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Über dieses Buch:

Er wollte seine dunklen Erinnerungen vergessen – doch nun bleibt ihm keine andere Wahl, als sich ihnen zu stellen. Nach zwanzig Jahren kehrt Privatdetektiv Ed Loy aus Los Angeles in seine Heimatstadt Dublin zurück, um seine Mutter zu beerdigen. Nach der Trauerfeier bittet ihn seine alte Freundin Diana, nach ihrem spurlos verschwundenen Mann zu suchen. Wurde er das Opfer eines Verbrechens? Ed beginnt zu ermitteln – und wird schnell in einen Sumpf aus Korruption und ungesühnten Verbrechen gezogen. Als Diana tot aufgefunden wird und sein ehemals bester Freund ebenfalls in große Gefahr gerät, begreift Ed, dass man seiner Herkunft und seiner Vergangenheit nie wirklich entkommen kann …

Über den Autor:

Declan Hughes, Jahrgang 1963, ist irischer Roman- und Theaterautor sowie Mitbegründer von »Rough Magic Theatre Company«, dem bedeutendsten zeitgenössischen Theater Irlands. Er lebt mit seiner Familie in Dublin.

Bei dotbooks erscheinen folgende Romane von Declan Hughes: »Blutige Lügen«, »Blutiger Hass«, »Blutige Rivalen« und »Blutiges Urteil«

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eBook-Neuausgabe September 2019

Dieses Buch erschien bereits 2006 unter dem Titel »Blut von meinem Blut« bei Rowohlt Verlag GmbH

Copyright © der englischen Originalausgabe 2006 John Murray, London

Die englische Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel »The Wrong Kind of Blood« bei John Murray, London.

Copyright © der deutschen Ausgabe 2006 Rowohlt Verlag GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Abdruck der Liedzeile aus »Adam raised a Caine« mit freundlicher Genehmigung von Bruce Springsteen

© 1978 Bruce Springsteen (ASCAP)

Auszug aus »Camping im Leichenwagen« von Ross MacDonald, übersetzt von Gisela Stege, © 1965 by Rowohlt Taschenbuch Verlag

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Madrugada Verde, Jacob_09

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (CG)

ISBN 978-3-96148-731-8

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Declan Hughes

Blutige Lügen

Kriminalroman – Der erste Fall für Privatdetektiv Ed Loy

Aus dem Englischen von Tanja Handels

dotbooks.

Blut.

Beim letzten Mal haben sie sich die scharfen Spitzen ihrer Taschenmesser in die Daumenkuppen gebohrt und ihr Blut vermischt, es sich gegenseitig auf die Stirn geschmiert, dass es aussah wie lodernde Glut. Damit waren sie wahrhaft Brüder geworden, so fest verbunden wie Geschwister. Doch Glut wird zu Asche, und Blut ist manchmal nicht genug.

Und jetzt seht sie euch an. Der eine schon mehr tot als lebendig, der andere erfüllt vom Wunsch, nie geboren zu sein. Seht ihr das ganze Blut? Einen Mord genau zu planen könnte durchaus helfen, ist allerdings keine Garantie dafür, dass er weniger blutig ausfällt. Doch wenn es einfach so passiert, im Zorn, mit dem, was gerade zur Hand ist – einem Schraubenschlüssel, mit dem man sämtliche Zähne ausschlagen, Augenhöhlen durchbohren und Wangenknochen zertrümmern kann, einem Schraubenzieher, der sich durch Knorpel und Nervenstränge bohrt, Leber und Milz perforiert und Blut aus zerfetzten Kehlen schießen lässt –, wenn ein Mord also einfach so passiert, kann man sich kaum vorstellen, wie viel Blut dabei fließt.

In der Forensik teilt man Blutspuren in sechs verschiedene Untergruppen ein: Tropfen, Flecke, Spritzer, Streifen, Schlieren und Lachen. Hier finden sich alle sechs: Tropfen auf dem Steinboden, Flecke an den Wänden, Spritzer an den Neonröhren und überall an der Decke, Streifen, weil der Sterbende versucht hat, seinem Mörder zu entkommen, Schlieren auf der Motorhaube des Wagens und am Garagentor und schließlich die dunkelrote Lache, die das Blut unter dem Toten bildet.

Der Mörder weint, heult über seine Tat, willenlose, krampfartige Tränen, nicht aus Reue, sondern aus Schock, Erleichterung, Euphorie angesichts der schönen neuen Welt, die er erschaffen hat, einer Welt, auf der es jetzt einen Menschen weniger gibt. Er wischt sich mit dem Handrücken die Tränen ab, wischt sich den Schweiß von der Stirn und den Rotz von der laufenden Nase. Sein Atem geht immer noch heftig, bebend und stoßweise, wie Schluchzen. Er fällt auf die Knie, legt den Kopf in den Nacken, schließt die Augen.

Seht ihn euch an. Seht ihr sein Gesicht? Blut klebt ihm am Haaransatz, in den Augenbrauen, im Schnurrbart, hat sich in den Fältchen an Nacken und Ohren gesammelt, Blut, das ihn zum Erwählten salbt, zum Urmörder, zum Mörder seines Bruders. Seht ihn euch an, den glücklichen Wilden. Er hat den folgenschweren Fehler in Gottes Schöpfungswerk gefunden: Wenn selbst Kain die Hand gegen Abel erheben und ihn erschlagen konnte, was sollte dann uns andere davon abhalten?

Erster Teil

»Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.«

Genesis 4:10

Eins

Am Abend nach der Beerdigung meiner Mutter hatte Linda Dawson an meiner Schulter geweint, mir die Zunge in den Mund geschoben und mich gebeten, ihren Mann zu suchen. Jetzt lag sie tot auf dem Boden ihres Wohnzimmers, und von den umliegenden Hügeln hallte das Martinshorn eines Polizeiwagens wider. Linda war erwürgt worden: Geronnenes Blut klebte ihr in den Mundwinkeln, und die rot unterlaufenen Augen traten fast aus den Höhlen. An ihrem Hals sah man keine Würgemale, was nahe legte, dass die Mordwaffe ein Schal oder eine Seidenkrawatte gewesen war. Ihre ohnehin bleiche Haut hatte sich durch die einsetzende Zyanose bläulich verfärbt, vor allem an Lippen und Ohren und an den Fingernägeln. Die Hände, fest zu kleinen Fäusten geballt, ruhten steif in ihrem Schoß, und die Augen starrten blicklos durch die gläserne Wand Richtung Himmel. Lindas Leiche wirkte wie eine besonders groteske Parodie auf die Kunstfertigkeit des Bestattergewerbes.

Das Geheul der Polizeisirene erreichte seinen ohrenbetäubenden Höhepunkt und brach dann unvermittelt ab. Und während die Autotüren zuschlugen, während die Polizisten die Einfahrt entlangtrampelten und an die Haustür hämmerten, wanderte mein Blick in die Richtung, in die auch Linda zu schauen schien, hinaus in den grauen Morgenhimmel, dann weiter abwärts, die Klippen entlang, zwischen den Gruppen von Fichten und Pinien hindurch, hinunter bis zu den mächtigen georgianischen Häusern, viktorianischen Schlössern und modernen Villen von Castlehill, hinunter bis dorthin, wo vor nicht einmal einer Woche alles angefangen hatte.

