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Ulrich Ladurner

Der Fall Italien

Wenn Gefühle die Politik beherrschen

 

Für Julius und Lilli

Inhalt

Einsam, verbittert und ängstlich

Sinnbild für das Land
Der Einsturz der Morandi-Brücke

Die gescheiterte Revolution
Silvio Berlusconi nutzt seine Chance

Die Wiedergeburt der Nation
Wie die Lega das Land hinter sich schart

Radikalisierung im Netz
Der Erfolg der Fünf-Sterne-Bewegung

Wenn Gefühle die Politik beherrschen

Dank

Anmerkungen

Einsam, verbittert und ängstlich

Im Winter 2015 rief mich eine Freundin aus Mailand an. Sie habe einen Bekannten aus Kalabrien, der nach Deutschland auswandern wolle. Ob ich ihm helfen könne? Kurze Zeit später, an einem dunklen, kalten Regentag, stand A. vor mir. Er war ganz nass geworden vom Hamburger Regen, mit dem er offenbar nicht gerechnet hatte. A. ist ein großer, kräftiger Mann, damals 42 Jahre alt. Ich war überrascht, denn ich hatte einen jungen Menschen erwartet, vielleicht zwischen 20 und 25. In einem Alter also, in dem man auswandert, weil man noch genügend Zeit und Kraft hat, um einen Neuanfang in einem fremden Land zu versuchen. A. sprach kein Wort Deutsch, sein Bart wurde schon grau, er hatte eine Frau und drei Kinder im Alter von zehn, acht und zwei Jahren. Außerdem ist er Fotograf, ein Beruf, mit dem es, zurückhaltend ausgedrückt, nicht einfach ist, sich selbst zu ernähren, geschweige denn eine fünfköpfige Familie. Es muss sehr schlecht um Italien stehen, wenn ein Familienvater in diesem Alter mit Frau und Kindern emigriert. Mein heutiger Freund war damals einer von über 100 000 Italienern, die ihre Heimat wahrscheinlich für immer verließen. Im Jahr darauf waren es mehr als 200 000 und 2017 rund 270 000. So viele Italiener haben Italien seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht verlassen. In Berlin, London, Madrid, Brüssel – in allen Hauptstädten Europas kann man heute junge Italiener antreffen, die ihrer Heimat den Rücken gekehrt haben, und weniger junge Italiener, wie mein Freund A. aus Kalabrien. Sie haben einen schweren Weg auf sich genommen, und doch sagen sie in der Regel alle das eine: »Ich habe endlich mein Leben in die Hand nehmen können!« In Italien sehen sie keine Zukunft mehr für sich. Meistens sind es die Jungen, die gehen, die gut Ausgebildeten. Jahr für Jahr verliert Italien so seine besten Kräfte. Es gibt kein bittereres Zeugnis über den Zustand dieses Landes. Es gibt auch keinen besseren Beweis für den Willen der Italiener, sich ihrem Schicksal nicht zu fügen – aber auch keinen besseren Beweis für ihren Mut.

Am 4. März 2018 hat eine Mehrheit der italienischen Wähler in den Parlamentswahlen der Lega und dem MoVimento 5 Stelle (M5S) ihr Vertrauen geschenkt. Man kann diese Wahl auch als ein Misstrauensvotum der Italiener gegenüber der Europäischen Union verstehen – denn die beiden Parteien sind, gelinge gesagt, gegenüber der Europäischen Union sehr kritisch eingestellt. Viele Europäer sind überrascht von den harschen Tönen, die seither in Rom über die EU geäußert werden. Waren die Italiener nicht immer überzeugte Europäer?

Die Entfremdung zwischen Italien und der EU ist kein neues Phänomen. Sie begann gegen Ende der neunziger Jahre, nachdem Silvio Berlusconi zum zweiten Mal zum Ministerpräsidenten gewählt worden war. Damals bekam die Beziehung zwischen Brüssel und Rom den Charakter einer Fernbeziehung. Man besuchte sich regelmäßig, auch wenn man sich immer weniger zu sagen hatte und das Gesagte schon tausendmal gesagt worden war. Meist waren es fordernde, mahnende und klagende Worte. Wie man diese Beziehung wiederbeleben könnte, dafür fehlten Kraft, Wille und Phantasie. In den Brüsseler Institutionen herrschte tiefe Ratlosigkeit über die Entwicklungen in Italien und wie man mit diesen umgehen soll. Man schloss die Augen, in der Hoffnung, dass es schon gut gehen werde.

Seit 2010 vertieften die Eurokrise und die Migration jedoch die Entfremdung. Aus der Fernbeziehung droht nun eine gescheiterte Beziehung zu werden. Als 2018 die Lega und M5S die Regierungskoalition bildeten, war schon vom Italexit die Rede – vom Austritt Italiens aus der Union. Das Gespenst verschwand zwar bald wieder, vermutlich wirkte das Chaos, das der Brexit in Großbritannien verursacht hat, disziplinierend. Doch die Verwerfungen zwischen Europa und Italien reichen tief, und sie werden bestehen bleiben. Denn es geht nicht nur um Vernunft, es geht um Emotionen. Und Italien ist heute ein einsames, ein verängstigtes, ein wütendes Land. Der Fall Italien zeigt, was geschieht, wenn Gefühle die Politik beherrschen.

