Frühlings Tod

Frühlings Tod

Julia Adrian

Drachenmond Verlag

Inhalt

Königreiche diesseits der Eisenberge

Nordturm

Unter Bestien

Der Wüstenkönig

Cinderella

Der Jäger

Mary von Athos

Die stumme Königin

Der Goldkönig

Mary von Athos

Der Jäger

Mary von Athos

Die Drachentöterin

Der Königswächter

Mary von Athos

Der Jäger

Mary von Athos

Der Jäger

Winter

Scherbenherz

Im tiefen, tiefen Wald

Der Sohn Westhams

Der Wüstenkönig

Die Drachenbraut

Mary von Athos

Sie

Der Jäger

Der Goldkönig

Die stumme Königin

Die Fürstin

Der Sohn Westhams

Der Jäger

Das gestohlene Kind

Mary von Athos

Der Königswächter

Der Jäger

Fahrendes Volk

Wofür es sich zu sterben lohnt

Der Wüstenkönig

Winter

Der Jäger

Mary von Athos

Die stumme Königin

Die Blutprinzessin

Winter

Die Fürstin

Der Sohn Westhams

Die Drachentöterin

Der Jäger

Mary von Athos

Der Jäger

Die Drachentöterin

Cinderella

Mary von Athos

Winter

Der Königswächter

Die Zofe

Die Drachentöterin

Der Sohn Westhams

Mary von Athos

Der Jäger

Die Fürstin

Königreiche diesseits der Eisenberge

Westham

Größtes und mächtigstes Königreich

Drachenkönig & Drachenbraut

Kronprinz Phillip & Prinz Tarek


Maywater

Reich der Mitte

Wüstenkönig & Schwanenbraut†

Kronprinz Duncan


Athos

Reich des Hochlandes

Goldkönig & schönste Braut†

Prinzessin Mary


Seval

Inselkönigreich

Inselkönig† & stumme Königin

Kronprinz Remus


Morrigan

Reich des Moores

Blinder König & Turmbraut

Kronprinz Morten


Kor-Tand

Reich des Ostens

Sonnenkönig & Mondbraut

-


† = verstorben

Nordturm

Vor zwölf Wintern

Nur ein Traum«, wisperte ich, stur hoffend, dass es so sein würde, wenn ich es nur oft genug wiederholte. Ein Traum, mehr nicht. Doch die klirrende Kälte der Stufen unter meinen nackten Füßen war zu beißend, der Sturm zu laut, die Furcht in meinem Herzen übermächtig. Obwohl mir die Winddämonen verraten hatten, was mich am Ende der Treppe erwartete und alles in mir schrie, ich solle umkehren und die Finger nicht nach der Klinke ausstrecken – tat ich es dennoch. Nur du kannst sie retten.

Die Tür glitt mir aus der Hand und krachte gegen die Wand. Mutter stand auf der Brüstung, ihr goldenes Haar tanzte mit den Schneeflocken. Ihr Gesicht, das meinem so ähnelte, erbleichte, als sie mich sah.

»Mary«, keuchte sie erschrocken. »Du darfst nicht hier sein! Geh zurück ins Bett, rasch! Es ist nur ein Traum« – ich wünschte, es wäre so – »nur ein böser Traum, Mary.«

»Mama«, flüsterte ich.

Sie blinzelte zum Abgrund, eine Hand auf den vereisten Zinnen. Als sie zurück zu mir sah, zwang sie ein Lächeln auf ihre Wangen. Ihre Stimme zitterte.

»Erinnerst du dich an das Versprechen, das du mir gabst?«

»Dass ich den Wald meide?«

»Halt dich daran, Mary, hörst du? Betritt ihn niemals! Versprich es mir.«

»Warum sagst du das immer?«

Ihr Lächeln brach. »Er ist das Unglück aller Königinnen.«

»Unglück?«, rief ich in verzweifelter Hoffnung, sie würde weitersprechen, immer weiter und weiter, und darüber hinaus vergessen, weshalb sie hierhergekommen und die vielen Stufen des Nordturmes hinaufgestiegen war. Weshalb sie auf der Brüstung stand.

Ihr Blick fand den Himmel, der dunkel und schwer über uns hing, von Blitzen erhellt und Donnern durchtränkt. »Es ist Winters Fluch, an dem wir alle zerbrechen.«

»Mama«, wimmerte ich.

Tränen erstickten ihre Stimme. »Du hast mein Herz, Mary. Mein Schicksal. Mein Gesicht. Du bist wie ich. Sei nicht wie ich.«

»Mama!«, schrie ich, da ließ sie los.

Unter Bestien

Der Wüstenkönig

Zweiunddreißig Mann hatte er verloren. Zweiunddreißig, während nur ein Drachentöter gefallen war und drei jener Wesen, die erst aufgehört hatten, sich zu wehren, nachdem sie ihnen die Köpfe abschlugen. Duncan trat gegen einen Schädel, er rollte herum und entblößte eine gesprungene Maske. Die Splitter zerflossen wie Milch, gaben den Blick frei auf das, was darunterlag. Bleiche Wangen, wächserne Haut, Kälte und Tod, die Zähne seltsam spitz wie die eines Raubtieres. Eines der Wesen hatte sich in das Handgelenk eines seiner Soldaten verbissen. Monster des Waldes. Untote. Blutsauger.

»Eure Majestät …«

»Was?«, fuhr er seinen Kommandanten an.

