Grassauer Deichelbohrer

Literaturpreis 2019

 

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Anthologie

 

Herausgegeben von Angeline Bauer

Impressum

Copyright © 2019 by arp

Herausgeber Angeline Bauer

Ledererstraße 12, 83224 Grassau, Deutschland

Ausgabe Oktober 2019

Alle Rechte vorbehalten

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt und darf auch auszugsweise nur mit Genehmigung des Herausgebers wiedergegeben werden.

Covergestaltung by arp

 

Wenn Sie mehr über unser Verlagsprogramm erfahren möchten, besuchen Sie uns im Internet:

http://www.by-arp.de

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Inhaltsverzeichnis:

Vorwort

Schall und Rauch

Der Duft sterbender Bücher

Der Mann im Zug, das Ding und ich

Eine neue Chance

Akku leer

Zimmer 69

Glockengasse 13 oder Die Zeit mit Garib

Sommer wie Winter

Rotkappe verkehrt

Der Junge, der sich trennte

Federleichte Kampfansage

Sophie will geküsst werden

Aprikosensommer

Lilli

Morgen früh, wenn ich will, wirst du wieder geweckt

Barfuß im Pyjama

Partikel

Findelfell

Die Reise

Champignons im Glas

Nachts - Allein - Im Wald

Die Wasserstelle

Meine Zigaretten mit Mariette

Das Loch

Nachts bin ich dir nahe

Eine schwache Liebe hebt besser als eine starke

Das Zimmer

Die Notwendigkeit weitreichender Veränderungen

Heimchen (lebend, 400 Gramm)

Esther

Der Professor stirbt

Haikus

Ich fühle was, was du nicht fühlst

Die Autoren

Die Jury

Verlag by arp

 

 

Vorwort

Grassau ist eine Marktgemeinde im Chiemgau, die sich schon seit vielen Jahren im Bereich Kunst und Kultur engagiert, bisher aber vornehmlich auf dem Sektor Musik. Aus der Musikschule Grassau gingen viele Profimusiker hervor, darunter vor allem Blechbläser, die an großen deutschen Opernhäusern zu finden sind, aber auch Geiger, Popmusiker und mehr.

Auch der große, inzwischen verstorbene Dirigent Wolfgang Sawallisch lebte in Grassau. Seinen Besitz vermachte er einer Stiftung, die junge Talente im Bereich Musik fördert.

Im Jahr 2019 lobte Grassau zum ersten Mal auch einen Literaturpreis aus. Gesucht waren die besten Kurzgeschichten zum Thema Nähe. Ganz bewusst hat man sich gegen eine Altersbeschränkung der Autoren oder gegen das Festlegen eines Genres entschieden. Vorgegeben wurden einzig das Thema und die Läge der Geschichten, beschränkt auf 9000 Zeichen. Und so erhielt die Jury rund 470 Einreichungen verschiedenster Art. Krimis, Liebesgeschichten, Skurriles, sogar moderne Märchen waren darunter.

Aus diesen 470 anonymisierten Einsendungen wählte jeder Juror die acht Geschichten aus, die ihm am besten gefielen, das Thema Nähe in all seinen Schattierungen immer im Auge behaltend. Daraus ging die Longlist hervor. Aus der Longlist wurden nach einem Punktesystem die acht Geschichten ermittelt, die schließlich die Shortlist und am Ende die drei Siegergeschichten ergaben.

Die Geschichten, die es auf die Longlist geschafft haben, sind hier als Anthologie zusammengefasst. Manche stimmen nachdenklich, andere lassen einen schmunzeln oder verwundern den Leser ob ihrer Bizarrheit.

Ein Dank geht an die Autoren für die Genehmigung zum Abdruck – und Ihnen, den Lesern, wünschen der Bürgermeister und Gemeinderat von Grassau, die Jury und die Autoren viel Spaß beim Lesen.

Angeline Bauer

Schall und Rauch

Janina Rehak

 

„Schläfst du?“, fragte Daisy.

Er drehte den Kopf auf dem Kissen. Sein Atem, eben noch gleichmäßig warm in ihrem Nacken, veränderte den Rhythmus, wurde zu einer trägen Gegenfrage.

„Schon gut“, sagte Daisy. „Es ist nichts.“

Sie lauschte. Draußen war Lärm. Silvester, das Jahr 1926 wurde eingeläutet.

Daisy nahm einen Schluck aus der Flasche. Die stand immer griffbereit neben dem Bettpfosten. Ihr Inhalt machte Kopfschmerzen und sorgte dafür, dass Daisy meist bis zum Mittag liegen blieb.