Sinnbild für das Land

Der Einsturz der Morandi-Brücke

Manchmal kann man die Zukunft an einer Landschaft ablesen, am Val Polcevera zum Beispiel. Es ist ein enges Tal, das sich tief in die ligurischen Berge schneidet, seine Ausläufer sind Teil des Genueser Stadtgebiets. Der schmale Fluss Polcevera fließt still und unauffällig durch das Tal. Im Sommer ist das Flussbett fast trocken, doch die Ruhe täuscht. Wenn es in den Bergen stark regnet, kann der schmale Fluss binnen kürzester Zeit zu einem reißenden, gefährlichen Strom anschwellen. Der Polcevera lässt sich dann durch nichts aufhalten. Wer an seinen Ufern wohnt, muss sich vorsehen. Hier, in dem dicht bebauten Stadtgebiet von Genua, kennt man die Gewaltausbrüche der nur scheinbar gebändigten Natur. Erdrutsche, Schlammlawinen und Überschwemmungen sind eine wiederkehrende Erfahrung. Manchmal kommt der Tod ganz beiläufig, wie im Falle jenes Unglücklichen, der 2011 in einer Straßenunterführung ertrank, die sich so schnell mit Wasser gefüllt hatte, dass er sich mit seinem Auto nicht mehr rechtzeitig retten konnte. Oder wie bei jenem Mann, der sich 2014 in einer Bar, nicht weit vom Stadtzentrum entfernt, von seinen Freunden mit den Worten verabschiedete: »Ich schaue mir mal an, wie es um den Fluss steht«, und wenig später von den Wassermassen erfasst wurde, die sich durch die Straßen wälzten. Selbst im banalsten Alltag lauert der Tod. Was gebaut, erschaffen und erreicht wurde, kann jederzeit mitgerissen werden. Nichts steht auf festem Grund. Nichts ist für immer – das ist eine der Lehren, die Italien für Europa bereithält.

Bis gestern noch war das Land eng mit der Europäischen Union verbunden, heute wird es von zwei Parteien regiert, die in einer Weise gegen Europa agitieren, wie es noch keine italienische Regierungspartei in den vergangenen siebzig Jahren getan hat. Die Zugehörigkeit zur Europäischen Union wird nicht mehr als Stärke empfunden, sondern als Ursache für Schwäche – ja als Ursache der Übel, die Italien heimsuchen. Im Jahr 2018 glaubten nur noch 24 Prozent der Italiener, dass die EU eine »gute Sache« sei. In den 27 Mitgliedstaaten der EU waren es durchschnittlich 62 Prozent. Nur 43 Prozent der Italiener glauben, dass Italien von seiner Mitgliedschaft in der Union Vorteile hat.1 In keinem anderen EU-Land ist der Wert so niedrig. Italien hatte seit den ersten Wahlen zum Europaparlament im Jahr 1979 stets die höchste Wahlbeteiligung, bis zu den Europawahlen 2019 war das so. Aber in keinem anderen Land ist sie so schnell gefallen, von 85,7 Prozent 1979 auf 57,2 Prozent im Jahr 20142 und 2019 auf 54,5 Prozent.3 Bis gestern noch zweifelte keiner an der Westbindung Italiens, heute reist Innenminister Matteo Salvini, der starke Mann des Landes, häufiger nach Moskau als nach Brüssel. Und er sagt: »Ich fühle mich hier zu Hause!« Gestern noch schien Italien ein freundliches, tolerantes Land, heute zeigt es ein verbittertes, hartes Gesicht. 69,7 Prozent der Italiener möchten keine Roma, fast jeder Vierte, 24,5 Prozent, möchte keine Menschen einer anderen Ethnie, mit einer anderen Sprache oder anderen Religion zum Nachbarn haben. 52 Prozent glauben, dass mehr für Migranten getan werde als für Italiener. 90 Prozent der Italiener sind bereit, Produkte zu kaufen, die ausschließlich in Italien hergestellt worden sind. Gestern noch wurde Italien dafür gelobt, dass es mit seinen Marineschiffen Zehntausende Migranten vor dem Ertrinken im Mittelmeer rettete, heute gibt es fast täglich Gewalt gegen Ausländer. Bis gestern noch war das Mittelmeer für Italien die Wiege einer Zivilisation, die es selbst ganz wesentlich geprägt hat, ein Raum, aus dem es Inspiration und Kraft bezog. Heute ist das Mittelmeer eine Todeszone, und alles, was am anderen Ufer liegt, wirkt wie eine Bedrohung, vor der man sich mit allen Mitteln schützen muss.

Italien hat sich aus seinen Verankerungen gerissen; abgekoppelt vom Norden wie vom Süden, treibt es wie ein Floß ins Ungewisse. Es ist erfüllt vom Geschrei und Gezeter seiner Bewohner. Sie sagen Dinge, die bis vor kurzem nicht sagbar waren, sie schimpfen und maulen ohne Unterlass. Auf die Frage, ob sie denn wüssten, wohin ihre Reise gehe, antworten sie: Wen interessiert das schon, wenn das Bleiben so schrecklich ist. Sie haben sich entschieden, entgegen allen Warnungen, entgegen aller Vernunft. Sie wollen etwas Neues, sie wollen Tabula rasa machen, auch wenn danach der Abgrund auf sie wartet. Das Risiko nehmen sie in Kauf. Der Preis, den sie vielleicht in Zukunft zahlen werden, interessiert sie nicht. Sie wollen los, jetzt, sofort. So überraschend das alles zu sein scheint, die Ursachen für diesen Abschied Italiens aus Europa reichen sehr weit zurück – im Tal des Flusses Polcevera lassen sie sich mit einem Blick erfassen.