***

Wir standen auf der Terrasse des Hotels Bayview und sahen zu, wie sich ein blähbäuchiger alter Mond langsam aus dem Meer emporhievte. In der Dublin Bay glitzerten die Lichter der Stadt im Abenddunst. Auf der anderen Straßenseite, umrahmt von ginsterbewachsenen Klippen und einem unansehnlichen Kiesstrand, lag der menschenleere Bahnhof; das Stationssignal stand auf Rot. Alle anderen Beerdigungsgäste waren längst gegangen, und ich wartete darauf, dass Linda ihr Glas austrank, damit ich sie nach Hause bringen konnte. Aber Linda wollte noch nicht nach Hause. Sie löste ihr Haar, schüttelte es nach vorn und streifte es dann nach hinten, aus dem Gesicht. Sie kniff die dunklen Augen zusammen, legte die Stirn in angestrengte Falten und spitzte die rot geschminkten Lippen zu einem kleinen Schmollmund, um ihren Worten noch mehr Gewicht zu verleihen.

»Ich halt's nicht mehr aus«, sagte sie. »Noch eine Nacht allein in diesem Haus überstehe ich nicht.«

Ich ging nicht darauf ein. Irgendwie merkte sie dann doch, dass es nicht der beste Zeitpunkt war, mir ihre Probleme aufzuhalsen.

»Oh, tut mir Leid, Ed«, sagte sie. »So was kannst du heute Abend nicht auch noch brauchen.« Dann fing sie plötzlich an zu weinen, verzweifelt wie ein verlorenes Kind. Ich nahm sie in den Arm und stellte ihr meine Schulter zur Verfügung. Das Meer war silbrig grau im Mondlicht, es glänzte wie feuchter Granit. Das Stationssignal sprang von Rot auf Gelb um, ein leichter Wind trug den fremden Duft der Eukalyptusbäume aus dem Hotelgarten herauf. Ich spürte Lindas kühle Wange am Hals, dann lag ihr warmer Mund auf meinem, und sie küsste mich. Ich erwiderte den Kuss, wandte das Gesicht zur Seite und drückte sie an mich. Einen Moment lang wurde sie ganz starr, dann klopfte sie mir zweimal leicht auf den Rücken, wie ein Ringer, der aufgeben will. Wir lösten uns voneinander, und sie trank ihr Glas aus, wischte sich die Augen und zündete sich eine Zigarette an.

»Entschuldige.«

»Macht gar nichts.«

»Es ist nur ... ich mache mir wirklich große Sorgen um Peter.«

Peter Dawson war Lindas Ehemann. Ich war mit ihr zur Schule gegangen, und als ich Irland verließ, war ihr künftiger Mann noch keine drei Jahre alt. Ich hatte beide seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Einen anderen Mann zu küssen ist sicher nicht die gängige Art, Sorgen um den Ehemann zum Ausdruck zu bringen, aber Linda hatte immer schon genau das getan, wonach ihr gerade war, und offenbar hatte sie sich nicht verändert.

»Du hast doch gesagt, er ist geschäftlich unterwegs.«

»Ich weiß nicht, wo er ist. Seit vier Tagen ist er jetzt weg. Er hat mich nicht angerufen, und im Büro haben sie auch nichts von ihm gehört.«

»Hast du die Polizei eingeschaltet?«

»Nein, wir ... Das wollte ich nicht.«

»Und warum nicht?«

»Weil ... Die Polizei hätte alles irgendwie so real gemacht. Außerdem habe ich immer noch gehofft, dass Peter einfach wieder nach Hause kommt, als wäre nichts gewesen.«

Die Kellnerin kam und brachte Linda einen neuen Drink. Sie musste ihr hinter meinem Rücken ein Zeichen gegeben haben. Ich gab nach, bestellte meinerseits einen doppelten Jameson und zündete mir eine von Lindas Zigaretten an.

»Das klingt, als wäre so was schon öfter vorgekommen. Ist Peter früher schon mal verschwunden?«

»Keine vier Tage. Aber manchmal ... na ja, wir streiten eben ab und zu. Und Peter haut dann irgendwann einfach ab. Du weißt ja, wie das in einer Ehe ist. Oder? Es ist so lange her, ich weiß nicht mal, ob du ... Eigentlich weiß ich gar nicht viel über dein Leben, Edward Loy.«

»Ja, ich war mal verheiratet.«

»Und?«

»Es hat nicht gehalten.«

»Hattet ihr Kinder?«

»Eine Tochter.«

»Ich nehme an, sie lebt bei ihrer Mutter. Vermisst du sie? Was rede ich für dummes Zeug, natürlich vermisst du sie.«

Aus dem Tunnel unter den Klippen donnerte ein Schnellzug hervor und schoss durch den Bahnhof. Die Waggons waren hell erleuchtet und voll besetzt mit Fahrgästen. Am liebsten wäre ich einer von ihnen gewesen und in diesem Zug durch die Nacht gebraust.

Mein Whisky kam. Ich goss ein bisschen Wasser dazu und kippte ihn zur Hälfte hinunter.

Linda redete unbeirrt weiter.

»Tommy Owens hat dich drüben besucht, nicht?«

»Ich hätte nicht gedacht, dass du noch Kontakt zu Tommy Owens hast.«

»Ich habe ihn neulich abends im Hennessy's getroffen. Und bevor du fragst: Nein, ich gehe da nicht oft hin, nur wenn ich mich ... noch eingesperrter fühle als sonst.«

»Das Hennessy's. Ist das immer noch der gleiche miese Schuppen?«

»Was immer du brauchst, im Hennessy's kriegst du es. Weiß der Himmel, warum der Laden noch nicht zumachen musste.«

»Früher haben wir immer gedacht, irgendein Freund von Hennessy ist ein hohes Tier bei den Bullen.«

»Wenn der überhaupt Freunde hat. Aber egal, Tommy hat mir jedenfalls erzählt, dass du Vermisste suchst. Dass du mal einem Paar geholfen hast, seine Tochter wieder zu finden.«

»Ich habe eine Zeit lang für jemanden gearbeitet, der nach Vermissten sucht.«

»Na ja, ich habe einfach gedacht ... Ich weiß, du musst fix und fertig sein wegen der Sache mit deiner Mutter, aber vielleicht kannst du ja wenigstens mal drüber nachdenken, Ed. Ich wäre dir wirklich sehr dankbar.«

