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Über dieses Buch:

Wie eine warmherzige Umarmung umschließt der milde Altweibersommer die malerische Schäreninsel Saltö. Die Ferienbesucher sind auf dem Heimweg und für die Bewohner liegt die Vorfreude auf das alljährliche Krebsfest in der Luft, das ein fantastisches Spektakel bedeutet. Mit dabei sind auch die kleine Wilma und ihr Vater, der Schärendoktor Johan Steen, der mit Leib und Seele über das gesundheitliche Wohl der ebenso liebenswerten wie verschrobenen Schärenbewohner wacht. Leider kann er die Festtagsstimmung kaum genießen, denn er vermisst noch immer schmerzlich seine Frau Eva. Doch dann kündigt sie plötzlich ihren Besuch an und Johans Hoffnung wird neu geweckt: Können sie wieder eine Familie werden?

Über den Autor:

Lars Bill Lundholm wurde als Drehbuchautor preisgekrönter schwedischer Film- und Fernsehproduktionen bekannt. Seine Bandbreite reicht von gefühlvollen Inselromanen bis hin zu spannungsgeladenen Kriminalromanen. Er lebt in Stockholm.

Lars Bill Lundholm veröffentlichte bei dotbooks bereits den Inselroman »Der Schärendoktor – Der erste Sommer« und die beiden Stockholm-Krimis »Mord in Östermalm« und »Tod in Södermalm«.

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eBook-Neuausgabe Oktober 2019

Dieses Buch erschien bereits 2007 unter dem Titel »Der Schärendoktor – Zeit der Krebse« bei RM Buch und Medien Vertrieb GmbH und den angeschlossenen Buchgemeinschaften

Copyright © der schwedischen Originalausgabe by Lars Bill Lundholm

Die schwedische Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel »Skärgårdsdoktorn. Kräftor och kvälsdopp« bei Forum, Sweden.

Copyright © der deutschen Ausgabe 2007 by RM Buch und Medien Vertrieb GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/BigganVi, nasidastudio, Ekaterina Kondratova

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-95824-210-4

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Lars Bill Lundholm

Der Schärendoktor - Herbstfest auf Saltö

Roman

Aus dem Schwedischen von Gabriele Haefs

dotbooks.

Zeit der Krebse

1. Kapitel

MITTEN IM GEWIMMEL der Schäreninseln lag Saltö, eine ländliche Idylle mit einer einzigen Verbindung zum Festland – der gelben Fähre, die das ganze Jahr hindurch in ununterbrochenem Pendelverkehr unterwegs war. In Sonnenschein und abendlicher Dunkelheit. Dieses Hin und Her hatte etwas Zeitloses. Es war wie eine Impfung gegen allzu große Veränderungen.

Und wenn man an einem Augustabend auf dem Festland die Fähre nahm und Saltö im sanften Licht des Spätsommerabends wie eine Oase daliegen sah, dann wusste man, dass sich in den letzten Jahrzehnten dort kaum etwas verändert hatte. Die Insel wirkte wie eine Schutzzone, wie ein friedliches Reservat, das wie ein überzähliges Teil in das dicht gefügte Puzzlespiel der Weltordnung lag. Hier konnten die Menschen sie selbst sein und ihre Eigenheiten entwickeln. Denn die Inselbewohner waren ein ganz besonderer Stamm: Entweder blieben sie für den Rest ihres Lebens auf der Insel, oder sie ließen sich in wildfremden Gegenden nieder. Ein Zwischending gab es einfach nicht.

Eva, die Frau des neuen Schärendoktors Dr. Johan Steen und Tochter des alten Doktors Axel Holtman, war etliche Jahre zuvor nach Afrika gegangen und hatte sich so von der Insel losgerissen. Zu Axel Holtmans großem Kummer. Aber sie hatte versprochen, zurückzukehren und die Praxis zu übernehmen, wenn er in Ruhestand ging. Dann aber war es anders gekommen. Als endlich das Umzugsgepäck aus Somalia eintraf, war Eva Steen nicht dabei. Ein Konflikt in Ruanda hatte sie zu dem Entschluss gebracht, noch eine Weile in Afrika zu bleiben. Als Angehörige von Ärzte ohne Grenzen fühlte sie sich für die Notleidenden verantwortlich und wollte helfen.

Nun war Johan Steen der neue Schärendoktor und hatte die Praxis und ihre Patienten übernommen. Auch das zu Axel Holtmans großem Kummer. Aber er freute sich darüber, wenigstens seine Enkelin Wilma, ein blondes, kluges Mädchen mit übermütigem, kornblumenblauem Blick, zu Hause zu haben. Sie war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, und Axel hatte immer wieder das Gefühl, eine Art Déjà-vu zu erleben, wenn er Wilma schwimmen, spielen und wachsen sah – so wie Eva damals.

Ja, Saltö war von einer gewissen Zeitlosigkeit geprägt. Es waren die Menschen, die diese Stimmung hervorriefen. Sie veränderten sich kaum, und wenn doch etwas Unvorhergesehenes passierte, sorgten sie dafür, dass die Uhren schnell wieder zurückgedreht wurden.

Der erste Sommer als neuer Schärendoktor hatte für Johan eine Mischung aus Kummer und Freude gebracht. Freude, weil er diese Arbeit wirklich liebte und durchaus der Meinung war, sie gut zu bewältigen, auch wenn Schwiegervater Axel immer wieder das Territorium des neuen Doktors verletzte. Kummer, weil er das Glück, Wilma beim Heranwachsen zuzuschauen, nicht mit seiner geliebten Eva teilen konnte.

Manchmal hatte er das Gefühl, dass bei Wilma nach ihrer Zeit in Afrika immer wieder eine gewisse Wildheit durchbrach, auch wenn sie sich den schwedischen Verhältnissen anscheinend gut angepasst hatte. Obwohl sie in Afrika nur sporadisch zur Schule gegangen war und einige kriegsversehrte Kinder und ein alter Schwarzer namens M'obe ihre einzigen Gefährten gewesen waren, fügte sie sich am Ende doch ins Schärenleben ein. Aber noch immer wurde sie hier in gewisser Weise nur geduldet.

Sören Rapp, der letzte Schärenkerl, hatte gesagt, es brauche drei Generationen von sesshaften Inselbewohnern, um auf Saltö akzeptiert zu werden, und da Wilma nicht hier geboren sei, werde sie niemals wie die Leute auf der Insel werden können, obwohl ihr Großvater hier lebte und ihre Mutter hier geboren worden war. Sie müsse sozusagen ganz von vorn anfangen.

Aber Wilma achtete nicht auf solche Haarspaltereien. Sie war absolut zufrieden damit, in Afrika aufgewachsen und erst als angehender Teenager nach Schweden zurückgekehrt zu sein. Sie fühlte sich als Schwedin, aber nicht nur. Sie erkannte sich in den Menschen wieder, aber nicht ganz. Ihr größtes Problem war es wohl, sich den schwedischen Sitten anzupassen. Die waren doch ganz anders als in Afrika.