Das Tal mündet im Hafen von Genua, es ist mit der Stadt eng verflochten. Mietskasernen, Lagerhallen, Fabriken und Öltanks reihen sich hier aneinander. Bahngleise durchschneiden die Mitte seines Grundes. Vor nicht allzu langer Zeit war die Luft hier erfüllt vom dicken Rauch der Fabriken, dem durchdringenden Klang der Schiffshörner, dem dunklen Stampfen der Maschinen, den scharfen, kurzen Pfiffen der Züge, die kreischend und knarzend über die Gleise des Güterbahnhofs rollten. Das Val Polcevera spielte bei der rasanten Wandlung Italiens von einem überwiegend landwirtschaftlich geprägten Land zu einer der führenden Industrienationen der Welt eine fundamentale Rolle.

Im Dreieck der Städte Genua–Mailand–Turin schmiedeten Hunderttausende Arbeiter, von denen viele aus dem Süden des Landes kamen, an der italienischen Erfolgsgeschichte. Genua–Mailand–Turin wurde auch das Rote Dreieck genannt, weil die Arbeiterbewegung hier schon in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts stark war. Die Kommunisten und Sozialisten wollten in dieser Gegend mit dem Aufbau ihrer neuen, ersehnten Welt beginnen. Antonio Gramsci, einer der Gründer der Kommunistischen Partei Italiens und ein führender europäischer Intellektueller, entkam Anfang November 1926 im Val Polcevera nur knapp seinen faschistischen Häschern. Wenige Tage später fassten sie ihn dann doch, kerkerten ihn ein und entließen ihn erst 1937 todkrank in die Freiheit. Seine Schriften sollten noch viele Jahrzehnte nach seinem Tod große Wirkung entfalten.

Während der deutschen Besetzung des Landes, die 1943 begann und 1945 endete, war das Val Polcevera eine Hochburg der Partisanen. Sie kämpften gegen die Truppen Adolf Hitlers und gegen ihre faschistischen Landsleute, die Schwarzen Brigaden Benito Mussolinis. In Bolzaneto, Rivarolo und Sampierdarena, den Genueser Stadtteilen des Val Polcevera, erinnern viele Straßennamen an Partisanen, die im Krieg gefallen sind: Via Jori, Via Fillak, Via Zamperini, Via Rissotto. Der Widerstand gegen den Faschismus ist in den Stadtkörper eingeschrieben. Er ist fester Bestandteil lokaler Identität.

Der schnelle Aufstieg Italiens begann nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die sechziger Jahre waren ein geradezu rauschhaftes Jahrzehnt. Fünfzehn Jahre nach Kriegsende feierte das Land Erfolge auf allen Ebenen. Es begann mit der Olympiade in Rom 1960, bei der Italien 13 Medaillen gewann und damit hinter der Sowjetunion und den USA auf Rang drei landete. 1964 wurde die Autostrada del Sole, auch Autosole genannt, fertiggestellt, die den Norden mit dem Süden des Landes verband. 755 Kilometer lang, wurde sie in nur acht Jahren gebaut und drei Monate früher als geplant zu den veranschlagten Kosten für den Verkehr freigegeben. Die Wirtschaft boomte, und die Massen konnten sich nun Konsumgüter leisten. Anfang der sechziger Jahre besaß die Hälfte aller italienischen Haushalte einen Kühlschrank und einen Fernseher. Der kleine Mann fuhr einen Fiat 500, ein ebenso funktionales wie elegantes Auto. Italien verband Effizienz mit Eleganz, Schönheit mit Funktionalität. Vergessen waren die Verheerungen des Krieges, vergessen die Verstrickungen in den Faschismus. Die Zukunft war ein offenes Feld voller Verheißungen, man musste es nur entschlossenen Schrittes betreten.

Einer, der voranschritt, war der Architekt Riccardo Morandi. Die Brücke, die er über den Fluss Polcevera bauen ließ, erregte großes Aufsehen. 45 Meter hoch spannte sie sich über Wohnhäuser und Fabriken, über den Fluss und die Bahngleise. Ein innovatives, ein wagemutiges, ein modernes Bauwerk, das 1967 eingeweiht wurde. Die Genueser nannten es: »Unsere Brooklyn Bridge«. Das war nicht nur eine Reverenz vor der berühmten Brücke in New York, es war auch eine Botschaft Genuas an Italien. Millionen Italiener hatten in den Jahrhunderten zuvor ihr Land Richtung Amerika verlassen müssen. Das war nun Vergangenheit, nun gab es Arbeit in Italien. Die Brooklyn Bridge stand nun hier, in Genua. Niemand musste mehr die Heimat verlassen, um ein Auskommen zu finden. Italien bot allen genügend Gelegenheiten. Angesichts der Brücke sollte das jeder glauben können.