Und damit mir auch klar wurde, wie sie ihre Dankbarkeit zu zeigen gedachte, fuhr Linda sich mit der Zunge über die Lippen, zog die Stupsnase kraus und schlang mir den Arm um die Taille. Ihr Atem roch süßlich und nach Hefe, sie duftete nach Grapefruit, Zigarettenrauch und sommerlichem Schweiß. Ich hatte Lust, sie nochmal zu küssen, und wollte es gerade tun, da fiel ihr das Glas aus der Hand und zerbrach. Es hinterließ einen ausgefransten, glänzenden Fleck auf den Steinplatten der Terrasse. Mit dem gekonnten Timing einer erfahrenen Trinkerin drehte sich Linda um, fing den Blick der Kellnerin auf und bestellte mit bitterem, reumütigem Lächeln Ersatz. Ich sandte rasch meinerseits ein paar Signale aus und machte mich daran, Linda zu überreden, den Tag langsam zu beenden. Sie hatte immer noch großen Durst und ließ sich nur schwer überzeugen, also musste ich sie daran erinnern, dass wir an diesem Morgen immerhin meine Mutter zu Grabe getragen hatten. Daraufhin fing sie wieder an, zu weinen und sich zu entschuldigen, aber schließlich gelang es mir, sie die Hoteltreppe hinunterzubugsieren. Die Kiesel in der Einfahrt knirschten unter unseren Schritten. Zu beiden Seiten erhoben sich gewaltige Eukalyptusbäume, auf dem Rasen hockten fette Sumachsträucher. Nicht ein einheimischer Baum weit und breit. Linda setzte sich auf den Beifahrersitz meines Mietwagens, und wir fuhren schweigend die Küstenstraße entlang, am Vorort Bayview vorbei. Das Kokosaroma der Ginsterbüsche hing schwer in der warmen Nachtluft. Ich musste an Weihrauch denken und sah wieder die Kirche am Morgen vor mir, das in der Sonne glitzernde Weihrauchfass, den Sarg, das Kreuz und die Gesichter in den Kirchenbänken, an die ich mich nur entfernt erinnerte, die ich aber eigentlich alle kannte.

Ringsum nichts als Verfall und Heuchelei,
Du Unveränderlicher, steh mir bei.

Am Martello-Turm fuhr ich weiter landeinwärts, durchquerte den alten Pinienwald und steuerte dann die Castlehill Road hinauf. Als wir fast oben waren, erwachte Linda schlagartig zum Leben.

»Hier die Nächste links, Ed.«

Kurz vor Castlehill bog ich in eine von Granitmauern eingefasste Zufahrtsstraße ein und hielt schließlich vor einem schwarzen Sicherheitstor. Linda ließ das Fenster herunter und tippte ein paar Ziffern auf einer winzigen Fernbedienung, die sie aus der Handtasche gezogen hatte. Das Tor schwang auf, und sie deutete auf das hinterste der fünf nagelneuen weißen Einfamilienhäuser auf dem Gelände. Ich parkte den Wagen vor dem art-déco-inspirierten Haus mit gewölbten Außenmauern, einer offenen Garage, einem großen Garten und einem Blick von den Bergen bis hinunter zur Bucht. Das vergitterte Tor schloss sich langsam wieder hinter uns.

»Hübsch«, bemerkte ich.

»Peters Vater hat die ganze Anlage gebaut.«

»Hier oben fühlt man sich bestimmt ziemlich sicher.«

»Manchmal frage ich mich, ob das Tor dazu da ist, Fremde draußen oder uns drinnen zu halten.«

»Schon schlimm, reich zu sein.«

Linda lächelte. »Ich beschwere mich ja gar nicht. Aber sicher fühlt man sich nun wirklich nicht dabei.«

Das Lächeln, das nicht bis zu ihren Augen gekommen war, verschwand wieder. Sie wirkte verängstigt, und das Mondlicht, das durch die Windschutzscheibe hereinfiel, zeigte die Fältchen in ihrem müden Gesicht.

»Wegen Peter ... Ich weiß, es ist nicht der beste Zeitpunkt, Ed ...«

»Erzähl mir, warum du dir solche Sorgen machst. Was glaubst du, was passiert ist?«

»Keine Ahnung. Ich ... Komm doch noch auf einen Drink mit rein oder auf einen Kaffee.«

»Nein danke. Erzähl mir von deinem Mann.«

Ein silbergrauer Perserkater tauchte aus der Dunkelheit auf, schlich von Haus zu Haus und löste auf dem Weg in jedem Vorgarten den Bewegungsmelder aus. Er schien das mit Absicht zu machen, aus reiner Bosheit.

»Peter hat schon seit einiger Zeit Ärger. Ich glaube, er wird erpresst.«

»Womit?«

»Weiß ich nicht. Es gab diese Anrufe. Wenn ich rangegangen bin, wurde aufgelegt.«

»Eine Affäre vielleicht?«

Linda schüttelte den Kopf.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass es um Geld geht. Ums Geschäft.«

»Wie läuft das Geschäft denn so?«

»Machst du Witze? Hast du nichts von unserem gigantischen Immobilienboom gehört?«

»Das eine oder andere. Die Preise sind ordentlich gestiegen, was?«

»Sie steigen immer noch. Diese Häuser hier haben in den fünf Jahren ihren Wert verdoppelt. Es ist der helle Wahnsinn.«

Ich war noch keine sechsunddreißig Stunden in Dublin und hatte einen Großteil dieser Zeit im Bestattungsinstitut und in der Kirche verbracht. Trotzdem war Linda mindestens die Fünfzehnte, die mir versicherte, dass der hiesige Immobilienmarkt sich schwunghaft entwickelte. Ich kam mir vor, als wäre ich in die Jahrestagung des Verbands der Immobilienmakler geraten. Alle gaben sich Mühe, nicht zu prahlerisch zu klingen: Der Boom wurde allgemein als unerwarteter, aber höchst willkommener Segen bezeichnet, etwa so wie das erstaunlich schöne Wetter in letzter Zeit. Aber Angeben blieb Angeben, egal, wie man es verpackte. Linda hatte immerhin die Entschuldigung, dass ihr Schwiegervater, John Dawson, einer der größten Bauunternehmer der Stadt war. Überall in Bayview und Seafield schossen Kräne mit dem Dawson-Logo aus dem Boden – allein von unserem Parkplatz aus sah ich drei. Bei der Landung hatte ich als Erstes nicht die Küste oder die Grünflächen des nördlichen Dublin gesehen, sondern vier gewaltige Dawson-Kräne, die über einer riesigen ovalen Baustelle schwebten. Es wirkte, als hätten sie gerade die Ausgrabungen um den Parthenon beendet und legten jetzt das Fundament für ein neues Einkaufszentrum.

»Peter ist Buchhalter in der Firma?«

»Heutzutage heißt das Controller. Läuft aber aufs Gleiche hinaus.«

»Aber wenn die Branche boomt, was hat er dann für ein Problem? Spielt er? Nimmt er Drogen?«

»Ich glaube nicht, dass er spielt. Drogen nimmt er manchmal, aber nur zum Spaß. Auch nicht mehr als andere Leute, die wir kennen. Er ist nicht abhängig. Kann sein, dass er zu viel trinkt. Muss ich gerade sagen.«

»Wozu hat er dann Geld gebraucht?«

»Er hat irgendwas geredet von Gelegenheiten, die er beim Schopf packen will. Keine Ahnung, was er damit gemeint hat.«

»Hat er noch anderweitig investiert?«

»Er besitzt ein paar Wohnungen in der Stadt, um Steuern zu sparen. Um die Vermietung kümmert sich ein Maklerbüro. Und einen Haufen Wertpapiere ... wie heißt das noch? ... Ein Aktienportfolio. Vielleicht hat er sie aber schon verkauft. In letzter Zeit wirkte er gehetzt, als würde er eine Panik unterdrücken.«

»Panik?«

»Ich weiß, das geht uns eigentlich allen so. Tut mir Leid, wenn das irgendwie vage klingt, aber ...«

Sie zuckte die Achseln und schwieg.