Auch im Feldlazarett in Somalia hatten sie den Heiligen Abend gefeiert, aber die restlichen Rituale, die das Jahr so mit sich brachte, waren fremdes Terrain für Wilma. Den Mittsommerabend auf Saltö hatte sie nun erlebt, aber sie hatte nicht richtig begriffen, wer »da unten« aufpassen sollte – so lautete das Ende des Trinklieds, das ihr Großvater beim Krebsessen am Mittsommertisch zum Besten geben wollte, wenn Schnaps getrunken wurde. Und jetzt, da das Krebsessen vorbereitet wurde, wartete sie gespannt darauf, in ein weiteres unbekanntes Ritual eingeweiht zu werden.

Eine Sammlung von putzigen Krebshüten aus Krepppapier mit Gummischnüren, die man unter dem Kinn befestigte, lag auf dem Küchentisch und erregte ihre Aufmerksamkeit. Es gab rote Feze, Matrosenmützen und runde kleine Tantenhütchen, auf denen oben ein Papierball klebte. Wilma drehte und wendete diese Kopfbedeckungen.

Wie Papa wohl mit so was aussehen würde, überlegte sie und kicherte.

Gleich daneben lag ein Stapel Lätzchen, die mit Krebsen und einem kleinen Trinklied bedruckt waren. Ein auf die Lätzchen gedruckter bärtiger Herr wies auf die Betrachterin und sagte: »Krebse wollen so was trinken.« Wilma begriff nicht so recht, wie das zu verstehen war.

Plötzlich tauchte Schwester Berit hinter Wilma auf. »Hilfst du mir beim Decken?«, fragte sie.

Wilma nickte kurz und sah noch einmal den bärtigen Herrn an.

Einer, der die Sitten auf den Schären umso besser kannte, war Axel Holtman. Sein Vater hatte ihn eingeweiht, der auf Rindö bei Waxholm als Offizier gedient hatte. Jetzt, wo der Abend des Krebsessens näher rückte, wusste Axel genau, was er zu tun hatte. Er hatte sein gesamtes Erwachsenenleben hindurch dasselbe Ritual befolgt. Zuerst ging er in den Keller, um den selbst gewürzten Schnaps und den abgelagerten Västerbottenkäse zu holen. Dann wieder hinauf, wo er Graubrot und Butter und nicht zuletzt die alten Schnapsgläser seines Vaters hervorholte. Mundgeblasene Gläser aus Småland, und in all den Jahren war nicht ein einziges zerbrochen. Man nahm sie andächtig in die Hand und trank voller Respekt daraus.

Als Axel mit seinen Requisiten aus dem Haus kam, ließ er den Blick über das Grundstück schweifen. Im Garten stand ein üppig gedeckter Tisch – das war Schwester Berits Verdienst. Girlanden und bunte Laternen schmückten ihn. Und das Licht würden sie auch brauchen, denn jetzt war August auf Saltö, die Tage waren kürzer geworden, und die Abende überraschten durch ihr frühes Einsetzen. Das Grün war dunkler geworden, die reifen Vogelbeeren wogten im stärker werdenden Wind, und die Landschaft kündigte Herbst und Dunkelheit an.

Die Tür zur Praxis wurde geöffnet, und Wilma und Schwester Berit trugen Servietten, Krebsmützen und das Porzellangeschirr zum Tisch. Axel nickte zufrieden. Echtes Porzellan gehörte dazu. Pappteller und Plastikbestecke waren auf diesem Tisch nicht willkommen, es reichte, dass er bei den Papierservietten nachgegeben hatte. Schwester Berit hatte nämlich gesagt, wenn der Doktor auf Leinenservietten bestehe, müsse er sie auch selbst waschen und bügeln. Axel Holtman hatte in seinem ganzen Leben nichts anderes gewaschen als Wunden, und deshalb hatten die roten Papierservietten ihren Einzug im Wendekreis des Krebses genommen.

»Schierling und Kümmel. Gut für die Verdauung«, sagte Axel, stellte die Flasche mitten auf den Tisch und zwinkerte Wilma zu.

Da war es wieder, dachte sie. Etwas, das eine Bedeutung hat, das ich aber nicht verstehe. Ein Zwinkern und ein Leuchten im Blick und dann die Bemerkung, dass der Schnaps gut für die Verdauung sein soll. Sie gab vor, den Code verstanden zu haben, und lächelte vorsichtshalber ein wenig.

»Arbeitet Johan noch?«, fragte Axel.

Schwester Berit nickte.

Axel hatte die Praxis am 18. August, wenn die Krebssaison begann, immer früh geschlossen. Er wollte den Nachmittag frei haben, um alle Vorbereitungen zu treffen. Aber Johan hatte natürlich kein Gespür für Traditionen, und das machte Axel ab und zu Sorgen. Doch wenn er sich nicht irrte, dann waren Johan und Eva dreizehn Jahre zuvor an einem Augustabend auf Saltö gewesen, irgendeine Ahnung von Krebsen musste Johan also doch haben. Nur war er eben auf Kungsholmen aufgewachsen, und die Götter mochten wissen, wie man dort Krebse aß. Axel hatte das Gefühl, dass man es dort überhaupt nicht tat. Dass diese dunkelroten magischen Tiere in einer Großstadtwohnung nichts zu suchen hatten.

Axel trat auf die Treppe und schaute hinaus aufs Wasser. Er träumte sich dreizehn Jahre zurück in der Zeit. Ja, damals waren sie plötzlich mit einem geliehenen Auto gekommen, als Axel, Sören Rapp, Schwester Berit und einige Männer aus Axel Holtmans Winterbadegruppe sich gerade zu Tisch setzen wollten.

»Hallo, Papa«, hatte Eva gesagt, war ihm um den Hals gefallen und hatte ihm einen Kuss auf die Wange gepflanzt.

»Hallo«, hatte Johan gesagt und sein ganz eigenes jungenhaftes Lächeln gelächelt. Man wusste nie, ob er wirklich lächelte oder ob es eine Art ironischer Grimasse sein sollte. »Hoffentlich stören wir nicht.«

»Absolut nicht!«, hatte Axel beteuert, aber auf irgendeine Weise war er nervös gewesen. Es sah Eva nicht ähnlich, einfach ohne Vorwarnung aufzutauchen. Sie rief immer schon lange vorher an. Axel wusste über seinen Schwiegersohn zwar kaum etwas, aber doch so viel, dass der immer plante und organisierte und nur sehr selten nach Gehör spielte. »Setzt euch und lasst es euch schmecken. Ein Schnäpschen vielleicht?«

Eva warf Johan einen kurzen Blick zu, den Axel aufschnappte, und dieser Blick war eine Art Warnsignal.

»Wir müssen morgen früh raus, Papa.«

»Na dann«, sagte Axel und sah seine Tochter an. Im Abendlicht war sie so schön, dass es ihm wehtat. Sie war schlank und sehnig und hatte sich über ihr Baumwollkleid eine Jacke gestreift. Ihre Beine waren nach dem heißen Sommer braun gebrannt, und an den bloßen Füßen trug sie Turnschuhe. Auf irgendeine Weise hatte er das Gefühl, dass sie immer schon so gewesen war. Seit ihrer Teenagerzeit. Beweglich, sehnig, willensstark und mit einem großen Herzen ausgestattet.

