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èdesanyàmnak, fèrjemnek ès lànyomnak

(für meine liebe Mutter,
meinen Mann und
meine Tochter)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1 Viktoria

2 Flucht durch Österreich

3 In Tschechisch-Krumau

4 Vor Kriegsgericht

5 Der Spielzeugmacher

6 Schatten der Vergangenheit

7 Onkel Lajos’ Unfall

8 Kein Glück in Dunaharaszti

9 Rückkehr nach Györ

10 Die Macht der Partei

11 Napoleons Bäume

12 Ungezähmte Natur

13 Schwesterchen ist da

14 Spuren des Krieges

15 Das Jahr der Revolution

16 Heimat ade

17 Rettungsinsel Schweiz

18 Ein Gefühl der Freiheit

19 Unglücksflug nach Australien

20 Lagerleben in Bonegilla

21 Königin Viktoria

22 Zerstörte Hoffnungen

23 Eine Lehre in Benalla

24 In 28 Tagen übers Meer

25 Zurück in der Wahlheimat

Prolog

Meine Lebensgeschichte ist eng verflochten mit den finsteren Geschehnissen und den politischen Verstrickungen in Ungarn während und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg (1939-1956). Weil diese Epoche aus dem Blickwinkel eines Schulkindes erzählt wird, rücken weltpolitische und zeitgeschichtliche Aspekte in den Hintergrund. Für das Begreifen der Handlungen und Ängste der Menschen sind diese Aspekte jedoch unentbehrlich.

Etwas mehr als fünf Jahre vor meiner Geburt nahm die Geschichte für Ungarn einen verhängnisvollen Lauf. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges war das Land mit Österreich in einer Monarchie verbunden gewesen. Zwischen den beiden Weltkriegen verwaltete Ungarn sein Geschick selbst, doch Österreich prägte weiterhin das politische Leben meiner Heimat.

Am 13. März 1938 schloss sich Österreich dem grossen Nachbarn Deutschland an. Dadurch wuchs der deutsche Einfluss auch in Ungarn sehr stark und lenkte mein Land in eine sehr düstere Zukunft. Als am 1. September 1939 Adolf Hitler den Befehl zum Angriff auf Polen gab, entbrannte der Zweite Weltkrieg (1939-1945). Ungarn tat am 20. November 1940 den verhängnisvollen Schritt und trat dem Dreimächtepakt zwischen Deutschland-Österreich, Italien und Japan bei.

Bis Kriegsende mussten vier schwere Jahre durchlitten werden. Am 19. März 1944, als Hitlers Reich bereits schwer in Bedrängnis war, wurde Ungarn durch deutsche Truppen besetzt, um das Verbleiben Ungarns an der Seite Deutschlands und die Ausnutzung seines Wehrpotenzials sicherzustellen. Der Erfolg war begrenzt, sowjetische Truppen drangen bereits am 29. Dezember 1944 in die Vorstädte von Budapest ein. Die aufeinanderprallenden Kriegsparteien verwandelten das Land innerhalb kurzer Zeit in Schutt und Asche. Ungarn unterzeichnete am 20. Januar 1945 einen Waffenstillstand mit der UdSSR und den Westmächten.

Hitler war besiegt, man hoffte auf einen Neuanfang in Frieden. Doch Ungarn kam nicht zur Ruhe. Unterstützt von den sowjetischen Besatzungsbehörden konnte die Kommunistische Partei ihre Macht stärken. In der provisorischen Regierung sicherten sich die Kommunisten das wichtige Landwirtschaftsministerium. Am 15. März 1945 trat die Bodenreform in Kraft. Rund drei Millionen Hektar Land wurde beschlagnahmt. Als Höchstgrenze für Privatbesitz waren achtundfünfzig Hektaren erlaubt.

Bergbau, Bodenschätze, Industriebetriebe, Verkehrseinrichtungen, Geldinstitute und Hausbesitz wurden ebenfalls rücksichtslos verstaatlicht. Ausserdem verstärkte der am 18. Februar 1948 unterzeichnete Bündnispakt mit der UdSSR die Abhängigkeit Ungarns von der Sowjetunion auf wirtschaftlichem, kulturellem und militärischem Gebiet.

Weiter ging es Schlag auf Schlag, die Kommunisten und Sozialisten schlossen sich im August 1948 zur Vereinigten Ungarischen Arbeiterpartei zusammen. Im Juni 1948 wurden letztendlich auch die Schulen verstaatlicht. Und ein Konflikt zwischen Staat und Kirche entbrannte, weil Kardinal Mindszenty verhaftet wurde. Am 2. August 1950 vereinbarte ein Übereinkommen die Freiheit des Glaubens, und die Kirche musste Verfassung und Staatsordnung anerkennen. Die neue Verfassung war ein Jahr zuvor, am 20. August 1949, verabschiedet worden. Sie wandelte die Monarchie Ungarn in eine Volksdemokratie um.

Unzufriedenheit über die herrschenden Verhältnisse gärte in der Bevölkerung. Dies führte zu Studentenunruhen. Am 23. Oktober 1956 brach eine landesweite Revolution aus. Arbeiter, Bauern und Gelehrte stürzten gemeinsam die korrupten und ungerechten Machthaber. Der im Jahr zuvor von der Partei abgesetzte Imre Nagy übernahm die Regierungsgeschäfte und versprach, den Sozialismus den ungarischen Verhältnissen anzupassen. Eine Loslösung von der UdSSR war greifbar nah. Auch das ungarische Militär schloss sich den Aufständischen an.