Antifaschistischer Kampf, Industrialisierung, Erfindungsgeist, Innovation, Wagemut, Risikofreude – im Val Polcevera finden sich auf engstem Raum die Säulen, auf denen das italienische Selbstbewusstsein der Nachkriegszeit ruhte. Die Menschen konnten sich als Protagonisten einer Geschichte fühlen, die auf eine helle Zukunft ausgerichtet war. Es gab mächtige Gewerkschaften, große Parteien und die einflussreiche, starke Kirche. Parteien wie Gewerkschaften verwandten viel Aufwand darauf, ihre Mitglieder auf die Politik vorzubereiten. Insbesondere die Kommunistische Partei bildete ihre Leute auf allen Ebenen aus. Allein zwischen 1945 und 1954 durchliefen 300 000 Mitglieder Ausbildungskurse, die Besten wurden ausgewählt und auf die Parteischule Frattocchie bei Rom geschickt. Aus ihr ging eine Reihe von später bekannt gewordenen Politikern hervor. Die Gewerkschaften hatten ihre eigenen Ausbildungszentren, die ebenfalls viele Persönlichkeiten hervorbrachten, die eine prägende Rolle in der italienischen Nachkriegsrepublik spielten. Natürlich war es auch das Ziel dieser Ausbildung, treue Partei- und Gewerkschaftskader hervorzubringen. Doch es ging noch um etwas anderes: Arbeiter und Bauern sollten in die Lage versetzt werden, aktiv am politischen Leben teilzunehmen. Die christdemokratischen Parteien verfügten durch ihr enges Verhältnis zur Kirche über den Zugang zu einem großen Reservoir christlicher Ausbildungsstätten. Welcher politischen Richtung sie sich auch zurechneten, die Mehrheit der Italiener hatte ein ideelles Zuhause. Sie beschäftigten sich mit der Frage, wie man die Gesellschaft verbessern, wie man die Welt gerechter machen könne – auf diese Fragen suchten sie mit ihrem politischen Handeln Antworten. Dafür wurden sie geschult und vorbereitet. Das Denken der Menschen hatte eine utopische Dimension.

Gewiss, es gab Spannungen zwischen den politischen Gruppierungen, teilweise unüberwindbare Gegensätze. In den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts verübten die Roten Brigaden Anschläge, entführten und ermordeten ihre Kontrahenten. Doch jeder Einzelne konnte sich damals als Teil einer größeren Geschichte begreifen. Sie orientierte sich nach vorne, in eine hoffnungsvolle Zukunft.

Die Morandi-Brücke, deren offizieller Name Viadotto Polcevera lautete, war das Symbol dafür, dass alles machbar war, wenn man es nur wollte. Sie war der in Stahlbeton gegossene Glaube an den Fortschritt. Als sie 1967 eröffnet wurde, wirkte sie wie die Krönung einer jahrzehntelang anhaltenden Erfolgsgeschichte, und diese endete am 14. August 2018 abrupt.

An diesem Tag entlud sich ein Gewitter über das Val Polcevera. Tiefhängende Wolken hüllten die Brücke ein. Donner rollte durch das Tal, Blitze durchzuckten den schwarzen Himmel, Regen prasselte hernieder. Tiefhängende Wolken hüllten die Brücke ein. Plötzlich war Sirenengeheul zu hören. Als die Wolken sich verzogen, konnten die entsetzten Anwohner sehen, was geschehen war: Die Brücke war auf einer Länge von 200 Metern eingebrochen, 41 Menschen waren in den Tod gestürzt. Die Letzten konnten erst fünf Tage später unter den Trümmern geborgen werden, eine Kleinfamilie, Vater, Mutter und ihre neunjährige Tochter.

Das Unglück markierte den spektakulären Endpunkt einer lang anhaltenden Entwicklung. Industrie, Massenparteien, Gewerkschaften, Optimismus, Fortschrittsglaube – alle Strukturen, Organisationen, alle Ideen und Überzeugungen, welche das Val Polcevera und damit auch Italien geprägt hatten, hatten sich bereits aufgelöst, als die Brücke einstürzte. Die Instanzen, die Konflikte moderierten, die zwischen gegensätzlichen Interessen vermittelten und Ausgleich schufen, hatten ihre Kraft verloren. Damit war die Grundlage verschwunden, auf der der Fortschritt einer demokratischen Gesellschaft gründet. Der Beruf des Politikers hatte sich fundamental verändert. Kein führender Politiker hatte mehr eine spezifische Ausbildung durchlaufen, die ihn hätte vorbereiten können, denn die Schulen der Parteien und der Gewerkschaften hatten sich fast alle aufgelöst. Es wird offenbar nicht mehr erwartet, dass der Politiker komplexe Probleme intellektuell durchdringt, sie verständlich darlegt und schließlich für Lösungen bei den Bürgern um Zustimmung wirbt. Im Gegenteil, fast ausnahmslos alle neuen Spitzenpolitiker der letzten Jahre zeichnen sich durch eine offen zur Schau gestellte Verachtung gegenüber Experten aus. Matteo Renzi, Sozialdemokrat und Ministerpräsident von Februar 2014 bis Dezember 2016, sagte in einer Parlamentsrede im Jahr 2016: »Die Dilettanten haben die Arche Noah gebaut, die Experten die Titanic.« Matteo Salvini lästert gerne über die »Desaster, die die Experten anrichten«, und Luigi Di Maio spottet ebenfalls lustvoll über die »Kompetenten«.4 Wo sich die Parteien früher um inhaltliche Ausbildung ihrer Leute kümmerten, geht es heute in erster Linie nur mehr um ihre kommunikativen Fähigkeiten. Wie sage ich etwas, das mir Aufmerksamkeit verschafft? Wie komme ich in den Medien gut rüber?

