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RUTH WITTIG

ZU DRITT

ROMAN

Inhalt

ERSTER TEIL

SONLOUP

PHILIPP

VERMESSUNG DER MÖGLICHKEITEN

SPERRZONE

ZWEITER TEIL

RINGE UND BRIEFE

NACH WIEN

WENN MAN HIER LEBT, WIRD MAN STILL

DIE NAMEN DER JUNGEN MÄNNER

PRZYPOMINAM POCZĄTEK (ICH ERINNERE AN DEN ANFANG)

IM HIMMEL VON SIRMIONE

DRITTER TEIL

DIE POLNISCHE LÖSUNG

HENRYKA

VIKTORS GESPÜR

WIEDERKEHR

DANK

ÜBER DEN AUTHOR

ERSTER TEIL

SONLOUP

Die Straße wurde steiler und enger, schlängelte sich zwischen Villen und Gartenterrassen bergauf. Häuser mit Türmen, Erkern und geschichteten Balkonen thronten wie Schiffe auf den Sockeln, die dem abschüssigen Gelände abgetrotzt waren, und schauten mit spiegelnden Fenstern auf mich herab. Trotz der Schilder, die mir den Weg wiesen und sich an eine Öffentlichkeit zu wenden schienen, wirkte diese Strecke wie eine Privatstraße, une route résidentielle, leer und abweisend, ohne Fußweg, als dürfe man hier weder gehen noch fahren. An den Gittertoren in den engen Kurven, die ich im zweiten Gang lärmend durchquerte, drohten Hundeporträts im Halbprofil, die Winkel ihrer hechelnden Schnauzen verhießen nichts Gutes. Ich hoffte, dass mir kein Auto entgegenkäme, einen Postbus wagte ich mir nicht vorzustellen. Es war Mittag, kurz nach eins. Nach dem Tunnel von Glion hatte ich, statt wie immer Richtung Vevey und dann auf die A12 nach Bern und Fribourg zu fahren, die Ausfahrt Montreux genommen. Etwas war beim Anblick des grünen Wegweisers plötzlich zu großer Klarheit erwacht: Philipp. Montreux. Hier, in den steilen Hügeln oberhalb der Rivierastadt, musste das Tagungshaus sein, in dem er sich aufhielt, wo, wusste ich nicht genau. Aber ich wusste, dass ich ihn finden und dass ich ihm etwas mitteilen musste. Eine Gewissheit, die sich irgendwo zwischen Sion und Montreux, auf der Höhe von Martigny oder auf der Rhonebrücke oder im Tunnel von Glion aus dem Nebel in meinem Kopf ans Licht gearbeitet hatte. Das, was ich ihm zu sagen hatte, duldete keinen Aufschub mehr.

Ich kam aus dem Wallis, aus Leukerbad. Als Botschafterin eines Forschungsprojekts, das ich mir nicht ausgedacht, aber zu vertreten und durchzuführen hatte, fuhr ich ein- bis zweimal pro Woche von Fribourg dorthin. Zu Tests, Interviews und Fragebogenuntersuchungen mit Personen, die wegen Rückenschmerzen behandelt wurden und nicht verstanden, weshalb sie einer Psychologin gegenübersaßen. Sie schauten mich unsicher an und gaben zögernd Auskunft über Schmerzstärke, Schlaf und Befindlichkeit, ab und zu standen sie auf, um den Rücken zu strecken oder ein paar Schritte umherzugehen. Mein Büro bestand aus einem wackligen Campingtisch im Fernsehraum der Rheumaklinik. Die ausgefüllten Papiere stapelten sich zu hohen Türmen auf dem Teppichboden. Wenn ich die Tür schloss oder die Beinstellung wechselte, glitten sie auseinander wie Fließlawinen. Das Tischchen entsprach meinem Status, auch der stand auf wackligen Füßen. Als die Fußballeuropameisterschaft übertragen wurde, wurde ich von entrüsteten Patienten, die sich die Spiele anschauen wollten, fast aus dem Raum geworfen. Man fand eine Alternative im Personalhaus, ein Zimmer mit Bett, Schrank, Schreibtisch und einer kahlen Fensterfront, von der aus ich das Dach des Burgerbades sehen konnte. Meine Fragen und das ratlose Schweigen der Patienten ballten sich in dem schmucklosen Raum zu schwebenden Menetekeln. Auf dem Flur dröhnten Holzsohlenschritte, die Putzfrau rammte die Tür mit dem Bohnerapparat, und die junge Pflegerin im Nebenzimmer, die Nachtdienst gehabt hatte, erwachte um elf zu einer lautstarken Vögelei. Der kleine portugiesische Patient, der neben mir saß und sich Mühe gab, meine Fragen zu verstehen, verzog keine Miene. Er legte den Zeigefinger auf Stufe zehn der Ratingskala und nahm ihn dort nicht mehr weg, egal, was ich fragte. Maximale Einschränkung in allen Lebensbereichen. Als chronisch Schmerzgeplagter hatte er vermutlich einen anderen Deutungshorizont für das Stöhnen jenseits der Wand, wofür ich dankbar war. Die Gesellschaft von Leukerbad bestand aus zwei Extremgruppen: den sichtbar Kranken und den sichtbar Gesunden, die morgens auf lehmverkrusteten Mountainbikes vorfuhren, in letzter Sekunde abbremsten, die Mittagspause für zwei, drei Trainingseinheiten nutzten und nach Feierabend, mit Stirnlampen ausgerüstet, auf steilen Pfaden in ihre Dörfer zurückkehrten. Ich, die Stadtpflanze, noch dazu von der Uni, gehörte nirgends dazu. Dass Goethe, Mark Twain und Picasso hier gewesen waren, wie ich der Dorfchronik entnehmen konnte, schien niemanden zu interessieren.

Heute war ich schon gegen Mittag mit der Arbeit fertig gewesen. Statt den Tagesteller in der Kantine zu essen oder mich schwitzend im Fitnessraum abzumühen, war ich durch die Gassen jenseits der Hauptstraße zu den schwarzgiebligen Chalets hinaufgestiegen, deren Fassaden mit roten und weißen Geranien geschmückt waren. Die Chalets im alten Teil von Leukerbad sahen aus, als trügen sie Tracht: schwere schwarze Röcke, die grünen Schürzen der Türblätter und der üppige Blumenschmuck in den Nationalfarben, der aus dem Dekolleté der Balkonkästen quoll – eine Art folkloristisches Holz vor der Hütt’n. Auf Tafeln stand das Mittagsangebot: Kässchnitte, Suppe, Apfelröschti. Ich war weitergegangen. An den Terrassen der Kurhotels vorbei, zum Parkplatz, war ins Auto gestiegen und die vierzehn Kilometer nach Leuk in einem Höllentempo hinuntergefahren, wie es mir manchmal gefiel, mir, die ich sonst eine gemäßigte Fahrerin bin. Die Straße nach Leuk fuhr ich immer à la valaisanne. Aus purer Erleichterung, hier wegzukommen. Nur den Sicherheitsgurt legte ich an, was eine echte Walliserin nicht tun würde. Nirgends war die Anschnallquote so niedrig wie hier. Die Gurtpflicht galt als Willkür des Zentralstaates.

