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1 Ein Fallbeispiel: Sam (zehn Jahre)

BEISPIEL

Der zehnjährige Sam besucht die vierte Klasse einer Grundschule, an die er vor ungefähr einem Schuljahr gewechselt ist. Bereits seit Schuleintritt zeigt er in verschiedenen Unterrichtssituationen impulsives und unkonzentriertes Verhalten. Er gerät mit anderen MitschülerInnen ständig wegen geringster Anlässe in Streit und wurde deshalb auch an der vorherigen Schule zunehmend abgelehnt. Dies setzt sich in der jetzigen Klasse fort.

Auf der anderen Seite zeigt sich Sam sehr hilfsbereit. Er übernimmt gerne Klassendienste, führt diese jedoch oft nicht zu Ende. Weder in der Schule noch zuhause zeigen gutes Zureden, Appelle an die Vernunft oder auch Bestrafungen (z. B. Fernsehverbot) eine längerfristige Besserung. Sam bemüht sich, die Vereinbarungen einzuhalten, scheint diese jedoch bereits auf dem Weg zum Platz oder zum nächsten Raum „zu vergessen“.

Ein Auszug aus einem Unterrichtsprotokoll illustriert eine „typische“ schulische Situation. Eine Lehramtsstudentin beobachtet Sam (S.) und hält u. a. fest:

–  9.25 Uhr: Beginn der Stunde – S. schwenkt seine Jacke über dem Kopf.

–  9.30 Uhr: S. sitzt auf seiner Jacke, nicht auf seinem Stuhl.

–  9.35 Uhr: S. kaut an seinem Heft, zerbeißt einige Seiten und rudert mit den Beinen.

–  9.40 Uhr: S. meldet sich freudig und aufgeregt auf die Frage der Lehrerin, er gibt eine richtige Antwort.

–  9.45 Uhr: S. hat stolz seinen Platz verlassen, sitzt auf dem Schoß der Studentin und umarmt sie.

Sams schulische Leistungen sind insgesamt eher schwach. Insbesondere die Bearbeitung längerer schriftlicher Aufgaben und die konzentrierte Teilnahme an längeren mündlichen Arbeitsphasen bereiten ihm große Schwierigkeiten. Die Grundlagen im Bereich Mathematik und Deutsch sind nicht gesichert. Viel Freude bereitet ihm der Sportunterricht. Hier zeigt er eine deutlich höhere Konzentration.

Auch Sams Verhalten zuhause erscheint problematisch: So berichten seine Eltern, dass Sam bereits als Kleinkind im Gegensatz zu seiner ein Jahr älteren Schwester äußerst unruhig und ständig in Bewegung war. Wenn von ihm verlangt wurde, dass er einmal ruhig sein sollte, reagierte er mit Impulsdurchbrüchen und war kaum zu bändigen. Er forderte viel Beachtung ein und hielt mit seinen unkontrollierten Ausbrüchen die ganze Familie in Bewegung. Spiele führte Sam selten zu Ende, sondern, kaum angefangen, wandte er sich planlos anderen Tätigkeiten zu. Die ständige Betriebsamkeit wurde oft von unvermittelten Wutausbrüchen begleitet, die sich auf die Eltern, die Schwester und die Spielkameraden richteten. Die Eltern von Sam geben an, sich mit der Erziehung überfordert zu fühlen

(nach Hövel 2016, unveröffentlichtes Manuskript).

2 Konzeptionelle Grundlagen

2.1  Normative Grundlagen

Menschen sind soziale Wesen, die sich nur in der Gemeinschaft mit anderen Menschen positiv entwickeln können (Tomasello 2002; 2010). Jedoch gelingt das Zusammenleben und Zusammenlernen nie völlig konfliktfrei. Daher bildeten sich in der Entwicklung des Menschen Regeln, Normen und Werte des Zusammenlebens heraus (Tomasello 2002; 2010). Wenn Menschen mithilfe dieser Regeln, Normen und Werte zusammenleben, unterstützen das Leben und Lernen in Gemeinschaft die individuelle Entwicklung und Sozialisation. Aber wenn Menschen gegen diese Regeln, Normen und Werte verstoßen, bietet das Leben in Gemeinschaft ein gewisses Konfliktpotenzial.