Die Männer, mit denen sie zu tun hatte, nahmen sie einfach und für gewöhnlich nicht in den Arm. Danach drehten sie sich um, grunzten ein paarmal, kratzen sich am Hintern und schliefen ein. Daisy legte sich dann ans andere Ende des Bettes. Ihr Arm baumelte über den Matratzenrand. Beobachtete durch die Vorhänge die Lichter der Straße und hörte den Nachtschwärmern zu. Schrill kichernde Frauen, Gelalle, Gebrüll. Man wusste nie, ob die Kerle im fahlen Laternenlicht gleich aufeinander losgehen oder doch lieber Bruderschaft trinken würden. Ob die Frauen vor ihren Verehrern davonliefen, oder sie heimlich anfeuerten.

Ihre Liebhaber gingen und vergaßen auf dem Weg zur Tür ein paar Scheine, manchmal auch ein Tütchen mit weißem Pulver oder eine Schachtel Zigaretten.

So viel war sie wert, dachte sie, wenn sie dem Qualm zusah, der an die Zimmerdecke zog. Ein bisschen weißes Pulver und ein wenig blauen Rauch, von dem die Tapete schon lange gelb geworden war.

Er stand immer in der ersten Reihe, die vierte Geige von links. Zigaretten gab er ihr freiwillig, und das weiße Pulver brauchte er selbst. Aber was er hatte, teilte er mit ihr und bezahlte sie trotzdem.

Das verletzte die wichtigste Regel, die Daisy für ihre Männer bereithielt: Nichts für umsonst.

Er brachte alles durcheinander. Und sie konnte nichts richtig machen. Geschenke für sie waren im Protokoll nicht vorgesehen.

Und er hielt Blickkontakt, währenddessen. Und ließ sie nicht los, wenn es vorbei war. Anfangs hatte sich Daisys Körper deshalb verkrampft. Sie wehrte sich nicht, kam ihm aber auch kein Stückweit entgegen, und alles in ihr schrie nach Zigaretten, dem weißen Pulver und dem Schmerz, der zuverlässig von gepanschtem Fusel kam.

Natürlich merkte er das. Er hörte am Klang seiner Geige sogar, wenn das Wetter umschlug. Also gab er ihr Feuer und sie rauchten, so wie sie waren, aufrecht im Bett sitzend, Rücken an Rücken. Daisy trank, dann reichte sie ihm die Flasche, immer über die rechte Schulter hinweg. Er gab sie ihr über die Linke zurück. Wenn Daisy genug hatte, legte sie die Arme um seine Taille und zog ihn aufs Kissen zurück. Eng an ihn geschmiegt, schlief sie vor ihm ein. Jedes Mal.

Heute hatte sie sich zurückgehalten, hatte mit geschlossenem Mund angesetzt, ein Schluckgeräusch von sich gegeben und nur ihn trinken lassen. Jetzt lag sie da, leckte sich süßscharfe Tropfen von der Oberlippe und schnurrte zufrieden. Das musste sie ihm nicht vorspielen.

Noch zweimal flüsterte sie seinen Namen, und er antwortete ihr.

Beim dritten Versuch blieb es still.

Er schnarchte nicht. Natürlich nicht.

Daisy löste sich aus der Umarmung. Noch im Bett zündete sie sich eine neue Zigarette an, dann schwang sie die Beine unter der Decke hervor. Mit der Flasche trat sie ans Fenster und zog die Vorhänge auf. Lichter. Menschen. Gelächelter. Geschrei. Aber keine Musik. Die entstand ganz von selbst in Daisys Kopf. Ihr nackter Fuß begann zu wippen, dann ihre Hüften und schließlich bewegten sich auch die Arme mit.

Daisy wiegte sich nicht zu Geigenklängen. Sie tanzte Charleston und sie tanzte ihn großartig. Ihr Lippenstift hinterließ bunte Abdrücke auf Zigarettenpapier. Die Männer liebten ihr Lachen, den selbstgeschnittenen Bubikopf, ihre glühenden Wangen. Sie gaben ihr Champagner aus und klaubten Glitzerpailletten aus ihrem Dekolleté. Den Frechsten klopfte Daisy auf die Finger.

Er griff ihr nie ungefragt in den Ausschnitt, aber er strich ihr den Pony glatt. Dann wandte Daisy den Kopf ab. Sie war ungeschickt mit der Schere, doch solange sie durch den Saal wirbelte, merkte das keiner. Im Gegenzug drehte sie eine seiner Locken um ihren Zeigefinger und zupfte daran.

„Fuchskopf“, sagte sie. So hatten sie Jungs wie ihn in der Schule genannt. Sein Haar war dick und feuerrot, keine Pomade konnte es bändigen und es stach aus jedem Orchestergraben hervor. Wie ein vereinzelter schiefer Akkord, der eine Sinfonie erst perfekt machte.

Daisy drehte eine Pirouette. Dabei verzog sie den Mundwinkel. Sie fing bereits an, seine Sprache zu sprechen, zu denken wie er. Es war ein Versuch, sich seiner Welt anzunähern, obwohl ihr dazu sämtliche Voraussetzungen fehlten.