Im ersten rondpoint nach der Ausfahrt Montreux kreiste der Mittagsverkehr. Ein Hinweisschild mit mehreren Ortsnamen. Les Avants stand ganz unten, das war es, das musste es sein. Philipp hatte es gesagt, ich hatte es gehört, mir aber anders vorgestellt: Les savants hatte ich verstanden, die Wissenden. Ich fuhr in den Kreisel hinein und rechts wieder hinaus. Sonloup hieß das Hotel, es fiel mir wieder ein. In den engen Kurven glitt der Wagen wie ein Weberschiffchen hin und her und spulte Meter um Meter asphaltgrauen Bandes ab, im Rückspiegel sah ich die Bahnen hinter mir zurückweichen. Je weiter ich mich von Montreux entfernte, desto einfacher wurde die Bauweise der Siedlungen, lang gestreckte Straßendörfer mit staubigen Fassaden, Restaurants und Busstationen, in denen Fahrpläne und Wanderkarten hinter blinden Glasscheiben verwitterten. Ich stellte mir vor, wie Philipp in einer Lounge im Clubsessel hing, seine ewige Zigarette zwischen den Fingern – unangezündet, denn er versuchte, sich das Rauchen abzugewöhnen –, und das tat, was er für sein Leben gern tat: diskutieren, Ideen entwickeln und ein internationales Publikum mit seinem in charmantes Englisch verpackten Scharfsinn verblüffen. Eine Konferenz oder Forschungsretraite: So viel hatte ich aus seinen Äußerungen herausfiltern können. Philipp hatte die Eigenart, die Dinge, die er tat oder vorhatte, nur anzudeuten, als wisse jeder, womit er beschäftigt war, und er vertrug es nicht, wenn ich nachfragte. »Habe ich dir doch erzählt«, sagte er unwirsch, worauf ich verstummte. Wahrscheinlich ging es um Gesundheit und Stress. Manchmal dachte ich, dass wir, als wir noch studierten, Philipp und ich, von glanzvolleren Themen geträumt hatten als von Stress und Rückenweh, Geißeln der Zivilisation, bei denen wir gelandet waren und die uns den Lebensunterhalt sicherten. Nach dem Examen war ich in die Romandie gezogen, weil mich in Köln nicht viel hielt. Eine Stadt wie jede andere, sie war mir bei der Lotterie der Studienplatzvergabe zugefallen. Vielleicht war auch Trotz im Spiel oder Stolz. Zwischen Philipp und mich war etwas Fremdes getreten, wir waren kein Paar mehr, zumindest keins im üblichen Sinn, ich war frei. Doch er fehlte mir. Er kam mich in Fribourg besuchen, fand in kürzester Zeit heraus, wer hier etwas zu sagen hatte, saß als Gast in dreisprachigen Denkateliers, kam wieder und blieb. Wir liebten uns auf geschwisterliche Weise, wohnten in Rufweite voneinander in unrenovierten Altstadthäusern, die wir von unseren Assistentenlöhnen bezahlen konnten, und sahen uns fast jeden Tag. Wir hockten Knie an Knie in Theatern, die kleiner waren als unsere Wohnzimmer, oder in barocken Kinosälen, in denen französische Filme im Original gezeigt wurden, und freuten uns, wenn wir die Untertitel nicht mehr lesen mussten, um den Fortgang der Handlung zu verstehen. Im Juli gingen wir ins Bollwerk, eine mittelalterliche Befestigungsanlage, in der ein Kulturfestival lief. Wir lehnten Abende lang an der Brüstung des alten Wehrgangs und sahen Dinge, die wir noch nie gesehen hatten. Die ganze Welt schien in Reichweite und in zwei Juliwochen gepresst: das weiße Gesicht eines Butoh-Tänzers, ein schreiender finnischer Männerchor, das Endzeitszenario einer Performance, in der ein nackter Mann vor einem ausgebrannten Taxi eine Stunde lang die Hände rang, während ein Martinshorn gellte – »Irländer, was sonst«, stellte Philipp fest, als würde das irgendwas erklären – und, in einer der letzten Nächte, Zigeunermusik aus Rajasthan, zu der sich eine Discokugel drehte, die den Himmel, das morsche Gebälk und unsere Gesichter mit tanzenden Lichtpunkten sprenkelte. Die Hitzewelle im August, die alle Empfindungen lähmte, verschliefen wir auf einer Badematte am Murtensee. Ich glaube, wir waren glücklich. Von Zeit zu Zeit verfielen wir in manische Arbeitsschübe, schrieben Forschungsgesuche und Artikel, hielten Seminare ab und fuhren durch die halbe Schweiz, um Versuchspersonen zu rekrutieren und bei irgendwelchen Klinikdirektoren einen guten Eindruck zu machen, was wir ziemlich gut beherrschten. Ich nahm das alles nicht so ernst, aber – und das war angenehm – ich fühlte mich dem gewachsen. Fühlte mich den Aufgaben gewachsen, die das Arbeitsleben mir stellte, und ging sie an, wie ich alles anging: gewissenhaft und gründlich, um sie danach sofort zu vergessen. Philipp war die Familie, die ich nicht hatte, war Vater, Mutter, Schwester und Bruder, er war mein Freund und Alter Ego, und manchmal war er mein Kind. Das Gefühl der Entwurzelung, das ich ihm unterstellte und bei mir selbst nicht fühlen wollte, stiftete eine Zusammengehörigkeit wie durch Blutsbande, wobei die Bande in unserem Fall etwas mit dem Septemberduft der Rheinauen, dem Geruch des Vorortzuges auf der Eifelstrecke zwischen Köln und Trier und den beschlagenen Glaswaben einer Kneipe in der Kölner Südstadt zu tun hatten. Mit Heimat, was wir beide niemals zugegeben hätten, denn wir waren, zumindest dem Anspruch nach, Weltbürger, n’est-ce pas?

