Schwarzdornen – Ein Altmarkkrimi

Heike Schroll

   

Schwarzdornen – Ein Altmarkkrimi

Judith Brunners siebenter Fall

   

   

Kriminalroman

 

 

eBook

alto-Verlag Berlin

   

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die vorliegende Kriminalerzählung ist frei erfunden.

Jede Übereinstimmung von Personen und Örtlichkeiten wäre rein zufällig.

   

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Impressum

 

 

Schroll, Heike

»Schwarzdornen – Ein Altmarkkrimi«

Judith Brunners siebenter Fall

Kriminalroman

 

 

eBook-Version: (19.09 a) September 2019

Copyright © dieser Ausgabe by alto-Verlag Berlin

Copyright © 2019 by Heike Schroll

 

Umschlaggestaltung und Foto: Bernd Schroll

Alle Rechte vorbehalten

© alto-Verlag Berlin 2019

 

ISBN 13: 978-3-944468-13-6 (epub)

ISBN 10: 3-944468-13-9 (epub)

 

Identische Taschenbuchausgabe:

alto-Verlag Berlin 2019

ISBN 13: 978-3-944468-12-9

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Altmark, Mitte Juli 1993

 

 

~ 1 ~

 

 

Mit einer Mischung aus Bedauern und Verdruss drehte sich Judith vom Fenster weg und warf einen langen Blick über den Tisch zur Tür, durch die vor wenigen Augenblicken ihre Hoffnung auf einen interessanten Arbeitstag entschwunden war. Schade. Bei Dienstbeginn hatte es in der Tat nach einer guten Gelegenheit ausgesehen, sich einen der alten ungelösten Fälle vorzunehmen.

Aktuell musste sie, selten genug, keinen Mord oder Totschlag untersuchen, niemand hatte sich umgebracht oder war auf mysteriöse Art und Weise verschwunden. Seit sie vor ein paar Tagen den ganzen Papierkram zu ihren letzten Ermittlungen erledigt hatte, herrschte diesbezüglich eine trügerische Ruhe im Salzwedeler Polizeirevier. Vielleicht lag es am prächtigen, besänftigend warmen Sommerwetter, dass die Leute nicht auf die Idee kamen, schwere Gewaltverbrechen zu begehen, oder die Mörder und Kidnapper machten alle Urlaub. Nun, sie hatte bestimmt nicht vor, sich darüber zu beschweren; Judith lebte gern in einer friedlichen Welt.

Ein paar Tage ohne aufreibende Tätersuche kamen ihr sehr gelegen, zumal ihr letzter Fall sie auf einer tieferen Ebene nicht losließ. Zugegeben, offiziell war die Sache abgeschlossen. Hatte sie die richtigen Entscheidungen getroffen? Ohne jeden Zweifel. Aber welche Konsequenzen das alles haben könnte, würde sich wohl erst im Laufe der Zeit herausstellen. Sogar der Polizeiärztin war beim vorgeschriebenen alljährlichen Routine-Check aufgefallen, dass sie blass und müde aussah. Für ihre gut vierzig Jahre sei sie körperlich bestens in Form, aber mentale Entspannung wäre für ihre Leistungsfähigkeit genauso wichtig. Ärzte redeten immer so schlau daher. Stress gehörte nun mal zu ihrem Beruf dazu, und Judith wollte es auch gar nicht anders haben.

Sie wusste schon, wie sie die jüngsten Belastungen ausgleichen konnte: Sich in den Altaktenraum verziehen, in Ruhe recherchieren, und mit ihren beschränkten Möglichkeiten dazu beitragen, dass wenigstens ab und zu ein offener Fall aufgeklärt werden konnte. Kein Mörder sollte sich in Sicherheit wiegen. Sie hatte vorhin die Ordner und Mappen aus dem Stahlschrank genommen und begonnen, in ein paar Fallakten zu stöbern. Waren welche dabei, denen sie sich intensiver widmen konnte? Sinnvoll war es, zunächst denjenigen Akten Beachtung zu schenken, die halbwegs vollständig schienen; und dann sollten es Sachen sein, bei denen es wenigstens irgendwelche verwertbaren Spuren gab. Die Kriminaltechnik machte in den letzten Jahren gewaltige Fortschritte. Aus winzigsten Partikeln ließ sich heutzutage die DNA ermitteln. Zwei Mappen machten ihr einen lohnenswerten Eindruck – ein vermeintlicher Selbstmord, der so nicht passiert sein konnte, und ein Leichenfund in einem Fahrstuhlschacht –, und für mehr hätte sie voraussichtlich ohnehin keine Zeit. Denn eines war gewiss: Die Verbrechensflaute würde nicht ewig andauern. Und dann war sie wieder gefragt.

