gnädigen Fräulein Bettruhe verordnet. Glücklicherweise geht es ihr aber schon wieder ganz gut. Du darfst bei ihr frühstücken. Benimm dich aber ordentlich und sei nicht laut und immer höflich. Fräulein von Weyarn ist eine sehr vornehme Dame. Und eine sehr liebe noch dazu!«

Viola hatte Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken. Das war vielleicht eine komische alte Schraube! Ob das »gnädige Fräulein« auch so war? Gestern ging es ihr zu schlecht, als dass man etwas hätte beurteilen können. Viola marschierte hinter Frau Frieda her und bedauerte, dass die so schnell lief. Zu gerne hätte sie die großen Bilder an den Wänden genauer betrachtet! Landschaften mit Jagdszenen und wildem Kriegsgetümmel – fast wie in einem Museum. Nur dass es bewohnt war – wie es sich für ein echtes Schloss gehörte!

Sie gingen nun die Treppe hinunter. Der Gang hier war breiter und höher und die Bilder und Spiegel, die die Wände schmückten, waren prächtiger. Viola wollte etwas fragen, aber Frieda überhörte es, da sie an eine schön geschnitzte, zweiflügelige Tür klopfte und sie dann sogleich öffnete.

»Gnädiges Fräulein, hier ist das Mädchen!«

Nun wurde Viola doch schüchtern. Was für ein riesiges Zimmer – nur um darin zu schlafen! Und nur eine einzelne, dazu noch zierliche Person! Sie war in Versuchung, auf Zehenspitzen ans Bett zu treten, als die Kranke sie aufforderte, näherzukommen. Auf dem spiegelnd gewachsten Eichenboden lagen wunderschöne bunte Teppiche. Brokatvorhänge waren nun vor den Fenstern – drei! man stelle sich vor! – ebenso viele wie in ihrem Schlafsaal im Waisenhaus! – zurückgezogen, mit prachtvollen Goldkordeln, an denen schwere Quasten hingen, zurückgebunden und gaben den Blick auf einen in herbstlichen Farben erglühenden Blumengarten frei.

»Nun komm schon näher! Ich beiße nicht!«, sagte das gnädige Fräulein und entließ mit einer energischen Handbewegung Frieda, die sichtlich ungern Folge leistete.

Zögernd trat Viola näher.

»Setz dich!«

Neben dem Bett war ein Tisch mit einem unglaublich appetitanregenden Frühstück aufgebaut: Tee, Sahne, Zucker, die verschiedensten Brötchen, dreierlei Marmelade, Honig, Butter, weiche Eier, Wurst, Käste – Viola lief das Wasser im Munde zusammen.

»Das ist alles für dich. Man hat mir erzählt, dass du einen sehr guten Appetit hast!« Das Fräulein lachte.

»Ich hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen«, murmelte Viola verlegen.

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. In deinem Alter muss man viel essen! Du willst doch noch wachsen, nicht wahr? Und auch ein bisschen dicker werden? Nun fang’ schon an!«

Noch mal ließ sich Viola das nicht sagen. Sie vertilgte drei Brötchen, zwei Eier, trank drei Tassen Tee und lehnte sich dann mit einem tiefen, befriedigten Seufzer in dem Sessel zurück.

»Danke! Das war gut!«

Fräulein von Weyarn musterte sie vergnügt.

»Es freut mich, dass es dir geschmeckt hat. So. Und jetzt erzähle mir bitte, wer du wirklich bist. Denn auch wenn es mir gestern sehr schlecht ging, dass du geschwindelt hast, habe ich trotzdem gemerkt.«

Viola starrte sie erschrocken an.

»Keine Angst. Ich werde dich nicht verraten. Aber wissen möchte ich trotzdem, von wo du durchgebrannt bist.«

Eine Weile sah Viola stumm vor sich hin. Dann begann sie zu erzählen. Wie die Klosterfrauen sie aufgenommen hatten, woher ihr komischer Name kam und dass es ihr nicht mehr gefiel, seit die weltlichen Schwestern das Heim betreuten.

Gundula hatte Mühe, ihr Mitleid mit dem Mädchen zu unterdrücken.

»Tja«, meinte sie, »und was hast du vor, wenn du so einfach losrennst? Das ist doch auch keine Lösung!«

Viola sah sie erstaunt an. Darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht.

»Weißt du nicht, dass da eine nicht geringe Gefahr besteht, dass du auf die schiefe Bahn kommst?«

»Nein, ich will nichts Böses tun!«, rief Viola erschrocken. »Nur – ich komme mir vor wie im Gefängnis!«

Gundula nickte. Sie konnte das arme Ding nur zu gut verstehen.

»Weißt du, es ist für eure Erzieherinnen auch nicht leicht«, versuchte sie, Viola die Verantwortung dieser Frauen begreiflich zu machen. Die nickte. »Sie wollen doch, dass ihr für das Leben gut gerüstet seid, in der Schule einen guten Abschluss macht, damit ihr dann einen Beruf eurer Wahl ergreifen könnt.« Wieder nickte Viola stumm. »Sie machen sich bestimmt große Sorgen um dich?« Und als das Mädchen sie zweifelnd ansah, fügte sie lächelnd hinzu: »Garantiert! Willst du mir nicht verraten, aus welchem Waisenhaus du kommst, damit man dort Bescheid geben kann?«

Tränen schossen in Violas Augen.

»Dann holen sie mich wieder!«

»Ich fürchte, liebes Kind, du musst wieder zurück! Du kannst hier nicht bleiben – selbst, wenn ich es erlauben würde!«

»Warum denn nicht? Ich könnte doch irgendetwas arbeiten!«

Gundula sah nachdenklich vor sich hin.

»Wie alt bist du denn?« Sie lachte. »Nicht lügen!«

Viola schluckte die erste Antwort, die ihr auf der Zunge gelegen hatte, hinunter und erwiderte:

»Fünfzehn – in drei Monaten«, setzte sie dann widerwillig hinzu.

»Tja, das ist noch sehr jung. Beneidenswert jung!«, meinte Gundula. »Pass’ auf, was hältst du von folgendem Vorschlag: Du bleibst in dem Heim bis du sechzehn bist – und dann suche ich hier im Haus nach einer passenden Beschäftigung für dich!«

Einen Moment strahlten Violas Augen auf, dann sank sie wieder in sich zusammen.

»Und wenn – Sie es – vergessen?«

»Das tu’ ich bestimmt nicht!«

»Und wenn …« Sie brach ab. Das konnte sie wirklich nicht gut fragen! Gundula erriet es auch so und lachte hellauf.

»Du meinst: wenn ich sterbe?« Viola wagte nicht zu nicken. »Nun, ich verspreche dir, dass ich mir große Mühe geben werde, dies nicht zu tun.«

»Bitte!«, bat Viola, als könnte die alte Dame wirklich darauf Einfluss nehmen. »Ich glaube, alle hier mögen Sie sehr!«

»Soso!« Gundula war gerührt. Es war besser, schnell das Thema zu wechseln. »Weißt du, dass du einen besonders schönen Namen hast?«

»Blau?« Viola schnitt ein zweifelndes Gesicht.

»Nein. Viola! Das heißt Veilchen!«

»Ich weiß, ist das nicht blöde?«

»Aber nein, überhaupt nicht! Eine der bekanntesten Figuren aus Shakespeares Komödien heißt auch so.«  Sie merkte Viola an, dass Shakespeare ihr kein Begriff war. »Pass auf, ich habe das Theaterstück in meiner Bibliothek. Frieda soll es dir heraussuchen, dann kannst du es lesen!«