Ich kannte ihn seit dem dritten Studiensemester. Nach dem Diagnostikseminar mit Selbsttestung wurde er Doktor Phil genannt, angeblich hatte er einen Intelligenzquotienten jenseits aller Normwerte und war mit unserem Lernprogramm total unterfordert, ein Genie im Körper eines durchtrainierten Serienhelden. Im Sommer trug er Achselshirts zu seinen engen Jeans. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sie als Unterhemden zu bezeichnen, obwohl sie genau so aussahen. Im Winter trug er einen schweren Ledermantel, der bis zu den Knöcheln reichte, secondhand, aber gut erhalten, eine Art Behausung, er könne notfalls darin schlafen, sagte er. Aus diesem Mantel zog er einen grünsilbernen Druckbleistift der Marke Faber Castell und bat um ein Blatt Papier, das er unbeschrieben zurückließ, wenn er, unter dem Gewicht des Mantels leicht gebeugt, aus dem Hörsaal schritt. Als ich begann, ihm nachzuspüren, schaute ich nach einem solchen leeren Blatt auf den Tischen unter dem Neonlicht, Zeugnis seines flüchtigen Transits, mein Herzschlag beschleunigte sich: Er war da gewesen. Irgendwann erspähte ich ihn im Flur vor dem Kaffeeautomaten, Teil eines Trios, das in größter Lockerheit umeinander kreiste, gestikulierte, lachte: Doktor Phil in seinem Mantel, eine schwarzhaarige, magere Frau und ein hünenhafter Mensch mit Mütze. Sie strahlten eine entspannte Verbundenheit aus, die mich anzog. Der Ernst, mit dem die Paare unter den Studierenden ihr Bündnis zelebrierten, war mir dagegen suspekt. Paarbildung hatte schon immer etwas Verdächtiges gehabt. Meine Mutter, die ich niemals anders als mit ihrem Vornamen angeredet hatte – ich sagte Dita wie andere Kinder Mama sagen –, hatte keinen Mann, zumindest keinen eigenen oder einzigen. Sie hatte wechselnde Männer, in rascher Folge auf- und abtretende Nebenfiguren, die eine Zeit lang bei uns wohnten oder auch nicht. Mit Männern im Transit kannte ich mich aus.

Das Auto, mit dem ich mich oberhalb von Montreux in die Kurven legte, gehörte nicht mir. Es war ein silbergraues Alfa Romeo Spider Cabriolet, es gehörte Radwan und entsprach ziemlich genau dem, was er sich unter einem idealen Auto vorstellte. Seine Mutter und eine griechische Großtante hatten ihre Ersparnisse zusammengelegt, um es zu finanzieren, nachdem er den weißen Jaguar, den er fuhr, als ich ihn kennenlernte, in der lang gezogenen Rechtskurve vor der Abzweigung Genf-Lausanne über die Leitplanke hinaus- und in die Luft hineingesteuert hatte. Nach mehreren Überschlägen war er auf dem begrasten Hang wieder auf die Füße beziehungsweise auf die Räder gekommen, die alle noch dran waren. Dieser Unfall wirkte wie ein Zündfunke in dem knisternden Spannungsfeld, das sich seit Wochen zwischen uns aufgebaut hatte. Unter dem Eindruck der Erfahrung, dass alles jederzeit vorbei sein konnte, fielen Zweifel und Skrupel in sich zusammen. Er habe dem Tod ins Auge geblickt, sagte Radwan in einer der kurzen Pausen zwischen unseren Umarmungen, und als der sich wieder abgewendet und er zitternd vor Dankbarkeit registriert habe, dass er noch lebe und unversehrt geblieben sei, sei ihm mein Gesicht erschienen. Es gab kein Halten mehr.

Radwan hatte eine Frau. Keine Ehefrau, aber doch etwas Ernstes oder Verbindliches, denn sie hatten ein Kind, einen kleinen Sohn. Ein paar Wochen zuvor hatte ich beobachtet, wie er auf dem Parkplatz gegenüber meinem Küchenfenster aus dem Jaguar stieg und das Kind, das hinten in einem Sitz festgeschnallt war, mit großer Zartheit heraushob. Es legte die Ärmchen um seinen Hals, und sie verschwanden aus meinem Blickfeld. Später, auf dem Weg zum Einkaufen, sah ich ihn in der Sonne an einem Bistrotisch sitzen. Das Kind lag unter dem Tisch und spielte selbstvergessen mit den Schuhbändern seines Vaters, ich glaube, es versuchte, sie aufzuknüpfen, was nicht gelang, weil es ein kleines Kind war, und Radwan, oberhalb der Tischplatte, hatte ein Bier vor sich stehen und rauchte eine Zigarette. Seine Haut hatte die Farbe von hellen Oliven. Was mit seinem Schuh geschah, schien ihn nicht zu kümmern. Vielleicht genügten die schwachen Impulse der Kinderfinger, um ihm mitzuteilen, dass da unten alles in Ordnung war. Er trug ein weißes Hemd und sah wie die Inkarnation des entspannten Müßiggängers aus, von irgendeinem südöstlichen Diwan an einen Westschweizer Bistrotisch versetzt, passive Wachheit in den Augen und, so schien es mir, jederzeit zu allem bereit. Das Kind, das sich an sein Hosenbein klammerte, war ein vertrauenerweckender Kontrapunkt. Wir schauten uns an, ich verhielt sekundenlang den Schritt, ging langsam an ihm vorbei und wusste, dass sein Blick mir folgte. Ein paar Wochen später sahen wir uns in der Mensa, es stellte sich heraus, dass Philipp ihn kannte und schon öfter mit ihm herumgezogen war, sie saßen in den alten Kneipen, Tirlibaum oder Belvédère, sie tranken canettes und spielten cadavre exquis. Innerhalb weniger Wochen waren wir unzertrennlich. Philipp und Radwan, Philipp und ich, wir behielten unsere freundschaftlichen Gewohnheiten bei, und daneben entstand ein neues Gleis, von dem ich noch nicht wusste, wo es hinführen würde. Philipp schien das Knistern zwischen Radwan und mir nicht wahrzunehmen, und falls doch, ließ er sich nicht viel anmerken. Ich erinnere mich vage an Blicke voll ironischen Wohlwollens. Wahrscheinlich gefiel ihm, was sich da anbahnte.

Manchmal sah ich sie zusammen die Straße hinuntergehen, Philipp und Radwan, sie redeten und lachten, manchmal hing das Kind an ihren Händen und wurde von ihnen mit Schwung durch die Luft gehoben, es zog die Beine an, »encore, encore«, schrie es mit seiner kleinen heiseren Stimme, es konnte nicht genug bekommen, was ich gut verstand, denn auch ich konnte nicht genug bekommen von der heiteren Aufmerksamkeit, in die Radwan mich einhüllte wie in ein sommerliches Tuch. Beide Männer hatten eine Art, sich zu bewegen, die Unternehmungslust verriet, wie ein Antrieb auf kommende Abenteuer zu, wobei Radwans Gang etwas Geschmeidiges, Beiläufiges hatte und Philipps Art etwas Zielstrebiges, etwas Deutsches vielleicht. Ich sah zu, wie sie sich entfernten, und freute mich darauf, Radwans Geschmeidigkeit wiederzufinden, wenn er nachts zu mir zurückkam und die fedrigen Berührungen, mit denen er meine Haut weckte, in sichere Griffe übergingen, die richtige Spur und den richtigen Druck fanden und etwas Strömendes, Ziehendes in mir auslösten, dem ich mich vollkommen überließ. Später, im Schlaf, lag er ganz still und lächelte. Il s’amuse, dachte ich. Um Philipp machte ich mir ein bisschen Sorgen: dass ihm etwas zustoßen oder misslingen könnte oder dass ich ihn ungewollt kränken und er mir deshalb entgleiten könnte. Trotz seiner Unternehmungslust, seiner Späße und seiner Brillanz kam Philipp mir verletzbar vor. Zu jener Zeit war er von einer armenischen Jazzkomponistin besessen, er hatte sie in irgendeinem Keller Saxophon spielen hören, ein paar Sätze mit ihr gewechselt und sich davon überzeugen können, dass sie füreinander geschaffen waren. Er verbrachte lange Abende damit, uns von seiner Leidenschaft zu erzählen und hatte bereits alles über den armenischen Völkermord gelesen. Es schien, als richte er alle Zukunftshoffnungen auf diese Beziehung, die nicht viel mehr als ein Hirngespinst war. Ich durfte ihn nicht allein lassen.