Er beherrschte den Charleston. Nicht so gut wie sie, aber ausreichend. Sie hatte keine Ahnung von wirklicher Musik.

Er blamierte sie niemals auf dem Parkett, und wenn doch, dann nur, weil sie beide sternhagelvoll waren. Dann lachten sie einander aus und erklären den Abend offiziell für beendet. Eng umschlungen verliefen sie sich auf dem Weg zum Ausgang, küssten sich ins Taxi und trieben es später im Flur, weil sie es nicht mehr zum Bett geschafft hatten.

Manchmal bat sie ihn, etwas für sie zu spielen. Privatkonzert, für sie allein. Sie meinte es ernst, er scherzte darüber: „Du kannst dir meine Gage nicht leisten.“

Daisy war verletzt und verletzte zurück. Sie fand einen solventen Herrn, der mir ihr ins Konzert ging. Seitdem bekam sie ihr Solokonzert wann immer sie wollte. Sie lag auf dem Bett und er spielte. Einer von ihnen war immer nackt.

„Mozart?“, fragte sie, wenn er fertig war. „Bach? Wagner?“ Damit war ihr Repertoire erschöpft, aber seines noch längst nicht.

„Sibelius“, sagte er.

„Wer?“, fragte Daisy und biss sich im nächsten Moment auf die Zunge. Er sah sie seltsam an und packte die Geige weg. Solche Szenen liefen immer gleich ab. Und immer hatte einer von ihnen hinterher keine Lust mehr.

Daisy geriet aus dem Takt, mitten in der Schrittfolge. Ascheflocken rieselten aufs Parkett. Daisy hielt die Pose noch einen Moment. Sie brachte ein verwirrtes Lächeln zustande, verbeugte sich vor einem unsichtbaren Publikum, drückte noch rasch die Zigarette auf der Fensterbank aus und schlüpfte ins Bett zurück. Die Flasche rollte über den Boden und prallte gegen den Geigenkasten.

Er blinzelte, dann sah sie ihn im Halbdunkel lächeln. „Du zitterst ja.“ Seine Stimme klang flach, heiser von Schlaf und Tabak. Er zog sie an sich und legte den Kopf in ihre Halsbeuge, genau zwischen Kinn und Schlüsselbein. Seine Hand tastete sich zu ihrer Brust hinauf. Dort blieb sie liegen. Daisys Körper reagierte, doch sie sie hielt still und schloss die Augen.

Ihre Brustwarzen blieben hart, auch als ihr schon längst wieder warm geworden war.

Unter der Decke legte Daisy ihre Hand auf seine. Sie betastete die schmalen Finger, erkundete Sehnen und Muskeln unter der Haut, die rauen Kuppen, die vom täglichen Üben knotigen Gelenke.

Sie versuchte, sich an ihr Lieblingslied zu erinnern. Es wollte ihr nicht mehr einfallen.

Daisy umschloss seine Finger mit ihren. Die Mittelhandknochen waren dünn und beweglich, sie ließen sich zusammenschieben wie Mikadostäbchen. Nur die Knöchel bildeten einen Widerstand.

Daisy grub die Nase tief in sein Fuchskopfhaar.

„Es ist nichts“, sagte sie leise, direkt über dem Ohr, mit dem er den Wetterumschwung hören konnte. „Es ist gar nichts.“

Der Duft sterbender Bücher

Heidi Lackner

 

Essig. Gemähtes Gras. Karamell.

Der Duft von Verfall.

Ich stehe in dem kleinen Nebenraum einer Bibliothek, umgeben von Büchern. Es sind wertvolle Bücher, mindestens 150 Jahre alt. Ich muss ihren Zustand durch meine feine Nase erspüren. Die Gerüche vorsichtig analysieren, bevor sie sich verflüchtigen. Eine Probe des Papiers dem Gaschromatografen anvertrauen. Dem Restaurator mitteilen, wie er das Buch zu behandeln hat. Es ist eine Arbeit, die ich gerne tue, weil sie alte Bücher vor dem Verfall rettet.

Doch heute bin ich nicht konzentriert.

Anstatt die bebilderte Bibel für die nächste Analyse aus dem Regal zu nehmen, gehe ich zum Schreibtisch zurück. Ich streife die Maske ab, die ich zum Schutz vor Schimmelsporen trage, und ziehe die Handschuhe aus. Langsam öffne ich eine Schublade und entnehme ihr einen Gedichtband. Er ist alt und abgegriffen, bedürfte dringend einer Restauration. Doch es ist mein Buch, das mit mir zusammen altert. Ich streiche über den Einband, nähere meine Nase dem Papier.