»Wann wurde er zum letzten Mal gesehen?«

»Letzten Freitag war er auf der Baustelle in Seafield, da wird das Rathaus renoviert. Er musste das Budget mit dem Bauleiter durchsprechen und sollte mich danach auf einen Drink im High Tide treffen. Ich war zwanzig Minuten zu spät, da war Peter schon wieder weg. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.«

»Hat er kein Handy?«

»Doch, aber er geht nicht ran.«

Aus einer Haustür trat ein fetter, braun gebrannter blonder Mann in einem weißen Bademantel und versuchte, den silbernen Kater zu verscheuchen, der ihn aber nicht weiter beachtete. Der Mann kam die Einfahrt entlang, verschränkte die schwabbeligen Arme vor dem Bauch und schaute böse zu meinem Wagen herüber. Ich schaute böse zurück, bis er wegsah. Als er Linda erkannte, drehte er sich um und ging in sein Haus zurück, rotgesichtig und kurzatmig von den Anstrengungen des Abends.

»Blöder Wichtigtuer«, brummte Linda. »Das Sicherheitstor war seine Idee, aber seit es da ist, steht er jedes Mal am Fenster oder kommt nach draußen, wenn irgendwo ein Blatt vom Baum fällt. Versuch mal, hier eine Party zu machen – der meldet jeden fremden Wagen der Polizei.«

»Wie versteht sich Peter mit seinem Vater, Linda? Haben sie ein gutes Verhältnis?«

»Sie sehen sich nicht besonders oft. John Dawson kümmert sich fast gar nicht mehr ums Alltagsgeschäft. Eigentlich geht er nur noch zum Pferderennen aus dem Haus. Ansonsten leben Barbara und er wie die Einsiedler, ganz allein in diesem riesigen Haus oben in Castlehill.«

»Also keine große Rivalität zwischen Vater und Sohn?«

»Eigentlich nicht. Obwohl sich Barbara wirklich Mühe gibt. Sie hat Peter immer vorgehalten, er hätte aus eigener Kraft etwas werden sollen, sein Vater hätte schließlich auch bei null angefangen und es weit gebracht, und Peter hätte es im Leben viel zu leicht gehabt. Ich würde ihr dann immer gern erwidern: Wenigstens musste sein Vater nicht dich als Mutter ertragen.«

»Ich habe Barbara bei der Beisetzung gesehen. Sie hat sich gut gehalten für ihr Alter.«

»Sie hat das Geheimnis ewiger Jugend entdeckt. Jeden Sommer fährt sie in eine Klinik in den Staaten, und wenn sie zurückkommt, sieht sie fünf Jahre jünger aus.«

»Nimmt Peter sich zu Herzen, was seine Mutter sagt?«

»Ich glaube schon. Ich weiß, dass es ihn getroffen hat. Und vielleicht ... weißt du, diese Wohnungen, die er gekauft hat, das hat er alles erst in letzter Zeit gemacht. Vielleicht war das ja der Versuch, seinen eigenen Weg zu gehen. Vielleicht waren das seine ›Gelegenheiten‹. Aber mein Gott, er ist erst fünfundzwanzig, man muss ihm doch Zeit lassen.«

»Fällt dir sonst noch etwas ein?«

»Also ... an dem Freitag ... Peter und ich wollten uns eigentlich treffen, um ... über ›alles‹ zu reden, du weißt schon.«

»Wolltet ihr euch scheiden lassen?«

»Lieber Himmel, nein. Aber vielleicht eine ... eine Trennung auf Zeit. So haben wir das doch früher immer genannt, als wir noch jung waren und es eigentlich keine Rolle spielte. Und Peter ist eben heute jung. In mancher Hinsicht ist das ja auch toll.« Linda verzog den Mund zu einem anzüglichen Lächeln, das keinen Zweifel daran ließ, welche Hinsicht sie meinte.

»Und außerhalb des Schlafzimmers?«, fragte ich.

»Außerhalb des Schlafzimmers haben wir uns nicht mehr viel zu sagen.«

Der silberne Kater hatte sich auf Lindas Terrasse niedergelassen und fing an zu maunzen. Linda drehte sich zu mir und fasste mich am Arm.

»Kannst du Peter finden?«

»Ich weiß es nicht. Erst mal brauche ich Unterlagen über seine Bankgeschäfte, seine Telefonate und noch verschiedene andere Sachen. Aber ehrlich gesagt, für mich hört sich das an, als wollte er nicht gefunden werden.«

»Das weißt du doch gar nicht.«

»Stimmt. Aber wenn Erwachsene einfach verschwinden, dann meist, weil sie es so wollen. Und wenn jemand nicht gefunden werden will, ist die Sache ziemlich schwierig. Aber ich denke darüber nach. In Ordnung?«

Linda beugte sich zu mir, küsste mich auf die Wange und setzte ein Lächeln auf, um mir zu beweisen, wie tapfer sie war. Nachdem wir vereinbart hatten, am nächsten Morgen weiterzureden, stieg sie aus und ging die Einfahrt entlang. Der Kater sprang auf und strich ihr um die schlanken Waden. Linda öffnete mit der Fernbedienung das Sicherheitstor, und ich wendete den Wagen und fuhr zurück auf die Zufahrtsstraße. Im Rückspiegel sah ich Linda in der Haustür stehen und rauchen. Als ich in die Castlehill Road einbog, stand sie immer noch da, der Mond schien ihr bleich ins Gesicht, und der Rauch schlängelte sich um ihr glänzendes Haar. Ihr süßer Duft hing noch an mir, ich hatte ihren salzigen Geschmack auf den Lippen, und mir wurde klar, wie sehr ich sie den ganzen Abend gewollt hatte, wie sehr ich sie auch jetzt noch wollte. Ich umklammerte das Lenkrad, trat aufs Gas und fuhr davon, ohne mich noch einmal umzusehen.

Zwei

Meine Mutter hatte in einem Backsteinreihenhaus in Quarry Fields gelebt, einem grünen Viertel zwischen Bayview und Seafield. Als ich noch klein war, galt Quarry Fields nicht als besonders gute Gegend. Die Somerton-Blocks waren gleich um die Ecke, und auf der anderen Seite der Hauptstraße lag Fagan's Villas, wo meine Eltern ihre Kindheit verbracht hatten – eine ziemlich lausige, wie sie immer sagten. Inzwischen waren die Somerton-Blocks längst verschwunden, in den Straßen von Fagan's Villas parkte ein Geländewagen hinter dem anderen, und ein Haus in Quarry Fields war sehr viel mehr wert, als ich mir vorstellen konnte. Zumindest hatten mir das diverse Trauergäste versichert.

