Z'21 - Lea

 

 

 

 

 

Z‘21 - Isabelle

Stuttgart

Eine Novelle von Michaela Harich

1. Auflage, 2019

© Alea Libris Verlag, Wengenäckerstr. 11, 72827 Wannweil

Alle Rechte vorbehalten

Neuveröffentlichung von „Stuttgart‘21 - Isabelle“

ISBN: 9783945814321

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Die Personen und die Handlung des Buches sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

 

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Yannick Allgaier

Simon Rottler

»Du hast gesagt, es hätte in Stuttgart angefangen«, sagte Isabelle.

Sonja nickte. Alex warf ihr über den Rückspiegel einen seltsamen Blick zu. Isabelle biss sich auf die Unterlippe. Ihr Mann wollte an diesem Tag nach Vaihingen. Vielleicht hatte Nadja ihn aber doch dazu überreden können, mit ihr im botanischen Garten zu picknicken. Zumindest hoffe Isabelle, nach allem, was im Pub geschehen war, dass es ihre kleine Tochter geschafft hatte. Falls nicht, würde ihr keine andere Wahl bleiben, als ... »Dann sollten wir nach Stuttgart gehen. Irgendwie. Und die Wahrheit ans Licht bringen.« Und mir die Möglichkeit geben, nach meiner Familie zu schauen, dachte sie.

»Du meinst, wir brechen in das Labor ein und besorgen die Forschungsunterlagen?« Sonja klang skeptisch und Isabelle konnte heraushören, dass ihr dieser Gedanke nicht gefiel. »Eigentlich keine schlechte Idee. Aber wie sollen wir da reinkommen? Und wie sollen wir das Labor überhaupt finden?«

Isabelle verdrehte die Augen. Es war nur natürlich, dass Sonja ihren Vorschlag hinterfragte, sie selbst würde ja nicht anders handeln, aber sie hatte in diesem Moment bei weitem andere Sorgen, als gegen Sonjas Skepsis anzukämpfen. Anders würde sie jedoch nicht weiterkommen. Sie biss sich auf die Lippe, überlegte, was sie antworten konnte.

»Das sollte kein Problem sein«, bemerkte Jennie zu Isas Erstaunen und half ihr damit aus der Klemme. »Wenn du den Namen hast, dann wird man das sicher finden. Das Internet vergisst nichts, und wenn der da irgendwie auf diese Pflanze stolz ist, werden wir da sicher was finden.«

»Ich bin mir sicher, dass das nicht so einfach ist«, meinte Isa und hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt, direkt nachdem sie den Mund geschlossen hatte. Klasse gemacht, Isabelle. Willst du nun zu deinem Mann oder nicht?

»Sei kein Spielverderber, Isa. Sonja, wie hieß der Kerl?« Isa gelang es nicht, ihre Überraschung zu verbergen, als sie sah, wie Jennie ihr Smartphone in der Hand hielt. Keine Spur von Schock oder Entsetzen in ihrem Gesicht - nein, die Freundin und Kollegin wirkte nahezu emotionslos, rational. Nicht einmal Linda wäre so ruhig geblieben, da war sich Isa sicher. Ob sie wollte oder nicht: Sie war beeindruckt.

»Baumann.« Kurz und knapp - typisch Sonja. Während Jennie tippte, konnte Isabelle nicht widerstehen. Sie spähte über ihre Schulter und zählte innerlich bis zehn, während der Browser lud und lud. Der Ladebalken trieb sie in den Wahnsinn.

»Na also. Somit befindet er sich im Laboratorium für Lebensmittelforschung und Nahrungstechnologie. Das sollte wohl nicht schwer zu finden sein. Das Gebäude liegt direkt am Schloss. Wurde vor ein paar Jahren frisch erbaut.«

Isa nickte. Sie wusste nicht, wie sie jetzt reagieren sollte, ohne ihre wahren Absichten zu verraten.

»Selbst wenn er die Unterlagen zu der Bacon-Pflanze nicht dahat, werden wir dort, wo sich das eigentliche Labor befindet, Hinweise finden.« Jennie klang erstaunlich zuversichtlich, fand Isa. Angesichts der Lage vielleicht etwas zu sehr zuversichtlich. Als Alex abbog, wusste Isa, dass sie handeln musste. Sie musste sich überzeugen, ob Mann und Kind noch zu Hause waren.