»Die Prinzessin ist entkommen.«

»Das sehe ich selbst.« Der Weg am Rand des Forstes glich einem Schlachthaus. Maywaters Soldaten, abgestochen wie Vieh. »Schickt mehr Männer nach!«

»Aber die Soldaten, die den Wald betraten …«

»Was?«

»Sie sind tot und die anderen fürchten sich.«

»Die Zofe?«

»Ist fort. Verschwunden wie die Prinzessin.«

Duncan warf den Kopf in den Nacken und starrte zu den Ästen empor, die den Pfad klauengleich überragten. Im ersten Sonnenlicht glommen sie blutrot. Welch Ironie des Schicksals, dass Mary ausgerechnet in ihr Reich geflohen war. Im Schutz der Bäume war er unterlegen. Er kannte die Legenden von den Wesen, die einzig dazu existierten, den Forst zu schützen und die älter noch waren als die Drachen, bösartiger und gefährlicher. Niemand, nicht einmal Tareks Drachentöter, konnte sie besiegen. Nein, sie würden den Tod finden, ebenso …

»Mary«, fauchte er und tastete nach der Spiegelscherbe, obwohl er wusste, dass sie fort war. Jemand hatte sie während des Kampfes gestohlen und auch wenn mit ihm der Hass geschwunden war, verblieb eisiger Zorn als Echo in seinem Herz.

Seine Finger schmerzten, so fest ballte er die Faust.

»Holt Äxte und Sägen. Treibt mehr Männer auf.«

»Eure Majestät, dieses Land gehört Westham …«

»HOLT ES!«, brüllte er und stiefelte davon.

Er konnte Mary unmöglich unter die Bäume folgen, zu groß war ihre Macht im Schutz des Waldes, doch er konnte sich einen Weg kahlschlagen. Eine Kerbe in ihr wohlbehütetes Reich. Eine Wunde, die sie bluten lassen würde. Er würde niemals aufgeben. Mary trug den Schuh, dem zu unterliegen er bestimmt war. Den Schuh Cinderellas. Er musste ihn haben. Ihn zerstören. Koste es, was es wolle.

Cinderella

Sie hat wirklich behauptet, die eine zu sein? Unfassbar!«

»Sie hat versucht, den Kronprinzen anzugreifen.«

»Nicht auszudenken …«

»Ich war zum Glück zur Stelle«, erklang es dumpf durch die Tür aus dem Korridor, gefolgt von begeisterten Heucheleien und warmem Kerzenschein, der durch den Türschlitz des Kerkers glomm und die Dunkelheit brach. Schlüssel klirrten, dann schwang die eisenverstärkte Holztür auf und ein goldenes Rechteck fiel auf den verdreckten Boden.

Cinderella trat aus dem Schatten, den Kopf eingezogen. Sie verbarg ihre Beklemmung so gut sie konnte, ebenso die aufkeimende Hoffnung. Wie lange sie bereits in dem Verlies ausharrte, in das der Kronprinz sie hatte werfen lassen, entzog sich ihrer Kenntnis. Es mochte mitten in der Nacht oder bereits der nächste Morgen sein.

»Wer seid Ihr?«, fragte sie mit rauer Stimme.

Der Wächter schielte zu der Frau an seiner Seite. Goldreife klimperten an ihren Armen, als sie ein spitzenbesetztes Taschentuch vor die Nase hob und darüber Cinderella warnend fixierte. »Was hast du dir nur gedacht? Wie das meinem Ansehen schaden könnte, käme heraus, dass meine Zofe mich derart beschämt hat.« An den Wächter gewandt fügte sie hinzu: »Ich kann doch auf Eure Verschwiegenheit zählen? Mein Dank ist Euch gewiss. Und natürlich auch Eurer Gattin, die – so habe ich gehört – delikate Törtchen backt?«

»Die besten des westlichen Viertels«, bestätigte er stolz.

»Welch Freude wäre es, könnte sie für eines meiner Feste backen! Nächste Woche gebe ich eine bescheidene Teegesellschaft. Wäre das zu übereilt?«

»Keineswegs«, versprach der Wächter übereifrig.

»Fabelhaft!« Die Adelige wedelte mit der Hand. »Nun, meine Zeit drängt.«

»Ihr wollt sie wirklich mitnehmen?«

»Colette ist meine beste Zofe.«

Der Wächter zögerte, die Schlüssel in seiner Hand klimperten nervös »Sosehr es mir danach strebt, Euch zu dienen, gnädigste Fürstin, sie hat den Kronprinzen angegriffen.«

»Kann man da wirklich von einem Angriff sprechen?«

»Nun, es war zumindest …«

»Seht sie Euch an«, unterbrach ihn die Fürstin und musterte Cinderella geringschätzig. »Sieht so eine Feindin des Königreiches aus? Sie ist eine Zofe, seit Jahren in meinem Dienst.«

»Das mag stimmen, dennoch …«

»Ich brauche sie«, jammerte die Fürstin. »Keine meiner Bediensteten reicht an ihre Künste heran. Ohne sie kann ich mich unmöglich zeigen –  die Teegesellschaft! Ich wäre untröstlich.«

»Oh«, machte der Wächter und dann noch einmal, als er verstand: »Oh! Nein, nein, die Teegesellschaft muss stattfinden – und wenn Ihr dafür die Hilfe Eurer Zofe braucht …«

»Ich wusste, Ihr würdet verstehen.« Und tatsächlich, wenngleich sichtlich befangen, trat der Wächter beiseite. Er sah zu Boden, als die Fürstin mit spitzen Füßen in die Zelle stakste, die Brauen angewidert hochzog und Cinderella umkreiste. »Du siehst aus, als habe dich die Nacht in dieser Zelle gezähmt; das sollte Strafe genug sein – vorerst«, fügte sie mit einem honigsüßen Lächeln hinzu, ehe sie zur Tür wies.