Schon längst kann Politik ihre Funktion nicht mehr erfüllen. Stattdessen kommt die rohe Emotion zum Vorschein. Erfolgreich sind nicht mehr die Politiker, die Gefühle kanalisieren und sie in eine positive Kraft verwandeln; erfolgreich sind Politiker, die vorhandene Emotionen verstärken; erfolgreich ist der Politiker, der die bereits Aufgewühlten weiter aufpeitscht. M5S organisierte Kurse für ihre neu gewählten Parlamentarier in Rom. Silvia Virgulti, die als TV-Coach engagiert wurde, schrieb in einer Handreichung für die Parlamentarier, die im TV über das komplexe Thema Migration sprechen sollten, Folgendes: »Die Immigration weckt viele Emotionen, vor allem Angst und Wut. Deswegen ist es sinnlos, im Fernsehen zu argumentieren oder Verträge zu erklären oder mehr oder weniger realistische Lösungen vorzuschlagen. Die Menschen nämlich werden vollkommen von Emotionen beherrscht. Sie fühlen sich und ihre Familien bedroht. Man kann nicht erwarten, dass sie einem rein rationalen Diskurs folgen. Wir müssen diese Emotionen nur abbilden.« In ihrem Papier zieht sie die Schlussfolgerung: »Lassen wir Wut + Angst freien Lauf.«5

Als die Morandi-Brücke einstürzte, blickten die Italiener buchstäblich in den Abgrund. Wie in einem Spiegel sahen sie dabei in ihr eigenes Gesicht, gezeichnet von Erschöpfung, Verwirrung und Wut. Etwas mehr als 30 Prozent der Italiener sagen, dass sie »zornig« sind, weil zu viele Dinge schlecht laufen und niemand etwas dagegen tue; 28 Prozent sagen, sie seien »verwirrt«, weil sie nicht verstünden, was mit ihnen geschehe; 21 Prozent sind völlig desillusioniert, weil sie glauben, dass ohnehin alles unaufhaltsam schlechter werde. 19 Millionen Italiener glauben keinem Informationskanal mehr – egal ob Zeitung, Fernsehen, Radio, Internet oder soziale Netzwerke.6 Wer immer ihnen Nachrichten überbringt, sie glauben ihm nicht. Sie fühlen sich hintergangen und umgeben von Lügnern und Betrügern. Das Misstrauen sitzt in ihren Knochen und macht sie schwer wie Blei.

Warum ist es so weit gekommen? Auch andere Länder haben eine massive Deindustrialisierung erlebt, den Niedergang der Volksparteien, die Schwächung der Gewerkschaften und eine rasant fortschreitende Säkularisierung der Gesellschaft. Italien ist also keine Ausnahme, aber es ist Avantgarde in der politischen Kultur – zuerst war Mussolini, dann kam Hitler, zuerst war Berlusconi, dann kam Trump. Nein, es musste nicht so kommen, doch dass es so gekommen ist, sollte uns zwingen, genau hinzuschauen. Möglich, dass wir dann sehen, was uns Europäer erwartet.

Als die Italiener 1994 Silvio Berlusconi zum Ministerpräsidenten wählten und ihn dreimal im Amt bestätigten, schüttelte das Ausland den Kopf. Wie konnte ein so kultiviertes Volk einem Illusionskünstler vom Schlage Berlusconis hinterherlaufen? Wie konnten die Italiener ihn immer wieder wählen, trotz seiner zahllosen Skandale und Affären? Berlusconi wurde von vielen als eine vorübergehende Verwirrung wahrgenommen, bald schon würden die Italiener wieder auf den rechten Pfad zurückfinden. Doch die Ära Berlusconi dauerte fast zwanzig Jahre. Es gab viele Ursachen für seinen Erfolg, und es gab eine entscheidende Grundlage. Berlusconi ist mit einem sicheren Instinkt für den Gemütszustand seiner Landsleute ausgestattet – und dieser Gemütszustand wird sehr stark von der Politik Europas beeinflusst.

1996 verlangte die Regierung des Sozialdemokraten Romano Prodi von den Bürgern des Landes einen »außergewöhnlichen Beitrag für Europa« – besser bekannt als eurotassa, Eurosteuer. Die Regierung zog direkt von den Bankkonten der Italiener Geld ein, um die Kriterien des Vertrags von Maastricht erfüllen zu können. Somit zahlten die Italiener aus eigener Tasche für den Beitritt zum Euro. Vielen erschien das wie eine Strafe für die eigene Unvollkommenheit. Doch die Italiener waren – wenn auch murrend – bereit zu zahlen, weil sie mit dem Euro viele Hoffnungen verbanden. Europa verlangte es, und die Italiener wollten gute Europäer sein. Sie waren es aus Überzeugung und aus Notwendigkeit, denn sie hatten wenig Vertrauen in die Fähigkeiten der eigenen politischen Klasse. Brüssel sollte die Modernisierung vorantreiben. Die Wege zu mehr Wohlstand führten für viele über Europa, nicht über Rom.