Was würde er sagen, wenn ich am zweiten Seminartag aus heiterem Himmel auftauchte? Anrufen und mich ankündigen hätte ich sowieso nicht können, denn Philipp hatte kein Handy. Er gefiel sich in der Rolle des Fortschrittsverweigerers, zumindest auf technischem Gebiet, doch selbst, wenn er eins gehabt hätte, hätte ich nicht davon Gebrauch gemacht. Um ihm zu sagen, dass ich Radwan heiraten würde, musste ich ihm unplugged gegenübertreten. Ich hatte Les Avants erreicht, irgendwann war Sonloup angezeigt gewesen, ein lang gezogenes, ansteigendes Straßendorf, und am äußersten Ende, auf der linken Seite, ein Parkplatz und der Hinweis auf das Hotel. Es war ein verschachteltes Schlösschen mit eckigen Türmen und breiter Veranda. Ich stellte den Motor ab und stieg aus. Leises Knirschen begleitete mich den gepflasterten Weg zum Haus hinauf. Ich wandte den Kopf und sah das Blechschild mit dem Hinweis auf die Drahtseilbahn. Auf weißem Grund zog sich ein blauer Waggon an einer Art Reißverschluss hoch, man konnte die Anstrengung förmlich sehen, mit der das Gefährt die Steigung bezwang. Darüber spreizte sich der Fächer eines Aussichtspunktsymbols. Chemin des narcisses stand auf der Tafel daneben. Auf dem Vorplatz vor der Treppe zum Hauseingang reckte sich die hölzerne Skulptur eines Hundes oder Fuchses zu den Tannen hinauf. Sein Schwanz und die Hinterbeine schraubten sich aus dem Baumstamm, der als Sockel diente, offenbar war das Tier aus einem einzigen Stück herausgeschnitzt worden. Der Himmel hinter den wiegenden Ästen war blau. Gegenüber sah ich grüne Hänge, Mischwald und die Haifischflosse eines Bergrückens. Am Ende der Talsohle glänzte der See. Ich stemmte mich gegen den schweren Türflügel mit den gläsernen Scheiben, der überraschend schnell nachgab, und trat in die Eingangshalle. Einen Fuß nach dem anderen setzte ich auf die blassen Ornamente der Bodenfliesen. Blau, Braun, Ocker und vergilbtes Elfenbein. Schön und ein bisschen heruntergekommen. Feine Sprünge in der Glasur, in den Fugen schwärzliche Krusten.

Auf ähnlich gemusterten, aber schwarz-weißen Fliesen, mit denen meine Küche ausgelegt war, hatte Radwan gestanden, als er den Satz sagte, der mein Leben verändern sollte. Ich kenne das Problem mit den Fugen in diesen jahrhundertealten Wohnungen. Angeblich soll man es mit Backpulver und einer Zahnbürste versuchen, aber das scheint mir zu aufwändig, und der Perlmuttglanz ist auch mit schmutzigen Fugen schön. Radwan, es war ein Märztag, ein Sonntag, stand barfuß auf den Fliesen, seine Zehen waren entenhaft gespreizt. Ich liebte seine Füße. Er hatte die Wochenendbeilage von Le Matin unter dem Arm und eine Kaffeetasse in der Hand, und so beiläufig, wie er vieles tat, sagte er mit seiner schmeichelnden, wie mit Samtkissen gepolsterten Stimme, mit der er meinen Namen auf eine Weise aussprach, wie es noch nie jemand getan hatte, sagte er, während ich die Espressokanne vom blauen Krönchen der Gasflamme hob, in das Schmurgelgeräusch des Kaffees hinein: »Wir könnten doch heiraten, was meinst du? Wir heiraten dieses Jahr, du kriegst einen B-Ausweis und kannst dich überall bewerben. Die Kontingente können dir gestohlen bleiben.«

Ich schaute auf seine Füße, auf meine Füße, die in dicken Socken steckten, auf die Kanne in meiner Hand, die aussah, als sei sie aus Silberpapier gefaltet und aus der es nun zischte, meine Finger spürten die Hitze des schwarzen Griffs. Ich hob meinen Blick zu seinem Gesicht, das mir zugewandt war, und seine Augen, bernsteinfarben, orientalische Sirupaugen, wie ich sie heimlich nannte, wenn ihre Süße mir zu viel war, forschten belustigt in meinem Blick, tasteten über Stirn und Wangen, die jetzt glühten, obwohl der Märzwind an die Fensterscheibe drückte und einen Schwall kalter Luft in die Küche presste. Neunzig Prozent der Weltbevölkerung haben braune Augen. Ich setzte die Kanne ab. Ich sagte: »Oui. Pourquoi pas?«