Wie hatte Johan Steen sie fangen können? Natürlich wusste Axel, dass die beiden sich beim Medizinstudium kennengelernt hatten, aber wie aus den Kommilitonen ein Paar geworden war, das hatte er niemals so richtig durchschaut. Eva schien Johan bezaubernd zu finden, Axel dagegen war es schleierhaft, was sie an ihm faszinierte. Zwar sah Johan gut aus mit seinem blonden Schopf und seinen Sommersprossen um die Nasenwurzel, aber er war nicht gerade groß gewachsen. Axel war außerdem aufgefallen, dass er einen wütenden Zug um den Mund bekam, wenn er seinen Willen nicht durchsetzen konnte. Er musste an Snuffy Smith denken, wann immer er seinen Schwiegersohn betrachtete.

Aber Eva sah etwas anderes in Johan, und als Axel sie bei irgendeiner Gelegenheit danach fragte, hatte sie ihn lange angeblickt und danach mit ruhiger Stimme gesagt: »Ich wachse, wenn ich mit ihm zusammen bin. Als Mensch.«

Axel war nicht weiter in sie gedrungen, auch wenn er nicht richtig verstand, was seine Tochter damit sagen wollte.

Eva dagegen war sich ihrer Sache sicher gewesen. So sicher wie damals, vor dreizehn Jahren an jenem Augustabend, als sie sich vom Krebsessen erhoben und ihren Papa zur Seite gezogen hatte.

»Ich bin eigentlich gekommen, um mich zu verabschieden, Papa.«

Axel schaute sie einige Sekunden lang verwirrt an. »Verabschieden?«

Eva nickte und wechselte wieder einen Blick mit Johan, der ein Stück von ihnen entfernt stand, in ausgebeulter Khakihose und weitem, dickem Pullover. »Johan und ich haben vor, ins Ausland zu gehen.«

»Was?« Axel begriff noch immer nicht. Ins Ausland gehen? »Wozu denn? Und warum?«

»Ich habe eine sehr teure Ausbildung absolviert und will meine Kenntnisse nicht an verkaterte Sommergäste und andere Wohlstandswehwehchen vergeuden. Ich will mich für die wirklich Notleidenden einsetzen, Papa.«

»Die wirklich Notleidenden«, wiederholte er. »War das Johans Idee?«

Eva schüttelte den Kopf. »Nein. Meine. Aber ich habe ihn dazu überredet, mitzukommen.«

»Wohin denn?«

»Zuerst in die palästinensischen Flüchtlingslager.« Sie zuckte mit den Schultern.

Johan sah sie noch immer an. »Alle Proben, Untersuchungen und Röntgenbilder sagen mir, dass Sie ein außergewöhnlich gesunder Mensch sind, Frau Karlsson.« Er bedachte sie mit einem vertrauenerweckenden Blick. »Aber wenn Sie sich Sorgen machen, dann werden wir natürlich noch weitere Untersuchungen anstellen. Wichtig ist doch, dass es Ihnen gut geht.«

»Danke, Doktor«, sagte Frau Karlsson erleichtert. »Ich wäre dankbar, wenn Sie auch meinen Hormonstatus überprüfen könnten.«

»Ihren Hormonstatus?«

»Ja, darüber habe ich in der Zeitung gelesen. Die Gesundheit ...«

»Wenn Sie glauben, dass Ihnen das hilft«, seufzte Johan, »dann werden wir so einen Test machen.«

Frau Karlsson erhob sich, reichte Johan die Hand und bedankte sich leicht verlegen. »Ich weiß, dass ich mich auf Sie verlassen kann, Doktor. Der alte Doktor, der war einfach unverschämt. Er hat mich hinter meinem Rücken als Hypochonderin bezeichnet.«

Sie war gerade gegangen, als Axel Holtman in die Praxis schaute. »Was hatte die denn schon wieder?«

Johan zog seinen Arztkittel aus. Er hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass sein Schwiegervater alles wissen wollte, was in der Praxis vor sich ging.

»Schmerzen in der rechten Brust«, antwortete er.

Axel musterte ihn nachdenklich. »Ach was, ist es jetzt die rechte? Früher war es die linke.«

Johan schaute ihn überrascht an, und Axel konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Das war ein Scherz, Johan. Komm, jetzt gibt es erst mal einen Schnaps.«

Es war kein Scherz, den Johan zu schätzen wusste, aber er folgte seinem Schwiegervater dennoch nach draußen und blieb eine Weile auf der Treppe stehen.

Der Sommer geht zur Neige, dachte er ein wenig wehmütig. Früher an diesem Tag hatte er sich unten am Sund die vorüberziehende Armada aus Booten angesehen, die die Großstadt ansteuerte und nicht das offene Meer. Er hatte gesehen, wie die Sommerkinder sich von ihren neuen Freunden und kleinen Katzen verabschiedeten. Bald sind wir hier allein, dachte er.

Axels Gedanken liefen in eine andere Richtung. Gibt es einen schöneren Schlusspunkt hinter den Freuden des Sommers als einen zünftigen Krebsabend?, überlegte er. Nein, verdammt noch mal, das gibt es nicht, antwortete er sich und steuerte den gedeckten Tisch an.

In der großen Villa der Familie Lindelius, die ein Stück von der Schärenpraxis entfernt und etwas mehr zum Wasser hin lag, waren festliche Lichter angezündet. Krebslaternen standen in der verglasten Veranda, am Kiesweg ragten hohe Fackeln auf. George und Maria Lindelius hielten ihr alljährliches Krebsfest ab. Die meisten der Eingeladenen waren hiesige kleinere Unternehmer. Saltö vibrierte vor Geschäftigkeit. Die Familien, die hier draußen im Schärengürtel bleiben wollten, konnten nicht wie früher vom Fischen oder einer kleinen Landwirtschaft leben. Diese Berufe machten niemanden mehr satt. Nein, es galt, im Dienstleistungsbereich eine Nische zu finden – fast die gesamte sesshafte Bevölkerung lebte von den Sommergästen und dem, was der kurze Sommer abwarf.

Unter den Gästen beim Krebsabend der Familie Lindelius waren der Zimmermann und seine Frau, die die Buchführung erledigte, ein Mann, der mit einem Bagger sein Geld verdiente, und seine Frau, die halbtags auf der Post arbeitete, des Weiteren ein Rohrleger und ein Immobilienmakler, die aus Stockholm hergezogen waren, um sich, wie sie hofften, hier draußen eine goldene Nase zu verdienen. So war es jedoch nicht gekommen. Beide hatten ihre Villa verkaufen und in ihr jeweiliges Bürogebäude ziehen müssen. Die Lokalbevölkerung wandte sich nur selten an einen Makler, wenn es darum ging, ein Haus zu kaufen oder zu verkaufen. Hier lief fast alles über Mundpropaganda. Aber an diesem Abend sollte glücklicherweise nicht von Geschäften gesprochen werden.