Cinderella zögerte. Der Wächter räusperte sich.

Die Augen der Fürstin verengten sich zu Schlitzen: »Sagt, Hauptmann, vermag Eure Gattin auch Torten in Tierform zu backen? Der Fürst ist ein begeisterter Jäger; jedes Jahr verlässt er mich, um an der königlichen Hatz teilzunehmen.«

»Tierformen? Das lässt sich gewiss arrangieren.«

»Seid Ihr selbst ein leidenschaftlicher Jäger?«

»Ich?«, fragte der erschrocken. »Nun, bisher hatte ich niemals die … die Ehre, zu einer Jagdgesellschaft geladen zu werden.«

»Vielleicht sollte ich meinen Gatten bitten, Euch bei der nächsten Jagd als Beistand auszuwählen. Wäre das nicht wunderbar?«

»Wunderbar«, krächzte der Wächter.

Cinderella verstand sofort: Der Jäger, nur er konnte diese Frau geschickt haben. Wer sonst wusste von ihrer Not? Die Zofe Colette – eine weitere Rolle, die sie zu spielen hatte. Der Schlüssel zu ihrer Freiheit? Mit klopfendem Herz folgte sie der Fürstin aus der Zelle. Die Tür krachte ins Schloss, der Schlüssel klirrte. Der Wächter eilte samt Fackel voraus, vielleicht fürchtete er, sollte er noch länger mit ihnen sprechen, tatsächlich in den Blutwald zu müssen.

Es war keine Ehre – es war ein Todesurteil.

Wie oft hatten Cinderella die Schreie wach gehalten? Das Stöhnen derer, die Leib und Blut – vor allem Blut – dem Wald opferten. Halb verfault im Erdreich, die Körper umschlungen von Wurzeln und Geflecht, während das Leben aus ihnen wich. Manchmal dauerte es nur Stunden, manchmal Wochen oder gar Monate.

Magie hatte ihren Preis. Wie alles im Leben.

Während sie der Fürstin durch den feuchten Zellentrakt folgte, fragte sie sich, ob die Opfer, die sie hierhergebracht hatten, vergebens gewesen waren. Oder ob sie eine zweite Chance bekam, zu richten, was sie in einem Moment der Schwäche zerstört hatte. Der Anblick des Wüstenkönigs war zu viel gewesen. Sie hatte Duncan in ihm erkannt. Seine Gesichtszüge, sein weizenblondes Haar. Seine Zukunft – und ihre eigene.

Vor ihnen öffnete sich der Trakt zu einem kreisrunden Schacht, an dessen Wand kalkweiße Stufen gen Höhe führten wie das Rückgrat eines Skeletts, hinaus in die ewige Stadt Maywaters, die vom Zorn der Himmlischen verschont geblieben war.

Die Stadt, die zu beherrschen sie bestimmt war.

Auserkoren. Auserwählt.

»Für den Frieden«, flüsterte sie und bestieg die Knochentreppe, von der muffige Korridore in die Finsternis abzweigten, versperrt durch rostige Eisengitter. Hinter einem von ihnen kauerte ein Kind. Es hob die Hand, um sich vor dem Fackelschein abzuschirmen, die Haut so durchscheinend und bleich, als hätte es noch nie die Sonne erblickt.

»Beeil dich«, drängte die Fürstin.

Cinderella blieb vor dem Gitter stehen. »Woher kommt das Kind?«

Der Wächter sah nicht einmal zurück. »Sie graben sich von außen in die Klippen und besetzen unerlaubt die stillgelegten Gefängnis­trakte. Daher die Gitter. Fehlt mir gerade noch, dass sie hier frei herumspazieren – wir sind kein Wohlfahrtsheim.«

»Die Kinder leben dort?«, fragte Cinderella entsetzt.

»Platz ist Mangelware.« Der Wächter zuckte mit den Schultern »Manche von ihnen hausen in den alten Verliesen, andere in verlassenen Piratenhöhlen. Was sich eben findet.«

Ungerührt eilte er weiter, die Fürstin folgte. Cinderella hingegen fiel es schwer, sich von dem Kind zu lösen – und während sie unschlüssig verharrte, schälten sich weitere Schemen aus dem übel riechenden Dunkel des Ganges. Noch mehr Kinder, ein Mädchen mit Säugling, verdreckte Frauen, erschöpfte Männer. Still und leise, als hätte ihnen das Schicksal nicht nur die Sonne, sondern auch die Stimme geraubt. Schmutzige Finger umfassten die Stäbe. Dürre Arme streckten sich ihr entgegen, lechzten nach Berührung und nach etwas anderem, das sie ihnen nicht geben konnte. Hoffnung?

»Bist du es?«, krächzte das Mädchen mit dem Säugling im Arm. »Wir haben die Wärter über dich reden hören. Bist du die eine, nach der er suchen lässt? Der Kronprinz?«

»Ja«, sagte Cinderella. »Die bin ich.«

»Colette«, rief die Fürstin.

Das Gesicht des Mädchens leuchtete auf, sie zitierte etwas, das wie ein Gebet klang:


Wenn sich ein Antlitz unter einem anderen verbirgt,

Herzen in Schwärze ertrinken

und Blut über Blut siegt;

wird sie kommen,

die eine, die der König sucht.