Normen, Werte und Regeln

Normen und Werte (z. B. Lebenstüchtigkeit, Mündigkeit und Selbstbestimmung) können von konkreten Regeln unterschieden werden (z. B. „Wir lassen uns gegenseitig ausreden.“). Konkrete Regeln sind nahezu immer auf die abstrakten Normen und Werte bezogen bzw. aus ihnen abgeleitet worden (Mietzel 2007).

Die Schulklasse ist eine von vielen solcher Gemeinschaften, in der individuelle Entwicklung und Sozialisation stattfinden. Wir behaupten, dass in allen Klassengemeinschaften Regeln, Normen und Werte existieren, die das Leben und Lernen in der Klassengemeinschaft „regeln“ sollen. Diese Klassenregeln können entweder implizit vorhanden oder explizit kommuniziert worden sein.

Vielen SchülerInnen gelingt es (auch aufgrund ihrer familiären Sozialisation) sehr gut, die geltenden Regeln des Zusammenlebens und Zusammenlernens zu erlernen und ihre Handlungen an diesen Regeln auszurichten. Andere SchülerInnen, wie z. B. auch Sam aus dem Fallbeispiel, haben jedoch größere Schwierigkeiten, im Unterricht im Einklang mit den Klassenregeln zu handeln, dass ihr eigenes und das Lernen der anderen nicht eingeschränkt sowie positive Entwicklung und Sozialisation möglich werden. Diese Schwierigkeiten können unterschiedliche Gründe haben, deren Beschreibung das vorliegende Buch sprengen würde. Wir wollen uns daher lediglich auf die grundlegenden Annahmen biopsychosozialer Entwicklungsmodelle berufen (z. B. Dodge / Pettit 2003).

Nach diesen Entwicklungsmodellen entstehen Schwierigkeiten beim sozialen Regellernen, wenn vielfältige biologische, psychologische und soziale Dispositionen und Kontexte ungünstig miteinander interagieren. Somit können sich SchülerInnen vielleicht deshalb schwer an Regeln halten, weil sie gewisse Störungen der Neurotransmittersysteme aufweisen (z. B. im dopaminergen System, das mit Symptomen von ADHS assoziiert ist; Frölich et al. 2015), weil sie ihr eigenes Verhalten und Erleben nicht gut genug regulieren können (z. B. Störungen der Emotionsregulation, die mit externalisierenden und internalisierenden Verhaltensstörungen verknüpft sind; von Salisch / Kraft 2010), weil sie in Familie, Freundeskreis und Schule bisher zu wenig Anleitung im Erkennen der Wichtigkeit von Regeln erfahren haben (z. B. bei permissiven Erziehungsstilen oder lediglich implizit vorhandenen Klassenregeln oder strafenden und wenig anerkennenden Lehrkräften; Pinquart 2017) und die Gesellschaft gewisse Verhaltensweisen als sozial-adäquat anerkennt bzw. andere als sozial-inkompetent ablehnt (z. B. für eine Unterrichtsstunde still bzw. nicht still sitzen können; Myschker / Stein 2014). Je mehr solcher Risikofaktoren auftreten und je vielfältiger und intensiver sie miteinander interagieren, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für Schwierigkeiten im sozialen Regellernen.

Probleme beim Erlernen der sozialen Regeln erhöhen das Risiko für negative Konsequenzen. Die betreffenden SchülerInnen entwickeln häufiger psychische Auffälligkeiten (Costello et al. 2011) und werden häufiger von ihren KlassenkameradInnen abgelehnt und ausgegrenzt (Huber 2009; Krull et al. 2014). Ebenso fühlen sich ihre MitschülerInnen durch die Regelverletzungen im Lernen gestört (Schönbächler et al. 2011) und erlernen von den RegelbrecherInnen negative Verhaltensweisen (Müller et al. 2013). Zudem geben viele Lehrkräfte an, dass ihr größter Stressor diese negativen Verhaltensweisen und Regelverstöße sind und sie sich dadurch belastet fühlen (z. B. de Boer et al. 2011).