George Lindelius half seiner Frau, den Reißverschluss an ihrem Kleid zu schließen. Er war ein Mann von Mitte vierzig, ein wenig übergewichtig, mit nach hinten gestrichenen rotblonden Haaren. Er kämpfte mit dem Reißverschluss, bis er ihn schließlich hochziehen konnte. Maria schob die Träger ihres Kleids auf den Schultern zurecht.

»Da kommen sie«, sagte George und bedachte Maria mit einem nervösen Blick, ehe er im Spiegel seinen Schlipsknoten überprüfte und dann das Schlafzimmer verließ.

Maria schaute hinter ihm her und zog dann ein letztes Mal die Lippen nach und fuhr sich mit einem Kamm durch die blonden Haare. Sie war mit ihrem Aussehen ziemlich zufrieden. Hohe Wangenknochen, ein hübsches und fast herzförmiges Gesicht und ein tiefgründiger Blick. Aber etwas schien in ihr zu zerbrechen, und sie wusste nicht so recht, was es war. Sie wusste auch nicht, ob es Sinn hatte, es zu retten. Sie fühlte sich einfach nur leer, und seit einiger Zeit hatte sie es sich angewöhnt, das bohrende Gefühl der Leere mit nervenberuhigenden Tabletten zu dämpfen.

Sie öffnete eine Schublade in ihrem Toilettentisch und nahm ein Pillenglas heraus. Sie schüttelte zwei weiße Tabletten auf ihre Hand. Der Arzt hatte gesagt, bei Bedarf eine, höchstens dreimal am Tag, aber zwei würden bestimmt auch nicht schaden. Damit sie wenigstens eine Wirkung zeigten. Die Tabletten würden ihr helfen, für den Abend ihre Nerven im Zaum zu halten, dachte sie und schluckte sie hinunter.

Ihre Tochter Madeleine oder Maddo, wie deren Freundin Wilma sie nannte, stand in der Türöffnung und beobachtete sie. Sie war besorgt. Sie wusste nicht warum, aber seit einiger Zeit fand sie, dass ihre Mama sich immer seltsamer benahm. Wegen einer Nichtigkeit konnte sie in die Luft gehen und sich wie eine Idiotin schrecklich aufregen. Oder sie saß vollkommen abwesend am Frühstückstisch. Wenn Madeleine mit ihr sprach, antwortete sie häufig nicht. Abends war es am schlimmsten. Wenn sie stumm ins Leere starrte. Die Medizin, die sie in der Schublade des Toilettentischs ihrer Mama gesehen hatte, hieß Valium, aber Maddo wusste nicht so recht, wozu sie gut war. Trotzdem krampfte sich ihr Magen jedes Mal zusammen, wenn sie ihre Mutter diese verdammten Pillen nehmen sah.

Auf Norrskär, einer einsamen Insel im Südwesten von Saltö, stand ein einziges Haus. Es war ein kleines hölzernes Fischerhaus zwischen zwei Felskuppen und gehörte Oskar Ljunglöf, ehemals Segelmacher, jetzt Rentner und Hundebesitzer. Ja, so stellte er sich heutzutage vor. Früher hatte er für fast alle Leute auf den Schäreninseln Segel genäht, sogar für den einen oder anderen großen Segler, der ein echtes Ljunglöfsegel haben wollte. Er hatte für den alten Major Holtman, Axels Vater, und für den berüchtigten alten Rapp, den Vater von Sören und Berit, gearbeitet.

Aber jetzt war Ljunglöf Rentner und Hundebesitzer. Er hatte sich sogar im Telefonbuch mit der Bezeichnung »Hundebesitzer« eintragen lassen. Das sollte keineswegs ein Witz sein. Für Oskar Ljunglöf war der Hund nunmehr sein Ein und Alles. Er behandelte ihn als Freund, und niemals hatte er einen treueren gehabt. Treuer als seine Frau, wie es sich nach deren Tod herausgestellt hatte. Oder jedenfalls ehrlicher.

Als die Alte verstorben war, hatte ihr Testament etwas Seltsames ans Licht gebracht. Einen Sohn. Einen Sohn, den sie in jungen Jahren zur Adoption freigegeben hatte. Unmittelbar ehe Oskar sie kennengelernt hatte. Und das hatte sie ihm in all den Jahren verschwiegen.

Sie, die zu Oskars großem Kummer keine Kinder wollte. Um dann zu erfahren, dass es schon ein Kind gab. Ein leibliches Kind. Ihr Blut würde weitervererbt werden, das von Segelmacher Ljunglöf dagegen würde mit ihm aussterben.

Noch Wochen nach der Beerdigung war er wütend auf sie gewesen, aber als ein Kunde ihm einen kleinen Welpen namens Palle brachte, hatte er den Schmerz langsam losgelassen, und die Freude, einen neuen Kumpel zu haben, war zusehends stärker geworden. Ja, Palle leistete ihm nicht nur Gesellschaft, der Hund war Oskars Augenstern, sein Ein und Alles eben. Er teilte all seine Gedanken mit Palle, und sie ließen einander nur wenige Minuten am Tag aus den Augen. Außerdem hatten sie so manche gemeinsame Geheimnisse. Der Hund hatte sich zum Beispiel an dem selbst gebrannten Schnaps mitschuldig gemacht, der jetzt mit den Krebsen auf dem Tisch stand.

Oskar betrachtete zärtlich Palle, einen großen, zottigen Hund mit gelblich leuchtenden Augen. Sie saßen einander gegenüber am Tisch, und beide trugen Krebshüte.

Ljunglöf goss sich einen guten Schluck in ein Schnapsglas und bediente sich an den Krebsen. Palle bekam einen Knochen mit viel Fleisch und eine Schale voll Wasser.

»Prost, alter Freund«, sagte Oskar Ljunglöf und hob sein Glas.

Palle betrachtete liebevoll den alten Mann mit den zwei Tage alten Bartstoppeln in dem wettergegerbten Gesicht.

Im Garten der Schärenpraxis fuhr ein kräftiger Wind durch die Krebslaternen, und ihr Licht flackerte über die Gesichter von Axel, Berit, Wilma und Johan, die jetzt Hüte und Lätzchen trugen.

»Nach dem Krebsessen nehmen wir doch noch ein Abendbad, nicht wahr, Papa?«, fragte Wilma.

»Natürlich«, sagte Johan und warf einen Blick auf die Uhr. Das Einzige, was jetzt noch fehlte, waren die Krebse. Er sah Berit an.

»Sören hat acht Uhr gesagt, aber er hat ja noch nie eine Uhr besessen.«

Gott, wie hatte sie es satt, ihren Bruder und dessen unkonventionellen Lebensstil zu verteidigen. Aber es war erst Viertel vor acht, und deshalb bestand noch kein Grund, sich zu beschweren. Nicht einmal über Sören.

»Wir könnten vielleicht mit einem Butterbrot und einem Schnaps anfangen«, sagte Axel Holtman. Ihm lief bereits das Wasser im Munde zusammen. »Was meint ihr?« Er griff nach der Schnapsflasche.

»Ich höre das Fahrrad«, sagte Wilma, und alle lauschten.