Vielversprechend hatte es begonnen, vernichtend endete es: Am 26. Oktober 1956 marschierten sowjetische Truppen in Ungarn ein. Sie stiessen auf heftigen Widerstand. Am 1. November kündigte Nagy die Mitgliedschaft Ungarns im Warschauer Pakt und erklärte die Neutralität Ungarns. Nagy wurde drei Tage später von sowjetischen Truppen verhaftet und hingerichtet. Der hoffnungsvoll begonnene Aufstand brach endgültig zusammen, ein Heer von Flüchtlingen ergoss sich nach Westeuropa. Vor meinem Heimatland senkte sich der Eiserne Vorhang. Erst 1989 gelang es in einem friedlichen Schachzug, der verhassten Kommunistenherrschaft ein Ende zu bereiten.

1939-1945 2. Weltkrieg: Ungarn tritt dem Dreimächtepakt zwischen Deutschland-Österreich, Italien und Japan bei.
1945 Sowjetische Truppen besetzen Ungarn.
1945-49 Aufstieg der Kommunisten an die Macht und Welle der Verstaatlichung erfolgen.
1956 Ungarische Revolution: Einmarsch sowjetischer Truppen beendet Aufstand. Flüchtlingswelle ergiesst sich nach Westen.

Schicksalsschläge bescherte uns aber nicht nur die Geschichte. Auch in der Familie gab es traurige Geschehnisse, wie etwa das Leiden der krebskranken Gyöngyi, einer Schwester meines Vaters. Die behandelnden Ärzte hatten sie mittels Bestrahlung heilen wollen – einer damals neuen Krebsbehandlungsmethode. Stattdessen erlitt Gyöngyi tödliche Verbrennungen.

Väterlicherseits: Grossmutter Paula und Grossvater Ferdinand (*1862)
Onkel, Tanten & Eltern mit Ehepartner Cousins & Cousinen bzw. Schwestern
drei Tanten und vier Onkel kinderlos
Laszlo «Laci» (*1911)
verh. mit Maria «Mariska»
Valeria (*1932)
Laszlo «Lacko» (*1937)
Miklos (*1944)
Antal «Toni» (*1913)
verh. mit Roza «Rozsi» (*1920)
Viktoria «Viki» (*1945)
Gabriella «Gabi» (*1954)
Isabelle «Isa» (*1962)
Mütterlicherseits: Grossmutter Etel (*1888) und Grossvater Istvan (*1884)
Onkel, Tanten & Eltern
mit Ehepartner
Cousins & Cousinen bzw. Schwestern
Ferenc (*1906, †1915)  
Etel «Eti» (*1914)
verh. mit Lajos
Terez «Teri» (*1936)
Maria «Marika» (*1943)
Margit (*1916)
verh. mit Istvan
Margit «Margitka» (*1940)
Maria Magdolna «Magduska» (*1941)
Erzsebet «Bözsi» (*1918)
verh. mit Istvan (*1912)
Gabriella «Gabi» (*1939)
Miklos (*1941)
Valeria «Vali» (*1946)
Roza «Rozsi» (*1920)
verh. mit Antal «Toni» (*1913)
Viktoria «Viki» (*1945)
Gabriella «Gabi» (*1954)
Isabelle «Isa» (*1962)
Magdolna «Magdus» (*1925) verh. mit Pal Pal «Palko» (*1944)
Istvan «Pityu» (*1947)

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Mein Vater

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Meine Mutter

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Mein Grossvater Ferdinand
(väterlicherseits)

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Mein Grossvater Istvan
(mütterlicherseits)

Väterlicherseits hatte ich allerdings nur wenige Verwandte kennengelernt. Einige waren vor meiner Geburt gestorben, etwa Grossvater Ferdinand und Grossmutter Paula. Der für damalige Verhältnisse grosse Mann war vor seiner Heirat Husar gewesen. Husaren gehörten der leichten Reiterei in der österreichischungarischen Armee an und trugen die ungarische Nationaltracht. Als er Paula kennengelernt hatte, tauschte er Pferd und Säbel gegen eine Stelle bei der Bahn ein und gründete eine neunköpfige Familie. Mein Vater war das Nesthäkchen und hatte drei kinderlose Schwestern – Marianna, Cecilia und Gyöngyi – und fünf Brüder. Von ihnen hatte einzig Laszlo, «Laci» genannt, eigene Kinder.

Meine Grosseltern mütterlicherseits lebten noch, als ich geboren wurde. Grossmutter Etel und Grossvater Istvan waren herzensgute Menschen. Einen Grossteil meiner Kindheit wohnten wir in ihrem Haus oder in ihrer Nähe. Da meine Grosseltern fünf verheiratete Töchter hatten, brachten sie es auf zwölf Enkel und Enkelinnen, mich eingeschlossen.

Sie alle zu verlassen war eine schwere Last auf meiner kindlichen Seele gewesen. Mein Weg hat mich quer über den Planeten Erde geführt. Ich habe Teile von vier der fünf Kontinente gesehen und mich mit allen möglichen Fortbewegungsmitteln bewegt, die in der damaligen Zeit benutzt wurden.

Rückblickend tanzen vor meinem geistigen Auge eigene Erinnerungen und Geschichten, die mir Mutter erzählt hat, und ich durchlebe mein bisheriges, gefahrvolles Leben oft im Geiste.