»Alex, du musst in die andere Richtung abbiegen. Ich muss nach Hause!« Sie beugte sich vor, ihr Gesicht auf der Höhe seines Kopfes. »Ich wohn da vorne. Wir müssen meinen Mann und meine Tochter mitnehmen.« Oder nachschauen, ob sie zu Hause sind. Wenn ja, dann muss ich nicht mit nach Stuttgart. Wenn nein, naja, dann hab ich wohl keine andere Wahl.

»Dafür haben wir keine Zeit«, rief Alex. »Schreib ihnen. Schreib ihnen und sag ihnen, dass sie aus der Stadt fliehen sollen.«

»Aber zu mir können wir doch noch, oder? Ich will wenigstens noch ein, zwei Sachen mitnehmen. Meine Heiligtümer, wenn du so magst.« Jennie drängte sich neben Isa, stieß sie leicht zur Seite.

Isa fletschte die Zähne. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.

»Leute, so sehr ich euch auch verstehe, aber dafür bleibt keine Zeit«, meinte Sonja. »Das geht nicht. Wenn die Lage so bleibt, können wir ja wieder zurückkehren und alles holen. Aber Jennies Plan ist gut. Wir müssen nach Stuttgart. Wir müssen die Öffentlichkeit über alles informieren. Und ich weiß auch schon, wer uns dabei helfen wird.«

Isa wusste, dass Sonja recht hatte. Ihr war auch klar, dass Sonja auf ihre Hilfe baute. Stuttgart war abgeriegelt – nach den Ereignissen im Pub fiel es ihr nicht mehr so schwer, das zu glauben. Sie verstand auch das Hin- und Herfahren, auch wenn sie es für absolut schwachsinnig hielt. Da hätte es sicher auch einfachere Wege gegeben, das von Sonja gebunkerte Zeug mitzunehmen. Nur um nach Esther zu schauen, sie vielleicht doch noch zu retten - das war für Isa der einzig wirklich nachvollziehbare Grund für das ganze Chaos. Es war viel zeitaufwendiger, erst zu Sonja und dann zum Pub zu fahren, doch sie hielt den Mund. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um zu streiten oder um zu diskutieren. Jetzt musste sie schnell schalten. Jetzt musste sie sich äußerst schnell etwas einfallen lassen. Isa ließ sich in ihren Sitz zurücksinken. Alex würde nicht zu ihr fahren, das war sicher, doch sie konnte auch nicht bei ihnen bleiben. Ja, natürlich war sie auch der Meinung, die Wahrheit müsse an die Öffentlichkeit geraten, aber sie wollte erst einmal ihre Familie in Sicherheit wissen. Danach war sie bereit, jeder Zeitung, jedem Reporter Rede und Antwort zu stehen.

Die Ampel wechselte von Grün auf Rot, Alex bremste und hielt pflichtbewusst an. Isa schloss für einen kurzen Augenblick die Augen, schluckte – und sprang aus dem Auto. Es war vielleicht dumm. Es war vielleicht unverantwortlich. Aber es war die einzige Möglichkeit, die Isa sah, um zu ihrer Familie zu gelangen. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel und mit einem Knall bedeutete, zu zu sein, ignorierte sie das schlechte Gewissen, das miese Gefühl, das sich in ihr ausbreitete, und rannte. Sie wich den hupenden Autos aus und rannte über die vierspurige Straße. Jennie schien ihrem Beispiel zu folgen, ebenfalls aus dem Wagen gesprungen zu sein und die Tür zugeschmettert zu haben, wie ein weiteres Knallen einer Tür zeigte. Sie taten also alle genau das, was man in solchen Situationen nicht tun sollte: sich trennen und einzeln durchschlagen. Aber Isabelle konnte nicht anders. Ihre Familie war ihr nun einmal wichtiger.

Sie schlüpfte durch die Studentengruppen hindurch, die aus dem großen Vorlesungsgebäude strömten, wich flink einzelnen Menschen aus. So friedlich, so ruhig – keiner von ihnen ahnte die Gefahr, die ihnen drohte. Missbilligende Blicke, verärgerte Ausrufe – Isabelle scherte sich nicht darum, was man von ihr hielt, oder sie vor der Gefahr zu warnen, in der sie schwebten. Isabelle dachte einfach gar nichts, außer an ihre Familie. Sie rannte einfach weiter. Sie musste weiterrennen. Stehenbleiben würde zu viel Zeit kosten. Wertvolle Zeit, die ihre Liebsten vielleicht nicht mehr hatten.