Schneller als erwartet war es soweit. Leider. Ihr übel gelaunter Vorgesetzter und ein ungeschickter Einbrecher hatten ihre Pläne für den Tag zunichtegemacht. Rücksichtslos. Knut Müller-Nordergreen, kurz KMN, war hier reingestürmt und hatte unmissverständlich darauf bestanden, dass sie sich mangels anderer anwesender Kollegen – das halbe Revier war in den Ferien – mit dem Mann im Vernehmungszimmer unterhielt. Er hatte eine dünne Akte auf den höchsten Stapel des Tisches gepackt und war mit einem ›Frau Brunner, ich verlasse mich auf Sie‹ wieder verschwunden.

Was sollte sie machen? Es war nicht zu ändern. Judith schnappte sich die Papiere, einen Stift nebst Notizheft und nahm die Treppe ins Erdgeschoss.

Im Flur vor dem Vernehmungszimmer wartete sie noch auf Lisa Uhlig, ihre Praktikantin, grüßte den uniformierten Kollegen vor der Tür und las sich rasch die wenigen Angaben durch, die sie zu dem Mann bisher hatten: Erich Pförtner, 27 Jahre alt, wohnhaft in Salzwedel. Arbeitete angeblich in einer Schlosserwerkstatt. Auf dem Passfoto des Führerscheins sah er aus wie ein schüchterner Teenager. Er war bei einer routinemäßigen Verkehrskontrolle an der B 71 aufgefallen. Im Kofferraum seines alten Fords lagen eine lieblos hingeworfene Ansammlung gehobener Lederbekleidung, einige Audio-Geräte und angebrochene Flaschen hochprozentiger Spirituosen, für die er keine plausible Erklärung ablieferte. Den Beamten der Verkehrskontrolle war hingegen sofort klar, was sie da sahen: die Beute eines Einbrechers.

Lisa flitzte um die Ecke, einen Karton mit Papieren in der Hand. »Tut mir leid, ich war noch im Sekretariat, um diese Skizzen für meinen Praktikumsbericht zu kopieren.«

»Keine Sorge, der Kerl da drin läuft uns nicht weg. Ein kleiner Dieb; der geringen Beute nach zu urteilen, nicht gerade ein Genie seiner Branche. Du schreibst nur mit, ich leite die Befragung.« Ohne anzuklopfen, öffnete Judith die Tür und die beiden Frauen traten ein.

Erich Pförtner fiel die Kinnlade runter. Da das die übliche Reaktion von Männern war, die Lisa zum ersten Mal sahen, waren sie mittlerweile daran gewöhnt. Lisa war zweifelsohne eine umwerfend schöne, attraktive junge Frau. Heute hatte sie ihre blauschwarzen Haare im Nacken zu einem Knoten zusammengedreht und mit einem changierenden Band fixiert. Sie war mit Jeans und einer hellgelben Bluse eher zurückhaltend gekleidet, doch normalerweise war es vollkommen egal, was sie trug – niemand entzog sich Lisas natürlicher Attraktivität. Und da Judith in ihrem klassischen Etuikleid, mit ausgefallenem Blumendruck und Carré-Ausschnitt, ebenfalls äußerst elegant daherkam, brauchte Pförtner ein paar Sekunden, bis er den Anblick der beiden Polizistinnen verarbeitet hatte. Er sah sie misstrauisch an, erhob sich ungelenk und wartete.

Pförtner trug eine Kluft aus ungeputzten Sicherheitsstiefeln, T-Shirt und einer dunklen unförmigen Arbeitshose. Der Schlüsselanhänger am Bund war leer, die Hammerschlaufe am rechten Bein und die Zollstocktasche am linken Bein ebenso. Keine der zahlreichen Taschen der Hose wirkten gefüllt; die aufgenähten Knieschoner waren zerschrammt. Auf dem Weg zur Arbeit war er offenbar nicht.

»Nehmen Sie bitte wieder Platz«, forderte Judith den Mann auf.

Im Raum roch die Luft nach viel zu viel billigem Aftershave und ungewaschenen Klamotten. Lisa eilte zum vergitterten Fenster und öffnete das schmale Oberlicht. Dann setzte sie sich neben ihre Chefin.

Nach einer förmlichen Vorstellung und der üblichen Belehrung fragte Judith: »Sie sind Erich Pförtner, wohnhaft in Salzwedel. Ist das richtig?«

Der Mann nickte.