1

Viktoria

30. Dezember 1944

Ungarn lag unter meterhohem Schnee. Eisig wie die Natur mussten sich wohl auch die kriegsmüden Seelen der Menschen angefühlt haben. Zu dieser Zeit kam der Tod von überall her. Der tägliche Kampf ums Überleben wurde an allen Fronten ausgefochten, der Krieg war nur Ursache und Hauptgeschehen. Die Nebenschauplätze waren kaum weniger grausam: Kälte, Hunger und Seelenqualen zehrten an den Menschen. Die Fratze der Angst verdunkelte viele Herzen. Der Tod schaute dauernd über die Schultern der Leute oder wartete geduldig vor der Tür. Auch in der ungarischen Ortschaft Abda.

Unsanft wurde die knarrende Holztür eines vom Krieg unversehrten Hauses aufgestossen, und herein stolperte in schweren Militärstiefeln ein deutscher Soldat. Die junge Ungarin Bözsi hatte erwartet, dass es ihr Schwager Toni war, der von der Arbeit zurückkehrte. Mit vor Schreck geweiteten Augen und offenem Mund erstarrte sie im Hauseingang zur Salzsäule. Der schwerbewaffnete Mann schwankte auf sie zu. Es herrschte immer noch Krieg, daher konnte man nichts Gutes erwarten. Bözsi biss sich auf die Unterlippe, schloss ihre Arme um ihren Körper und tat einen Schritt rückwärts. Panik stieg in ihr hoch.

Als fühlte er sich zuhause, entledigte sich der Soldat seines schweren Gepäcks und richtete dann im Befehlston Worte an Bözsi, die kein Deutsch verstand. Weil sie keine Reaktion zeigte, drohte ihr der Ungeduldige mit dem Gewehr. Die Todesangst fuhr Bözsi in alle Glieder, doch geistesgegenwärtig rief sie ihrer Mutter, sie solle sich mit Schwester Rozsi und den Kindern ins Wohnzimmer zurückziehen.

Der Soldat atmete schwer und schwankte. Bözsis Intuition sagte ihr, der Mann wolle ihr nichts tun. Er sah eher bemitleidenswert aus. Zuversicht siegte über die Angst. Zudem erschien in der Tür plötzlich Rozsis Mann, Toni. Er hatte des Soldaten Worte noch mitbekommen und erklärte mit leiser und sanfter Stimme: «Dieser Mann ist krank und will hier bleiben.» Dann fügte er, zum Soldaten gewandt, auf Deutsch und etwas lauter hinzu: «Sie dürfen nicht hier bleiben, weil die Männer dieses Hauses Zivildienst leisten. Das ist Vorschrift.»

Der kranke Deutsche starrte ihn an, doch er machte keine Anstalten, das Haus zu verlassen. So begab sich Toni schnellentschlossen zur gegenüberliegenden Kaserne und bat, man möge den Soldaten zurückholen, der in das Elternhaus seiner Frau eingedrungen war. Mit ein paar Deutschen kam Toni zurück. Die Uniformierten packten nach kurzem Wortwechsel den kranken Kollegen und schleppten ihn unsanft weg.

Als der Spuk vorbei war, ging die noch bleiche Bözsi besorgt nach ihrer schwangeren Schwester Rozsi schauen. Bözsi, ihr Mann und ihre zwei Kinder waren wegen der dauernden Bombardierungen der Stadt Györ ins Elternhaus nach Abda gezogen, wo Rozsi und Toni aus demselben Grund wohnten. Als Bözsi das Zimmer betrat, schien alles in Ordnung. Rozsi war im siebten Monat schwanger und erwartete ihr erstes Kind. Der Krieg war allerdings keine angenehme Zeit für eine Schwangerschaft. Ausserdem ängstigte sich Rozsi schnell.

Am Abend klagte Rozsi über starke Bauchschmerzen. Und in der Nacht kam niemand zur Ruhe. Die Grossmutter schritt aufgeregt im Zimmer auf und ab und fragte Rozsi dauernd nach ihrem Wohlbefinden. Toni verscheuchte ungute Gedanken, indem er Bözsis Mann und dem Grossvater ausführlichst den Ärger mit dem kranken Deutschen erzählte, während er besorgt am Bettrand seiner Frau sass. Nein, es war keine schöne Zeit, um Elternfreuden entgegenzusehen. Und doch ging das alltägliche Leben irgendwie weiter.

In diesem kleinen Haus in Abda war die Welt fast heil, und die dunklen Schatten hatten wenig Angriffspunkte. Sowohl Bözsis Mann als auch Toni hatten sich mit etwas Glück und Schlauheit aus dem Kriegsdienst heraushalten können – eine nicht ungefährliche Sache, denn nur zu leicht wurden erklärte Pazifisten des Landesverrats beschuldigt und exekutiert. Zudem hatte keine einzige Bombe das kleine Haus je beschädigt. Bözsis zwei Kinder hatten Eltern, Grosseltern, Onkel und Tante unter demselben Dach vereint. Nun sollte noch ein Cousinchen hinzukommen. Die Kinder spürten die aufkeimende Sorge um Rozsi, und Bözsi versuchte vergeblich, ihre beiden unruhigen Kleinkinder in den Schlaf zu singen. Zu allem Unglück zog ein schrecklicher Schneesturm auf. Es wurde bitterkalt.

31. Dezember 1944

Kaum waren die Schatten der schweren Nacht verscheucht, kam die nahegelegene Stadt Györ erneut unter einen schweren Bombenhagel. An diesem furchtbaren Morgen begannen die Wehen zwei Monate zu früh einzusetzen, und Rozsis Mann, Toni, musste trotz Schneetreiben und Kriegsgeschehen ins nächste Dorf rennen, um die Hebamme zu holen. Doch vergeblich, denn sie war nicht zu Hause. Sie half bei einer Arbeitskollegin von Rozsi, die zur selben Zeit einen Sohn namens Peter gebar. Toni musste ohne Hebamme nach Hause zurückkehren.