Nicht jeder Regelverstoß ist schlimm. Über viele Regelverstöße können Lehrkräfte und ihre Lernenden gelassen hinwegsehen, und an anderen Regelverstößen kann man lernen. Treten Regelverstöße jedoch sehr gehäuft auf und / oder sind die Regelverstöße schwerwiegend, hilft kein Abwarten und positives Deuten dieser Regelverstöße (z. B. Scherzinger et al. 2017). Stattdessen halten wir es für eine pädagogische und moralische Pflicht, die Heranwachsenden beim Erlernen sozialer Regeln anzuleiten und zu begleiten. Schule hat neben der Leistungsfunktion eben auch eine Sozialisations- und Erziehungsfunktion (Fend 2008), die jede Lehrkraft ausüben muss. Wenn SchülerInnen das Erlernen sozialer Regeln schwer fällt, haben sie einen grundsätzlichen Anspruch auf Unterstützung durch ihre Lehrkräfte (Heward 2003). Erst durch diese Unterstützung werden das Klassenleben und die individuelle Entwicklung sowie Sozialisation durch und in der Klassengemeinschaft ermöglicht.

SchülerInnen durch Förderung unterstützen

DEFINITION

Von Förderung sprechen wir immer dann, „wenn auf der Basis einer Förderdiagnose individuell spezifische Interventionen stattfinden, die in ihren Wirkungen einer Evaluation unterzogen werden und von Beratungsprozessen begleitet sind sowie in einen systematischen Begründungszusammenhang eingeordnet werden können“ (Heimlich et al. 2015, 9).

Sämtliche in diesem Buch beschriebenen Methoden sind dieser Definition von Förderung zuzuordnen.

Die Meinung, dass eine Förderung beim Erlernen von Regeln, Normen und Werten wichtig sein kann, wird von den meisten Menschen sicherlich geteilt. Wie aber eine solche Förderung gestaltet sein kann, um tatsächlich als optimale Unterstützung erfahren zu werden, wird sehr kontrovers diskutiert. Im Folgenden schlagen wir vor, die Förderung möglichst evidenzbasiert zu planen, durchzuführen und zu evaluieren.

2.2  Evidenzbasierte Praxis

Eine pädagogische Binsenweisheit

Förderung ist nur dann als geeignet zu beurteilen, wenn sie zu den Lern- und Entwicklungsbedürfnissen der SchülerInnen sowie zu den angestrebten Lern- und Entwicklungszielen passt. Somit ist eine Förderung weder grundsätzlich geeignet noch grundsätzlich ungeeignet, sondern ist entweder im Einzelfall (mehr oder weniger) passend oder im Einzelfall unpassend. Das ist eine pädagogische Binsenweisheit: Es gibt nicht die eine Fördermethode, die für jeden und alles passend ist. Vielmehr gibt es je nach individuellen Zielen und Bedürfnissen bestimmte passende oder unpassende Fördermethoden. Somit können Fördermethoden, die einigen SchülerInnen helfen, bei anderen SchülerInnen völlig sinnlos sein oder ihnen sogar schaden.

Das Trias-Modell der evidenzbasierten Praxis

Die Frage ist allerdings, wie Lehrkräfte entscheiden können, welche Fördermethode für eine / n SchülerIn passend oder unpassend ist. Um Fördermethoden individuell passend zu entwickeln, durchzuführen und zu evaluieren, halten wir das Konzept der evidenzbasierten Praxis für sinnvoll und hilfreich.

DEFINITION

Evidenzbasierte Praxis ist „die Suche nach einer verantwortlichen, transparenten Entscheidungsfindung auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnis für die dem Klienten geeignetste Maßnahme“ (Hillenbrand 2015, 313).

Es geht also darum, „auf der Basis der Erkenntnis des konkreten Einzelfalls und wissenschaftlich fundierter professioneller Expertise mit dem besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu handeln“ (Hillenbrand 2015, 313).

Eine solche gewissenhafte Suche nach einer evidenzbasierten Entscheidung über die Anwendung oder Nicht-Anwendung einer Fördermethode im Einzelfall geschieht laut dem sogenannten Trias-Modell der evidenzbasierten Praxis (Grosche 2017a) auf der Grundlage

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Abb. 1: Das Trias-Modell der evidenzbasierten Praxis (EbP) für die Sonderpädagogik (Grosche 2017a, 362)

1  der praktischen Expertise und Professionalität der Lehrkraft,

2  der Werte, Wünsche und Bedarfe eine / r SchülerIn sowie

3  der bestmöglichen externen wissenschaftlichen Evidenz einer Fördermethode aus möglichst hochwertigen empirischen Studien.