„Ein Besucher fragt nach Ihnen.“

Ich zucke zusammen, da ich die Bibliothekarin nicht habe kommen hören. Sie verirrt sich nur selten hierher. Ohnehin haben Besucher nur selten Zugang, um das empfindliche Raumklima nicht zu stören. Es ist mir ganz recht so.

„Ich hab zu tun.“

Sie lässt nicht locker. „Er meinte, es sei wichtig.“

„Wenn es so wichtig ist, wird er wohl warten können.“ Ich wende mich ab. Leise entfernen sich ihre Schritte.

Mit meinem Buch in der Hand trete ich ans Fenster. Meine Augen benötigen inzwischen ausreichend Tageslicht, um noch unangestrengt lesen zu können. Bevor ich den Blick auf die Seiten senke, betrachte ich mein Spiegelbild in der blitzsauberen Scheibe. Meinen durch jahrzehntelange Schreibtischtätigkeit gerundeten Rücken. Die blasse Haut von jemandem, der selten an die frische Luft kommt. Falten um die Mundwinkel. Zeichen des Verfalls. Wenigstens riecht man es noch nicht, denke ich in einem Anflug von schwarzem Humor, wenn ich von alten Büchern umgeben bin.

Bücher waren stets Teil meines Lebens. Grimms Märchen, aus dem mir meine Mutter vorlas und das mir die unendliche Welt der Worte erschloss. Die zerfledderte Leselernfibel der ersten Klasse, weitergereicht von meinem älteren Bruder. Dicke, abgegriffene Abenteuerromane aus der Bücherei in meinem Stadtviertel. Die Schatzinsel, erworben vom ersten eigenen Taschengeld. Goethes Werther, Hesses Steppenwolf, Stokers Dracula – Flohmarktfunde, die mein Erwachsenwerden prägten. Engere Freunde, als es Schulkameraden je waren. Bücher sprachen zu mir, verlangten aber keine Antwort. Sie akzeptierten mich, mehr als andere, mehr als ich mich selbst.

„Verzeihung, aber Ihr Besucher lässt sich nicht abweisen.“ Die Bibliothekarin steht wieder hinter mir.

„Haben Sie ihn nach seinem Namen gefragt?“

„Den wollte er nicht nennen. Er meinte, Sie würden ihn sonst vielleicht nicht sehen wollen.“

„Meinetwegen.“ grummle ich. Hauptsache, sie geht wieder und lässt mich mit meinem Buch allein.

Ich stehe unbeweglich am Fenster, hänge meinen Erinnerungen nach. An die Sinnlichkeit meiner ersten Leseerlebnisse. Die spröde Weichheit eines Ledereinbands. Die Farben eines künstlerisch gestalteten Titels. Das Knistern der Seiten beim Umblättern. Jedes Buch besitzt einen einzigartigen Geruch, der eine eigene Geschichte erzählt. So auch das Buch, das ich in den Händen halte.

Wieder werde ich in meinen Gedanken unterbrochen. Doch dieses Mal ist es nicht die Bibliothekarin. Die Luft um mich herum scheint sich verändert zu haben. Moleküle eines lange vergessen geglaubten Dufts dringen in meine Nase. Ich atme zwei-, dreimal ein und aus, um ganz sicher zu sein. Wage es nicht, mich umzudrehen, um die Illusion noch ein wenig hinauszuzögern. Die Illusion, dass er dort steht. Nach all der Zeit.

Es riecht nach Vanille. Nicht ungewöhnlich, wenn man von verfallenden Büchern umgeben ist. Es ist ein typischer Geruch, der mir verrät, wie weit der Alterungsprozess eines Buches fortgeschritten ist. Doch Vanilleduft, den die Haut eines Menschen verströmt, ist etwas völlig anderes. Der Duft im Raum ist kaum wahrnehmbar, doch er wirft mich gedanklich um Jahre zurück. Zurück zu dem Tag, als er mich in meinem Buchantiquariat aufsuchte.

„Guten Tag, wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“ Noch bevor mein Blick in seine dunklen Augen fällt, nehme ich den leichten Vanilleduft wahr, der von ihm ausgeht.

„Ich suche ein Buch.“ Seine Augen deuten ein Lächeln an.

„Ich würde sagen, da sind Sie hier richtig.“ Ich greife das Lächeln auf. „Geht's noch etwas genauer?“

„Gedichte. 18., 19. Jahrhundert. Haben Sie so etwas?“

„Lassen Sie mich nachsehen.“ Ich führe ihn zu einem Regal mit alten Gedichtbänden. Ziehe ein paar Bücher hervor, mache Vorschläge. Versuche zu erahnen, was ihm gefallen könnte. Was liest jemand, der einen Duft nach Vanille und Melancholie verströmt? Ich versuche es mit W. B. Yeats.