Mit Ausbruch der Eurokrise im Jahr 2010 aber zerstoben diese Hoffnungen. Italien geriet ins Hintertreffen: Die Arbeitslosigkeit stieg, die Kaufkraft sank, die Wettbewerbsfähigkeit ging verloren, der Anteil der Industrieproduktion am Bruttoinlandsprodukt schrumpfte. Es war ein bitteres Erwachen. Und aus Brüssel kamen die ständigen Ermahnungen zum Sparen, zu mehr Disziplin, zu mehr Reformen. Die Italiener sollten so werden wie die Deutschen – doch da das nicht möglich war, entstand das nagende Gefühl des ständigen Ungenügens. Die EU war wie ein strenger Schulmeister, der Italien ohne Unterlass schlechte Noten gab. Die proeuropäischen Eliten des Landes akzeptierten dies ohne großes Klagen. Für sie war Europa etwas, das man nicht hinterfragte – eine Glaubenssache: Wir müssen besser werden. Wir haben viele Schwächen, die wir überwinden müssen. Das war ihr Credo. Berlusconi aber hielt für seine Landsleute eine ganz andere Botschaft bereit: Lasst euch nichts einreden; so wie ihr seid, seid ihr völlig in Ordnung. Ihr seid wunderbar! Seht her: Ich muss mich nicht ändern! Wir müssen uns nicht ändern! Und er lebte dies mit seinem Reichtum, seinen Festgelagen und seinen Frauengeschichten fröhlich vor. Das machte ihn populär. Erst Jahre später sollte man erkennen, dass Berlusconi keine Ausnahme war, sondern ein Vorläufer – ein frühes Modell von Donald Trump, der 2016 überraschend zum US-Präsidenten gewählt wurde. Berlusconi lebte das Modell des radikalen politischen Narzissmus vor.

Das bittere Erwachen kam 2011, als Berlusconi angesichts der drohenden Zahlungsunfähigkeit Italiens zurücktreten musste. Berlin, Paris, Brüssel, die Europäische Zentralbank und der IWF hatten darauf gedrängt. Neuer Ministerpräsident wurde Mario Monti, ein ehemaliger Wettbewerbskommissar der EU, ein überzeugter Europäer und Technokrat mit bestem Ruf. Monti setzte ein eisernes Sparprogramm an und bewahrte Italien – und wohl auch Europa – vor dem Abgrund. Doch auf die Menschen wirkte er wie ein strafender Gott. Es half nicht, dass Professor Monti sich gerne wie ein Mitteleuropäer kleidete und grüne Lodenmäntel trug.

Aber wofür all das Sparen, wofür all die Schmerzen, wofür all der Tadel? Das fragten sich zunehmend mehr Italiener. Die wirtschaftliche Lage Italiens stabilisierte sich nach 2011 zwar, aber sie wurde nicht grundsätzlich besser. Die Wirtschaft stagnierte, der Abstand zu den Nordeuropäern wuchs weiter, die Arbeitslosigkeit sank nicht, die Mittelschicht schrumpfte, das Heer der Italiener, das unter der Armutsgrenze lebt, wuchs rasant an, auf zuletzt über sieben Millionen.

In dieser Situation wirkte die Migration wie ein Brandbeschleuniger. Seit den neunziger Jahren kamen Migranten und Flüchtlinge über das Mittelmeer, doch die Zahlen blieben lange Zeit beherrschbar. Das war auch der Grund, warum kaum jemand in Italien das Dublin-Abkommen in Frage stellte, wonach jenes Land für die Asylanträge zuständig ist, in dem die Asylsuchenden als Erstes ankommen. Das waren nun einmal vor allem die Mittelmeerländer Italien und Griechenland. Erst als die Zahlen anstiegen, erst als klar wurde, dass man es mit einem jährlichen Crescendo zu tun hatte, begannen die Regierungen in Rom darauf hinzuweisen, dass die italienische auch eine europäische Grenze sei und man daher mehr Hilfe erwarte. Die Klagen aus Rom wurden immer lauter, aber sie wurden in Brüssel nicht gehört. Auch das hatte seine Gründe. Die Statistiken sind eindeutig: Italien nahm zu keiner Zeit mehr Menschen auf als Deutschland. Doch Zahlen sind das eine, Gefühle etwas ganz anderes.

Im Jahr 2018 ergab eine Umfrage, dass die Mehrheit der Italiener den Anteil der Nicht-EU-Ausländer in Italien auf 25 Prozent schätzte, in Wahrheit sind es etwas mehr als 7 Prozent.7 Der Unterschied zwischen Wahrnehmung und Realität ist unter allen EU-Ländern in Italien der höchste. Das ist das Ergebnis jahrelanger Propaganda. Bereits Mitte der neunziger Jahre drohte Umberto Bossi, der damalige Chef der Lega Nord, mit Kanonen auf Boote mit Flüchtlingen und Migranten zu schießen. Das Bild einer Invasion wurde von Politikern wie Medien gleichermaßen benutzt. Doch die verzerrte Wahrnehmung der Migration allein als Ergebnis politischer Propaganda zu bezeichnen, wäre falsch. Sie ist auch die Folge einer unbestreitbaren Tatsache: Europas Grenzen waren offen, insbesondere, wenn man den Weg über das Mittelmeer wählte. Das wurde nach dem Arabischen Frühling deutlich. Zu Beginn des Jahres 2011 kamen binnen weniger Wochen Tausende Tunesier übers Meer nach Italien. Als in Libyen die Diktatur von Muammar al-Gaddafi nach Aufstand und Bombardement durch die Nato zusammenbrach, wurde das Land zu einem offenen Tor für Migranten und Flüchtlinge aus ganz Afrika. Italien und Europa schienen hilflos zu sein.