Erst wenn bei pädagogischen Entscheidungen, ob eine Fördermethode angewendet werden soll, alle drei Bausteine gleichermaßen berücksichtigt werden, kann vom Konzept evidenzbasierter Praxis (EbP) gesprochen werden (Überschneidungsbereich im Mittelpunkt, Abb. 1).

Ein Missverständnis evidenzbasierter Praxis

Ein weit verbreitetes Missverständnis über evidenzbasierte Praxis ist die Annahme, dass durch wissenschaftliche Forschungsergebnisse bestimmte Fördermethoden als evidenzbasiert „geadelt“ werden und daher bevorzugt durchzuführen wären. Somit wären bestimmte Fördermethoden generell evidenzbasiert und andere Fördermethoden generell unwirksam. Diese Annahme ist falsch und widerspricht der zuvor angeführten pädagogischen Binsenweisheit. Richtig ist hingegen, dass wissenschaftliche Studien eine exzellente Quelle zur Bewertung der externen Evidenz einer Fördermethode sind. In solchen wissenschaftlichen Studien wird bewertet, ob eine gewisse Fördermethode wirksamer als eine andere Fördermethode war. Durch solche Studien können unwirksame Fördermethoden ausgeschlossen und wirksame Fördermethoden besonders betont werden. Positiv evaluierte Fördermethoden haben dann eine hohe externe wissenschaftliche Evidenz (Blumenthal / Mahlau 2015; Grosche 2017a, 2017b). Diese Fördermethoden sind aber nicht an sich evidenzbasiert. Sie können erst dann als evidenzbasiert interpretiert werden, wenn sie zu den individuellen Bedürfnissen von SchülerInnen passen und die Lehrkraft genügend professionelle Kompetenzen zur Durchführung besitzt. Mit anderen Worten: Die beste externe wissenschaftliche Evidenz ist unnütz, wenn die Fördermethoden nichts mit den Bedürfnissen von SchülerInnen zu tun haben und / oder die Lehrkraft diese Fördermethoden unprofessionell einsetzt. Somit können ausschließlich die pädagogischen Entscheidungen zur Anwendung oder Nicht-Anwendung einer Fördermethode evidenzbasiert sein (Grosche 2017a).

Wie können Lehrkräfte die externe Evidenz einer Fördermethode bewerten, die Werte, Wünsche und Bedarfe der individuellen SchülerInnen reflektieren und ihre eigenen professionellen Kompetenzen schulen?

Die Bewertung der externen Evidenz ist ein sehr schwieriges und hochkomplexes Unterfangen. Die zugrundeliegenden wissenschaftlichen Texte sind sprachlich meist extrem verdichtet und im Falle der Evaluationsforschung mit zahlreichen statistischen Verfahren gespickt, so dass diese Texte Barrieren der praktischen Verständigung sind (Bromme et al. 2016; Stark 2017). Zudem dauert die Verständigung über die externe Evidenz einer Fördermethode lange und ist überaus aufwändig und teuer (Cook et al. 2015; Council for Exceptional Children 2014), so dass sie im stressigen Arbeitsalltag von Lehrkräften wohl kaum zu leisten sein wird. Aus diesen Gründen wird überlegt, die externe wissenschaftliche Evidenz für Lehrkräfte lesbarer aufzubereiten, wie z. B. im Clearinghouse der TU München (www.clearinghouse.edu.tum.de, 23.07.2019), im Fachportal Wissenschaft-Praxis des ZEIF Potsdam (www.uni-potsdam.de/de/inklusion/zeif/fachportal.html, 23.07.2019) oder in der „Grünen Liste Prävention“ des Landespräventionsrat Niedersachsen (www.gruene-liste-praevention.de, 23.07.2019). Ob diese Quellen Lehrkräften tatsächlich helfen, die externe Evidenz von Fördermethoden besser bewerten zu können, wird die Zukunft zeigen.