Zu bannen die Hitze.

Zu brechen den Fluch.

Die eine …


»COLETTE!«

»Du wurdest uns angekündigt«, flüsterte eine Frau. »Du wirst uns retten.«

»Retten? Wovor?«

»COLETTE!«

»Vor der Wüste«, flüsterte das Mädchen. »Sei gesegnet.«

»Sei gesegnet«, wisperten auch die anderen – und an jedem Verlies, an dem sie auf ihrem Weg die Treppe hinauf vorbeikam, streckten sich ihr Hände und Segenswünsche entgegen. Leises Murmeln, das unterirdisch wuchs und schon bald die ganze Stadt erfüllte.

Sei gesegnet … sei gesegnet …

Der Jäger

Sie rasteten kein einziges Mal in dieser Nacht. Erst als der Morgen anbrach und sich das Schwarz zu Grau lichtete, wurden sie langsamer. Archaische Bäume schälten sich aus dem Dunkel des Waldes, die Borke derart entstellt, als klafften entzweigerissene Brustkörbe in den Stämmen. Vereinzelte Lichtstrahlen durchbrachen das Blätter­dach, hauchzart und zum Sterben verurteilt. Blütenlose Dornen­ranken wanden sich durchs Unterholz, dazwischen unzählige Tümpel, spiegel­glatt und schwarz wie Tinte, in denen manch unvorsichtiger Wanderer sein Ende gefunden hatte.

»Beim Frühling – da ist eine Leiche.«

Einer der Drachentöter kniete am Ufer eines Teichs. Nebelschleier kräuselten sich auf der Oberfläche. Sie zerrissen unter seinen Händen und offenbarten den Blick auf einen Frauenleib, der schwerelos im Wasser trieb.

»Weck sie nicht«, warnte der Jäger.

»Wecken? Sie ist tot.«

»Sie ist so lebendig wie ich«, erwiderte er bissig, »und wenn dir dein Leben teuer ist, halte dich von den Tümpeln der Jungfrauen fern. Sie reagieren auf Geräusche. Männliche Schreie hören sie besonders gern.«

Der Drachentöter erhob sich vorsichtig. Auch die anderen wichen vor den Gewässern zurück. Neun hatten überlebt. Neun von zwölf, zählte er die beiden Späher mit, die an der Brücke gefallen waren. Erstaunlich wenige in Anbetracht dessen, dass sie als unbesiegbar galten, und zugleich viele, wenn er daran dachte, wer Maywater half. Der Hunger der Winddämonen nach Zerstörung war unersättlich. Erst als er die Spiegelscherbe vom Hals des Kronprinzen geschnitten hatte, war ihre Macht geschwunden.

Winters Macht.

Warum sie den Kronprinzen der attischen Prinzessin nachgejagt hatte, war ihm unbegreiflich. Sie hätte nach Athos reisen und in Sicherheit sein sollen. Doch aus irgendeinem Grund – und er wagte zu bezweifeln, dass es allein des Schuhs wegen geschah – wollte Winter die Prinzessin bei sich haben. Hier im Blutwald. Er zog sie fester an sich. Die Prinzessin seufzte leise. Seit einer Weile schlief sie auf seinem Rücken und er hoffte inständig, dass sie erst erwachen würde, wenn sie die letzte Grenze erreicht und überschritten hatten.

Neun von zwölf. Doch das Schlimmste lag noch vor ihnen.

»Westham befindet sich im Norden«, hielt in der Drachentöter auf, den er als ranghöchsten einstufte. Er zeigte auf die Rinde der Bäume, anhand derer er die Himmelsrichtungen bestimmte. »Athos liegt südlich, wir hingegen wandern gen Westen.«

Der Jäger nickte. »Dort liegt unser Ziel.«

»Unsere Aufgabe ist es, die Prinzessin sicher nach Athos zu bringen.«

»Das ist euch ja wunderbar gelungen.«

»Sie lebt«, bellte der Drachentöter.

»Sie wird den Fuß verlieren.« Rohes Fleisch und blanke Knochen, umschlossen von funkelndem Glas. »Es sei denn, ich bringe sie tiefer in den Wald.«

»Niemals«, widersprach der Drachentöter vehement. »Wir wissen, woher der Blutwald seinen Namen hat. Wem du dienst.«

»Dann wisst ihr auch, dass sie helfen kann.«

»Die Waldhexe hilft einzig sich selbst.«

Wie wahr, dachte der Jäger, schwieg jedoch. Stattdessen schritt er weiter. Seine verbliebenen Schattenkrieger taten es ihm gleich. Hier und dort blitzten ihre Masken im Dämmerlicht auf. Mehr als die Hälfte hatte er an die Ran verloren und ihm schwante, dass weitere Verluste folgen würden. Treu über den Tod hinaus. Die Drachentöter hingegen verloren an Geschwindigkeit. Der Jäger seufzte. Er wusste, was kam. Es war unausweichlich. Für einen vergänglichen Moment hatten sie Seite an Seite gekämpft, doch jetzt, da Maywaters Soldaten zurückfielen, spalteten sie sich auf. Sie waren keine Feinde, aber auch keine Verbündeten. Sie mieden einander, wie vor langer Zeit beschlossen. Niemals, nicht einmal zur Jagd, betraten Drachentöter den Blutwald. Im Gegenzug suchten die Schattenkrieger einzig unter den Bäumen nach Beute – für sie. Für ihre Zauber.