In dieser Situation gab es nur eines: Schwester Bözsi und die Grossmutter mussten, so gut es ging, Geburtshilfe leisten. Doch es war eine schwere Geburt, und die Kette des Unglücks riss nicht ab. Rozsi erlitt während der Entbindung Risswunden, die ärztlicher Behandlung bedurften. Toni beeilte sich, einen Doktor herbeizuholen. Zurück kam er mit einem Militärarzt.

Die Wunden mussten genäht werden. Doch es herrschte Mangel an Schmerzmitteln. Daher reichte der Militärarzt meiner Mutter bloss ein Taschentuch, auf das sie beissen sollte, während er ihr die Wunden nähte. Im Krieg durfte man nicht zimperlich sein.

Als auch diese Tortur überstanden war, klopfte es an der Tür, und die Hebamme trat ein. Meine Geburt hatte ohne sie stattgefunden. Als winziges Mädchen lag ich in den Armen meiner Grossmutter, die besorgt flüsterte: «Sie ist ja so klein. Nicht einmal Fingernägel und Wimpern hat das Kind!» Doch fachkundig antwortete die Hebamme nach einer kurzen Untersuchung: «Sie wirkt gesund. Ich habe schon viele Frühgeburten erlebt. Glauben Sie mir, ich mache mir um dieses Kind keine Sorgen. In Ihren erfahrenen Händen wird das Mädchen durchkommen.» Dann schaute die Hebamme nach meiner Mutter, die vollkommen erschöpft war, und sprach beruhigend auf sie ein. Doch all die gutgemeinten Worte der Hebamme konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Überlebenschancen für eine Frühgeborene unter den gegebenen Umständen gering war.

Kurze Zeit danach kam mein Grossvater nach Hause. Stolz schritt Toni, mein Vater, ihm entgegen und überbrachte ihm freudig die Nachricht meiner Geburt. «Ein Mädchen!» Grossvaters rundes Gesicht strahlte, und er lächelte unter seinem breiten Schnurrbart hervor. Dann fügte er ernst hinzu: «Ich hoffe, dass ihr sie Viktoria taufen werdet!» Seine Vorliebe für diesen Namen rührte daher: Viktoria hiess seine verstorbene Schwester, die ihm die Mutter ersetzt hatte. Er wollte eine seiner fünf Töchter ihr zu Ehren Viktoria nennen, doch jedes Mal stellten sich die Taufpatinnen quer. Auch seine fünf Enkelinnen trugen andere Namen, was ihn sehr enttäuschte. Mein Vater überlegte nur kurz und war einverstanden. Grossvater verschwendete keine Worte, sein zufriedenes Gesicht sprach Bände.

2. Januar 1945

Auch im Krieg war die Bürokratie nicht tot. Als sich mein Vater zwei Tage nach meiner Geburt zum Gemeindehaus begab, um meine Geburt zu melden, weigerte sich die anwesende Sekräterin, den 31. Dezember als Geburtsdatum einzutragen. Auf meines Vaters erstauntes Gesicht sagte sie zur Begründung: «Ihre Tochter müsste mit dem Jahrgang 1944 in die Schule. Dafür ist sie aber ein Jahr zu jung.» – «Aber wir haben sie gestern getauft. Wenn Sie das heutige Datum eintragen, haben wir die Kleine vor ihrer Geburt getauft», entgegnete mein Vater mit eiserner Logik. «Das spielt keine Rolle», erwiderte die Sekretärin mit einem angedeuteten Lächeln und stellte den Geburtsschein auf den 2. Januar 1945 aus. Mein Vater grinste und gab mit unverschleiertem Galgenhumor zurück: «Ja, das spielt vielleicht wirklich keine Rolle, denn möglicherweise überleben wir ja das irre Kriegsgetümmel gar nicht.»

Zuhause standen Bözsis Kinder, die fünfjährige Gabriella und ihr elf Monate jüngerer Bruder Miklos, neugierig an meiner Wiege, weil ich weinte. Sie waren während Monaten auf meine Geburt vorbereitet worden. Um Neid zu verhindern, hatte man ihnen eingetrichtert, wie es nach meiner Geburt zu und her gehen wird. Jetzt, da ich da war, wiederholte Gabi mit kindlichem Ernst: «Ihr habt dauernd von dem Baby geredet. Kümmert euch jetzt um sie!» Dann nahm sie ihren Bruder bei der Hand und entfernte sich unter den erstaunten Blicken der schmunzelnden Erwachsenen. Doch dies war typisch Gabi. Schon als Kind hatte sie einen starken eigenen Willen und stierte unbeirrbar durch, was sie für richtig hielt. Bezeichnend war, dass sie schon damals Ärztin werden wollte und es tatsächlich werden sollte, obendrein eine sehr gute Augenärztin und Chirurgin.

Januar und Februar 1945

Während einiger Wochen, die Bombardierungen der nahen Stadt Györ nahmen nicht ab, lief in meinem Geburtshaus trotz Angst vor den Bomben alles in geordneten Bahnen – den Verhältnissen entsprechend. Doch dann trat bei meiner Grossmutter eine vorübergehende Lähmung eines Arms auf.