Trotz aller Veränderungen wirkten die Straßen vertraut, als hätten sie auf mich gewartet, als wäre ich nie weg gewesen. Vertraut, aber auch fremd: Ich war unterwegs zum Haus meiner Mutter, aber sie wohnte nicht mehr dort, sie verbrachte ihre erste Nacht allein in einem frisch ausgehobenen Grab ganz in der Nähe des steinigen Strands von Bayview, wo sie früher immer mit mir hingegangen war. Als ihr Sarg in das Grab hinabgelassen wurde, hatte ich aufs Meer geschaut und an ihren ersten Besuch bei mir in L. A. gedacht: Ich war mit ihr nach Zuma Beach hinter Malibu gefahren, sie hatte gelächelt, als sie das Meer roch, und aufgeregt meine Hand gedrückt, und wir waren zusammen schwimmen gewesen, so wie wir es immer getan hatten und jetzt nie wieder tun würden.

Ich parkte den Mietwagen vor dem Haus und öffnete das rostige schwarze Gartentor. Eine wuchernde Hecke aus Stechpalmen, Eiben und Zypressen schirmte den verwilderten Vorgarten zur Straße hin ab, und in der Einfahrt machten sich ungepflegte Rosenbüsche breit. Bröckelndes Mauerwerk, verrottende Fensterrahmen, fehlende Dachziegel – alles erzählte dieselbe Geschichte: Das Haus war meiner Mutter schon lange vor ihrem Tod zu viel geworden. Zum x-ten Mal an diesem Tag dachte ich, ich hätte früher zurückkommen sollen, und zum x-ten Mal trieb mir dieser blöde, sinnlose Gedanke die Schamröte ins Gesicht.

Als ich gerade die Verandatür aufschließen wollte, hörte ich hinter mir ein Knirschen auf dem Kiesweg. Im Türglas sah ich einen Schatten näher kommen, und über meiner linken Schulter blitzte etwas im Mondlicht auf. Ich schob die Schlüssel zwischen die Finger der linken Hand und rammte dem Schatten mit aller Kraft den rechten Ellbogen in die Körpermitte. Gleichzeitig schlug ich mit dem Schlüsselbund dahin, wo ich seinen Arm vermutete.

Ein dumpfes Ächzen, ein Schmerzensschrei, ein metallisches Scheppern auf Beton. Ich drehte mich um und sah Tommy Owens zusammengekrümmt in die Rosen reihern. Seine linke Hand war blutig, und zwischen den Nachtviolen an der Gartenmauer lag eine halbautomatische Pistole.

***

Nachdem Tommy Owens mich als Faschisten und Psychopathen beschimpft, seine Wunden gesäubert und verarztet, sich den Mund ausgespült und weit von sich gewiesen hatte, dass es auch nur ansatzweise leichtsinnig gewesen sei, mir eine Pistole an die Schläfe zu halten, saß er im Wohnzimmer und machte kurzen Prozess mit meinem zollfreien Laphroaig.

Das kompakte schwarze Stück Waffenmetall, das neben der Whiskyflasche auf dem Couchtisch lag, war eine Glock 17. Neben der Glock lag ein Magazin für siebzehn Neun-Millimeter-Patronen. Im Gegensatz zum Laphroaig war das Magazin voll.

»Wo hast du die Waffe her, Tommy?«, fragte ich zum wiederholten Mal.

»Ist doch egal. Scheiße, Mann, wie's hier aussieht! Genau wie damals, als ich für deinen Alten gearbeitet hab. Wie lange ist das her, zwanzig Jahre? Mindestens.«

»Es ist nicht egal, Tommy. Das ist eine Pistole.«

»Ich meine, Kohle hat deine Alte doch gehabt, oder? So schlecht können die bei Arnott's nicht gezahlt haben. Und Angestelltenrabatt hat sie sowieso gekriegt. Diese Teppiche und Gardinen, schlimmer als das schlimmste Bed and Breakfast. Und die Heizungen ... nix für ungut, aber die klingen garantiert wie 'n Whirlpool, wenn man sie anmacht.«

Tommy trank sein Glas aus und griff nach der Flasche. Ich war schneller. Mein Bedarf an Besoffenen war für den Abend gedeckt.

»Ach komm, Mann, ich steh unter Schock, und du bist schuld.« Das ›Mann‹ war unbetont, wie hier üblich. Seit einer Ewigkeit hatte ich das nicht mehr gehört.

»Tommy, du sagst mir jetzt, wo die Pistole her ist, sonst rufe ich Dave Donnelly an und frage ihn, ob du einen Waffenschein hast.«

Tommy grinste höhnisch, was zusammen mit den schmalen Augen und dem zottigen Ziegenbärtchen sein wieselhaftes Aussehen noch verstärkte.

»Ich hab euch zwei heute vor der Kirche gesehen. Wusste gar nicht, dass du so dick mit den Bullen bist. Detective Sergeant Donnelly.«

»Er hat mir sein Beileid ausgesprochen, Tommy. Kann man von dir nicht behaupten.«

»Kirche pack ich nicht, Mann, ich halt das ganze Theater nicht aus. Aber ich war da, ich hab euch allen zugeguckt. Heute Nachmittag war ich auch am Grab.«

»Ach ja? Warum bist du dann nicht ins Bayview gekommen?«

»In 'n Hotel? Hotels pack ich nicht, Mann. Kirchen, Hotels – vergiss es.«

So war Tommy schon immer gewesen. Alles, was ihm bürgerlich vorkam, was Leute ansprach, die er vermutlich immer noch als »Normalos« bezeichnete, oder was auch nur ansatzweise mit dem üblichen Lauf der Welt konform ging, damit wollte Tommy nichts zu tun haben. Das betraf nicht nur Hotels und Kirchen, sondern auch Supermärkte, Clubs, Restaurants, Pubs – mit Ausnahme vom Hennessy's – und Cafés. Als er mich, nachdem seine Ehe gescheitert war, in L. A. besucht hatte, wollte er nirgendwohin, außer in eine illegale Spelunke in Culver City, die sich vor allem durch zwei Dinge auszeichnete: Erstens waren wir die einzigen Weißen dort, und zweitens waren in den neun Wochen ihres Bestehens bereits fünf Morde geschehen – und das waren nur die, von denen ich wusste.

»Tut mir aber echt Leid, Ed. War lieb, deine Mum. Eine richtige Dame.«

»Die Pistole, Tommy.«

»Ja, wollt ich dir eh erzählen, Mann. Ich dachte nämlich, du kannst vielleicht ... na ja ... für mich drauf aufpassen.«

»Was? Bist du total übergeschnappt?«

»Ich will ja nur, dass du sie ein paar Wochen irgendwo versteckst, bis der ganze Aufstand vorbei ist.«

»Was für ein Aufstand? Tommy. Wo – hast – du – die – Waffe – her?«

»Das ist so ... Ich hab 'nen Job erledigt ... für die Halligans. Ich weiß, ich weiß, aber es war nichts, nur 'n paar ... Kurierdienste, kann man sagen. Ein Päckchen in Birmingham abholen und hierher bringen, die Nummer.«

Ich musste an einen Spruch aus meiner Kindheit denken. Wahrscheinlich hatte ich ihn sogar, wie so vieles, zum ersten Mal von Tommy Owens gehört: »Ich bin zwar blöd, aber so blöd auch wieder nicht.« Ich saß da, sah zu, wie Tommy sich Whisky nachgoss, und während er trank, fragte ich mich, wie blöd man eigentlich sein musste, um sich mit den Halligans einzulassen.