»Ey! Pass doch auf!«

Isa strauchelte. Für einen kurzen Augenblick war sie abgelenkt gewesen. Hatte einen Skaterboarder übersehen. Sie stolperte mehrere Schritte, brauchte einen Moment, um ihr Gleichgewicht wiederzubekommen, sich wieder zu fangen. Mit einer gemurmelten Entschuldigung lief sie weiter. Kümmerte sich nicht darum, ob er sich verletzt hatte. Ob ihm was passiert war. Die ein, zwei Kratzer würden sein geringstes Problem sein, wenn die Kacke richtig zu dampfen anfing. Autos hupten, als sie über die nächste Straße hetzte. Die Einbahnstraßen, die Ampeln – die ganze Straßenführung Tübingens erschwerten ihr den Heimweg, behinderten sie, kosteten sie wertvolle Zeit. Doch schlussendlich erreichte sie das Hochhaus. Schweiß lief ihr in Strömen über Stirn und Rücken, die kühle Luft im Treppenhaus ließ sie frösteln, Isabelle rieb sich die Arme. Auch wenn die Sonne schien und es verhältnismäßig warm war, herrschte im Treppenhaus ihres Hochhauses immer ein Klima, das sie frieren ließ. Immer.

Isa sprang die Stufen hinauf, mehrere auf einmal, wusste, dass ihr nicht viel Zeit blieb, wenn die beiden wirklich nicht in Tübingen waren. Ihre Hand zitterte, als sie ihre Wohnungstür aufschloss. Ihr Herz schlug wie wild in ihrer Brust und das Blut rauschte ihr in den Ohren – Isabelle war sich nicht sicher, ob sie im nächsten Moment ohnmächtig werden würde. Als die Tür endlich aufsprang, war das Erste, was ihr auffiel, das blinkende, rote Licht des Anrufbeantworters. Auch wenn es altmodisch war, Bashier hatte sich durchgesetzt. Der Anrufbeantworter und hinterließ ihr immer wieder kleine, süße Nachrichten darauf. Doch irgendein Gefühl sagte Isa, dass diese Nachricht nicht so süß sein würde. Ihr Atem ging stoßweise, sie biss sich auf die Unterlippe, als sie den Knopf drückte und die Nachricht abhörte.

»Schatz, Nadja und ich sind in Vaihingen. Meine alte Professorin hat uns zum Kaffee eingeladen, du weißt doch, dass ich Valerie Baumann wahnsinnig viel verdanke und nicht einfach Nein sagen kann . Aber wir sind zurück, bevor du Feierabend hast – und dann haben wir eine Überraschung für dich. Wir lieben dich, Superfrau!«

Isa lächelte, auch wenn ihr nicht wirklich danach war. Ja, die Nachricht war nicht voll süßer Liebesbekundungen, sondern rein informativ. Und es war schlimmer als erhofft. Die beiden befanden sich mitten in der Gefahrenzone. Das erfreute sie keineswegs, aber sie wusste auch, dass ihr geliebter Ehemann Bashier, seiner alten Ägyptisch-Dozentin nichts abschlagen konnte. Nicht, nachdem sie ihn vor einigen Jahren in Ägypten an der Forschung an einer alten Pyramide beteiligt hatte und sie dort auf einen sagenhaften Fund alter Schriften gestoßen waren. Seitdem vergötterte Bashier Valerie Baumann geradezu. In schwachen Momenten wurde sie eifersüchtig, doch dann hinterließ ihr Bashier wieder eine seiner süßen, lieben Nachrichten und alles war vergessen. Doch diesmal war er mit Nadja bei Valerie. In Vaihingen. Unmittelbar vor der Sperrzone. Isabelle schluckte, atmete tief durch. Sie durfte nicht den Kopf verlieren. Sie wählte die Kurzwahltaste ihres Handys, unter der sie Bashiers Nummer eingespeichert hatte, und wartete. Freizeichen um Freizeichen, doch ihr Mann ging nicht ran.

»Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für Höflichkeiten!«, rief sie in die leere Wohnung und stecke ihr Handy wieder ein. Gut, dann muss ich wohl einfach auf gut Glück losfahren und schauen, dass ich dich erreiche, dachte sie, griff nach ihrem Autoschlüssel und verließ die Wohnung. Sie stürmte aus dem Haus. Und kaum hatte sie ihr Auto erreicht, wählte sie seine Nummer erneut, während sie das Handy mit einer fahrigen Bewegung in die Freisprechhalterung klemmte.

Das Freizeichen nervte. Dieser monotone Klang zerrte an ihrer Geduld, während sie im Schneckentempo aus der Straße fuhr. Wieder einmal bewies Tübingen, dass die stadteigene Straßenführung weder etwas für Ungeduldige noch für Menschen war, die es eilig hatten. Isa knirschte mit den Zähnen, krallte sich am Lenkrad fest, während sie ihre guten Manieren vergaß, die Fahrer vor sich anschrie, ihnen Pest und Cholera an den Hals wünschte und mit einem regelrechten Hupkonzert vor sich hertrieb. Erfahrungsgemäß ging es dann zwar auch nicht schneller, aber sie konnte zumindest ihrem Unmut freien Lauf lassen.

Das Freizeichen tönte laut durch ihr Auto und sie zuckte zusammen. Isabelle seufzte, drehte am Radioknopf. Suchte einen Sender, der dieses nervige Tuten ablösen und ihre Nerven nicht weiter strapazieren würde. Als die Rolling Stones durch den Innenraum ihres Peugot 306 spielten, entspannte sie sich etwas. Sie legte auf und beschloss, erst dann wieder zu wählen, wenn sie Tübingen hinter sich gelassen hatte. Zwanzig Minuten sollten reichen, damit Bashier eine Ausrede finden und rangehen konnte. Das Warten trieb sie jedenfalls in den Wahnsinn. Die Rolling Stones schmetterten ihren »Doom and Gloom«-Song, da wurde sie von jemandem geschnitten, der sie ohne zu blinken von der äußersten rechten Spur einfach überholte, woraufhin Isabelle nichts anderes übrig blieb, als eine Vollbremsung hinzulegen.

»Du Spaten« Das Herz sprang ihr fast aus der Brust, das Hupen der Fahrer hinter ihr holte sie zurück in die Realität und mit einem weiteren, deftigen Fluch schüttelte sie den Kopf. Fauchend gab sie wieder Gas, schaltete und fuhr weiter. .

 

Sie streckte gerade den Finger aus, um noch einmal die Nummer ihres Mannes zu wählen, als die leise, basslastige Musik zu einem lauten Getöse wurde, das die Nachrichten ankündigte. Isa fluchte. Sie vergaß ständig diese automatische Umschaltfunktion auszumachen und erschrak jedes Mal, wenn die Traffic-Funktion griff und die Musik von sehr lauten Nachrichtensprechern mit betont lockeren Sprüchen abgelöst wurde.

»Soeben haben wir erfahren, dass es in Tübingen zu Aufständen gekommen sein soll. Natürlich waren wir von SWR3 vor Ort und haben nachgefragt. Katja steht im Augenblick direkt vor dem Pub, in dem alles angefangen haben soll. Jetzt live bei uns in der Leitung: Katja. Was ist da passiert?« Die Stimme des jungen Mannes, dessen Namen sie sich einfach nicht merken konnte, klang überaus fröhlich und aufgedreht. »Wie ist denn die Lage in Tübingen?«

»Nun, Kai, hier sieht es geradezu abenteuerlich aus. Eingeschlagene Fenster, zerbrochene Stühle – Blut. Ich stehe hier neben dem Chef des Restaurants, der darüber genauso schockiert ist wie ich. Herr Wolf, können Sie mir sagen, was hier geschehen ist?«

Isa kratzte sich am Kopf. Das Ganze war so surreal, dass jeder Künstler neidisch werden würde. Zumindest die verkorksten Hipster-Autoren im Brechtbau.

»Das war eindeutig ein Aufmarsch, ein Aufstand. Das waren die Typen von Natureen, die mal wieder gegen unsere Burger-Karte gehetzt haben. Die meckern alle paar Wochen und drohen mit einem Aufmarsch, einer Demo. Die haben schon öfters randaliert oder Scheiben eingeworfen.«

Isabelle runzelte die Stirn, als die tiefe Stimme ihres Chefs aus den Boxen drang. »Chefchen, das ist völliger …«, murmelte sie vor sich hin.