Die Werte, Wünsche und Bedarfe von SchülerInnen können Lehrkräfte viel intuitiver erfahren. Jedoch erfordert das Konzept der evidenzbasierten Praxis, dass der Erfahrungsprozess systematisch erfolgt, um Fehlinterpretationen entgegenzuwirken und die SchülerInnen selbst in die Entscheidungsfindung einzubinden. Zielführend sind im Sinne einer verstehenden Pädagogik (Schad 2015) zum einen systematische Gespräche mit den SchülerInnen, die nicht nur über Problemsituationen, sondern vor allem über ihre eigenen Wünsche für die Zukunft geführt werden. Mögliche Fördermethoden müssen gemeinsam diskutiert und ausgehandelt werden. Zielführend ist zum anderen Diagnostik zur Exploration der individuellen Bedarfe sowie der Überprüfung, ob die von der Lehrkraft vermuteten Bedarfe auch tatsächlich vorhanden sind. Ziel ist, dass SchülerInnen eine informierte Entscheidung bezüglich ihrer eigenen Förderung treffen können.

Die externe Evidenz sowie die individuellen Bedarfe zusammenfassend, entscheiden SchülerInnen und ihre professionellen Lehrkräfte über die Durchführung einer Fördermethode. Aufgrund der evidenzbasierten Auswahl vermutet die Lehrkraft, dass die Fördermethode eine hohe Wahrscheinlichkeit hat, im individuellen Einzelfall wirksam zu sein. Ob diese Vermutung stimmt, muss im Einzelfall evaluiert werden.

Evaluation der Förderung durch das Testen von Förderhypothesen

Die Entscheidung für oder gegen die Durchführung einer Fördermethode ist allerdings erst der Anfang. Folgendes Ablaufschema (Abb.2) visualisiert einen prototypischen Prozess.

Die evidenzbasierte Entscheidung, die auf der Basis der individuellen Werte, Wünsche und Bedarfe, der praktischen Expertise und Professionalität der Lehrkräfte sowie der wissenschaftlichen externen Evidenz getroffen wurde, mündet in eine Hypothese über die Passung einer Fördermethode zu eine / r SchülerIn. Wir wollen dies eine Förderhypothese nennen. Diese Förderhypothese besagt nicht, dass die Förderung auf jeden Fall wirksam sein wird. Sie behauptet nur, dass eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für die Wirksamkeit dieser Fördermaßnahme im Einzelfall existiert:

„Verfahren, die dem Anspruch der Evidenzbasierung entsprechen, erhöhen gewissermaßen die Wahrscheinlichkeit, tatsächlich eine positive Wirkung auszulösen, auch wenn sie es nicht garantieren können. Evidenzbasierung stellt damit einen probabilistischen, wahrscheinlichkeitsorientierten, aber keinen technologischen Zugang zum Problem pädagogischen Handelns, das immer ein Versuchshandeln ist, dar“ (Hillenbrand 2015, 315).

Die Förderhypothese ist also ein gutes Argument, die Fördermethode einmal auszuprobieren.

! Die Förderhypothese ist eine Vermutung über die Passung einer Fördermethode zu eine / r SchülerIn.

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Abb. 2: Ein Verlaufsmodell evidenzbasierter Praxis

Während des Förderzeitraums stellt sich nun jedoch die Frage, ob die Förderhypothese überhaupt stimmt. Passt die Förderung tatsächlich zu den Bedürfnissen des Kindes? Sobald sich Lehrkräfte Gedanken über die Wirksamkeit des eigenen Unterrichts machen, prüfen sie eine Hypothese. Das Konzept der evidenzbasierten Praxis erfordert nun, dass die Prüfung der Förderhypothese hochgradig systematisch erfolgt. Lehrkräfte müssen ihre Förderhypothese also systematisch an der Realität „testen“, was auch „Evidenzbasierung im Einzelfall“ genannt wird (Casale et al. 2015, 327).