Tommy musste mir meine Gedanken angesehen haben. »Weißt du, Mann, die sind gar nicht mehr so schlimm. Leo schon, Leo ist dasselbe Viech wie immer, aber der sitzt im Knast, und alle hoffen, dass er da verrottet, sogar seine Brüder. Und Podge ist halt Podge, was soll man machen. Aber George ist in Ordnung, weißt du?«

»George Halligan ist in Ordnung? Derselbe George Halligan, der dir damals den Knöchel zertrampelt hat?«

»Mann, ist doch ewig her. Wir waren noch Kinder. Ich hab ihm immerhin sein Fahrrad geklaut. Aber die Drogen sind reines Business. Ich meine, wenn die Leute Koks oder Ecstasy oder sonst was nehmen wollen, dann tun sie's, diese Spießer ...« – immer noch beeindruckend, wie viel Abscheu Tommy in dieses Wort legen konnte –, »... egal, wer. Alles Angebot und Nachfrage, genau wie ... wie wenn du Alkohol verkaufst.«

»Nur wird man, wenn man Alkohol verkauft, nicht automatisch zum Krüppel geschlagen oder umgebracht.«

Tommy trank sein Glas aus, verzog das Gesicht und sagte: »Ich weiß, das ist ja das Blöde, darum muss ich auch die Knarre bei dir parken.«

Ich brachte die Whiskyflasche wieder in meine Gewalt und sagte Tommy, die Bar sei geschlossen und werde erst wieder öffnen, wenn er mir die ganze Geschichte erzählte. Nach einigem Gejammer und Gezeter packte er schließlich aus. Seine Invalidenrente hatte nicht mehr gereicht, seine Exfrau hatte mehr Unterhalt verlangt und damit gedroht, ihm den Umgang mit seiner Tochter zu verbieten, wenn er die Zahlungen nicht erhöht, egal, was das Gericht dazu sagt. Er hatte versucht, wieder zu arbeiten, aber nur anderthalb Tage geschafft; nicht dass er nicht mehr mit Autos umgehen konnte, er war Mechaniker mit Leib und Seele, aber er war inzwischen einfach viel zu langsam für jede Werkstatt. Und dann war er irgendwann am frühen Abend im Hennessy's und hatte versucht, einen Rentenscheck einzulösen, aber es war der falsche Barmann da, und dann kommt seine Ex und will das Geld, und er hat es nicht, und sie beschimpft ihn vor allen Leuten als Versager und Simulanten und so was, vor seiner Tochter, verdammte Scheiße. Und dann kommt George Halligan: »Ich schulde dir noch was, Tommy«, wie ein alter Kumpel, und direkt mit ihm hinter die Theke. Fünf Hunderter. Das stopft der Ex erst mal das Maul. Dann hatte Tommy Podge Halligan gefragt, wie er das wieder gutmachen könnte, und die Birmingham-Fahrten fingen an, alles ganz sauber, jedes Mal ein anderer Treffpunkt, ein Päckchen in Empfang nehmen und dann von einem anderen Flughafen, Manchester oder Liverpool, wieder nach Hause fliegen, die Ware abliefern, das Geld einsacken, und alle sind glücklich.

»Und die Waffe, Tommy?«

»Dazu komm ich noch, ja? Also, gestern Abend war ich grad zurück aus Birmingham, da ruft Podge an und sagt, ich soll mal kurz rüberkommen. Die wohnen in diesen Neubauten auf der anderen Seite von Castlehill.«

»Beim Golfclub?«

»Genau, beim alten Golfclub. Riesige Backsteinhütten mit Swimmingpool und Whirlpool und allem. Eine gehört so 'ner Boygroup-Schwuchtel. George und Podge Halligan wohnen gleich nebendran. Über eine Million haben die dafür hingelegt. Ich war noch nie eingeladen, also bin ich hin, und dann führt mich so 'n Schrank im Trainingsanzug ins Wohnzimmer und sagt, sie feiern alle bei George. Er geht rüber, um Podge zu holen, und ich werde langsam nervös, irgendwas stimmt nicht, irgendwas fühlt sich komisch an.«

»Hast du was von dem Stoff für dich abgezweigt?«

»Nicht so viel, dass es einer merken würde, Ed, und ich hab's auch immer mit Puder und so was aufgefüllt. Hat gerade gereicht für ein paar Deals im Hennessy's.«

»Im Hennessy's? Und du hast gedacht, das finden die Halligans nicht raus? Das Hennessy's war schon deren zweites Zuhause, als sie noch in den Somerton-Blocks gewohnt haben.«

»Keine Ahnung, was ich gedacht hab. Aber als ich da war, hab ich 'ne ganze Menge gedacht, das kann ich dir sagen. Durch die Küche, zur Hintertür raus, über die Gartenmauer und durch den Golfclub zurück zur Castlehill Road, hab ich gedacht. Aber gemacht hab ich das nicht, ich hab gewartet, und dann kommt Podge rein, ganz freundlich und ziemlich breit: Wie geht's, Tommy, willkommen zu Hause, gute Arbeit – die Nummer. Er gibt mir die Knete, dann macht er eine Schublade auf, holt 'ne olivgrüne Umhängetasche raus und sagt, ich mach mich sehr gut, wird Zeit für 'ne kleine Beförderung. Wie gesagt, er war ziemlich breit, hat sich aufgeführt wie der große Boss. Ich hab gar nichts gesagt, und er zwinkert mir zu, tippt sich mit dem Finger an die Nase, sagt: ›Du hörst von mir, Tommo‹, und ist wieder weg.«

»Und die Pistole war in der Tasche?«

»Die und das Ersatzmagazin.«

»Das Ersatzmagazin?« Ich nahm die Glock vom Tisch und wog sie in der Hand. Sie war geladen. Ich holte das Magazin heraus. Zwei Schüsse fehlten.

»Hast du eine Ahnung, wofür die gebraucht wurden?«

»Es ist keiner erschossen worden. Zumindest nicht, dass ich wüsste. Aber vielleicht erfahren wir das noch. Oder die haben Kaninchen damit geschossen.«

»Oder dir soll was angehängt werden.«

»Das ist es doch. Darum bin ich hier, falls plötzlich 'ne Leiche auftaucht und die Bullen 'nen heißen Tipp kriegen.«

»Aber das ist doch Blödsinn. Wenn dich die Bullen schnappen, servierst du ihnen Podge Halligan, mit allem, was du über ihn weißt.«

»Außer der Tote ist ein Unbeteiligter. Dann haben die Bullen mich und die passende Knarre, und kein Mensch fragt nach den Halligans.«

»Vielleicht hat er das mit der kleinen Beförderung ja auch ernst gemeint, und in ein paar Tagen kriegst du den Auftrag, jemanden umzulegen.«

Tommy schüttelte den Kopf und lächelte gezwungen. Er hatte offensichtlich Angst.