Nach dieser Sensation, die wir nicht als solche wahrnahmen, nicht als solche behandelten, sondern erst einmal so stehen ließen, ging der Sonntag weiter, als sei nichts geschehen, und so kam es, dass sie erst in der folgenden Nacht als völlig verrückte Sache in mein Bewusstsein drang und mir ein inneres Flackern von mehreren Stunden bescherte, an aus, an aus, eine Art Kurzschluss, der mich im Bett herumstieß, während Radwan schlafend und lächelnd neben mir lag. Heiraten? Ich doch nicht, und vor allem nicht so, aber warum eigentlich nicht so und wie denn sonst? Und meine Mutter fiel mir ein, die würde ihre Kohleaugen auf mich richten und sagen: »Reg dich ab. Es ist ja eh nicht für immer.« Ich hatte selten Kontakt mit ihr, eigentlich hatte ich keinen. Dita war Fernsehjournalistin und ständig unterwegs, aber daran lag es nicht. Es lag daran, dass wir uns nichts zu sagen hatten. Auch in den folgenden Tagen blieb Radwan bei seinem Angebot, er war auf sanfte Weise entschieden und unerschütterlich. Es klang wie eine Einladung zu einem Fest, an dem ich unbedingt teilnehmen sollte. »Mais oui, pourquoi pas, tout ira bien, tu verras, il n’y a pas de problème, ne t’inquiète pas.« Das war die Botschaft, der ich schließlich erlag. Mich nicht zu beunruhigen, hatte eine enorme Anziehungskraft. Dieser Mann und diese Entscheidung würden mich vielleicht von der Unruhe befreien, die ich mit mir herumtrug wie einen zitternden Vogel. Ich suchte meine Papiere zusammen, wir überlegten uns, wann, und wer dabei sein sollte, und waren uns einig, dass wir fast niemanden einladen würden, es betraf ja nur uns beide beziehungsweise unsere Zukunft, als sei die ganze Heiraterei nur ein unbedeutender Schritt, eine Maßnahme, damit alles so weitergehen könne wie bisher und die Fremdenpolizei mit ihren Bestimmungen mir künftig gestohlen bleiben konnte. Eine Korrektur, Retusche oder Sicherheitsklammer, mit der man etwas zusammenheftet und dann vergisst und zu der Sorglosigkeit d’au jour le jour zurückkehrt. Ein Schweizer Bürger griechisch-ägyptischer Abstammung würde mich ein für alle Mal in diesem Land legitimieren.

Der Empfangstresen vor dem wuchtigen Schlüsselbrett war nicht besetzt. Es roch nach Kaffee und nach gekochtem Fleisch mit Sauce. Links ging es in den Speisesaal, aus dem Stimmen drangen, Stühlerücken, Gelächter, die Stimmen sprachen englisch, »peace trail«, sagte jemand, und dann noch etwas, von dem ich nur Fetzen auffing, die ich keiner mir bekannten Sprache zuordnen konnte. Die Stimmen, die englisch sprachen, kamen näher, ein bärtiger Mann trat durch den Türrahmen. Ich sagte »hello« und hörte, wie zaghaft es klang. Er schaute kurz auf und durch mich hindurch. Auf der Treppe zum Untergeschoss waren Schritte zu hören. Der Mann, der jetzt auf mich und den Tresen zukam, schaute mich an. »Could you please call Mister Diehl«, sagte ich. Mein Mund verzog sich zu einer Verspannung, die ich als Lächeln in Auftrag gegeben hatte, und mein Herz pochte wie verrückt. »Pouvez-vous m’annoncer à Monsieur Diehl, s’il-vous-plaît?«, korrigierte ich mich, schließlich waren wir hier im Waadtland. Bevor der Mann mir antworten konnte, hörte ich wieder Schritte, diesmal kamen sie von oben, und dann sah ich Schuhe auf der Treppe, die ich kannte, und einen tanzenden Schritt, den ich kannte, es war Philipp, er sprang die Stufen hinab, wie er immer und überall die Stufen hinabsprang, voller Tatendrang, und seine Augen sahen mich an, und seine Stimme sagte: »Martina.« Er fragte nicht, was mich hergeführt habe, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, dass ich hier auftauchte. Wir umarmten uns. Das Telefon an der Rezeption schrillte, ein Mal und noch ein Mal. Der Mann hob ab. Ich stand an Philipp gelehnt an der Rezeption in Sonloup und war aus irgendeinem Grund unendlich erleichtert, dass er da war.

»Du hättest mich beinahe verpasst«, nuschelte Philipp in mein Haar hinein. »Um zwei machen wir einen Ausflug. Wir sind nur zwölf, great people. Hast du den Weiser gesehen?«

Weiser? Ich löste mich von ihm und trat einen Schritt zurück.

»Sprecht ihr englisch?«

»Ja, wegen der Israelis. Aus Tel Aviv. Arie Weiser und Daniel Haberfeld und eine Frau.«

Philipp nannte die Namen in beiläufigem Ton, als spräche er von gemeinsamen Bekannten, mit denen wir gestern noch am Esstisch gesessen hatten. Er machte einen Schritt in Richtung Speisesaal.

»Sie sind vielleicht noch drin.«

Ich hielt ihn zurück, ich wollte jetzt niemandem vorgestellt werden.

»Die Frau heißt Lustig, mit ck, Ada Lustick, und sie ist auch so, sie ist unglaublich. Wusstest du, dass Israel und Palästina zusammen kleiner sind als die Schweiz?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Heat stress«, sagte Philipp und wedelte mit den Armen, als müsse er sich Luft verschaffen. In der Negevwüste. Das ist ihr Forschungsgebiet. Davon können wir hier nur träumen.«

Seine blauen Augen hatten mich die ganze Zeit im Visier.

»Willst du mein Zimmer sehen? Ich habe einen Wahnsinnsausblick auf den Genfersee, aber erst seit gestern, vorher war alles im Nebel versunken, und Arie in seinem Leihwagen ist glatt am Parkplatz vorbeigefahren, man konnte keine zwei Meter weit sehen und das Anfang Mai.«