Zuerst hörten sie nur den Wind rauschen, aber dann konnten sie das regelmäßige Scharren eines Rads am Blech hören, und plötzlich tauchte aus dem Schatten eine Gestalt auf. Jemand mit einem großen Korb auf dem Gepäckträger.

»Guten Abend.« Sören nahm seine verschlissene Schirmmütze ab und setzte sie gleich wieder auf.

»Du hättest schon um ...«, begann Berit.

Sören hob eine Hand. »... vor einer Weile hier sein sollen. Ja, ich weiß. Aber Krebse zu besorgen war schwerer, als ich gedacht hatte.«

Schwester Berit starrte ihn an. Sie wusste, dass Sören seine eigene Zeitrechnung hatte. Während normale Menschen in Abschnitten von ungefähr fünfzehn Minuten dachten, kannte Sören allenfalls Stunden. Doch im Grunde genommen wurde ein Tag in großen Abschnitten gebucht: Vormittag, Nachmittag – Tag oder Nacht. Sie schnaubte. Dass er auch immer zu spät kommen musste! »Seltsam. Im Lebensmittelladen lag heute Morgen noch die ganze Kühltruhe voll.«

Sören schüttelte traurig den Kopf. »Solche Krebse kann man doch nicht essen. Die kommen schließlich aus Amerika und der Türkei. Nein, es müssen schwedische sein. Und frische.«

»Sind die denn nicht schweineteuer?«, fragte Johan. Er hatte irgendwann in einer schwedischen Zeitung gelesen, dass die schwedischen Gewässer von der Krebspest heimgesucht wurden und dass für die wenigen nicht infizierten Tiere astronomische Preise gefordert würden.

Sören zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Was schmeckt, das kostet eben. Nimm den Korb, Wilma.«

Wilma ergriff den Korb und ging damit zum Tisch.

»Nicht dahin. Noch nicht ...«

Wilma machte ein verwirrtes Gesicht.

»Äh, hol doch bitte eine Schüssel, Berit, damit wir endlich unseren Schnaps trinken können«, sagte Axel.

»Wir brauchen noch keine Schüssel«, sagte Sören in dem Augenblick, in dem Wilma aufschrie und den Korb losließ.

Die anderen sprangen auf und schauten hinein. Im Korb wimmelte es von an die zwanzig lebendigen schwarzen Krebsen.

Axel Holtman seufzte und schüttelte den Kopf.

Sören schien die ganze Aufregung nicht zu begreifen. »Frisch, wie gesagt«, war sein einziger Kommentar. »Und den Dill hab ich selbst gepflückt.«

Auf dem Krebsfest bei Familie Lindelius wurde ausgiebig geschlürft. Die Gäste beneideten George. Mit seinen Geschäften spielte er in einer viel höheren Liga als sie und war auf Saltö eine Art König. Worin genau seine Geschäfte bestanden, durchschaute niemand so recht, aber es hatte etwas mit Finanzen zu tun. Finanzen und Investitionen. Normalerweise also beneideten sie ihn, aber jetzt litten die Gäste mit George, als ihr Blick auf seiner Frau Maria ruhte, die am Tischende stand und mit glasigem Blick ein Trinklied sang.

»Mein Glas, das ist nun leider leer«, sang sie.

Und die Gäste antworteten im Chor: »Tjofadderitan Lambo.«

»Und keinen Tropfen gibt es mehr«, sang Maria.

»Tjofadderitan Lambo.«

»Zum Zei...« Sie verlor den Faden, und die anderen sahen, wie sie in ihrer verworrenen Erinnerung nach den richtigen Worten suchte.

»Zum Zeichen ich nun wende.« Die Worte wurden mehr genuschelt als gesungen, und jemand wollte soufflieren, was ihm aber einen tadelnden Blick von Maria einbrachte.

»Das Glas ans richt'ge Ende.«

Sie wollte sich das Glas auf den Kopf setzen, aber der Krebshut war im Weg, und als sie das Glas wieder herunternehmen wollte, glitt es ihr aus der Hand und zerbrach auf dem Holzboden der Veranda. Langes Schweigen folgte, bis Maria ein wenig hysterisch auflachte. George lachte auch, wie um allen klar zu machen, dass sie das Glas mehr oder weniger absichtlich weggeworfen habe. Er erhob sich und sah sie an.

»Komm jetzt, Maria, hilf mir, den Käse herauszubringen.«

Maria ging hinter ihm her, und sie verschwanden in der Küche.

»Sei ein bisschen vorsichtig mit dem Schnaps«, flüsterte George.

Maria schaute ihn verständnislos an. »Wieso denn? Ich hab doch kaum was getrunken ...«

»Du benimmst dich aber so«, antwortete er mit harter Stimme.

»Du musst mir auch immer alles kaputtmachen«, sagte Maria mit endlos tiefer Müdigkeit in der Stimme. »Kaum amüsier ich mich ein bisschen, schon krieg ich eins auf die Finger.«

»Das stimmt nicht«, sagte George gelassen.

Maria fuhr herum und starrte ihn hasserfüllt an. »Doch, genau so ist es!«, schrie sie und lief die Treppe ins Obergeschoss hoch.

George blickte sich zu den Festgästen auf der Veranda um, aber von denen hatte niemand den Auftritt beobachtet. Nur zwei Augen hatten alles verfolgt, und jetzt begegneten sie seinen. Es waren Madeleines, und sie sah ihn fast auffordernd an. George zögerte, aber dann ging auch er die Treppe nach oben.

Maria, die mit dem Tablettenröhrchen in der Hand auf dem Bett saß, hörte ihn kommen. Sie hatte noch sechs Stück.

»Maria!«, rief er.

Sie konnte gerade noch drei Tabletten in den Mund stecken, ehe George das Zimmer betrat und ihr die Hand auf die Schulter legte.

»Willst du nicht nach unten kommen? Wir vermissen dich.«

Maria sah ihn an. »Nur, wenn du um Verzeihung bittest, George.«

»Verzeihung«, sagte er. Er wollte keine weitere Auseinandersetzung und wusste, dass er den Rest des Abends lammfromm sein müsste, wenn er keinen weiteren Ausbruch heraufbeschwören wollte.

»Ach, du Alter«, sagte sie, lächelte kurz und strich sich die Haare aus der Stirn. »Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen.«

»Danke. Du weißt doch, wie Bergmans reden«, sagte er erleichtert. Bergman war der Rohrleger. Er und seine Frau waren Plappermäuler. Wenn sie erst einmal das Wort ergriffen hatten, war es unmöglich, sie zum Schweigen zu bringen.

Maria zuckte mit den Achseln, schob energisch die Hand unter seinen Arm und beugte sich zu ihm vor. »Sollen sie doch reden«, sagte sie gleichgültig und ging mit ihm zusammen die Treppe hinunter.

Madeleine atmete erleichtert auf, als sie ihre Mutter wieder sah.

»Ich glaube, ich vertrage Krebse nicht«, sagte Maria, und die Tafelrunde nickte verständnisvoll.

»Aber jetzt geht's mir wieder besser, und was haltet ihr von einem Tänzchen?«

Sie ging zum CD-Spieler und legte Olle Adolphsons Version von »Dans på Sunnanö« ein. Dann machte sie vor ihrem Mann einen tiefen Knicks.