»Ich weiß nicht, was schlimmer ist, Ed, einen Mord angehängt zu kriegen oder einen begehen zu müssen. Ich meine, ich bin doch kein ... ich könnte gar nicht abdrücken. Verdammte Scheiße!«

»Und falls sie dir was anhängen wollen, soll ich die Pistole verwahren?«, fragte ich.

»Klar. Ist ja schön und gut zu sagen, du kannst den Bullen einfach Podge Halligan servieren, aber was ist dann mit meiner Mutter? Mit meiner Schwester? Mit meinem Kind? Wenn die an mich nicht rankommen, weil ich im Knast bin, nehmen sie meine Familie. Und mich erwischen sie auch irgendwann, Ed. Nee, aus mir kriegen die Bullen nichts raus. Aber wenn du die Knarre hast, haben sie nur den Tipp, keine Beweise, und alles ist bestens.«

»Mal abgesehen davon, dass Podge Halligan dir auf den Fersen ist. Vielleicht weiß er ja, dass du ihn beklaut hast, und will dich kaltstellen?«

Tommy sprang auf. Er war viel zu nervös, um ruhig sitzen zu bleiben.

»Warum hat er mich dann nicht gleich abgeknallt? Hätt er doch gekonnt, jederzeit, was hätt ich schon machen sollen? Scheiße, ich werd doch jetzt nicht, was weiß ich, abhauen, nach England oder was, meine Tochter nie wieder sehen, nur für den Fall, dass ... Ich meine, wenn er das will, dann macht er's auch. Vielleicht weiß er gar nichts. Oder er hat keinen Plan. Schließlich ist er nur ein Drogendealer und ein Dreckskerl, kein ... kein Napoleon.«

Ich sah zu, wie Tommy durch den Raum stampfte. Von dem zerschmetterten Knöchel war ihm ein starkes Hinken geblieben. Und fünfundzwanzig Jahre später waren die Halligans immer noch nicht fertig mit ihm.

»Versteckst du sie für mich, Ed? Dann warten wir ab, was passiert.«

»Und wenn du wirklich jemanden für ihn umlegen sollst?«

»Vielleicht können wir das Opfer warnen, irgendwie aus der Schusslinie schaffen. Und ich sag dann, ich find ihn nicht.«

An einer Wand des Wohnzimmers stand eine Anrichte, auf der sich Zierteller, Schalen, Krüge, Kerzenständer und Lampen drängten. Unten hatte sie zwei Schranktüren mit einer Reihe von Schubladen dazwischen. Ich öffnete die eine Tür, nahm einen Stapel Teller heraus und schob die Pistole und die beiden Magazine ganz nach hinten. Dann stellte ich die Teller wieder zurück und schloss die Tür.

»Was ist mit der Tasche, Tommy?«

»Welche Tasche?«

»Die olivgrüne Umhängetasche, in der die Pistole war.«

»Ach so, die hab ich verschwinden lassen. Viel zu auffällig, mit so 'ner Tasche rumzulaufen.«

»Dann schon lieber mich mit 'ner Knarre bedrohen, was?«

»War doch nur 'n Witz, Mann.«

Tommy grinste.

»Danke, dass du das machst, vor allem an so einem Tag.«

»Der Tag, den du meinst, war gestern. Es ist inzwischen drei Uhr früh.«

Tommy warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Whiskyflasche und schüttelte dann den Kopf, als hätte er es sich anders überlegt.

»Wirst du hier bleiben, Ed?«

»Ich muss das mit dem Haus regeln, sehen, was damit werden soll.«

»Aber dann gehst du zurück in die Staaten?«

»Ich denke schon. Ich hatte noch keine Zeit, mir das zu überlegen, Tommy. Erst den ganzen Tag die Beerdigung, dann den ganzen Abend Linda Dawson und jetzt du.«

»Linda Dawson? Was wollte die denn?«

»Kann ich dir nicht sagen.«

»Lass dich da bloß in nichts reinziehen, Mann. Lass die Finger von der. Die bringt nur Ärger. Armes reiches Mädchen und Schwarze Witwe in einem.«

»Ich kann schon selbst auf mich aufpassen.«

»Na schön. Wenn du nicht hören willst, beschwer dich hinterher auch nicht. Noch was. Lass mich mal in die Werkstatt, Mann.«

Inzwischen fand ich es leichter, einfach zu tun, was Tommy wollte, ohne ihn nach dem Grund zu fragen. Ich führte ihn durch die Küche, schloss die Hintertür auf, ging den Weg entlang und schob den Riegel an der hinteren Tür der Garage beiseite, in der mein Vater seine Werkstatt gehabt hatte.

Drinnen stand ein Wagen unter staubdunklen Planen. Tommy zerrte an den schweren, alten Dingern, und gemeinsam kriegten wir sie schließlich weg.

Darunter kam eine alte Limousine zum Vorschein, renngrün, mit schwungvollen Kurven, Heckflossen und hellbraunen Ledersitzen.

»Wusst ich's doch, dass der noch da ist«, sagte Tommy triumphierend. »Sonst ist ja auch alles unverändert.«

»Was ist das?«, fragte ich.

»Ein Amazon 122S. Ein Volvo, aus der Zeit, als das noch keine Familienkutsche war, die die Mama mit Kindern, Hunden und Einkäufen voll laden kann. Baujahr 1965, glaub ich. Hab mit deinem alten Herrn dran geschraubt.«

»Ein schöner Wagen.«

»Dein Alter war echt kein Engel, aber mit Motoren konnte er umgehen.«

Nachdem Tommy Owens die Schule abgebrochen hatte, hatte mein Vater ihn als Lehrling in seine Autowerkstatt genommen. Während wir anderen noch büffelten, verdiente Tommy bereits Geld, kaufte sich eine Lederjacke und ein Motorrad und schleppte alle Mädchen ab. Dann geriet mein Vater in finanzielle Schwierigkeiten und musste die Werkstatt dichtmachen. Kurz darauf ging er eines Abends aus dem Haus und ward nicht mehr gesehen. Kurz darauf stellte ich fest, dass meine Mutter einen Liebhaber hatte, und ging meinerseits weg. Ich flog nach London, von da aus weiter nach Los Angeles, und dort blieb ich. Irgendwann zahlte ich meiner Mutter den Flug, damit sie mich besuchen konnte, und sie erzählte mir, es sei nichts Ernstes gewesen. Ich sagte, das gehe mich nichts an, und sie erwiderte, so wie mein Vater sie verlassen habe, habe sie jeden Trost gebraucht, den sie bekommen konnte, außerdem sei das alles längst vorbei. Ich gab ihr Recht und entschuldigte mich, und damit war die Sache erledigt. Aber ich kehrte nie mehr nach Hause zurück. Stattdessen sorgte ich dafür, dass sie mich jedes Jahr besuchen kam. Sie war bei meiner Hochzeit dabei, bei der Taufe meiner Tochter Lily und auch bei der Beerdigung. Lily hatte wirre blonde Locken und das falsche Blut, sie starb zwei Wochen vor ihrem zweiten Geburtstag. Danach zerbrach meine Ehe und ich ebenfalls, und meine Mutter hatte ich erst vor zwei Tagen wieder gesehen, in ihrem Sarg im Beerdigungsinstitut. Ich zog ihr den Ehering von der kalten Hand und schaute mir seine Innenseite an. Der Name meines Vaters, Eamonn, war darin eingraviert. Ich steckte ihr den Ring wieder an den Finger. Als ich sie auf die Stirn küsste, war es, als küsste ich einen Stein.

