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Karl Plepelits

Jonas in der Unterwelt





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80331 München

1

Eine der großen Fragen der Menschheit lautet: Wo befinden sich die Seelen der Verstorbenen? In der Unterwelt, wie manche Religionen lehren? Oder im Himmel, wie das Christentum es lehrt? (Und wie es Florestan in seiner unvergesslichen ersten Arie so wunderbar beschreibt:

Ein Engel, Leonoren, der Gattin, so gleich,

Der führt mich zur Freiheit ins himmlische Reich.)

Ganz sicher scheint sich indes auch die christliche Offenbarung nicht zu sein, ob die Verstorbenen nicht etwa doch in der Unterwelt leben (falls der Ausdruck „leben“ hier erlaubt ist). Schließlich heißt es im Apostolischen Glaubensbekenntnis von Christus ausdrücklich: gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes. Bis vor kurzem betete man noch in der Lutherischen Version: abgestiegen zu der Hölle. Mit Hölle übersetzt Luther das griechische Wort Hades. So heißt die Unterwelt im bekanntlich auf Griechisch verfassten Neuen Testament. Und im Evangelium nach Matthäus (12,40) lesen wir: Der Menschensohn wird drei Tage und drei Nächte im Herzen der Erde sein (Luther übersetzt: mitten in der Erde; die Bibel in der Einheitsübersetzung schreibt: im Innern der Erde).

Ähnliches berichtet der griechische Mythos vom Sänger und Lyravirtuosen Orpheus, der bekanntlich in der frühchristlichen Kunst aus eben diesem Grund mit Vorliebe als Symbol für den von den Toten auferstandenen Christus dargestellt wird. Orpheus‘ innig geliebte junge Gattin, die Nymphe Eurydike, wurde von einem Verehrer, der ihr seine Liebe aufzwingen wollte, verfolgt – heute würde man sagen: sie wurde von einem Stalker verfolgt. In ihrer kopflosen Flucht trat sie auf eine Giftschlange, wurde gebissen und starb. In seiner Verzweiflung sang und spielte Orpheus so traurige Melodien, dass alle Nymphen zu Tränen gerührt wurden. Sie rieten ihm, in die Unterwelt hinabzusteigen und sich Eurydike von dort zurückzuholen. Das tat er, besänftigte durch seine Musik den „Torhüter“ des Hades, den dreiköpfigen Höllenhund Cerberus, und bezauberte mit ihr sogar Pluton, den Fürsten des Totenreiches. Zu Tränen gerührt, erhörte er Orpheus‘ Bitte und gab ihm Eurydike zurück, freilich unter einer Bedingung: Er müsse vorangehen und dürfe sie nicht ansprechen, ja sich nicht einmal nach ihr umwenden, ehe sie die Oberwelt erreicht hätten. Als nun deren Licht bereits in der Ferne zu sehen war, Orpheus aber Eurydikes Schritte hinter sich nicht mehr hörte, wandte er sich aus Liebe und brennender Sorge unwillkürlich doch um. Augenblicklich verwandelte sich Eurydike in einen Schemen aus Nebel und entschwand im Reich des Hades. Und diesmal blieb ihm der Weg dorthin versperrt, und seine Musik verhallte ungehört.

 

2

Südlich von Wien, zwischen Rax und Schneeberg, befindet sich ein enges, von steilen Felswänden begrenztes Tal, genannt das Höllental.

Wie, so fragt sich Jonas Chapman, der große Meister, ist das Höllental wohl zu seinem Namen gekommen? Hat es damit etwa eine besondere Bewandtnis? Und er beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen. Er nutzt einen freien Tag zwischen zwei Auftritten an der Wiener Staatsoper, begibt sich ins Höllental und wandert zu einer Höhle, die er vor Jahrzehnten, als er noch am Anfang seiner Sängerkarriere stand, bei einer Wanderung entdeckte, aber nicht weiter beachtete. Vergessen hat er sie freilich nicht. Und jedes Mal, wenn er auf den Opernbühnen der Welt den Orpheus gibt (Orpheus-Opern gibt es ja, um die Bibel zu zitieren, „wie Sand am Meer“), muss er an jene Höhle im Höllental denken und fragt sich, ob in ihr etwa ein Zugang zur Hölle zu finden ist. (Damit ist natürlich nicht der Ort gemeint, wo sich die Teufel an den ewigen Qualen der Verdammten weiden; an dieses Ammenmärchen glaubt er ja längst nicht mehr; sondern die Hölle, in die Christus hinabgestiegen ist, mit anderen Worten: der Hades, die Unterwelt, in der die Seelen der Abgeschiedenen wohnen.) Orpheus, sagt er sich, der hat es gewagt. Warum sollte ich es nicht wagen? Ist meine Liebe etwa weniger stark? Ist meine Trauer denn geringer?

In der Tat, Jonas Chapmans Trauer ist gewiss nicht geringer als die des Orpheus. Er trauert um seine über alles geliebte schöne, junge Gattin Donna, auch sie eine berühmte Sängerin, eine Ikone der Popmusik, verehrt, bewundert, angebetet von den Massen. Und gar viele Verehrer umlagerten sie, begehrten sie, bedrängten sie, natürlich stets vergeblich. Denn sie liebte Jonas mit derselben Hingabe wie er sie. Aber dann geschah es eines Nachts nach einem Konzert in Paris, dass sie auf der besinnungslosen Flucht vor einem allzu stürmischen Verehrer direkt in ein mit weit überhöhter Geschwindigkeit dahinrasendes Auto lief und ihre Seele aushauchte.

Sie hauchte ihre Seele aus und ließ Jonas in unsagbarer Trauer zurück. So sehr trauert er um sie, dass er auf die Idee verfiel, dem Beispiel des Orpheus zu folgen.