»George ...«

George verbeugte sich elegant, und die beiden tanzten über die große Veranda. Nach dem Tanz applaudierten alle, und Madeleine hielt die ärgste Krise für beendet. Aber nur vielleicht ... sie fühlte sich wie erschlagen. Als ob ein unsichtbarer Vorhang vor ihren Augen zugezogen würde.

In der Schärenklinik waren die Krebse nun endlich nach Axel Holtmans Anweisungen gekocht worden. In einem Sud aus Krondill, Dunkelbier und Salz. Jetzt lagen sie rot und schön in einer großen Tonschüssel, deren Boden mit Eis ausgelegt war, um die frisch gekochten Tiere rasch abzukühlen. Axel, Schwester Berit, Johan, Wilma und Sören aßen mit großem Appetit. Wilma saß neben Sören und ließ sich von ihm alles erklären.

»Die Weibchen haben Rogen, aber der sitzt im Panzer«, sagte er und brach einen Krebs über dem Kopf auf.

»Im Panzer?« Wilma wusste nicht so recht, ob er Witze machte.

Sören aber nickte und zeigte ihr den Rogen unter dem Panzer, ehe er ihn ausschlürfte.

»Aber woran sieht man, welche Weibchen sind?«, fragte Wilma.

»Ach, das ist wie im wirklichen Leben«, meinte er und sah seine Schwester an. »Die Weibchen haben einen etwas breiteren Hintern.«

»Sören!«, sagte Berit tadelnd, und Sören lächelte Wilma verschwörerisch zu.

»Johan, jetzt müssen wir aber anstoßen«, sagte Axel.

Endlich konnte er seinen selbst gewürzten Schnaps in die Gläser füllen. »Ich bin ganz besonders neugierig darauf, was ihr zu meiner Kräutermischung sagen werdet.«

Er schaute seinen Schwiegersohn skeptisch an. »Versuch jetzt, abzuschalten, Johan. Da ist kein Gift im Glas.«

Wilma blickte ihren Vater ebenfalls an. »Opa hat recht, Papa. Auch du musst dich ab und zu mal entspannen.«

Johan zwang sich zu einem Lächeln. Er griff nach dem Schnapsglas und hob es hoch. »Natürlich habt ihr recht. Also trinken wir darauf, dass wir heute keine Notfälle mehr haben. Wir heben die Gläser für eine Runde Entspannung!«

Dann sah er Wilma an. »Sollen wir etwas singen?«

Aber sofort schaltete Axel sich ein. »Nein. Keine afrikanischen Mambo-Jambo-Lieder am Augustabend«, sagte er. »Ich möchte euch stattdessen bitten, diesem poetischen Schnapsgesang zu lauschen.« Er räusperte sich. »›Des Zechers Arbeit, wie wir wissen, kann Entschiedenheit nicht missen. Met in die Trompet. Gurken rank und schlank. Tausend Eulen auf der Bank. Bezahlt wird von der Tante. Und die wohnt in der Stadt Jante. Aufgepasst da unten!‹«

Endlich durfte er einen Schluck trinken, und er schüttelte sich und genoss ihn zugleich. Vielleicht eine Prise zu viel Schierling, dachte er, aber beim zweiten Schluck kehrte sich seine Meinung ins Gegenteil.

Und Wilma verstand noch weniger von den schwedischen Krebsabendsitten. Irgendwann würde sie Sören fragen, wer da unten aufpassen sollte. Und das Lied des Großvaters? Wenn das kein Mamo-Jambo war, was denn sonst?

Oskar Ljunglöf hatte seine Krebse gegessen und erhob sich, um den Tisch abzuräumen. Plötzlich verspürte er einen Stich im Herzen, und er schwankte und lehnte sich an den Tisch, worauf das Schnapsglas hinunterkullerte und zerbrach. Palle hob den Kopf, musterte sein Herrchen besorgt und sprang vom Stuhl.

»Ganz ruhig, Palle. Das hört sicher gleich wieder auf«, sagte Oskar.

Er blieb einen Moment stehen und stützte sich mit den Händen auf den Tisch. Palle fiepte und ließ sein Herrchen nicht aus den Augen.

»Das ist doch nicht schlimm ...«

Oskar richtete sich auf, aber Palle hörte nicht auf zu fiepen, und Oskar schaute ihn fragend an.

»Palle! Was ist denn los mit dir?«

Der Hund kam auf Oskar zugehumpelt und fiepte abermals. Und erst, als Oskar ein Bein hochhob, sah er, dass Palle eine blutige Pfote hatte. Eine Scherbe von seinem Schnapsglas hatte sich hineingebohrt.

»Armer Palle«, sagte Oskar besorgt. »Armer alter Freund ...«

Aber er machte sich nicht nur Sorgen um Palles Pfote. Der Schmerz in der Brust hatte sich nicht gelegt. Es stach noch immer. Es stach und stach immer wieder zu.

2. Kapitel

AXEL HOLTMAN NIPPTE an einem Glas Kognak. Wie immer zu feierlichen Anlässen trug er seinen hellen Leinenanzug, seine handgenähten italienischen Schuhe und seinen Panamahut. Die Krebse waren hervorragend gewesen, und Berits selbstgebackener Apfelkuchen schmeckte so köstlich nach säuerlichen Äpfeln und viel Zimt, so wie nur Berit ihn zustande brachte. Ja, alles war fast perfekt. Nur Eva fehlte, und sie war in Afrika.

Der alte Doktor schüttelte den Kopf. Er konnte nicht verstehen, wie man Saltö mit dem in seinen Augen düsteren, gefährlichen und zuweilen auch tödlichen Afrika vertauschen konnte. Nicht nur dass Eva immer in Gefahr schwebte, durch paramilitärische Truppen ermordet zu werden, die durch Ruanda zogen, während sie Flüchtlinge und Kriegsopfer medizinisch versorgte. Im Feldlazarett grassierten noch dazu Krankheiten, die tödlich enden konnten: Aids, das Ebola-Virus und andere schwere Infektionskrankheiten. Dass Eva freiwillig durch Blut und Elend watete, statt wie er selbst an einem Spätsommerabend hier auf Saltö den Duft von Brombeeren und Sommeräpfeln einzuatmen, war einfach mehr, als ein alter Arzt begreifen konnte.

Aber vielleicht begriff er es doch irgendwie, und vielleicht hatte er selbst den Keim zu Evas Engagement gelegt. Nicht nur, weil sie zusammen nach Kenia gefahren waren, als Eva noch klein gewesen war, und sie dort auf den Geschmack dieses riesigen Erdteils gekommen war. Nein, er hatte sie auch zu einem verantwortungsbewussten Menschen erzogen. Hatte sie so durch Pubertät und Schulzeit geführt, dass sie für die Arbeit als Ärztin bereit wäre. So wie er das gewesen war. In den Ferien hatte er sie mit auf die Inseln genommen und sie mit seiner Arbeit vertraut gemacht, und sie hatte sich engagiert gezeigt und den Menschen mit Trost beigestanden. Ab und zu fragten die Patienten ihn sogar, ob er Eva nicht mitgebracht habe, wenn er allein gekommen war.