„Ich mag düster, aber das ist nicht das Richtige.“ Sein Blick sagt, Sie sind schon dicht dran.

„Hier.“ Ich überreiche ihm ein weiteres Buch. Edgar Allan Poe. The Raven and Other Poems.

„Sie können Gedanken lesen.“ Er lächelt mich an.

Er bezahlt die wertvolle Erstausgabe – Geld, das mir einen weiteren Monat Überleben sichert – und verabschiedet sich mit festem Händedruck.

„Ich bin übrigens Ezra Delacroix.“

„Es war mir ein Vergnügen, Mr. Delacroix.“

„Bitte. Nennen Sie mich Ezra.“

„Michael.“

So fing es an.

Ich stehe wie gelähmt, drehe mich noch immer nicht um. Es wäre zu grausam, wenn mich meine Nase trügen würde. Aber ich habe den Duft an ihm zu oft gerochen, um mich zu täuschen. Damals, als Ezra zum zweiten Mal in mein Antiquariat kam, um ein weiteres Buch zu kaufen. Am darauffolgenden Tag, als er erneut vor mir stand.

„Trinken Sie gerne Kaffee?“

Ezra lädt mich in ein kleines Café in Soho ein und schwärmt mir von dem Filterkaffee vor, der in dampfenden, dickwandigen Tassen vor uns steht. Er spricht von Reife, Ernte, Röstung, fruchtigen und verbrannten, holzigen und blumigen Aromen. Später erfahre ich, dass er Einkäufer für verschiedene Cafés in London ist. Unsere Leidenschaft für Düfte und Aromen verbindet uns.

Zum ersten Mal genieße ich die Gesellschaft eines anderen Menschen. Mehr als das. Ich lasse Ezra an mich heran. Näher als je einen anderen Menschen. So nah wie meine Bücher.

„Michael.“

Meine Nase trügt mich also nicht. Zehn Jahre Zusammenleben mit einem geliebten Menschen, im gleichen Bett schlafen, ihm nahe sein, da vergisst man den Geruch nicht. Ebenso wenig hatte ich vergessen, wie Ezra und ich uns auseinanderlebten. Mir war die Welt der Bücher genug, er brauchte Leben, Freunde, Ausgehen. Nach der Aufgabe meines schlechtlaufenden Antiquariats zog ich mich noch mehr zurück. Bis Ezra ging.

Seitdem zog ich wieder die Nähe von Büchern vor. Sie erwarteten nichts. Sie enttäuschten mich nicht. Die Arbeit in der Bibliothek, wo ich kaum Menschen begegnete, war perfekt für mich.

Jetzt steht Ezra hinter mir, nach fast 20 Jahren. Wie ein altes Buch, so riecht auch er etwas anders als früher. Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, ein Verwesungsprozess hat eingesetzt. Aber was tun wir Menschen denn anderes, als einem Zustand der Verwesung entgegenzustreben?

„Was machst du hier?“ Ich drehe mich endlich um und erschrecke. Seine dunklen Augen sind dieselben, das leise Lächeln liegt noch immer auf seinem Gesicht, aber er ist furchtbar mager. Die dunklen Locken sind von Grau durchzogen. Er wirkt müde.

„Lebewohl sagen.“ Seine Stimme ist brüchig. Er tritt einen Schritt auf mich zu, legt mir die Hände auf die Schultern.

„Ich bin krank. Ich weiß nicht, wie lange es noch gehen wird.“

Bevor ich ihm Fragen stellen kann, hat er mir seine Finger auf die Lippen gelegt.

„Nicht. Ich möchte die Zeit nicht mit Unwichtigem vergeuden.“

Er lässt mir keine Zeit zum traurig sein, fragt nur: „Lesen wir ein bisschen zusammen?“

Ein altes Ritual. Wir haben einander damals oft im Bett vorgelesen.

Ich zeige ihm das Buch, das ich in den Händen halte. Er macht ein ungläubiges Gesicht.

„Du hast es noch?“

„Du hattest es so eilig wegzukommen damals, dass du es vergessen hast.“ Ich beiße mir auf die Zunge. Keine Zeit für Sticheleien. Wortlos nehme ich ihn bei der Hand, und wir gehen zum Ledersofa hinüber. Dieses Sofa ist der einzige Luxus, den ich mir erlaube. Sein Lederbezug ist so weich wie der Einband alter Bücher. Es verströmt schon lange keinen Geruch mehr, jedenfalls keinen, der die Bücher stören würde.

Wir setzen uns. Ich ganz langsam, damit ich meine schmerzenden Knie schone; er lässt sich fallen, als hätte ihm das lange Stehen Mühe bereitet. Wir fallen von selbst in die altvertraute Haltung, er an mich gelehnt, den Kopf an meiner Schulter.

„Liest du mir vor?“ fragt er.