Förderhypothesen testen

Die Testung der Förderhypothese geschieht durch geeignete diagnostische Methoden, die im Zentrum des vorliegenden Buches stehen. Diese Art der Diagnostik wird nicht vor, sondern während Förderphasen durchgeführt und ist somit der Förderung inhaltlich und zeitlich nachgeordnet (Schlee 2004). Es wird also durch diagnostische Methoden im Einzelfall geprüft, ob die zuvor ausgewählte Förderung wirklich beim Kind ankommt, das Kind sich positiv entwickelt und somit die Lern- und Entwicklungsbedürfnisse des Kindes tatsächlich getroffen wurden.

Wenn sich das Kind positiv entwickelt, ist die Förderhypothese bestätigt (im strengen wissenschaftstheoretischen Sinn konnte sie lediglich „nicht falsifiziert“ werden) und gilt die Fördermethode tatsächlich im Einzelfall als evidenzbasiert. Entwickelt sich das Kind nicht in die angestrebte Richtung, muss die Förderhypothese abgelehnt werden (sie wurde falsifiziert), und somit gilt die Fördermethode als nicht evidenzbasiert. Es muss dann entschieden werden, ob die Fördermethode besser an die Bedürfnisse des Kindes angepasst werden muss, ob die Fördermethode auf eine andere Art oder Intensität umgesetzt werden soll oder ob eine ganz andere Fördermethode ausgewählt werden muss. Somit startet der zuvor skizzierte Entscheidungsprozess von Neuem und mündet in eine modifizierte oder eine neue Förderhypothese.

Aber wie kann die Diagnostik der Evidenzbasierung im Einzelfall erfolgen? Wie soll die Lehrkraft erkennen, ob die Förderung tatsächlich die intendierte Wirkung erzielt? Der Vorschlag, den wir im vorliegenden Buch unterbreiten werden, lautet, dass Lehrkräfte über den Förderzeitraum hinweg das Verhalten eine / r SchülerIn mehrfach in kurzen Abständen diagnostizieren, um die Veränderungen des Verhaltens zu evaluieren und anhand der diagnostischen Ergebnisse auf die Passung der Fördermethode zum Individuum zu schließen. Dafür benötigen Lehrkräfte sogenannte verlaufsdiagnostische Methoden, deren grundlegende Ideen wir im Folgenden erläutern möchten.

2.3  Verlaufsdiagnostik als Evaluation der Passung der Förderung zum Individuum

Was ist Verlaufsdiagnostik?

DEFINITION

Pädagogische Diagnostik „umfasst alle diagnostischen Tätigkeiten, durch die bei einzelnen Lernenden und den in einer Gruppe Lernenden Voraussetzungen und Bedingungen planmäßiger Lehr- und Lernprozesse ermittelt, Lernprozesse analysiert und Lernergebnisse festgestellt werden, um individuelles Lernen zu optimieren“ (Ingenkamp / Lissmann 2008, 13).

Etwas knapper bezeichnet pädagogische Diagnostik alle „Erkenntnisbemühungen im Dienst aktueller pädagogischer Entscheidungen“ (Klauer 1978, zit. nach Leutner / Kröner 2018).

Je nach Art der diagnostischen Fragestellung werden unterschiedliche diagnostische Methoden benötigt. Soll beispielsweise die diagnostische Frage beantwortet werden, ob bei SchülerInnen ein sonderpädagogischer Förderbedarf in der emotional-sozialen Entwicklung vorliegt, muss das Konstrukt „sonderpädagogischer Förderbedarf in der emotional-sozialen Entwicklung“ angemessen operationalisiert werden. Hierzu zählt z. B., dass langandauernde, umfassende und schwerwiegende Verhaltensprobleme in mindestens zwei unterschiedlichen Settings, von denen eines die Schule ist, nachgewiesen werden müssen (Hennemann / Casale 2015). Diagnostische Methoden sind auszuwählen, die dieses Konstrukt angemessen operationalisieren. Hierzu gehören z. B. umfassende Checklisten für unterschiedlichste Verhaltensweisen, die die Bewertung der Symptomatik über einen länger zurückliegenden Zeitraum von meist mehreren Monaten erlauben. Eine einmalige kurze Verhaltensbeobachtung würde dem diagnostischen Ziel jedoch nicht entsprechen.