O ja, auch er wusste, wie der Forst zu seinem Namen gekommen war.

»Wir können nicht zulassen, dass du die Prinzessin mitnimmst.«

Der Jäger wusste, dass die Hände der Drachentöter auf den Waffen lagen.

»Kämpft nicht gegen mich«, beschwor er sie. »Ihr würdet es bereuen.«

Die Prinzessin murmelte im Schlaf. Er verlagerte ihr Gewicht. Mit ihr auf dem Rücken war er nahezu kampfunfähig, dennoch konnte er mindestens drei Drachentöter ausschalten, ehe sie überhaupt in seine Reichweite kamen. Neben der Schwachstelle zwischen den Schulterblättern war das Gesicht ein wunder Punkt.

Drei Dolche, drei Augen. Drei Drachentöter weniger.

»Das ist nicht dein Krieg, Jäger.«

»Du könntest nicht mehr irren«, murmelte er und gab den Schattenkriegern ein Zeichen. Sie bezogen im Halbkreis hinter ihm Stellung. Schweigsame Marionetten, die nach seinem Willen tanzten. Laut sagte er: »Es liegt an euch, ob es bereits hier endet.«

»Warum mischst du dich ein?«, fragte der Drachentöter

»Weil ich keine Wahl habe. Ihr hingegen schon. Begleitet uns oder lasst uns ziehen, doch lasst eure Schwerter, wo sie sind. In diesem Wald wurde bereits zu viel Blut vergossen.«

»Wir können sie dir unmöglich überlassen.«

»Weil euer Prinz es befahl?«

»Sie ist ihm versprochen.«

»Prinz Tarek?«, fragte er überrascht, nur um im selben Moment aufzulachen. »Warum wundert mich das überhaupt? Natürlich ist sie das.«

»Tarek«, murmelte da die attische Prinzessin. Ihre Lider flatterten.

»Du sagtest, sie würde mindestens zwei Tage schlafen.«

»Das sollte sie«, gab der Jäger zu. Behutsam ließ er sie von seinem Rücken gleiten. Sie versuchte ihn daran zu hindern. Es misslang kläglich. Sie war nicht wach. Ihr Geist schwebte irgendwo zwischen dem Hier und einer längst vergangenen Zeit. Schneebeeren, welch gefährliches Gift. Wenige Tropfen in einem Fass Wein reichten aus, um ein halbes Regiment für Stunden ins Reich der Träume zu schicken – nun, fast. Denn es waren keine gewöhnlichen Träume – es war viel mehr als das. Echter. Gefährlicher.

»Wir bringen sie in Sicherheit.«

Er ignorierte den Drachentöter und betrachtete stattdessen die einzig wahre Prinzessin der sechs Reiche. Selbst blass und erschöpft erschien sie ihm unendlich ergreifend. Dass ihr ein Leid geschah, kam ihm seltsam unerträglich vor – fast war er geneigt, sie den Drachentötern zu übergeben. Raus aus dem Blutwald. Fort von Winter. Fort von ihm.

Bring sie mir, wisperten die Bäume – und er erkannte, dass er keine Wahl hatte, ganz gleich was er fühlte. Sein Leben gehörte ihr. Nur nicht sein Herz.

Während er aufstand, zog er die Wurfdolche, verbarg je drei pro Hand.

Weitere sechs, dachte er bitter und drehte sich um.

»Susann«, keuchte da die Prinzessin. »Susann … SUSANN!«

Ihre Stimme schwoll zu einem Kreischen. Etwas gurgelte. Dann teilte sich der Tümpel neben ihnen. Glänzend schwarzgrünes Haar, die Haut so fahl wie Gebein, erhob sich die erste Jungfrau aus den Wassern des Vergessens. Sie schlug die Lider auf, hinter denen faulende Leere herrschte, die Lippen zu einem Fauchen verzerrt. Zähne blitzten auf, nadelspitz und zahlreich wie Sterne. Die Drachentöter zogen die Schwerter.

»Zurück«, brüllte der Jäger, als sich weitere Teiche teilten und freigaben, was in ihnen hauste. Sechs Dolche durchschnitten die Luft und drangen schmatzend in die Brustkörbe der verwesenden Frauenleichen, die unbeirrt aus den Wassern stiegen. Kein Stahl konnte sie vernichten, keine Wunde minderte ihre Kraft lange genug. Ihnen blieb einzig die Flucht.

»Folgt mir«, befahl er, die schreiende Prinzessin durch das Unterholz zerrend.

Sie klammerte sich an ihn. »Susann …«

»Still«, flüsterte er. »Schweig still.«

Er sah nicht zurück, als sich seine Schattenkrieger zwischen die Fliehenden und die Jungfrauen stürzten und das Reißen ihrer Haut und der Gestank ihres Fleisches den Wald erstickte. Mit Leben erkaufte Zeit. Kostbare Momente, die ihnen Vorsprung gewährten.

»Wir müssen ihnen helfen«, schrie der Drachentöter. »Das sind deine Männer!«

Er schloss die Lider für einen Moment.

»Jäger?«

Deine Männer.

Bring sie mir.

»Vorwärts«, befahl er – und die Drachentöter folgten.

Mary von Athos

»Welche Gabe sie dir schenkten? Gar keine!

Denn sie existieren nicht.«

Die schönste Braut

als Mary die ersten Gerüchte über die Hexen hörte


Der Himmel weinte Ascheflocken, der Wind schluchzte.