„Edgar Allan Poe. The Raven and Other Poems”, beginne ich. Dann schlage ich das Buch zu, stecke meine Nase in seine Haare, während sich das Salz meiner Tränen mit dem Duft von Vanille vermischt.

Der Mann im Zug, das Ding und ich

Renate Härtl

 

Mir gegenüber sitzt ein Mann im mittleren Alter.

„Mittleres Alter“, wie das schon klingt, unbestimmt, allgemein, langweilig.

Das „mittlere Alter“ sitzt mir schräg gegenüber.

Auf dem Tisch zwischen uns steht ein quadratförmiges Behältnis.

Könnte eine Reisevorrichtung für ein kleines Tier sein, eine Katze vielleicht. Ab und zu tönt ein Fiepen aus dem Luftspalt, der kreuzförmig auf dem Deckel angebracht ist.

Mein Gegenüber schaut mich versonnen an, streicht sanft über die Oberfläche und steckt dabei den Mittelfinger in die knappe Öffnung.

Streichelt er das Ding? Das Fiepen hat aufgehört. Stattdessen ertönt ein sattes tiefes Brummen. Klingt nach einem großen Tier. Kann aber nicht sein, dazu ist der Behälter zu klein. Ich konzentriere mich mangels anderer Möglichkeiten auf die spannende Zeitschrift der Bundesbahn.

Ich bin genervt. Warum sitzt der Typ mir gegenüber und schaut mich verstohlen an? Seine Augen sind halb geschlossen. Helle gerade verlaufene Wimpern wie bei einem Tier. Vorgestülpte Lippen die sich zu einen „Oh“ formen, das nicht ausgesprochen wird. Nachgiebiges Kinn, weiche weiße Haut, aschblonde Haare.

Er macht mich nervös und gleichzeitig will ich wissen was er bei sich hat. Ich fühle mich unwohl, überlege, ob ich den Platz wechseln soll oder das Abteil. Als könne er meine Gedanken lesen, beugt sich der Mann nach vorn, nimmt meine linke Hand, die verloren auf dem Tischchen liegt, und legt sie auf das Behältnis.

Ich erstarre innerlich. Dann wird mir warm. Mein Körper entspannt sich. Ich kann die Hand nicht wegziehen. Wie festgesaugt. An was?

Der Mann nimmt meine Hand, führt sie zu seinem Mund und küsst sie. Schaut mich bedeutungsvoll an. Fast vorwurfsvoll. Der Dingsbums ist jetzt still. Ist es beleidigt oder schläft es? Und was mache ich hier? Was denke ich? Müll. Der Mann beugt sich in meine Richtung, so nah wie es der Tisch zulässt. Ich klebe auf meinem Sitz fest.

Sein Kopf kommt näher, immer näher. Ich habe das Gefühl, dass er riesig ist, dieser Kopf. Er nimmt den ganzen Raum ein. Meinen Raum.

Grüne Einsprengsel in eisblauen Augen. Hübsche Murmeln.

Nur will ich nicht spielen. Ich kann seine Zähne sehen, Mäusezähnchen.

Mausezahn, Mausezahn, rette mich vor meinem Wahn.

ER spricht: Willst Du mich heiraten?

Ich bin baff und bewege verneinend den Kopf.

„Macht nichts. Ich habe Zeit. Ich warte“.

Das Fiepen geht wieder los.

Der Mann murmelt leise was Unverständliches in den Schlitz. Das Fiepen wird lauter und jetzt, nein, nicht das beruhigende Brummen ertönt, sondern schrille Schreie klingen nach Todesangst. Vielleicht ist es auch Wut?

Er wendet mir beruhigend sein Gesicht zu.

„Da ist nichts, alles ist gut. Er verträgt das lange Zugfahren nicht. Das stresst ihn.“

Der Mann kichert in den Schlitz vom Behälter und redet in einer mir unverständlichen Sprache mit dem Dingsbums das ihm im gleichen Singsang antwortet,

etwas mäkliger vielleicht im Tonfall. Tolle Kommunikation. Es kann sprechen.

Der Mann vertraulich zu mir: „Reden Sie mit ihm. Er mag das. Er ist sehr kommunikativ. Normalerweise schläft er tagsüber, aber die Zeitumstellung. Jetlag.“

Kann ich nachvollziehen. Kenne ich auch. Es ist also ein Er. Aus einer fremden Welt. Vielleicht. Und er oder es leidet unter Jetlag.

Ich, betont freundlich: „Wie heißt er denn?“

„Er hat keinen Namen.“

Ich werde ungeduldig. „Und was ist es denn jetzt. Ich meine, welches Tier“?

Der Mann lächelt überlegen „Es ist kein Tier“.

„Aha“ Mehr fällt mir nicht ein. Verrückt. Komplett verrückt. Alles. Die Situation, der Zug, der Mann, sein Dingsbums und ich. Wahrscheinlich bin ich gar nicht hier. Ich träume ...