Solange die rheumatisch bedingte Krankheit anhielt, mussten sich meine Mutter und meine Taufpatin Bözsi um den Haushalt kümmern. Dann lag ich jeweils im nicht gelähmten Arm meiner bettlägrigen Grossmutter. Die Hebamme hatte Recht behalten:

In Grossmutters erfahrenen Händen war ich gut aufgehoben und trotzte selbst als Frühgeborene den widrigen Umständen des Krieges und war bald aus dem Gröbsten heraus. Solange ich bei ihr war, flüsterte sie oft zärtlich meinen Namen: «Viktoria.»

2

Flucht durch Österreich

März 1945

Die Wilhelm Pick Waggon- und Maschinenfabrik in Györ, wo mein Vater, mein Taufpate und mein Grossvater arbeiteten, wurde durch schweren Beschuss amerikanischer Bomber total zerstört, weil die Alliierten wussten, dass dort auf Kriegsmaterialherstellung umgestellt worden war. Deshalb hatte diese Fabrik bereits ein Jahr zuvor, am 13. April 1944, kurz nach der Heirat meiner Eltern Toni und Rozsi, beim schlimmsten Angriff auf die Stadt Györ einen schweren Treffer abbekommen. Zu jener Zeit hatte auch meine Mutter in der Fabrik gearbeitet.

Damals hatte ein Sprengkörper ein Loch in einen der Luftschutzkeller der Fabrik geschlagen. Zum grossen Schrecken meiner Grossmutter hatte ihr damals ein Mann berichtet, Györ sei in Schutt und Asche gelegt worden, sogar die Bunker der Waggonfabrik seien gesprengt und alle Insassen getötet worden. Sie hatte zu weinen begonnen und dem Mann erklärt, ihr Gatte, eine Tochter und zwei Schwiegersöhne arbeiteten dort. Mein Grossvater aber hatte, als die Wand des Bunkers geborsten war, seine Mütze genommen, war zielstrebig aus dem Loch gestiegen und heimwärts gezogen. Erst dann schlug die zweite Bombe ein und tötete die übrigen Arbeiter.

Mein Vater jedoch ging nie in einen Bunker. Bei jedem der häufigen Sirenenalarme vollzog sich dasselbe: Er führte einen alten, gebrechlichen Juden, der ebenfalls in der Fabrik arbeitete und bei jedem Luftalarm in Panik geriet, hinunter in den Bunker, für den man ihn eingeteilt hatte. Der alte Mann war ihm so dankbar, dass er meinen Vater stets mit «mein Sohn» ansprach. Vater aber wollte nie einen Luftschutzkeller betreten. Er hatte meiner Mutter gesagt, sie sollte, wenn die Alarmsirene heulte, auf ihn warten. Sobald er bei ihr war, rannten sie aus der Fabrik. Doch der Angriff der Amerikaner war so rasch gekommen, dass meine Eltern zwischen halb zusammenstürzenden Häusern das Weite suchen mussten. Vaters Geburtsstadt Györ ging in Flammen auf. Nur mit viel Glück entkamen sie herabfallenden Steinbrocken und brennenden Holzpfählen. Als sie das Ufer der Donau erreicht hatten, waren sie immer noch nicht in Sicherheit und mussten mehrmals Deckung suchen. Im Wald von Szentivan fanden sie Zuflucht. Spät am Abend erreichten sie zu Fuss das Haus meiner Grosseltern in Abda. Mein staubverschmutzter Grossvater war bereits heimgekehrt, genauso wie mein Taufpate, der zufällig nicht in der Fabrik gewesen war. Grossmutters Trauer wich einem Glücksgefühl, das aber überschattet war von den schlimmen Nachrichten aus der Stadt, denn die übrigen Mitarbeiter im Bunker, aus dem Grossvater sich davongemacht hatte, waren tot. Die andern Bunker für die achtzehntausend Fabrikangestellten hatten standgehalten. Der alte Jude und die andern Arbeitskollegen meines Vaters hatten überlebt. Unter der Stadtbevölkerung beklagte man viele Opfer. Meine Mutter wird diesen Tag wohl nie vergessen. Mein Dasein hatte bereits vor meiner Geburt am seidenen Faden gehangen.

Das Verhalten meines unerschrockenen Grossvaters war nicht neu. Er hatte auch die Angewohnheit, bei jedem Bombeneinschlag in der Nähe des Dorfes Abda seine Mütze zu nehmen und nachzuschauen, was passiert war. Einmal schlug eine Bombe so nah ein, dass Grossvater vom Druck der Detonation ins Haus zurückgeflogen kam. Von da an unterliess er es, seine Neugier zu befriedigen. Das Dorf lachte darüber noch Jahre danach. Es steckte einiges an Galgenhumor in diesen Leuten, was ihnen wohl half, die schlimme Zeit durchzustehen.

Ein Jahr danach, mehr als zwei Monate nach meiner Geburt, wurde die alte Fabrik unwiederbringlich dem Erdboden gleichgemacht. Vaters Fabrikabteilung beschloss, nach Amerika auszuwandern. Zu dieser Zeit gab es aber keine direkte Flugverbindung, die Reise sollte lange und gefährlich, das Ziel aber nie erreicht werden. Ausserdem war ich als Säugling für eine solche Reise schlecht gewappnet. Ich war völlig hilflos, auf Muttermilch angewiesen, und mein Immunsystem war noch anfällig. Ein neues Damoklesschwert erschien über meinem winzigen Dasein. Ich hatte als Frühgeburt überlebt, nun stand schon die nächste Prüfung bevor. Der Entschluss, zu gehen, war jedoch gefasst. Meine Eltern sahen keine Alternative. Sie wollten dem Krieg entfliehen.