»An die Arbeit!«, befahl Vater den Grabwächtern, das Gesicht glatt, die Augen kalt, und wandte sich ab. Die Minister folgten ihm, ebenso die Soldaten. Ohne zurückzublicken, verließen sie den Friedhof auf den Hängen über der Stadt; eine sich windende Schlange aus Leibern, die sich satt und gemächlich gen Schloss schob, bis auch der Letzte von ihnen in den warmen Hallen verschwunden war und die zufallende Tür ihr Lachen schluckte. Allein das Volk verblieb, still und andächtig im Halbkreis um das Grab geschart, an dessen ausgefranstem Rand ich stand. Mutterseelenallein. Während Athos in Dunkelheit versank.

Schwarzer Winter.

Einzig die Rose, die ich trotzig aus den Gärten gestohlen und bis zuletzt im Futter meines Mantels verborgen hatte, war rot wie der Herbst. Mit wunden Fingern warf ich sie in die Tiefe, hastig den Segen sprechend, der ihr verwehrt worden war. Dann schritten die Grabwächter zur Tat. Schaufel für Schaufel krachte die Erde auf das geweißte Holz, verhüllte den goldverzierten Sarg der Königin wie ein zusätzliches Leichentuch aus feinkrümeliger Seide

»Warum wird sie begraben?«, flüsterten die Kinder hinter uns. Eine Ohrfeige klatschte. Dann herrschte bis auf das leise Rumpeln der fallenden Erde wieder Stille zwischen den Steinhallen, in denen all die Vorfahren meiner Familie ruhten – nur sie nicht.

Warum begruben wir sie?


Das Grab klaffte wie eine Wunde. Tief. Schwarz. Endgültig. Bereit, die schönste aller irdischen Königinnen für immer zu verschlingen. Sie hatten mir verboten, Mutter zu berühren und ihr den Segen des Herbstes zu geben. Keinen einzigen Blick hatte ich auf sie werfen dürfen. Jetzt war es zu spät … denn selbst wenn ich den Mut gefunden hätte, den Sarg aufzureißen und die Finger auf ihr erkaltetes Gesicht zu legen, wäre es mir unmöglich gewesen: Weil ihr Tod schon Jahre zurücklag und ich nicht an ihrem Grab stand, sondern mich im Wald befand. Ich konnte ihn hören: das Knacken der Äste, das Klirren von Waffen in weiter Ferne. Das Rieseln von Erde. Das Flüstern der Kinder.

»Ihr Stöhnen lockt sie an, gib ihr mehr!«

»Soll ich sie umbringen?«

Vielleicht, dachte ich qualvoll langsam, wäre ich besser tot.

Wie die Königin. Wie die Kinder. Die Armen. Die Schwachen.

Auf Mutters Tod war der Hunger gefolgt, als weigerte sich die Erde, Leben hervorzubringen, da das der Königin verwirkt war. Sie nannten es das Jahr der Knochen, weil so viele Familien verhungerten. Nur hier und da überlebte jemand als Fragment einer Generation, die dem Tod geweiht war. So wie Susann. Ich hatte sie nie danach gefragt.

»Wir müssen uns trennen.«

»Niemals! Die Prinzessin …«

»… wird sterben, wenn ihr mir misstraut.«

»Dir trauen? Du bist ihr Jäger.«

»Weshalb ich allein den Jungfrauen entkommen kann.«

»Dann flieh, doch die Prinzessin bleibt.«

»Sie wittern ihr Blut, bleibt sie, ist das euer Ende.«

Jemand schrie, etwas fauchte, dann flog der Wald an mir vorbei, verlor sich im Ächzen und Klagen dessen, was nahte. Alles verschwamm. Jemand drückte meine Hand.

»Du hast schlecht geträumt – schlaf jetzt!«

»Ein Traum?«, lallte ich.

»Nur ein Traum«, antwortete er.

Seine Worte beruhigten mich, obwohl ich wusste, dass es eine Lüge war. Sowohl heute als auch am Tag des Schwarzen Winters, als ich die Stufen des Nordturms hinaufgestiegen war, das fürchtend, was ich finden würde. Die Winddämonen hatten es mir verraten.

Komm, Königstochter. Komm.

Betritt niemals den Wald, Mary.

Ich wünschte, ich könnte – doch ich war bereits dort.


In meiner Brust herrschte eisige Stille, während vom Hof erste Schreie gellten.

Die Königin! Beim Herbst, die Königin!

Ich stand an den vereisten Zinnen und Mutter war …

»Warum habt Ihr sie fallen lassen?«

Susann stand in der Tür, das Haar kürzer, die Wangen gerötet vom Aufstieg.