»Sie wissen, warum Sie hier sind, Herr Pförtner?«

»Sicher, ich bin ja nicht blöd. Sie haben mich eben erwischt. Kann passieren.« Seine Stimme war überraschend angenehm, fast sinnlich, so, wie Radiomoderatoren sich nach Mitternacht anhörten, wenn sie eine schwülstige Saxofonnummer ankündigten. Sie passte überhaupt nicht zu dem schmächtigen Milchgesicht.

»Sie geben also zu, dass Sie mit Diebesgut erwischt wurden?«

»Ist das nicht offensichtlich?« Pförtner klang leicht genervt. »Reichen Sie mir den Wisch schon rüber! Ich unterschreib Ihnen mein Geständnis.«

»Wieso sind Sie so entgegenkommend?«, erkundigte sich Judith. Üblicherweise dauerte es ein wenig, bis die Leute in diesem Raum anfingen zu reden.

Pförtner schnaubte, als wäre sie etwas schwer von Begriff. »Was denken Sie denn? Ich möchte hier schnellstmöglich raus, nach Hause. Es ist das erste Mal, dass ich hier bin. Geben Sie den Leuten ihren Plunder wieder zurück. Wirklich gelohnt hat es sich eh nicht. Ich schätze, mehr als eine Bewährungsstrafe kann ich nicht kassieren. Bringen wir das hier schnell hinter uns und gehen dann unserer Wege.«

Der Mann war offenbar nicht blöd, dachte Judith. Und er hatte außerdem vollkommen recht. Diese Vernehmung war nur der ärgerliche Auftakt zu einem zeitraubenden juristischen Verfahren, bei dem am Ende nicht allzu viel herauskommen würde. Doch da sie nun einmal den Auftrag bekommen hatte, sich der Angelegenheit anzunehmen, konnte sie die auch nicht unter den Tisch fallen lassen. Und Lisa lernte etwas. »Na gut, dann erzählen Sie mal. Weswegen stehlen Sie?«

»Na, warum wohl. Ich will nicht, dass die Leute schlecht über mich reden. Ich will mich ordentlich anziehen und in einer vorzeigbaren Wohnung leben. Ich bin doch kein Assi. Eine eigene Frau möchte ich auch irgendwann haben. Und wissen Sie, was das kostet? Irgendwo fällt immer was vom Laster. Entweder ich kann’s selber brauchen oder es bringt ein paar Piepen.«

Pförtner konnte seiner kriminellen Berufung noch nicht all zu lange nachgehen, ging es Judith angesichts der verschlissenen Hose und dem ausgeblichenen T-Shirt durch den Kopf. Oder er stellte sich beim Verticken der gestohlenen Sachen nicht sonderlich clever an. Seine Adresse lag in dem großen Neubaugebiet Arendseer Straße im Süden Salzwedels. Nichts spräche dort gegen eine gut möblierte Wohnung. Die Kollegen von der Spurensicherung würden sich da gründlich nach weiterem Diebesgut umsehen müssen. »Und Sie sind der Auffassung, dass Stehlen ein akzeptables Vorgehen ist?«

»Kommen Sie mir doch nicht auf die moralische Tour! Warum sollte ich dafür mein Gewissen belasten? Den Leuten, die ich beklaue, geht es dadurch nicht schlechter. Ob die nun ein Paar Ohrringe oder etwas Bargeld nicht mehr haben, merken die doch gar nicht. Die haben meist genug auf der hohen Kante. Alles nur geerbt.«

»Was hat das denn damit zu tun, dass Sie stehlen?«

»Ich bin arm und allein. Sogar meine Wohnung zahlt das Amt. Was soll ich denn da reinstellen, von den paar Kröten, die man mir auf Arbeit gibt? Mit einem Bruch kann man Tausende Mark machen! Aber so ein Glück hatte ich noch nicht.«

»Sie bringen also die Leute um ihr Hab und Gut, weil Sie selbst ein besseres Leben führen wollen?«

»Ja. So machen es viele Menschen seit Jahrtausenden. Was gibt es daran auszusetzen?«

»Am Wunsch nach einem besseren Leben – gar nichts. An Ihren Methoden – nun, da fallen mir schon ein paar Gegenargumente ein.«

Pförtner ließ ein beleidigtes Gesicht sehen und lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen an seine Stuhllehne zurück.