In meinem Geburtshaus wurde eifrig zusammengepackt, was wichtig war: Mutters Mitgift, bestehend aus Bettwäsche, selbstgefertigten Gobelin-Stickereien und ihren besten Kleidungsstücken. Auch Vaters teure Anzüge und weitere kleine Dinge aus seinem privaten Besitz wurden eingepackt.

Wir liessen mein Geburtshaus in Abda, meine beherzten Grosseltern und die Familie meiner Taufpatin Bözsi zurück und begaben uns auf den Bahnhof von Györ. Tränen gab es, Worte der Hoffnung und ausgesprochene Wünsche. Auf den Seelen meiner Eltern aber lastete das Ungewisse, als wir mit den Familien der andern Fabrikarbeiter aus seiner Abteilung fünf Eisenbahnwagen bestiegen und die zerstörte Stadt verliessen.

Das eintönige Rattern, Klappern und Schaukeln der Bahn schläferte mich ein. Doch die scheinbare Ruhe war nicht von Dauer. Kurz vor der Grenze zu Österreich ertönte beklemmmendes Dröhnen von Militärflugzeugen. Mein Vater liess das Fenster unseres Zugabteils herunter und erkannte im Hinauslehnen, dass es Kampfbomber im Tiefflug waren. In diesem Moment ging ein Ruck durch den Zug, die Bremsen wurden betätigt und in einem langgezogenen Heulen kam die Bahn zum Stillstand.

Bereits hatten die Flugzeuge das Geleise unter schweren Beschuss genommen. Sofort waren alle auf den Beinen, sprangen nacheinander reflexartig, nur vom Überlebenswunsch beseelt, aus den Wagen und tauchten in einem nahen Maisfeld unter. Die verdörrten Maisstängel, die noch von der letztjährigen Ernte übriggeblieben waren, boten den Zufluchtsuchenden wenig Schutz.

Mutter hatte mich, Windeln und Baby-Kleider, und Vater hatte sein Fahrrad, einen Schinken, einen grossen Brotlaib und einen Topf Honig gerettet. Das war alles, was von unserem Hab und Gut übrigbleiben sollte, denn kaum hatten wir das Maisfeld erreicht, geriet der Zug unter schweren Beschuss und wurde unter den Augen der Passagiere zertrümmert. Eisenteile flogen durch die Gegend, eingehüllt in Rauch und Staub. Während sich das Dröhnen der Flugzeuge entfernte, setzte sich der Staub, und der Rauch verflog.

Vater hatte erkannt, dass es deutsche Bomber gewesen waren. Den Grund für den Angriff haben wir nie erfahren. Ungarn war mit Deutschland verbündet. Vermuteten die Deutschen vielleicht Deserteure, Feinde oder Spione in der Bahn? Oder war bereits der Umstand, dass Flüchtlinge an Bord waren, ein Grund zum Angriff? Nie sollten wir eine Antwort auf unsere Fragen erhalten. Neben uns kauerte ein elegant gekleideter Ingenieur auf matschiger Erde und brach das Schweigen mit Worten, die in diesem finsteren Moment wirklich niemand erwartet hätte: «Das Leben ist trotzdem schön!»

Um nicht aufzufallen, machten wir uns in kleinen Gruppen von zehn Leuten auf, die Grenze nach Österreich zu passieren. Seit dem Bombenangriff wussten wir, dass sich der Tod an unsere Fersen geheftet hatte. Als Ungarn bereits hinter uns lag und sich die Nacht über das Land senkte, kamen wir an unser erstes Hindernis: Ein Nebenfluss der Donau versperrte uns den Weg.

Nach kurzer Ratlosigkeit trafen wir einen Fischer, der sich mit einer Selbstverständlichkeit, die man nur in schweren Notzeiten findet, bereit erklärte, uns mit seinem hölzernen Ruderboot ans andere Ufer zu bringen. Um nicht aufzufallen, nahm er jeweils nur drei Leute aufs Boot. Meine Mutter drückte mich fest an sich und stieg ins schwankende Boot. Der Fischer half ihr beim Einsteigen. Mein Vater folgte. Er war sich gewohnt, ein Boot zu besteigen, da er in seiner Jugend viel mit seinen Brüdern und Freunden fischen gegangen war.

Kaum hatten wir das Ufer verlassen, war das Dröhnen mehrerer Flugzeuge zu vernehmen. Geistesgegenwärtig packte mein Vater eine Decke und verbarg mich und meine Mutter darin. Zwei Männer in einem Boot waren weniger verdächtig. «Was ist los?», flüsterte meine Mutter besorgt unter ihrer Decke. Vater legte ihr eine Hand auf die Schulter und wies sie an: «Nur für alle Fälle. Bleib ruhig liegen, sie haben keinen Grund, auf zwei Fischer zu schiessen.» Nach kurzer Zeit beklemmenden Wartens tauchten einige russische Aufklärungsflugzeuge aus der Dunkelheit auf und begannen, mit ihren Maschinengewehren sinnlos auf das Boot zu schiessen. Das Aufschlagen der Kugeln auf die Wasseroberfläche erinnerte an das Aufplatzen von Popkorn in der heissen Pfanne.

Mutter konnte nichts sehen, und Vater blieb starr sitzen. Meinen Eltern und dem hilfreichen Fischer blieb beinahe das Herz stehen. Sie wagten kaum zu atmen und erwarteten jede Sekunde den stechenden Schmerz einer Einschusswunde oder gar einen tödlichen Treffer. Meine Mutter kniff die Augen zusammen, presste mich an sich und flüsterte ein Stossgebet. Zum Glück zielten die Russen schlecht. Sowohl wir als auch das Boot trugen keinen Kratzer davon, und wir kamen mit dem Schrecken davon. Als wir das andere Ufer erreicht hatten, halfen mein Vater und der Fischer meiner noch immer zitternden Mutter an Land. Wir warteten dann in andächtiger Stille – Ausdruck der überstandenen Todesgefahr – auf den Rest der Gruppe.