In der Mitte des Zimmers waren zwei Betten zu einem Doppellager zusammengeschoben, das eine war mit Papieren belegt und das andere sah aus, als habe Philipp gerade noch drin gelegen. Links der Tür war ein Waschbecken installiert und daneben, in der Lücke zum Kleiderschrank, eine Duschkabine. Auf dem Boden der Kabine lag eine Handgranate. Ich schaute genauer hin: ein Duschgel. Auf der Ablage über dem Waschbecken stand eine zweite, kleinere Granate, das war ein Deo. Ein sogenanntes Herrenpflegeset, das Philipp geschenkt bekommen haben musste, kaufen würde er sich so was nie. Am Fußende des Bettes, vor den beiden Fenstern, standen zwei Sessel, niedrige Sessel mit gelben Bezügen und Borten und Troddeln, da setzten wir uns hinein und betrachteten die Landschaft hinter den Scheiben. Ich konnte es ihm nicht sagen. Ich saß nervös und zittrig in meinem Sessel, mein Herz klopfte und meine Beine wollten nicht stillhalten, vor allem das linke, das, in engster Nachbarschaft zu Philipps Bein, kaum zu bändigen war, bis ich mich aufrichtete, den Unterschenkel auf die Sitzfläche zog und unter meinem Hintern fixierte. Von Philipp ging eine Unruhe aus, die sich mit meiner Unruhe vermischte, ich wusste, dass wir nicht viel Zeit hatten, ein Ausflug war vorgesehen, und mitten in unser Schweigen hinein, vor dem gerahmten und verglasten Landschaftsbild, das sich unseren Augen bot, fing Philipp an, eine Geschichte zu erzählen. Es war die Geschichte von einem römischen Feldherrn oder Legionär, Andellus mit Namen, der seine Wölfin, die ihn seit Langem begleitet hatte, mitten im Winter am Ufer des Genfersees zurücklassen musste, seine treu ergebene Wölfin Romella, die daraufhin allein zum Sterben ins Gebirge ging und deren Heulen und Klagen man noch lange hörte und heute noch an diesem Ort höre. Und die Narzissen auf den Hängen von Les Avants erinnerten an die Schneeflocken aus jenen Wintertagen, an denen die Wölfin sich irgendwo da draußen zum Sterben hingelegt habe, Schneeflocken, die sieben Tage und sieben Nächte lang auf die Landschaft herabgefallen seien. In der Nacht nach ihrem Sterben, als ihre Schreie verstummt waren, seien überall Narzissen erblüht. Mitten im Winter. Ein Wunder, das nur durch Liebe und Treue zustande käme. Das sei die Legende von Sonloup, keine Ahnung, warum das so heiße, man könne es mit »sein Wolf« übersetzen oder mit »Wolfston«, wegen des Heulens und Klagens, was aber beides keinen Sinn mache, da es sich um ein weibliches Tier gehandelt habe. Romella. Wie er bereits gesagt habe. Wenn schon, dann müsse es Sonlouve heißen oder vielmehr Salouve, aber das klinge auch nicht gut, irgendwie zu salopp beziehungsweise salope, hahaha. Im Hof unten stehe eine Holzskulptur. Ja, die hatte ich gesehen, und ich fing auch beinahe an zu heulen wie die Wölfin von Sonloup, dabei war ich es ja, die ihn zurücklassen würde, wenn ich Radwan heiratete, was ich ihm aber nicht sagen konnte, und jetzt, nach der Geschichte mit Romella, erst recht nicht. Stattdessen ging ich mit, als er zum Spazierengehen oder vielmehr zum Spazierenrennen aufbrach, denn die anderen waren schon weg. Wir sahen sie wie eine Ameisenkarawane durchs Gelände ziehen. In der Mitte der Karawane schwankte die rote Jacke von Ada Lustick. Wir rannten dem roten Leuchtpunkt hinterher, damit Philipp die Gruppe noch einholte, und beim Rennen konnte ich sowieso nichts mehr erzählen, und als Philipp auf Rufweite herangekommen war, trennten wir uns, und ich ging langsam zu meinem Auto zurück und setzte mich hinein.

Später, als ich es ihm dann sagte, war es ganz leicht. »Es ändert sich ja nichts zwischen uns, oder?«, meinte er. Ich nickte und fand auch, dass sich gar nichts ändern müsse, wieso eigentlich, ich heiratete einfach, und alles liefe weiter wie bisher. Wir konnten doch alle zusammen glücklich sein.

Aber auf der Rückfahrt, auf der kurvigen Strecke nach Montreux hinunter, war ich traurig. Triste comme la louve. Ich fuhr langsam und schaute auf die Narzissenwiesen, die mir beim Hinfahren nicht aufgefallen waren, jetzt sah ich ihre Schönheit. Bräutliche Wiesen mit weißen Schleiern. Ein Wunder, durch Treue und Liebe hervorgebracht. Philipps Augen waren von ganz hellem Blau. In diesen Augen konnte ich lesen, was er sah oder sich vorstellte, und manchmal konnte ich durch seine hellen Augen auch in mich selbst hineinschauen und etwas in mir erkennen, was mir bisher verborgen geblieben war. Vielleicht hatte er gewusst, was ich ihm sagen wollte und hatte es nicht hören wollen, nicht zu diesem Zeitpunkt und nicht an diesem Ort. Ich gab Gas und fuhr zügig auf die A12. Der Motor schnurrte. Er nahm die Steigung nach Châtel-Saint-Denis mit links, ich musste nicht mal zurückschalten. Auf der rechten Spur quälten sich ein paar Wohnwagen mit gelben Nummernschildern. Ich dachte an die rote Jacke von Ada Lustick und fragte mich, ob Philipp mit ihr ins Bett gehen würde. Um etwas Hitzestress zu erzeugen. Dann dachte ich an Radwan, der mich erwartete. Ich dachte an Israel und Palästina, die zusammen kleiner waren als die Schweiz. Das hatte ich nicht gewusst und nicht vermutet. Als habe die Schwere und Dauer des Konflikts die Fläche des Krisengebiets in meiner Vorstellung ausgedehnt, so wie sich auch die Dimensionen der Dinge, die uns wichtig sind, leicht verzerren und verschieben können. Die Ausfahrt Bulle glitt rechts vorbei. Ich dachte darüber nach, dass wir es selbst sind, die den Dingen, die uns begegnen, Bedeutung und Gewicht geben, ihnen auf einer inneren Skala einen Wert zuordnen, und dass wir es in der Hand haben, diesen Wert zu verändern. Letzten Sommer zum Beispiel, als Philipp einen Backenzahn ziehen lassen musste, hatte er eine Woche lang schlechte Laune gehabt. Es war am zweiten August, direkt nach dem Nationalfeiertag, an dem Radwan und ich ihn zur Festwiese an der Sarine geschleppt und seinen inneren Weltenbrand mit ein paar Bier zu löschen versucht hatten. Als wir am Abend nach dem Eingriff mit Eisbechern vor der Tür standen, waren wir überrascht davon, zu welcher Bagatelle das gefürchtete Ereignis zusammengeschrumpft war. Unser Mitgefühl war fehl am Platz, geradezu lächerlich. Philipps Erleichterung war so maßlos wie seine Furcht. Er aß das Eis und einen großen Topf Spaghetti mit Speck. Als die Rechnung von der Ärztekasse kam, fiel er aus allen Wolken. Neunzig Franken für eine Extraktion, die sich in seiner Vorstellung zu etwas aufgebläht hatte, was ihn finanziell und gesundheitlich ruinieren würde und für die er, nachdem sie glimpflich verlaufen war, jeden Preis bezahlt hätte. Ich weiß noch, dass er die Rechnung lange liegen ließ. Als müsse er die Mahngebühren abwarten, damit der Betrag auf dem Einzahlungsschein einen Sinn ergebe. Warum es mich beruhigte, die Heirat mit Radwan herunterzuspielen, kann ich nicht sagen. Es war einfach so. Vielleicht hätte ich es sonst nicht tun können. Wir waren jung, wir waren unbekümmert, ein gesegneter Zustand. Dass es ein Verzicht auf Verbindlichkeit war, verstand ich erst später.

PHILIPP

Philipp und ich, das war etwas Einmaliges, eine union sacrée nach eigenen Maßstäben. Ich weiß noch, wie es anfing, wir haben es immer wieder erzählt, uns selbst und anderen, und damit zur Legendenbildung beigetragen. Wie es aufhörte, erzählte ich allein, beziehungsweise ich erzählte es nicht, wem auch und wie? Was uns getrennt hatte, war nicht greifbar.