Mein Mund wird trocken. Kein Service in Sicht. Mein Gegenüber holt eine große Wasserflasche aus seinem Rucksack, trinkt und reicht sie mir auffordernd.

Ich fasse es nicht, aber ich nehme die Flasche, setze brav an und trinke sie in einem Zug halbleer. Das Wasser hat einen süßlichen Geschmack, aber nicht unangenehm. Im Gegenteil. Ich bin wohlig entspannt, fedrig weich auf Kuschelkurs.

Immerhin habe ich einen Kurs. Der sich wohin bewegt? Nicht wichtig.

Meine Unsicherheit steigt einen kurzen Moment panisch auf, wird aber sanft zugedeckt vom wonnigen Traumgefühl. Alles ist gut. Wird gut. Und wird es immer sein. Bis zum Ende. Gibt es ein Ende? Ich lächele den Mann und das „Was-immer-es-auch-sein–mag“ an, das mich nicht sieht. Noch nicht. Oder doch?

Ich klopfe sanft auf den Koffer. Behältnis ist einfach ein doofes Wort. Klingt nach Verhältnis. „Hallo ... Du“, sage ich. „Wie geht es Dir“?

Ein Knurren ist die Antwort, womit ich nicht gerechnet habe. Empört schaue ich mein Gegenüber an.

„Psst“, sagt er. „Warten Sie. Singen Sie doch für ihn. Das liebt er.

In meinem ganzen Leben hat noch nie jemand für mich gesungen, und jetzt soll ich für dieses kleine knurrende Mistvieh ohne Namen singen? Ich schmolle.

„Na, Na, Na“, beruhigt mich der Mann. Das wird schon. Singen Sie. Singen befreit. Sie werden sehen“. Er kommt mir wieder näher. „Und fühlen, ja fühlen.“

Und, kaum zu glauben: Ich singe. Besser gesagt, ich krächze. Nix mit glockenheller Stimme.

Maikäfer, flieg.

Der Vater ist im Krieg.

Die Mutter ist in Pommerland,

Pommerland ist abgebrannt.

Maikäfer, flieg.

„Geht doch, sagt er.

Erwartungsvoll sehe ich den Mann an, warte auf die Belohnung und deute auf sein Behältnis, das zu rumpeln anfängt. Plötzlich fängt der Mann an zu kichern und zuckt hin und her. „Und jetzt“, frage ich ihn auffordernd. Ich will es sehen. Ich muss es sehen!

Das Dingsbums ist ruhig. Nichts bewegt sich. Nur das eintönige Atmen des Zuges. Gedämpfter Geräuschteppich. Wenn es denn ein Zug ist, aber was sollte es sonst sein?

Der Mann ganz ernst:

„Das Lied, ein schönes Lied, aber traurig, sehr traurig. Es scheint ihm nicht zu gefallen. Versuchen Sie es doch mit etwas Heiterem“.

Ich bin gereizt und reagiere kindisch „Singen Sie doch was.“

Er wackelt verneinend mit dem Kopf. „Meine Lieder kennt er schon. Er liebt die Abwechslung“. Die liebe ich auch, eigentlich.

Und dann, ja wirklich, ich schwöre, singt mein Dingsbums das Ave-Maria.

Ave-Maria, heut sind so viele ganz allein.

Es gibt auf der Welt so viele Tränen

Und Nächte voller Einsamkeit.

Und jeder wünscht sich einen Traum der Zärtlichkeit.

Und manchmal reichen ein paar Worte

Um nicht mehr so allein zu sein.

Aus fremden Menschen werden Freunde

Und große Sorgen werden klein.

Es kann singen.

Der Mann platzt vor Stolz, baut sich vor mir auf. „Das habe ich ihm beigebracht. Sie glauben gar nicht, wie lange wir zusammen geübt haben.“

Ich glaube es gern und nicke bestätigend.

In gestelztem Ton fährt er fort „Es ist ein Wunder, das mir passiert ist. Ein heiliges Wunder. Mir!“

Das MIR dehnt er so lange, bis es in ein Zittern übergeht, das in einen Hustenanfall endet. Kein schöner Anblick.

Parallel dazu fängt das Dingsbums wieder an zu rumpeln. Wahrscheinlich fühlt es sich vernachlässigt. Ruhe im Karton!

Gemeinschaftliches Schweigen. Das Rumpeln geht weiter. Synchron zum Rhythmus des Zuges.

„Vielleicht will es raus. An die frische Luft“, frage ich den Mann.

„Nein, Nein“, der Mann schüttelt besorgt seinen Kopf. „Das ist nicht der richtige Zeitpunkt.“

Gibt es den richtigen Zeitpunkt? Ich will mein Dingsbums sehen. Haben. Endlich.