Die erste Nacht mussten wir im Wald verbringen. Mutter wusch meine Windeln im eiskalten Flusswasser. Am andern Morgen erstarrte sie vor Schreck, als sie sah, dass ich über Nacht Decke und Windeln weggestrampelt hatte und frischer Schnee auf meinem Bauch lag. Doch zum Erstaunen aller in der Gruppe hatte ich nicht einmal einen Schnupfen davongetragen.

Die nächste Nacht konnten wir in einer Scheune verbringen. In Stroh gebettet lag ich da, umringt von Mutter, Vater und den andern der Gruppe. Alle hatten beim Anblick eines so hilflosen kleinen Geschöpfes, das inmitten soviel Leid und Zerstörung friedlich schlief, feuchte Augen bekommen. Ein Mann sprach mich sogar ergriffen mit «kleiner Jesus» an. Von da an nannte er mich immer so.

Von diesem Tag an erreichten wir jeden Abend ein österreichisches Dorf. Mein Vater suchte jeweils ein Haus auf, klopfte an die Tür und fragte, ob sein Baby gebadet werden könne. Jedes Mal erhielt meine Mutter Einlass, durfte mich waschen und erhielt Babynahrung, frische Windeln, saubere Baby-Kleider. Auch meine Mutter durfte im Haus essen und schlafen, mein Vater und die andern wurden in der Scheune verpflegt und durften dort auch übernachten.

Eines Abends waren wir zu Gast bei einer kinderreichen Familie. Meine Mutter musste schmunzeln, als sie sah, dass alle Kinder nach dem Essen das eigene Besteck ableckten und ungewaschen in die Schublade zurücklegten. Eines andern Abends waren wir im Haus zweier Schwestern untergebracht. Sie hatten Freude daran, mich zu baden und zu füttern. Sie wollten mich bis Kriegsende behalten. Meine Eltern hätten mich dann später holen können. Doch so freundlich dies gemeint war, welche Eltern würden ihr Kind schon zurücklassen? Meine jedenfalls unter keinen Umständen.

Dank all der wunderbaren Menschen hatte ich überlebt, denn Mutter hatte zu wenig Milch für mich. Noch ein halbes Jahrhundert später erwähnt sie diese Episode aus unserem Leben und denkt voller Dankbarkeit an die hilfsbereiten Menschen in den Dörfern im nordöstlichen Österreich. Doch was erwartete uns noch?

Auf unserem Weg kreuzten wir öfters Militärlastwagen der Deutschen, die meiner Mutter ungefragt Konserven in die Hand drückten – mit den Worten: «Für das Baby!» Die andern Leute aus der Gruppe begannen zu murren und beschwerten sich, dass immer meine Mutter die grösste Aufmerksamkeit und die meisten Geschenke erhielt. Doch was wir hatten, teilten wir mit diesen Leuten, deren Schicksal eng mit dem unsrigen zusammenhing. So überlebten alle.

3

In Tschechisch-Krumau

Nach zweiwöchigem Fussmarsch erreichten wir das tschechische Dorf Krumau nahe der österreichischen Grenze. Uns wurde vor einer Weiterreise durch Deutschland abgeraten. Dies aber war die einzige Möglichkeit, um an einen Meerhafen zu gelangen und das Schiff nach Amerika zu nehmen. Daher blieb uns nichts anderes übrig, als bis auf weiteres in Tschechisch-Krumau zu bleiben. Hier erhielten die Männer Arbeit in einer Fabrik. Entweder waren einige Mitflüchtlinge bereits vor uns dort angekommen, oder sie trafen Tag für Tag ein, bis schliesslich fast alle Leute aus dem zerstörten Zug dort Unterkunft in Baracken und Arbeit in der Fabrik erhielten.

Mein Vater half nach der Arbeit den Bauern beim Ausmisten der Ställe und erhielt Früchte und Gemüse. Damit besserten wir unsere Mahlzeiten auf, die wir gegen Abgabe einer Lebensmittelkarte erhielten. Etwas später besassen wir eine eigene Küche, und Mutter konnte die Mahlzeiten selbst zubereiten.

Meist hatten alle genug zu essen, doch die Eltern zweier Kinder tauschten die Lebensmittelkarten gegen Zigaretten. Oft kamen diese Kinder halbverhungert zu unserer Baracke und machten meine Mutter darauf aufmerksam, dass ich meine Decke wieder mal weggestrampelt hatte. Mutter wusste, dass sie vor allem kamen, weil sie grossen Hunger hatten, und gab ihnen jeweils zwei belegte Brötchen.

Sollte hier unsere Zukunft sein, im einzigen Dorf in Osteuropa, das in seiner ganzen Geschichte nie Krieg gekannt hatte? Was sollte passieren, wenn die Russen oder die Amerikaner einmarschierten? Wir hatten den Krieg zwar momentan hinter uns gelassen, doch über Krumau schwebten die Nebel der Ungewissheit. Ausserdem war es kein Leben für eine Familie, ewig in einer Baracke zu hausen. Und Vaters Stelle in der Fabrik war nicht gesichert. Die Zukunft sah erneut sehr düster aus.