Als wir das erste Mal miteinander ins Gespräch kamen, stand ich vor dem Kaffeeautomaten im Erdgeschoss der Psychologischen Abteilung der Uni Köln. Philipp kam aus der Bibliothek direkt auf mich zu. Er war allein, ich auch. Ich blies nervös in meinen Pappbecher und schaute ihm entgegen. Er sagte »hallo, du bist es«, als kenne er mich schon seit Jahren, und dann redeten wir über das Gruppenseminar zur Selbstmodifikation, das am Vortag angefangen hatte. Um den Leistungsnachweis zu erbringen, waren wir aufgefordert, ein Problemverhalten zu bestimmen und im Lauf des Semesters erfolgreich zu verändern. Ich wollte meine Lernhemmung bezüglich der Statistikprüfung in den Griff kriegen, und Philipp wollte sich abgewöhnen, beim Sex zu schmatzen. Ein nervöser Tic, den die Frauen zwar süß fänden, der ihn selbst jedoch störe, sagte er. Ich hielt das für reine Provokation. Ob er schon darüber nachgedacht habe, wie er seine Fortschritte in der Gruppe evaluieren wolle, fragte ich. Ich sah seine spöttischen blauen Augen und spürte meine Erregung. Bevor er mir antworten konnte, schob die schwarzhaarige, magere Frau, deren Anwesenheit mir entgangen war, ihr Becken vor, trat zwischen uns und hängte sich an Philipps Hals. Er begrüßte sie mit zwei Küssen und stellte sie mir vor, sie hieß Martina. »Und du, wie heißt du?«, fragte Philipp. Seinen eigenen Namen nannte er nicht. Wahrscheinlich war ihm klar, dass ich ihn bereits wusste. »Martina«, sagte ich lässig, eine originelle Pointe, aber niemand hielt das für einen Witz. Die Kindfrau boxte mich schwesterlich in die Seite, ich wich zurück, und dann lachten wir zu dritt über die doppelte Martina und Doktor Phil. Jetzt fehle nur noch der Lück, sagte Philipp, aber das sei kein Wunder, der fehle nämlich immer und tauche in einem Rhythmus auf und unter, der sich jeglicher Vorhersagbarkeit entziehe. Ob dieser Lück das eventuell modifizieren wolle, fragte ich. »Nein«, sagte Philipp, der nehme an dem Seminar gar nicht teil und die andere Martina auch nicht, da gäbe es auch nichts zu modifizieren, sie sei nämlich perfekt, wie sie sei. Er umfasste sie mit einem Blick, der mich ausschloss. Intimität und Komplizenschaft las ich darin. Ein exklusiver Kontakt, der ziemlich lange dauerte. Ich stand daneben und betrachtete die drahtigen Spiralen auf Martinas Kopf. Ich würde zumindest die Frisur modifizieren. Nach einer Weile stieß Martina sich von Philipp ab, drehte eine halbe Pirouette und strolchte von dannen. Ich folgte ihm zum Kopierer, wo er ein Buch aus der Tasche zog, an markierter Stelle aufklappte und behutsam, um die Bindung nicht zu beschädigen, auf die Glasfläche des Kopiergeräts presste. »Museum des Hasses« stand auf dem Umschlag, worüber ich noch lange nachdachte.

In der folgenden Woche ging ich jeden Tag mit Philipp ins Bett. Ich stellte fest, dass der nervöse Tic des Schmatzens beim Sex reine Einbildung war. Philipp war der geräuschloseste Liebhaber, den ich je gehabt hatte. Er legte eine Fähigkeit zur Selbstbeherrschung an den Tag, die fast beängstigend war, »ü-ü-überirdisch irgendwie«, stotterte ich, wenn ich wieder zu Atem gekommen war. Wir kamen zu dem Schluss, dass es sich bei diesem Schmatzen nicht um ein Verhaltensproblem, sondern um eine Obsession handelte, eine irrationale Angst vor unkontrollierten Lustäußerungen oder – Philipp hob den Dozentenfinger – vor der Vermischung phallischer und kannibalischer Impulse. »Angst vor Kontrollverlust und Regression, genau!« Die Heilungschancen waren gut, ich würde die Therapie übernehmen. Das Seminar hatten wir aufgegeben.

Die Idee, zu viert nach Schottland zu reisen, kam uns spätabends im Iltis-Grill in Ehrenfeld, wo wir Lücks Geburtstag feierten. Ich kannte ihn nicht besonders gut, auch mit Martina hatte ich noch kaum ein längeres Gespräch geführt. Manchmal sah ich sie in der letzten Reihe des Hörsaals sitzen, aber meistens sah ich sie im Flur. Lück war Philipps bester Freund oder Alter Ego, »Grüß dich, altes Ego«, pflegte Philipp zu ihm zu sagen. Eigentlich hieß er Luc, seine Familie stammte aus Luxemburg, doch das merkte ich erst, als ihm sein Studentenausweis aus der Tasche fiel und ich ihn aufhob. Für mich blieb er der Lück, ich hatte nie daran gezweifelt, dass das sein richtiger Name war, denn meistens glänzte er durch Abwesenheit. Zu den Vorlesungen kam er kurz vor der Pause, hörte zehn Minuten zu, trank einen Automatenkaffee mit uns und ging wieder weg. Lück und Martina waren ein auffälliges Paar, der hünenhafte Mann und die kleine, knochige Frau. Um ihn zur Begrüßung küssen zu können, musste sie mehr oder weniger an ihm hochklettern. Ich wartete jedes Mal darauf, dass sie sich auf seinen Unterarm setzen und ihren Katzenkopf an seine Schulter lehnen würde, aber sie ließ sich wieder hinuntergleiten und stellte sich neben ihn, er legte seine Hand auf ihr Haar. Eine Pose wie auf einem Hochzeitsfoto: die Kahlo, die damals in jeder Wohnküche hing, mit ihrem Ochsenfrosch von Ehemann, nur dass Martina keine bunten Röcke trug, sondern Hosen. Wenn Lück und Philipp von ihr sprachen – halblaut und nicht für fremde Ohren bestimmt – nannten sie sie »das Körperlein«. Es war etwas Verschworenes zwischen den dreien, das ich nicht entschlüsseln konnte. Martinas katzenhafte Gleichgültigkeit, die Blicke, mit denen sie sich verständigten, das Raunen. Körperlein. Der Tonfall und die Schwingung dieses Worts, Anlass zu nächtlichen Gedanken, die mich abstießen und anzogen. Männer, die diesen Körper benutzten oder beschützten oder beides, weil das Beschützen und Benutzen letztlich auf das Gleiche hinauslief, oder nicht? Auf Abhängigkeit, Ausbeutung, Dominanz. Ich bin groß, beileibe kein Körperlein, und Schutzinstinkte wecke ich bei Männern selten. Angeblich kann man Pferde mit mir stehlen. Wenn ich die drei am nächsten Tag wiedersah, schämte ich mich. Sie kamen mir vor wie Kinder.