»Sie hat eine so sanfte Hand«, hatte Winston Gradling gesagt, als sie die Brandwunde reinigten, die er sich bei der Explosion seines Außenbordmotors zugezogen hatte. »Sanft, aber doch energisch«, hatte er hinzugefügt.

Genau so ist sie, dachte Axel. Sanft, aber doch energisch. Und furchtlos. Als auf Saltö zum ersten Mal die berühmten Inselspiele stattfanden, wagte sie als erstes Mädchen ihres Jahrgangs Stabhochsprung. Sie hatte zu Hause im Garten heimlich trainiert und bestand darauf, gegen die Jungen antreten zu dürfen, als kein anderes Mädchen mitmachen wollte. Axel hatte seine Zweifel gehabt. Sich an so einer Stahlstange hochzuschwingen, beide Beine in die Luft zu werfen und sich dann umzudrehen, um die Querstange zu überwinden, ohne sie zu berühren, erforderte Jahre des Trainings und der Übung.

»Bitte, Papa«, hatte sie gesagt und seine Bartstoppeln gestreichelt.

Sanft, ja, so war sie.

»Sonst mache ich überhaupt nicht mit.«

Und dann kam das Finale, und sie nahm Anlauf, und ganz Saltö stand dabei und starrte auf den Tennisplatz hinunter, als sie mit ihrem Stab Anlauf nahm, ihn geräuschvoll auf den Boden setzte und sich über die Stange schwang, als ob sie in ihrem Leben noch nie etwas anderes gemacht hätte.

Furchtlos, ja, das war sie wirklich. Und darauf war er stolz. Aber die Furchtlosigkeit hatte sie von Saltö fortgeführt, und Axel fragte sich, ob es nicht allein seine Schuld war. Weil er dort gestanden hatte, im Hintergrund, wie ein Fels, und ob sie deshalb immer wieder diese Sprünge hinaus ins Unbekannte gewagt hatte, weil sie wusste, dass er sie sah und dass er sie auffangen würde, wenn sie abstürzte. Und vielleicht spürte sie die ganze Zeit den Schatten ihres Vaters hinter sich, egal wo in der Welt sie auch war. Spürte, dass es jemanden gab, der an sie dachte. Oft. Und liebevoll. Ja, dachte Axel und sah zu Wilma hinüber, die Schwester Berit beim Abräumen half.

»Hast du gewusst, dass deine Mutter als Kind auf Saltö beim Stabhochsprung gewonnen hat, Wilma?«

»Nein«, sagte Wilma und stapelte die Porzellanteller aufeinander. »Aber kannst du mir nicht das Stabhochspringen beibringen, Opa?«

Wie ähnlich sie sich doch sind, dachte Axel. Und vielleicht würde Johan eines Tages verstehen, was es für ein Gefühl war, so viele Jahre hindurch seine Tochter in der Ferne zu wissen. Falls Wilma den Familienberuf weiterführen wollte.

Plötzlich kam Axel, als er so in der Augustnacht dastand und sich eine Zigarre angesteckt hatte, der Gedanke, dass sein Schwiegersohn jetzt das gleiche Leben führte, wie er es gelebt hatte. Alleinstehender Vater mit Verantwortung für Kind und Insel. Und dass es unmöglich war, beides wirklich unter einen Hut zu bringen. Er wusste, dass seine Tochter sich bisweilen vernachlässigt gefühlt hatte, wenn die Pflicht ihn rief. Wann immer er endlich Zeit für Eva gehabt hatte, fürchtete er zugleich, dass ein Patient ihn womöglich nicht erreichen könnte, dass jemand, der wirklich seine Hilfe brauchte, ungehört nach ihm rief.

Wie dem Esel zwischen den beiden Heuhaufen war es Axel gegangen. Er sah seinen Schwiegersohn an, der sich an das Gerüst der Schaukel lehnte. Ich bin vielleicht zu hart mit ihm, dachte er, aber im selben Moment musste er an Johans Sturheit denken, dessen Überzeugung, alles richtig zu machen, und wieder durchfuhr ihn der Zorn. Es war Johan, der ihm Eva weggenommen hatte, der bereit gewesen war, mit ihr nach Afrika zu gehen. Ja, sein Schwiegersohn war im Grunde auch schuld daran, dass Eva nicht mit nach Hause gekommen war, davon war der alte Schärendoktor Axel Holtman überzeugt. Und insgeheim fragte er sich, ob Johan Eva wirklich so sehr liebte wie er.

Johan hatte die Krebse ebenfalls genossen. Er setzte sich auf die Schaukel und ließ sich langsam in Gedanken versunken wiegen. Denn auch er sehnte sich nach Eva, da war Axel Holtman nicht der Einzige. Es war eine Sehnsucht, die bisweilen in seinem Körper wütete, bis er nicht mehr aus noch ein wusste. Manchmal ging er nachts ins Freie, wenn seine Träume von Eva allzu handgreiflich wurden.

Dann begab er sich hinunter zum Anleger, starrte auf das dunkle Wasser hinaus und dachte, weit über dem Meer, irgendwo da draußen, da bist du, meine geliebte Eva. Und hier stehe ich und weiß nicht, was ich ohne dich machen soll. Weiß nicht, wie ich unser Kind aufziehen soll, weiß nicht, ob unsere Liebe die Trennung überstehen wird. Weiß nichts von einer gemeinsamen Zukunft und bin nicht sicher, ob du mich noch immer liebst.

In manchen Nächten dachte er, morgen fahre ich zu ihr. Ich bitte Axel, sich einige Wochen lang um Wilma und die Praxis zu kümmern, und packe eine Tasche. Einen leichten Anzug, eine Jeans und ein paar T-Shirts. Nichts, was einen langen Aufenthalt vermuten ließe. Fliege nach Frankfurt und von dort nach Ruanda. Miete am Flugplatz einen Landrover, fahre über verstaubte Straßen und erreiche endlich das Feldlazarett. Ganz unangemeldet. Halte vor Dr. Steens Sprechzimmer und steige aus.

In seiner Fantasie saß Eva am Fenster, über einen Krankenbericht gebeugt. Sie hörte den Wagen, blickte auf und fragte sich, wer da wohl kam. Die Staubwolke verbarg den Fahrer, und wenn der Staub sich gelegt hatte, stand er da in Khakihemd und Shorts und lächelte sie an. Mit diesem Lächeln, von dem er wusste, dass sie es liebte. Das er nicht auf Bestellung liefern konnte, aber das er nun doch zustande brachte. Dieses Lächeln, das sagte, wir kennen einander, wir lieben einander und haben unzählige Geheimnisse zusammen, von denen niemand sonst etwas ahnen kann. Dieses Lächeln würde er lächeln.