Frühling 1945

Unsere Ankunft in Krumau war allerdings das Glück eines jungen Ehepaares, dessen erstes Kind an den Folgen falscher Ernährung gestorben war. Mutter befreundete sich mit der glücklosen Frau, die bereits wieder schwanger war, und kriegte heraus, weshalb ihr erstes Kind verstorben war. «Ich habe alles nach einem Buch gemacht», erklärte ihr die Schwangere traurig, worauf meine Mutter abwinkte und vorschlug: «Kommen Sie zu mir, und ich werde Ihnen zeigen, wie man ein Baby ernährt.» Ich war natürlich das Vorzeigemodell ersten Ranges. Ich, eine Frühgeborene, hatte dank guter Pflege überlebt, dann zusätzlich eine zweiwöchige Reise von Abda nach Krumau durchgestanden. Da war weit und breit kein besserer Beweis für die Richtigkeit der Baby-Ernährungsmethode meiner Mutter.

«Die Entwicklung eines Babys verläuft schrittweise, und die Nahrung muss diesen Schritten immer angepasst werden. Aber die Länge der jeweiligen Entwicklungsschritte stimmt selten mit dem Lehrbuch überein. Ausserdem haben viele Gelehrte, die solche Bücher schreiben, keine Ahnung von den Problemen, die im Alltag auftauchen. Sie müssen lernen, hinzusehen, die Entwicklungsschritte zu erkennen und auch die Sprache des Kindes zu verstehen», meinte meine Mutter und bot an, ihr während der nächsten Wochen das Wichtigste beizubringen. Die Schwangere weinte fast vor Freude.

Mutter war gerade am Kochen, als sie miteinander sprachen. Nach einer Weile angeregter Diskussionen beugte sich die Schwangere plötzlich vor, sog entzückt den Duft ein und schwärmte davon, wie gut Mutters Essen roch. «Ich koche dasselbe Rezept, aber bei mir riecht es nie so gut. Mein Mann ist stets unzufrieden mit mir», seufzte die Schwangere missmutig. Mutter gab ihr daraufhin auch einige Ratschläge für die Küche.

Als die Frau zuhause dasselbe Essen bereitete und ihrem Gatten vor die Nase stellte, entfuhr es ihm: «Es ist köstlich! Wie hast du das geschafft?» Als er das Geheimnis erfuhr, meinte er zwischen zwei Bissen: «Kannst du nicht auch deine andern Rezepte bei Rozsi verbessern?» Das tat sie auch, und seither lächelte der jungen Familie das Glück zu. Mutter lehrte die Frau kochen, das Neugeborene kam durch, und ihr Gatte sagte seither öfters: «Der Himmel hat uns Rozsi geschickt!»

Der Himmel schickte aber auch uns Gutes: Vom Roten Kreuz erhielt meine Mutter einen kleinen Kinderwagen, der wie eine weisse Nussschale auf vier Rädern aussah. Bei schönem Wetter legte sie mich hinein und stellte den Wagen vor die Tür. Eines Tages jedoch, als Mutter nach mir schauen ging, war der Kinderwagen leer. Sie erstarrte vor Schreck. Als sie sich gefasst hatte, rannte sie von Baracke zu Baracke und fragte nach mir.

Niemand hatte mich gesehen, doch jemand gab ihr den Rat, ins Dorf zu laufen und eine kinderlose Frau aufzusuchen, die es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, Babies zu klauen. In Begleitung mehrerer Frauen ging Mutter ins Dorf zum fraglichen Haus. Und tatsächlich lag ich fest schlafend auf einem grossen Bett. Als Mutter mich zurückhaben wollte, sträubte sich die Entführerin und schrie: «Sie können noch Kinder haben, ich nicht! Lassen Sie mir das Kind!» Doch Mutter nahm mich mit, und jedesmal, wenn ich wieder aus dem Kinderwagen gestohlen wurde, rannte sie schnurstracks zur selben Frau, um mich zu holen.

Sonnige Frühlingstage luden zu Waldspaziergängen. Dem Kinderwagen jedoch fehlte an den Rädern der Gummi. Deshalb war es nur mühsam möglich, das Gefährt auf den holprigen Waldwegen vorwärts zu schieben. Mein Vater fragte in der Fabrik seinen Chef, ob er ein Stück Gummischlauch haben könne. Er verschwieg, wofür. Sein Chef brummte herablassend: «Was fällt Ihnen eigentlich ein! Man kann sich doch im Lager nicht selbst bedienen!» Mein Vater war sauer, da er wusste, dass alle vom Lager Dinge stahlen und verkauften. Er aber hatte gefragt. Zudem waren seine Absichten gut.

Die Wut im Bauch, kehrte er mit leeren Händen nach Hause. Am andern Morgen stürmte sein Chef kreidebleich in die Fabrikhalle und stotterte: «Jetzt gibt es Ärger. Die Deutschen fluchen. Jemand hat vier ihrer Lastwagen sabotiert. Die Treibstoffschläuche sind weg.» Vater wagte einen verstohlenen Blick nach draussen und bemerkte eine Gruppe Soldaten, die um vier Laster standen und ihre Mützen wütend zu Boden schmissen.

Mein Vater hoffte, der Chef würde sich nicht an seine gestrige Bitte um Gummischläuche erinnern. Die Situation entschärfte sich, als ein deutscher Offizier einen Blick unter die Lastwagen warf und schliesslich den Soldaten befahl, auf die übrigen Laster zu steigen und endlich loszufahren. So geschah es, dass ich auf Militärschläuchen über die holprigen Waldwege spazierengefahren wurde, und niemand schöpfte Verdacht.

Sommer und Herbst 1945