»Was können Sie mir zu den Gegenständen sagen, die meine Kollegen in Ihrem Kofferraum gefunden haben? Wo haben Sie die Sachen her? Erinnern Sie sich an die Adressen?« Unter Umständen konnten sie die Stücke unversehrt an die Eigentümer zurückgeben.

»Nee.«

Judith blieb geduldig. »Strengen Sie sich mal ein bisschen an, Herr Pförtner. Das würde dem Staatsanwalt bestimmt gefallen und Sie Ihrer ersehnten Bewährungsstrafe etwas näher bringen.«

Dieser Hinweis half. »Mann! Die Adressen sind mir doch piepegal. Ich gucke mir ein Haus aus und gehe bei der erst besten Gelegenheit rein. Also, die letzten Häuser würde ich wiederfinden. Aber ooch nich alle.«

»Dann fangen wir doch mit dem an, das für Sie noch frisch in Erinnerung ist, also Ihrem letzten Bruch. Wann sind Sie unterwegs gewesen?«

Pförtner warf Judith einen äußerst verärgerten Blick zu, rang sich dann allerdings zu einer Antwort durch: »Gestern. Am Sonntag. In Gestien. Das ist bei Arendsee.«

»Geht es etwas genauer? Wo denn da?« Arendsee war ihr natürlich bekannt. Judith konnte sich allerdings nicht erinnern, jemals in Gestien gewesen zu sein. Ob Walter das Dorf kannte? Sie und ihr Lebenspartner unternahmen öfter kleinere Ausflüge und sahen sich die an Sehenswürdigkeiten reiche Altmark auch in den entlegensten Winkeln an, aber Gestien?

Es klopfte an der Tür. Müller-Nordergreen steckte den Kopf herein. »Hätten Sie einen Moment Zeit?«, bat er höflich, obwohl das natürlich keine wirkliche Frage war.

Judith wusste, es musste etwas Wichtiges passiert sein, wenn ihr Chef eine Vernehmung unterbrach. Sie schob Pförtner ein paar Blatt Papier und einen Stift über den Tisch. »Schreiben Sie auf, woran Sie sich erinnern. Machen Sie am besten eine Skizze der Örtlichkeiten«, und verließ mit Lisa den Raum.

Knut Müller-Nordergreen ging im Flur ein paar Schritte voran. Der uniformierte Polizist übernahm wieder die Wache vor dem Vernehmungszimmer. Abrupt drehte sich KMN um und sagte mit nach Sensation klingender Vorgesetztenstimme: »Wir haben einen Leichenfund. Es sieht zweifelsohne nach einem gewaltsamen Ableben aus. Fahren Sie hin, Frau Brunner. Und wir beide, Frau Uhlig «, er deutete mit dem Kopf auf den Vernehmungsraum, »bringen das Gespräch mit unserem Langfinger zu Ende. Im Anschluss brauche ich Sie für die nächsten Tage in meinem Vorzimmer. Kollegin Siegel ist leider indisponiert.«

Judith schüttelte den Kopf, denn Lisas Praktikumsplan sah etwas anderes vor. »Darüber ist aber noch nicht das letzte Wort gesprochen.«

»Wie? Ähm, ach so, Sie müssen nach Gestien«, tat KMN so, als hätte er das nicht verstanden. »Ich habe dem Fachkommissariat in Stendal bereits Bescheid–«

Lisa schnappte nach Luft und prustete heraus: »Wohin?«

»Wo, sagten Sie, wurde die Leiche gefunden?«, fragte Judith ruhiger, aber auch sie konnte ihre Überraschung nicht verbergen.

»In Gestien. Also Arendsee. Ich weiß, nicht gerade der Nabel der Welt – aber wieso gucken Sie beide so komisch?«

»Nun, da haben wir in Rekordzeit einen Hauptverdächtigen aufgetan.« Judith wies auf die geschlossene Tür des Befragungszimmers. »Der Kerl, der da drin sitzt, ist gestern in ein Haus dort eingebrochen. Wenn das mal nicht ein seltsamer Zufall ist.«

 

 

~ 2 ~

 

 

Von Salzwedel nach Gestien war es nur ein Katzensprung. Gleich am Ortsausgang von Arendsee bog Judith rechts auf eine schmale, holperige Straße aus brüchigen Betonplatten und alten Pflastersteinen ein, sah hinter einem Maisfeld einen der typischen Feuerwachtürme stehen und erblickte kurz darauf die ersten Dächer der Siedlung.