Und Eva würde auf die Veranda hinauskommen, in ihrem Baumwollkleid und der verwaschenen Jeansjacke dastehen und sich die Haare aus der Stirn streichen und dann in seine Arme sinken. Er würde sie hochheben, sie in das Zimmer neben dem Sprechzimmer tragen und sie dann für den Rest seines Aufenthaltes lieben. Nur wenn die Lage wirklich kritisch wäre, würde er sie hinauslassen. Ansonsten würden sie zusammen sein, im Bett sitzen und mit Whisky angereicherten Tee trinken und sich alles erzählen, was sie noch immer nicht übereinander wussten. Alles, was in der Zeit ihrer Trennung geschehen war und worüber sie am Telefon nicht sprechen wollten oder konnten. Auch von ihrer Liebe würden sie sprechen. Und dazu Cornedbeef aus Militärbeständen direkt aus der Dose essen. Einander laut vorlesen, wie sie das immer getan hatten, ehe sie vor Erschöpfung einschliefen. Russische Wintergeschichten und Joseph Conrads Romane wie Herz der Finsternis. Und einfach glücklich darüber sein, dass sie einander hatten.

Das alles würde passieren, wenn nur Johan sich aufraffte, diese Tasche zu packen und sich auf den Weg zu machen. Während er unten am Wasser stand, der Duft des salzigen Meeres ihm in die Nase stieg und der Mond eine silberne Spur über das Wasser zog, wusste er, dass er dazu niemals imstande sein würde. Nicht nur wegen Wilma oder der Schärenpraxis. Nein, Evas wegen. Sie würde sich bei seinem Besuch wie zerrissen fühlen und sich so sehr nach ihnen sehnen, dass sie am Ende vielleicht ihre Mission aufgeben und Afrika verlassen würde. Und Johan wollte nicht, dass sie mit schlechtem Gewissen heimkehrte und sich auf Saltö dann bis in alle Zukunft fragen müsste, ob sie wirklich das Richtige getan hatte. Nein, Eva musste kommen, wenn sie das Gefühl hatte, ihren Auftrag durchgeführt zu haben. Das Gefühl, dass es jetzt genug war. Jetzt habe ich alles gegeben, was ich geben konnte, und jetzt muss ich mich in den Armen meines Geliebten ausruhen dürfen, bis ich mich selbst wieder gefunden habe.

Wenn Axel Holtman glaubte, dass Johan Steen seine Tochter nicht wirklich liebte, dann irrte er sich zutiefst. Johan stieß sich von der Schaukel ab und sprang in einem weichen Bogen herunter. Er schaute zur Praxis hoch. Wilma stand am Fenster und sah ihm zu. Er winkte. Sie winkte fröhlich zurück. Vielleicht hat sie nicht solche Sehnsucht nach Eva wie ich, dachte er. Das hoffe ich jedenfalls.

Diese Hoffnung sollte sich jedoch nicht bewahrheiten, denn Wilma war in Gedanken ebenfalls bei ihrer Mutter, während sie Schwester Berit in der Küche beim Abwasch half.

Wenn nur Mama beim Krebsessen dabei gewesen wäre, dachte sie. Dann hätte ich ihr zeigen können, was Sören mir beigebracht hat: wie man die kleinen Vorderbeine abbricht und den Saft heraussaugt. Oder ihr erzählen, dass der Mann, der auf dem Lätzchen so gebieterisch auf einen zeigt und sagt: »Krebse wollen so was trinken«, Albert Engström heißt. Das hatte Opa beim Essen erzählt. Der Spruch war eine Art Reklame zur Zeit des Alkoholverbots, als Schnaps verboten war. Man tat so, als ob die Krebse Schnaps haben wollten, sozusagen als Argument dafür, das Alkoholverbot wieder aufzuheben.

Aber vor allem wollte Wilma bei ihrer Mama sein. Sie sehen können, jeden Tag. Und ihre Mutter sollte sehen können, was Wilma machte. Jeden Tag. Sehen, wie Papa ihr Tauchen beibrachte oder wie sie mit Mary, dem Ruderboot, Segeln lernte. Sehen, wie sie mit ihrer Freundin Maddo und den anderen aus der Klasse zusammen war. Sehen, wie Opa und sie Tennis spielten. Sehen, dass sie gewachsen war und dass sie beim Abwasch half und dass ihre Hände so lang und schmal geworden waren wie die ihrer Mama.

Nicht zuletzt träumte sie davon, mit ihr über Dinge zu sprechen, über die sie mit Papa nie im Leben reden könnte. Darüber, dass es ihr im Bauch kribbelte, wenn die Jungen in der Schule sie ansahen. Und dass sie sogar schon einen Jungen geküsst und dass der gesagt hatte, sie schmecke gut. Sicher, ab und zu spürte sie, dass ihre Mutter auf irgendeine Weise in der Nähe war, und sie konnte auch am Telefon – über eine knackende Leitung – erzählen, was auf Saltö passierte, aber das war eben nicht dasselbe.

Wilma sehnte sich danach, dass ihre Mama nach Hause kam, in ihre klaren, klugen Augen zu blicken und die Reaktion darin zu beobachten, wenn sie ihr von ihren Erlebnissen erzählte. Nicht alles auf einmal, sondern Stunde um Stunde, Tag für Tag. So, wie es sich für eine Mutter und eine Tochter gehörte. Ja, dachte Wilma. Es gibt vieles, was sich gehört und doch nicht so ist.

Sie fragte sich, ob sie die Einzige war, die sich so schrecklich nach ihrer Mama sehnte. Wieder schaute sie aus dem Fenster. Da draußen waren Papa und Opa ins Gespräch vertieft. Vermutlich über die Zigarre, die Opa rauchte und die er Papa jetzt zeigte. Denken die nie an Mama?, fragte sie sich. Haben sie nie solche Sehnsucht nach ihr wie ich? Sie seufzte und sah Berit an.

»Männer haben nicht so große Sehnsucht wie Frauen, oder?«, fragte sie.

Berit strich ihr über die Haare. »Ich glaube, das ist eine zu komplizierte Frage, um nach einem richtigen Krebsessen in der Küche beantwortet zu werden, Wilma. Aber frag mich ein andermal, dann werden wir dieses Geheimnis schon klären«, fügte sie hinzu. »Und jetzt möchte ich ein Glas Traubenlimonade trinken, wenn du nichts dagegen hast.«

»Ich auch«, sagte Wilma und merkte plötzlich, wie trocken ihr Mund geworden war, weil sie so viel an Mama gedacht hatte.

3. Kapitel

MARIA LINDELIUS HATTE das Gefühl, dass die ganze Welt sie anlächelte, als sie mit einem Mann nach dem anderen tanzte. Sie spürte, wie sie herumwirbelte wie eine Eisprinzessin im Scheinwerferlicht. Aller Augen waren auf sie gerichtet, und als Gösta Tanner einen wunderbaren Tango mit ihr hinlegte, glaubte sie, über den Boden zu schweben. Sie brauchte ihre Füße kaum zu heben, so mühelos ließ sie sich von Gösta führen. Und Per, Georges fescher Jurist, hatte sie zu einem Engtanz aufgefordert, und sie konnte sein Begehren fast spüren, als sie ihn an sich drückte, ganz fest, und verführerisch, außer Sichtweite von George, seinen Nacken streichelte.