Nachdem die Europäer gegen Ende des Jahres 2015 die Balkanroute für Migranten und Flüchtlinge so gut wie geschlossen hatten, verlagerte sich die Migration erneut auf die sogenannte zentrale Mittelmeerroute über Libyen nach Italien. Etwa 170 000 Menschen kamen allein im Jahr 2016 über das Meer. Das löste in Mittel- und Nordeuropa starke Reaktionen aus. Der damalige österreichische Außenminister und spätere Kanzler Sebastian Kurz beklagte, dass die Italiener Migranten »durchwinkten«, auch die deutschen Behörden erhoben ähnliche Vorwürfe. Man traute Italien nicht, wieder einmal. Österreich drohte mit der Schließung der Grenze am Brennerpass. Das hatte eine verheerende Wirkung auf die kollektive Psyche der Italiener – sie fühlten sich zurückgewiesen von Europa, allein gelassen im Mittelmeer, über das immer mehr Menschen in ihr Land kamen.

Ihr Blick in die Zukunft verdüsterte sich immer mehr. 2018 waren 96 Prozent der Italiener mit geringer Schulbildung davon überzeugt, dass sie in ihrem Leben keine Chance mehr hätten, einigermaßen wohlhabend zu werden; bei den Menschen mit höherer Schulbildung waren es immerhin noch 89 Prozent. Rund 270 000 junge Italiener verließen 2017 ihre Heimat auf der Suche nach Arbeit. Gleichzeitig besitzen immer weniger Italiener immer mehr Geld. Doch die italienischen Superreichen kümmern sich nicht um die Lage ihrer Landsleute. Über 67 Prozent von ihnen sagen, dass sie das Geld vor allem genießen wollen. Für über 80 Prozent der Italiener ist inzwischen das Wort »reich« ein Synonym für »egoistisch«.8

Wo früher eine Partei mit klassenkämpferischen Parolen diese Ungleichheit attackiert hätte, wo sich früher die Benachteiligten organisiert hätten, um ihren Anteil einzufordern, wo sich früher die unter Druck geratene, verängstigte Mittelschicht organisiert und gewehrt hätte, da ist im heutigen Italien nur mehr ein leerer Platz, auf dem das Ressentiment blüht. Es richtet sich gegen den Migranten, den Flüchtling, den Roma, den Eurokraten, die Eliten, die Experten – das Ziel ist beliebig austauschbar. Die Wut muss sich entladen. »Der Hater ist kein anonymer Mensch mehr, der in die Tasten greift, er ist zu einem anerkannten Protagonisten des Alltags geworden.«9

Warum also werden wir aus Brüssel permanent ermahnt? Warum werden wir alleingelassen, wenn wir Hilfe brauchen? Die Nationalpopulisten Italiens stellen durchaus die richtigen Fragen, liefern aber hochexplosive Antworten: Ihr werdet nicht für das, was ihr tut, bestraft, sondern für das, was ihr seid. Das Problem für die anderen ist eure Art und Weise, in der Welt zu sein und in ihr zu leben. Eure Identität ist das Hindernis. Sie soll aus dem Weg geräumt werden. Europa will euch und eure Nation zum Verschwinden bringen.

Diese Botschaft fällt auf fruchtbaren Boden. Am 4. März 2018 wählten über 50 Prozent der Italiener zwei populistische Parteien, die von der Europäischen Union so reden, als handle es sich um einen Feind. Matteo Salvini schreibt in seiner Autobiografie »Secondo Matteo«: »Es gibt Leute, die die Europäische Union als Monster bezeichnen. Ich bin mit dieser Metapher vollkommen einverstanden, denn dieser ›Superstaat‹ steht dem totalitären Regime der alten Sowjetunion in nichts nach. Im Gegenteil: Wahrscheinlich übertrifft er ihn sogar in der Raffinesse seiner Propaganda, seiner Intrigen, die Jahr für Jahr unsere Demokratien weiter aushöhlen.«10 Sein Regierungspartner Luigi Di Maio von der Partei MoVimento 5 Stelle bezeichnete EU-Kommissare schon mal als Männer, die »auf den Märkten Terror verbreiten«11, um Italien zu schaden. Die Italiener haben sie bewusst gewählt und damit einen Sprung ins Ungewisse getan. Das ist ihnen nicht passiert, das ist kein Unfall, sondern es war eine Entscheidung, die sich lange angekündigt hatte. Je stärker die Gesellschaft sich mit dem Gift der Bitternis vollsog, desto wahrscheinlicher wurde der Erfolg der Politiker, die vom Schüren des Ressentiments leben. Es ist wie ein sich selbst verstärkender Mechanismus, eine Spirale des Hasses.

Salvini und Di Maio bringen bei jeder Gelegenheit »das Volk« gegen »die Eliten« in Stellung. Aufwiegelung ist ihr Geschäft. Dabei gilt es, keine Zeit zu verlieren. Je komplexer die Welt, desto schneller wollen sie die Schuldigen präsentieren. Das ist eines der Geheimnisse ihres Erfolges. Sie erlösen die Menschen von schwierigen Problemen, indem sie diese zu einfachen Problemen erklären und klare, verführerische Alternativen anbieten.

Als die Morandi-Brücke in Genua zusammenbrach, wandten die beiden sofort ihre bewährte Methode an. Sie attackierten die Eliten – in diesem Fall die Familie Benetton, den Mehrheitsaktionär der Autobahngesellschaft, die für die Brücke die Verantwortung trug.