Plötzlich war ich furchtbar müde. Tommy hing schon unter der Motorhaube und murmelte vor sich hin. Ich sagte: »Ich muss jetzt wirklich ins Bett, Tommy.«

Tommy sagte: »Der ist noch richtig gut in Schuss, nach der langen Zeit. Soll ich ihn dir wieder flottmachen?«

»Klar. Wenn ich dann den Mietwagen loswerde, gerne.«

Ich schloss die Garage wieder ab und brachte Tommy nach draußen. Er versprach, morgen als Erstes mit dem Volvo anzufangen, also gab ich ihm einen Schlüssel. Ich hatte zwar so meine Zweifel, ob das Erste bei Tommy tatsächlich am Morgen stattfand, aber falls doch, brauchte ich nicht dabei zu sein. Ich schloss sämtliche Türen ab, schaltete das Licht aus und war gerade auf dem Weg nach oben, als es klingelte.

Scheiß drauf. Egal, was Tommy vergessen hatte, für heute würde er darauf verzichten müssen. Ich ging nach oben ins Bad und putzte mir die Zähne. Aber das Klingeln hörte nicht auf, und dann kam ein heftiges Klopfen dazu. Ich ging wieder nach unten, machte Licht in der Diele und öffnete die Tür, fest entschlossen, Tommy eine zu scheuern. Aber es war gar nicht Tommy, sondern Linda Dawson. Ihr Haar leuchtete hell im Mondschein, und ihre braunen Augen funkelten.

»Entschuldige, Ed«, sagte sie heiser und mit brüchiger Stimme. »Aber ich habe dir ja gesagt, noch eine Nacht allein überstehe ich nicht.«

Wie sich herausstellte, ging es mir genauso. Ich nahm sie bei der Hand und zog sie ins Haus. Dann schloss ich die Tür und machte das Licht aus.

***

Wir klammerten uns im Dunkeln aneinander. Irgendwann, als ich an all das dachte, was in den letzten paar Tagen geschehen war, traten mir heiße Tränen in die Augen. Linda hielt mich in den Armen, bis es vorbei war, und dann, bis ich einschlief.

***

Kurz vor der Morgendämmerung wachte ich auf. Sie saß nackt in einem Sessel in der Zimmerecke, rauchte und schaute den Mond an. Sie lächelte mich an und sagte: »Schlaf weiter.« Das tat ich.

Drei

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war Linda fort. Ich duschte, rasierte mich, zog den schwarzen Anzug an, den ich seit drei Tagen trug, und mein letztes sauberes weißes Hemd. Dann rief ich bei der Fluggesellschaft an, um zu erfahren, wo mein Gepäck steckte. Nachdem man mich mehrfach in die Warteschleife gehängt und an drei verschiedene Leute weiterverbunden hatte, erfuhr ich zunächst, dass es gefunden worden sei und mir noch am selben Tag zugestellt werde, dann, dass es versehentlich nach L. A. zurückgeschickt worden sei, und schließlich, dass der zuständige Mitarbeiter erst später ins Büro komme, ob ich wieder anrufen könne. Irland hatte sich wohl doch nicht so sehr verändert. Ich machte mir Tee und Toast und setzte mich damit nach draußen in den Garten, unter das Apfelbaumpaar, ein männlicher und ein weiblicher Baum. Sie streckten die Zweige nacheinander aus, ohne sich jemals zu berühren, und standen schon da, seit ich denken konnte.

Nach dem Frühstück ging ich wieder ins Haus und schaute mich um. Seit meiner Kindheit war nichts verändert worden; jetzt war die Einrichtung rissig und ausgefranst, angeschlagen, fleckig und feucht, und über allem lag ein modriger, schimmliger Geruch, ein Aroma von Vernachlässigung, von Verfall. Tommy hatte schon Recht: Wie es hier aussah! Ich setzte mich auf die Treppe und betrachtete das Telefon, das auf einem billigen Kieferntischchen stand. Es war ein altes schwarzes Bakelittelefon mit einer braunen Schnur, die wie ein grober Schuhriemen aussah. Daneben stand eine Vase mit Nelken und ein Adressbuch. Die Nelken verströmten einen süßen, würzigen Duft, der mich an längst vergangene Sommer und an meine Mutter erinnerte. Das Adressbuch war bei meinem Namen aufgeschlagen. Mrs. Fallon, die Nachbarin, hatte meine Mutter bewusstlos auf der Veranda gefunden und den Krankenwagen gerufen. Dann hatte sie im Adressbuch unter »Loy« nachgesehen und mich in Los Angeles zu erreichen versucht. Als ich die Nachricht abhörte und im St.-Vincent-Krankenhaus anrief, war meine Mutter schon tot. So, wie es hier im Haus aussah, hatte sie schon lange auf den Tod gewartet.

Das Telefon klingelte.

»Ich habe es vorhin schon mal versucht, aber da war besetzt. Ich wollte nicht, dass du denkst, ich sei einfach abgehauen«, sagte Linda. Sie klang heiser und ein bisschen zu gut gelaunt.

»Es ist noch viel zu früh, um überhaupt etwas zu denken«, sagte ich.

»Ich weiß, was du meinst. Ich habe die Unterlagen, die du wolltest, Peters Telefonverbindungen und den ganzen Kram. Willst du vorbeikommen und sie abholen?«

Ich sagte »bis später« und legte auf. Aber eigentlich wollte ich gar kein Später. Ich bereute es nicht, mit ihr geschlafen zu haben, im Gegenteil. Aber wenn ich den Ehemann einer Frau suchte, mit der ich ins Bett ging, würden wir das beide nur zu bald bereuen, das wusste ich. Außerdem musste ich den Zug kriegen.

***

Der DART – kein Mensch sagt Dublin Area Rapid Transit dazu – fährt für fünfzig Kilometer auf der Zugstrecke, die an der Ostküste des Landes entlangführt, von Rosslare im Süden bis nach Belfast im Norden. Ich fuhr damit bis zur Pearse Station, überquerte die Westland Row und schloss mich der Horde von Büroangestellten an, die durch das hintere Tor des Trinity-Colleges strömten. Der Campus war zwar keine direkte Abkürzung, um ins Zentrum zu kommen, aber ein morgendlicher Spaziergang über ein elisabethanisches Universitätsgelände war sicher nicht die schlechteste Art, den Tag zu beginnen. Während ich durch den College Park spazierte, vorbei an der Old Library und über das Kopfsteinpflaster zum Haupteingang, überlegte ich, wie mein Leben wohl aussehen würde, wenn ich hier Medizin studiert hätte, wie ich es damals, vor all den Jahren, eigentlich vorhatte. Der unbegangene Weg.