Nach dem Abend im Iltis-Grill wäre Philipp am liebsten gleich losgefahren, aber wir hatten kein Auto. Lücks heiliger Panda, mit dem er in Rawalpindi gewesen war, war total verrostet und bei der TÜV-Prüfung durchgefallen. Ich hatte keine Ahnung, wo Rawalpindi liegt, aber es hörte sich nach einer Klimazone an, die Korrosionsprozesse begünstigte. Ich rief meinen Großvater an. Zwei Tage später saß ich in seiner Küche in einem Vorort von Mainz, trank Kaffee und aß Zitronenkuchen aus dem Supermarkt. Der Kuchen schmeckte gut. Fahrzeugpapiere und Autoschlüssel lagen vor mir auf der Tischdecke. Viktor nahm den Kfz-Brief aus der Plastikhülle und faltete ihn auseinander. »Personenwagen geschlossen«, las er vor, »tausenddreihunderteinundneunzig Kubikzentimeter. Höchstgeschwindigkeit hundertsiebenundfünfzig, Sitzplätze fünf.« Seit meine Großmutter tot war, stand das Auto unbenutzt in der Garage. Es war ein gut gepflegter, blauer Golf. Viktor hatte nichts dagegen, dass ich und meine Studienfreunde, wie er sich ausdrückte, damit nach Schottland fuhren. Ein bisschen Auslauf würde ihm guttun, sagte er, als handele es sich um ein Pferd. »Was macht Dita?«, fragte ich und erfuhr, dass sie vor Kurzem das Jobangebot eines Privatsenders ausgeschlagen hatte. »Du weißt doch, wie sie ist«, sagte Viktor, es klang besorgt, aber auch stolz. Ich nickte. Meine Mutter hatte Prinzipien. Für einen Schwachsinnssender würde sie niemals arbeiten. Viktor erzählte, dass er mittlerweile ein passables Gulasch hinbekäme. Wenn ich bis morgen bliebe, könne er eines kochen. Für das Püree nehme er Kartoffelflocken von Pfanni, ein einwandfreies Produkt und in zehn Minuten fertig. Aber vielleicht wolle ich lieber Knödel. Er habe alle Sorten in der Speisekammer, halb und halb oder gekocht, sogar Semmelknödel habe er. »Wir nehmen morgen die Fähre nach Dover«, sagte ich. »In Ostende, kurz nach Mitternacht.« Viktor wiederholte seinen Vorschlag nicht. »Pass auf dich auf«, sagte er, als ich ihn zum Abschied umarmte. »In England fährt man auf der falschen Seite.« Sein besorgter Blick machte mich nervös. »Keine Bange«, beruhigte ich ihn. Einer der Mitreisenden sei schon mit einem Kleinwagen in Rawalpindi gewesen. Dass Lück und ich die Fahrerei unter uns aufteilen würden, sagte ich nicht. Die beiden anderen hatten keinen Führerschein.

»Ein Pullover wie eine Landschaft«, sagte Martina. »Zwei Grüntöne, hell und dunkel, die Übergänge verblendet. Mal Wolken, mal Sonne, verstehst du? Mit Tupfen, gelb und lila, verschieden groß und zufällig verstreut. Wie Büsche von Ginster und Erika.« Unter ihren Fingern mit den breiten Silberringen, drei Stück an jeder Hand, wuchs bereits ein Probeläppchen in die Länge, während ich noch mit dem Anschlagen der Maschen beschäftigt war. Bevor sie mich in Jenna’s Knitting Paradise hineingezogen hatte, vor zwei Stunden, hatte ich keine Ahnung gehabt, dass sie sich für Handarbeit interessierte. »Wo hast du das gelernt?« – »Beschäftigungstherapie«, sagte sie knapp. »Wer spinnt, muss stricken! Nicht gewusst? Hat den gleichen Effekt wie Rosenkranzbeten. Der halbe Pflegedienst lief mit meinen Pudelmützen herum.« Nein, das hatte ich nicht gewusst. Ich verband die Tätigkeit des Strickens mit den Hörsälen und Parteiversammlungen, in denen meine Mutter gesessen hatte, aber ich erinnerte mich, dass Martina ein paar Wochen in einem katholischen Krankenhaus gewesen war. Barmherzige Brüder oder so ähnlich. Psychotische Entgleisung, Tablettenentzug? – niemand schien Genaueres zu wissen, und niemand sagte etwas dazu. Als ich sie wiedersah, war sie wie immer. Martina hatte keine komplizierten Gefühle, vielleicht hatte sie gar keine. Wenn ich auf Helma zu sprechen kam, die Frau aus der Statistikgruppe, die eines Tages verschwand und später mit verrenkten Gliedern im Kofferraum eines Kleinwagens gefunden wurde, wenn ich also sagte: »Die Helma ist schon ein halbes Jahr tot«, konnte Martina scheinbar ungerührt entgegnen: »Und mein Weisheitszahn ist seit einem Jahr draußen.« Damit war das Thema erledigt, Helma und der Weisheitszahn, beide weg, herausgerissen aus dem Leben, aus und vorbei.

An meinen Handgelenken hing ein wolliges Parfum. Schwacher Tiergeruch, Talg- und Rauchnoten. Ich hatte die farbigen Stränge zwischen beiden Unterarmen gehalten, während Martina sie zu festen Knäueln aufgewickelt hatte, eins nach dem anderen. Meine Haut war leicht gerötet und juckte. Gereizt, kein Wunder. Naturbelassene, torfgeräucherte Schafswolle vom äußersten Norden der schottischen Halbinsel vertrug sich nicht mit meinen Allergien. Seit gestern waren wir auf Skye, der grünen Insel. Wellige, mit Samt bespannte Täler, steile Kliffs, rötliche Berggruppen wie rostzerfressene Orgelpfeifen, in denen der Wind wütete und deren Spitzen in Nebel gehüllt waren. Auf Skye gab es fünf Jahreszeiten am Tag.

Das Zimmer, in dem wir saßen, war gelb. »Theyellow bedroom«, hatte Mrs. Cooper gesagt, als sie uns die Schlüssel gab. Lampenschirme, Kissen und Gardinen mit gelben Ornamenten, Zitronen auf der Tapete, sogar die guest information steckte in gelber Hülle. Martina saß im Schneidersitz auf einem Samtsessel. Sie sah noch kleiner aus als sonst. Einen Panoramapullover zu stricken, schien mir keine gute Idee. Wie wollte sie die Weite der schottischen Landschaft an ihrem schmächtigen Körper unterbringen? Ihre T-Shirts und Hosen kaufte sie in der Kinderabteilung. Ich schloss die Augen. Von den gelben Ornamenten konnte einem schwindlig werden. Als ich sie wieder aufmachte, sah Martina mich düster an. »Lück schläft nicht mit mir«, sagte sie förmlich. Und, wie zur Bekräftigung, nochmals in der Landessprache: »We. Don’t. Have. Any. Sex.«guesthouse