Die Geschichte der Unternehmerfamilie Benetton ist in vielerlei Hinsicht typisch für Italien. In den achtziger Jahren wurden die Benettons durch bunte Strickwaren weltberühmt, gewissermaßen aus dem Nichts. Dabei haben den Benettons die tabubrechenden Werbekampagnen des Fotografen Oliviero Toscani geholfen. Er arbeitete mit Gegensätzen: Ein Palästinenser und ein Jude stehen sich gegenüber, Papst Benedikt XVI. und der Imam von Kairo küssen sich, ein schwarzer Junge und ein weißes blondes Mädchen umarmen sich. Eines von Toscanis Werbefotos zeigt ein Schlauchboot voller schwarzafrikanischer Flüchtlinge mit rot leuchtenden Schwimmwesten. Die Benettons pflegten ein Image der Liberalität und Offenheit, in der globalisierten Welt schienen sich alle Gegensätze wie von selbst aufzulösen.

Um die Jahrtausendwende verabschiedeten sie sich nach und nach von ihren Strickpullovern und investierten in die Infrastruktur Italiens. Als die Autobahnen privatisiert wurden, waren die Benettons zur Stelle. Sie sind heute Hauptaktionäre der Autobahngesellschaft, die für den Betrieb und den Erhalt der Morandi-Brücke verantwortlich ist. Es ist ein lukratives, milliardenschweres Geschäft; im Jahr 2017 lag der Gewinn bei knapp vier Milliarden Euro.12 Nach dem Einsturz der Brücke waren die Benettons die ideale Zielscheibe für die Attacken der Populisten – und sie machten es ihnen auch leicht.

Am 15. August 2018, zwei Tage bevor in Genua 19 Opfer des Unglücks in einem Staatsakt zu Grabe getragen wurden, lud die Familie Benetton Freunde und Bekannte in Cortina zu ihrem traditionellen, alljährlich wiederkehrenden Fest des Ferragosto, Mariä Himmelfahrt, ein. Es war eine große Zusammenkunft und eine verheerende Botschaft: Die verzweigte Familie Benetton feierte, während Genua trauerte. Tagelang schwiegen die Benettons zu dem Unglück. Erst am Tag des Begräbnisses traten die Spitzen der Autobahngesellschaft vor die Presse und gestanden ein, sich unsensibel verhalten zu haben. Sie wiesen aber jede Schuld am Einsturz der Brücke weit von sich. Man müsse erst die Ergebnisse der Untersuchungen abwarten. So richtig das in der Sache war, so sehr war der Ruf der Autobahngesellschaft längst beschädigt. Sie hatte zu viele offene Flanken geboten. Im Netz zirkulierte ein Ticket der Mautstation von Rapallo, auf dem zu lesen stand, dass ein Fahrzeug die geforderten 2,90 Euro nicht bezahlt habe und innerhalb von 15 Tagen begleichen müsse. Der Zeitpunkt, an dem das Ticket ausgestellt wurde: 14. August 2018, 18:44 Uhr, sieben Stunden nach dem Einsturz der Morandi-Brücke. Bei dem Fahrzeug, von dem das Geld eingefordert wurde, handelte es sich um eine Ambulanz. Sie war auf dem Weg zum Unglücksort nach Genua. Gieriger, kälter konnte eine Elite nicht erscheinen – ein gefundenes Fressen für die Populisten.

Die gescheiterte Revolution

Silvio Berlusconi nutzt seine Chance

»Verehrter Dottore, jeden Tag, an dem ich in ›La Repubblica‹ lese, dass ein Politiker verhaftet wird, füllt sich mein Herz mit Freude.« Offener Brief eines italienischen Bürgers an den Staatsanwalt Antonio Di Pietro, 29. Juni 199213

Der Largo Febo ist im Gegensatz zu dem, was sein Name suggerieren könnte, keine breite, großzügige Straße. Denn in Wirklichkeit handelt es sich um eine enge Gasse. In der touristischen Hochsaison ist sie von einem beständigen Summen erfüllt, unterbrochen nur von den knatternden Motoren der Mofas, Dreiräder und Lieferwagen, die sich auf mörderische Weise durch die Menschenmassen schlängeln. Der Largo Febo verläuft parallel zur Piazza Navona, einer der bekanntesten Sehenswürdigkeiten Roms. An einer Stelle hat er eine schattige, dunkle Öffnung. Dort liegt das Hotel Raphael. Es führt hier, mitten im pulsierenden römischen Leben, eine diskrete, eine zurückhaltende Existenz.

Am Abend des 30. April 1993 versammelt sich am Largo Febo eine kleine Menschenmenge, die darauf wartet, dass einer der prominenten Gäste des Hotels erscheint: Bettino Craxi, der Vorsitzende der Sozialistischen Partei Italiens. Er war von 1983 bis 1987 Ministerpräsident des Landes und damit einer der am längsten amtierenden Regierungschefs im Nachkriegsitalien. Das Hotel Raphael ist so etwas wie die römische Residenz des gebürtigen Mailänders Craxi. An diesem Abend isst er zusammen mit seinen engsten Mitarbeitern. Am Tisch des verheirateten Craxi sitzt auch, wie die Zeitungen später maliziös-geheimnisvoll anmerken werden, die »Frau, die er liebt«. Draußen bilden Polizisten in Uniform einen Kordon, um Demonstranten auf Distanz zum Hotel zu halten. Beamte in Zivil stehen dicht an der Hauswand und registrieren aufmerksam jede Bewegung in der Gasse. Die Unruhe ist mit Händen zu greifen.

Am Tag zuvor, am Nachmittag des 29. 1415