»Susann! Du … du bist hier?«

»Die Frage lautet: Was wollt Ihr hier, Hoheit?« Schaudernd spähte sie zum Rand. »Wenn Euch etwas geschieht, wird es meine Schuld sein! Euer Vater bat mich, Euch zu schützen, und schon an meinem ersten Tag entwischt ihr – ausgerechnet auf den Nordturm! Ich bin ganz außer Atem.«

Ich glaubte mich verhört zu haben. »Dein erster Tag?«

Susann hob vielsagend einen Finger. »Ich hörte die Geschichten über Euch, Hoheit. Es heißt, keine Zofe bliebe länger als drei Nächte. Jetzt weiß ich warum – diese Stufen! Meine Beine zittern noch. Seht Ihr? Ich kann kaum noch stehen!«

»Mit der Zeit wird es leichter«, gab ich wie von selbst zur Antwort. Ich erinnerte mich an diesen Tag in aller Klarheit: wie ich still und steif Vaters Rüge ertragen hatte, ehe er ein Mädchen herbeizitierte, von dem er drohend verkündete, es sei meine neue und letzte Zofe. Susann, damals noch fröhlich und offen, war mir überallhin gefolgt und hatte unaufhörlich geplappert. Sie in ihrer jüngeren Version zu sehen, offenbarte mir, wie sehr das Leben im Schloss sie geprägt hatte. Oh, wäre sie doch niemals zu mir gekommen! Hätte Vater sie nur in dem Kloster gelassen, in dem die Waisen der Knochenjahre für den Dienst an der Krone erzogen wurden! Sie hätte weder ihr Lachen noch ihr Leben verloren.

»Gibt es denn keinen Turm mit weniger Stufen?«, erkundigte sich Susann hoffnungsvoll.

»Keinen wie diesen«, sagte ich bloß.

Susann wies sie zum Abgrund. »Warum habt Ihr das getan?« Sie verharrte an der Tür, befangen und fasziniert zugleich. Ob von mir oder den Geschichten, die sich die Menschen über meine Familie erzählten, wusste ich weder damals noch heute zu sagen. Sie neigte den Kopf, als versuchte sie, mich zu enträtseln. »Jetzt ist sie kaputt, die schöne Puppe.«

Ich beugte mich über die Zinnen: auf der Freitreppe lag nicht die Königin, sondern die Puppe, die ich an Mutters erstem Todestag hinabgeworfen hatte und die in tausend Splitter zerbrochen war. Richtiger Ort, falsche Zeit.

»Ich wollte wissen, wie es aussieht.«

»Wie was aussieht?«, fragte Susann unverständig.

Ich lehnte mich weiter vor. »Wenn jemand am Grund zerschellt.«

Susann lachte und vielleicht war es dieses Lachen, das mich aus meiner Trance befreite und zurück in den Turm gehen ließ, die Treppen hinab in ein Schloss, das kälter und einsamer war als zuvor und doch mit neuer Wärme gefüllt werden sollte. Mit Susanns Wärme.

»Kommt«, sagte sie – und ich folgte.

Die stumme Königin

Der Königsadler landete während der Badezeremonie. Die Tempel­dienerinnen wichen vom Altar zurück, die Gesichter entrückt, die Handgelenke blutverschmiert.

Geht – verlangte die stumme Königin harsch und erhob sich aus dem heißen Becken, von dem aus sie dem Ritual beiwohnte. Nur kurz flackerte Bedauern in ihrer Brust, ehe sie den Blick von den halb nackten Körpern ihrer Dienerinnen nahm und die Stufen zum Altar erklomm. Das rötliche Wasser dampfte von ihrer ausgemergelten Haut, es roch nach Salz und Eisen. Ein Tuch um ihre Brust schlingend, trat sie an den Altar, dessen kunstvollen Furchen feucht schimmerten. Purpurne Flüsse tröpfelten träge die Wände hinab und sammelten sich in der sichelförmigen Rinne im Boden, die das Becken speiste.

Wie viel sie doch mit Winter verband.

Der Königsadler beäugte sie misstrauisch, als sie die Hand nach ihm ausstreckte und den Brief von seinem Bein löste. Kaum hatte sie das getan, erhob er sich vom Altar und ließ sich stattdessen auf dem steinernen Thron nieder. Ohne ihn zu beachten, entrollte sie die Botschaft, von der sie gehofft hatte, sie niemals zu erhalten. Doch da standen die Worte saphierblau auf weiß. Beim nächsten Blutmond. Seine letzte Chance, dem Schicksal zu entkommen, welches sie für ihn erdacht hatte und das allen Königssöhnen bevorstand.

»Mutter?«

Der junge Kronprinz stand im Portal des Tempels, an der Hand seine kleine Schwester.

Ein Kind, von dem bislang niemand außerhalb Sevals wusste.

Eine Tochter. Eine Prinzessin. Eine Sünde gegen den Blutwald.

Was? – verlangte sie zu wissen.

»Wir möchten den Königsadler sehen«, gestand er und blinzelte vom Thron zu Aurora und zurück. »Dürfen wir …?«

Ein knappes Nicken, zwei strahlende Lächeln.

»Danke«, rief er und zog seine Schwester hinter sich her. Sie schwieg – wie immer.

Die Dienerinnen glaubten, es läge an ihrem Erbe. Dass sie es von ihr hätte, die Stille.

»Schau, wie groß er ist«, lachte Remus und schob Aurora vor sich, damit sie den Vogel besser betrachten konnte. Sie war erst acht Winter alt, doch ihre knospende Schönheit ließ erahnen, dass sie der attischen Prinzessin zu gleichen versprach.

Geküsst vom Herbst. Vergänglich zarte Schönheit.

Sobald Aurora zur Frau reifte und die Situation auf dem Festland es zuließ, würde die stumme Königin sie in die höfische Gesellschaft einführen. Die Prinzessin, deren Gesicht so schön wie der Sonnenaufgang war und deren Haar wir Rapunzelfeuer glomm, hatte die Herzen der Sevalesen bereits im Sturm erobert. Es würde ein Leichtes werden, einen Kronprinzen für sie zu begeistern – und ihn so aus den Fängen Winters zu befreien.