Soll jedoch die diagnostische Frage beantwortet werden, ob eine Fördermethode tatsächlich passend zu den Lern- und Entwicklungsbedürfnissen eine / r SchülerIn ist, müssten Lern- und Entwicklungsfortschritte angemessen operationalisiert werden. Hierfür wären umfassende Checklisten mit unterschiedlichsten Verhaltensweisen ungeeignet, jedoch wären häufige, aber kurze Verhaltensbeobachtungen während der Förderung das Mittel der Wahl.

Unterschiede zwischen Status- und Verlaufsdiagnostik

Dieser Unterschied ist für die in diesem Buch beschriebene Verlaufsdiagnostik überaus zentral und soll daher pointiert gegenübergestellt werden. Verlaufsdiagnostische Methoden können für unterschiedliche diagnostische Fragestellungen verwendet werden. Testkonstruktionsbedingt eignen sie sich für einige diagnostische Fragestellungen sehr gut (Beispiele, Kap. 4). Für andere diagnostische Fragestellungen ist die Verlaufsdiagnostik jedoch ungeeignet (Casale et al. 2015a; Casale et al. 2015b; Grosche 2014).

Zur Beantwortung der diagnostischen Fragestellung, ob bei einem Kind ein sonderpädagogischer Förderbedarf vorliegt, muss das breite Konstrukt „sonderpädagogischer Förderbedarf“ operationalisiert, bei diesem Kind erhoben und im Vergleich zu MitschülerInnen ohne sonderpädagogische Bedarfe bewertet werden. Die zugrundeliegenden diagnostischen Methoden müssen das Konstrukt breit abbilden und sind daher meist sehr umfangreich, so dass alleine aus pragmatischen Gründen nur seltene Messungen erfolgen können. Da zudem die Definition eines sonderpädagogischen Förderbedarfs immer davon ausgeht, dass ein Förderbedarf zumindest relativ zeitstabil ist, werden von den EntwicklerInnen solcher diagnostischer Verfahren vor allem Aufgaben und Items entwickelt, die möglichst änderungsresistent sind. Daher können über solche diagnostischen Methoden keine Förderhypothesen evaluiert werden.

Zur Beantwortung der diagnostischen Fragestellung, ob eine durchgeführte Förderung bei einem Kind ankommt, sind die soeben skizzierten Anforderungen an diagnostische Methoden weniger relevant. Hingegen soll das aktuelle Verhalten eines Kinds mit seinem vorherigen Verhalten verglichen werden, um zu prüfen, ob sich das Verhalten verbessert. Dabei werden diejenigen Verhaltensweisen ausgewählt, die aktuell für das Kind herausfordernd sind und es ist egal, ob dieses Verhalten üblicherweise bereits in der Klassen- oder Altersstufe des Kindes gezeigt werden sollte. Wichtig ist hingegen, dass die Aufgaben und Items in der Zone der nächsten Entwicklung liegen. Üblicherweise werden daher nur sehr enge Merkmale gemessen, die keinesfalls ein umfassendes Konstrukt repräsentieren, dafür aber relativ änderungssensitiv sind und Förderhypothesen auch kurzfristig prüfen können. Häufig sind diese engen Merkmale auf das Erlernen von konkreten sozialen Regeln in der Klassengemeinschaft bezogen.

Für die Verlaufsdiagnostik ist es daher weniger relevant, ob eine Kompetenz in einer Alters- oder Klassenstufe eigentlich bereits erworben worden sein sollte oder welches Konstrukt der entwickelten Diagnostik zugrunde liegt. Viel relevanter ist, dass die Verlaufsdiagnostik so ausgewählt wird, dass sie Fähigkeiten oder Verhaltensweisen in der individuellen Zone der nächsten Entwicklung misst und intraindividuelle Veränderungen über die Zeit kurzfristig nachweisen kann, um die Förderhypothese zu bestätigen oder zu falsifizieren. Die testtheoretische Konstruktion der Verlaufsdiagnostik führt jedoch dazu, dass diagnostische Aussagen über die Ausprägung von breiten Konstrukten unmöglich sind. Es stellt sich daher die Frage, wie Ergebnisse der Verlaufsdiagnostik korrekt interpretiert werden können.

Tab. 1: Unterschiede zwischen Status- und Verlaufsdiagnostik (nach Grosche 2014)