Wenn doch nur der Zugbegleiter käme. Ob das „Ding“ einen Fahrschein hat oder braucht? Blödsinn.

Der Mann wird nervös. Fährt er womöglich schwarz?

Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Kränkelt er? Ich bin beunruhigt. Das Behältnis fängt an zu wackeln. Der Mann drückt es krampfartig fest auf den Tisch und schaut mich dabei flehend und fordernd an.

„Kümmern Sie sich um ihn, wenn ich nicht mehr bin? Versprechen Sie es?“

Ich nicke unverbindlich.

Betont heiter sage ich zu ihm: „Aber, aber, das wird... alles wird gut“

„Nichts wird gut“, schnieft er zurück. Ich klebe an meinem Sitz. Und da ist es wieder, dieses Verlangen, es zu berühren, zu schmecken.

Ein Anfall von Kannibalismus, der mich irritiert.

Mein Gegenüber atmet schwer und schwerer. Ich würde ihm gern helfen, aber ich bin machtlos. Er läuft rot an, dann violett, seine Murmeln treten aus den Höhlen.

Sein Kopf schwillt an, wird groß wie ein riesiger Luftballon und saust durch den Raum. Dann folgt ein Pfeifen, Zischen, das in einem erleichterten Ausatmen endet. Verstummt. Entleert. Das war’s wohl mit ihm. Fast tut er mir leid.

Ich bin dran. Mein Zug.

Mit ungeahnter Kraft reiße ich gierig seine verkrampften Hände von dem Behältnis, öffne es, staune und erstarre vor Demut. Dieses wundervolle, warme Gefühl ist wieder da, umhüllt mich, füllt mich aus und ab. Unglaublich. Einzigartig! Ich kann es sehen. Es existiert. Es ist perfekt. Ich bin perfekt. Jetzt und immer. Mit sanfter und zärtlicher Stimme spreche ich zu ihm. „Du bist so schön. Mit Dir will ich zugrunde gehen“.

Eine neue Chance

Melanie Sonderhaus

 

Hoffnungslosigkeit. Sie hatte mich in den letzten Wochen beherrscht. Jetzt nicht einmal mehr das.

Die ganze Zeit hatte ich an Albert gedacht, und an Willi und all die anderen. Die Erinnerung an sie verbrannte mich von innen.

Albert, der gestorben war, weil er sich für mich geopfert hatte. Und weil ich ihn nicht beschützt hatte. Warum war ich noch am Leben? Ich hatte es vergessen.

Wann würde dieser Albtraum ein Ende haben? Die Stimme in meinem Inneren, leise, aber stetig, meldete sich mit den ewig selben Worten:

„Bald ist es vorbei. Das ist das Ende.“

Ich schauderte und sah mich um. Es war totenstill, ich hörte nur meine leisen Schritte und gelegentlich das Flüstern des Grases im leichten Wind oder das Knacken eines trockenen Zweiges. Kein Vogel war zu hören, nicht einmal eine Grille.

Eigentlich war es ein wunderschöner Abend, die Sonne leuchtete golden am Horizont und tauchte den zu Ende gehenden Tag in sanftes Orange. Wäre nicht diese Stille, die sich wie ein schwarzes Tuch über mich legte, könnte man fast an einen fröhlichen Ausflug denken. So aber spürte ich die Bedrohung auf meiner Haut, atmete sie ein und ließ die Hoffnungslosigkeit mein Herz vergiften.

Eine Weile ging ich schweigend weiter, immer weiter ins Ungewisse.

Einmal holte ich das kleine, zusammengefaltete Stück Pappe aus der Hosentasche und klappte es vorsichtig auseinander. Das Foto war schon ganz verblichen und verkratzt, aber man konnte noch das Lächeln der jungen Frau erkennen, die einen blonden kleinen Jungen im Arm hielt. Er sah ein wenig missmutig in die Kamera, wahrscheinlich war er gerade aus seinem Spiel gerissen worden, um das Bild aufzunehmen. Was würde ich darum geben, die beiden noch einmal wiederzusehen. Aber diese Hoffnung hatte ich aufgegeben, tief begraben in meinem Inneren.

Dies hier war das Ende der Welt, auch wenn das leise Rauschen des Windes, der die Stille immer wieder störte, und der prächtige Sonnenuntergang etwas anderes flüsterten.

Kein Anzeichen der näherkommenden Kanonen, Bomben, Granaten. Soweit das Auge reichte keine Zerstörung, keine Todesschreie, keine Ströme von Blut.

An diesem endlos scheinenden Tag meiner Wanderung ins Nirgendwo stand ich nicht mehr auf, blieb liegen am Rand des Weges.

Wasser hatte ich keines mehr, wann ich das letzte Mal gegessen hatte, wusste ich nicht.