Remus war Aurora bereits verfallen. Er nahm sie überall mit hin, spielte mit ihr in den Wellen, führte sie hinauf zu den Klippen und schlief bei ihr, wenn Albträume sie plagten. Die stumme Königin hingegen war unfähig, auch nur einen zärtlichen Gedanken an das Kind zuzulassen, das zwar ihrem Schoß entsprungen war, doch keinen Platz in ihrem Herz fand.

»Von wo kommt er?«, fragte Remus, während Aurora an den Federn zog. Der Königsadler saß ganz ruhig, als könne selbst er der Prinzessin keinen Wunsch abschlagen.

Westham – die stumme Königin deutete auf das entsprechende Wappen an der Wand und verlangte darauf herrisch: Lasst mich allein.

Remus’ Freude erlosch. »Dürfen wir ihn wenigstens füttern? Die Reise war lang. Er ist bestimmt ganz schwach und hungrig. Wir könnten ihn mitnehmen.«

Sie ersparte sich die Mühe, zu erklären, dass Königsadler niemals Erschöpfung verspürten. Sie waren zäh wie der Wind und das Einzige, was sie aßen, waren frisch entnommene Eingeweide. Leber, Nieren und Herzen. Vor allem Herzen.

Nehmt ihn und geht.

»Danke, Mutter.«

Erst als Remus’ Lachen verklungen war, richtete sie ihre Aufmerksamkeit gen Portal, hinaus über die Klippen zur türkisfarbenen Bucht, und fragte sich, ob sie es auch für ihn tun konnte, ihren eigenen Sohn, sollte er sie je darum bitten. Eines Tages würde er wie die Söhne Westhams vor der Entscheidung stehen: sich zu ergeben oder zu kämpfen. Ganz gleich, welchen Weg er wählte, sein Herz würde er verlieren. Seine Liebe zu ihr und auch die zu seiner Schwester. Durch Winters Fluch oder ihre eigene Magie.

Wie der Goldkönig. Wie schon bald der Sohn Westhams.

Beim nächsten Blutmond.

Der Goldkönig

Leidenschaftslos musterte er die formlose und nach Seetang stinkende Masse auf den Planken. Der Fluss hatte ganze Arbeit geleistet und den Mann fast verzehrt, der nur durch eine glückliche Fügung auf die Kaspar gelangt war. Die Schiffsjungen, die ihn aus den Fluten gezerrt hatten, nachdem er träge dahintreibend gegen den Rumpf gestoßen war, hingen leichenblass über der Reling und entschädigten den Silber­fluss für die gestohlene Beute. Die Würggeräusche zerrten an des Goldkönigs Nerven, mehr noch die Farben der Pfeile, die aus dem Leib des Toten ragten.

»Maywatersche Bastarde«, brummte der Kapitän der Kaspar und spuckte auf die Leiche, um die sich eine Lache aus Salzwasser und Schleim bildete. Da war kein Blut, als hätte der Fluss es sich einverleibt. Der Kapitän trat gegen den Brustkorb des Mannes. Ein Schwall Brackwasser ergoss sich über die Schuhe der Umstehenden. Die Seemänner wichen angeekelt zurück, nur die Königswächter standen unverrückbar um ihren König.

»Prinz Tarek brach vor uns auf?«, vergewisserte dieser sich beim Kapitän.

»Das tat er, Majestät, zusammen mit Eurer Tochter.«

»Mary, kostbare Mary«, murmelte der Goldkönig. Ob sie der Grund für diesen Angriff war? Duncan hätte sie heiraten können und sie wäre noch sein, wenn er darum bäte. Warum also sollte seine Schützen Westham angreifen? Es ergab keinen Sinn. Nein, Mary konnte unmöglich der Grund sein – dennoch wurde er das Gefühl nicht los, dass sie in Gefahr war. Er griff sich an die Stirn und atmete gegen den Schmerz, der sich pochend verstärkte. Die vergangene Nacht war hart gewesen, wie stets, wenn ein Monarch verstarb und nach Rache dürstend wiederauferstand. Das Ableben des Wüstenkönigs war keineswegs unerwartet gekommen, wenngleich früher als gedacht. Er ahnte, dass der Kronprinz seine Finger im Spiel hatte. Niemand sonst besaß einen Grund, den kranken Alten ins Reich der Geister zu schicken.

Ein neuer Regent und ein sich anbahnender Krieg.

»Es ergibt keinen Sinn«, wiederholte er laut und trat wie der Kapitän zuvor gegen die kupferne Rüstung, die gurgelnd und rülpsend in sich zusammenfiel. Ein Drachentöter war tot, gefallen unter May­waters Pfeilen. Wiederholte sich das Schicksal der Welt? Er konnte – nein, er wollte es nicht glauben, denn das hieße, dass sie recht behielt. Sie, die ihm alles genommen hatte und die noch mehr zu nehmen bereit war. »Steuert den attischen Hafen an.«

Bewegung kam in die Seemänner, der Kapitän bellte Befehle, einzig die Königswächter bildeten eine ruhende Oase inmitten der Hektik. Sie sahen zur Flussmündung. Etwas hatte sich am Ufer des Silber­flusses ereignet, etwas, das Unheil verhieß.

Er befahl seinen ältesten Königswächter heran. »Reite nach Westham. Finde Mary.«

Der Angesprochene neigte den ergrauten Kopf. »Sollte es zum Krieg kommen …?«

»Werden wir an der Seite der Sieger stehen«, vollendete der Goldkönig zynisch.