Die fragliche Adresse in Gestien war unschwer zu finden. Ein Streifenwagen stand vor einem der kleinen Bauernhäuser, umringt von mindestens zehn Leuten, drei Hunden und einigen betont interessiert scharrenden Hühnern, die ein uniformierter Polizist mit wenig Erfolg versuchte, zu verscheuchen. Voller Neugier wurde Judiths Eintreffen von der Gruppe verfolgt. Sie stellte sich mit ihrem Auto in die Nähe des Streifenwagens. Gleich neben ihr hielt Jurik Bellheim, der Kriminaltechniker vom Revier, mit seinem Transporter.

Das Dorf war überraschend klein, ein Rundling. Judith blieb einen Moment im Wagen sitzen und betrachtete die Gebäude, die den Dorfplatz umstanden. Es waren alte, meist einstöckige Häuser, einige frisch saniert und neu verputzt; eines bekam sogar ein neues Dach. Sie gehörten zu Höfen, die sich seitlich anschlossen oder nach hinten ausgebaut waren. Die Prachtfassade eines beachtlichen Vierseithofes, der den Platz prägte, zeugte vom früheren Wohlstand seines Besitzers. Rote Ziegel im Fachwerk, wuchtige hölzerne Tore und ein riesiges Dach ließen auf einen einstmals florierenden Hof schließen. Verbunden wurden das Stallgebäude, die Toranlage und das Wohnhaus über eine lange Balkeninschrift. Ihre Freundin Laura hatte ein Faible für solches Brauchtum und so hatte Judith es sich angewöhnt, stets genauer hinzuschauen und ihr davon zu berichten, wenn sie in der Altmark eine neue Hausinschrift entdeckte. Sie versuchte, die alten Buchstaben zu entziffern: »Ich bin mit dir mein Gott zufriden und halte deinen willen still. was deine Güte mir beschieden, damit vergnügt sich mein Will, mein will, der zwar nicht ferner mein, dieweil er dein begint zu seyn – Gott der solang hausgehalten, höret noch nicht auf zu walten, oder solt er jetzt allein, deßen müd geworden sein, ey Solas ichs Sorgen bleiben, meine zeit Gott heim zu schreiben, das so wie es ihm gefelt, mir zu mahlen eines gilt – Gott hat geholfen Gott hilf noch Gott wil weiter helfen.« Bewundernswert. Poetisch. Judith stieg aus und ging auf den Mann vom Streifenwagen zu, der die ordnungsschaffenden Versuche inzwischen aufgegeben hatte und mit seinem krächzenden Funkgerät hantierte. Sie hatten sich erst bei Dienstbeginn im Revier gesehen. »Hallo, so schnell begegnet man sich wieder«, grüßte Judith.

»Tag auch. Wir sind seit einer knappen halben Stunde hier. Haben alles soweit im Griff. Wie ich gerade gehört habe, kommt noch ein Streifenwagen.«

»Danke. Wenn die Verstärkung da ist, fangen Sie an, die Namen und Adressen der Leute aufzuschreiben, die hier so rumstehen. Sagen Sie ihnen dann, sie sollen alle nach Hause gehen, wir kommen bei jedem später vorbei.« Judith und ihr junger Kollege Bellheim hatten es von Salzwedel hierher nur halb so weit, wie die Leute aus Stendal. Trotzdem würde es nicht mehr lange dauern, bis der Rest der Truppe eintraf. Sie kündigte an: »Die Tatortgruppe kommt sicher jeden Moment. Ich gehe mit Bellheim schon mal vor.«

Vor dem Hauseingang erwartete sie der zweite uniformierte Kollege. Er grüßte vorschriftsmäßig und wies den Weg: »Er liegt im Wohnzimmer, neben der Couch.«

Von außen, von der Tür aus betrachtet, sah der schmale Flur ordentlich und sauber aus. Bellheim machte erste Fotos und blickte prüfend auf das Türschloss. »Keine frischen Kratzer zu sehen«, stellte er fest.

»War die Tür offen, als Sie eingetroffen sind?«, erkundigte sich Judith bei dem Streifenpolizisten.

»Ja. Die war nicht verschlossen. Deswegen konnte die Leiche ja überhaupt entdeckt werden. Ein Versicherungsvertreter war hier. Er hatte angeblich einen Termin. Die Tür stand einen Spalt auf, er klopfte und rief, dann sah er nach. So wurde der Tote gefunden. Ein Wolf Prott, der Hausbewohner, hat ganz schön was übergezogen bekommen. Sein Besucher hat ihn für uns identifiziert.«

»Und wo ist dieser Vertreter jetzt?«

»Zuhause. Er wohnt drei Häuser weiter und wartet dort, hat er gesagt.«

»Danke.« Mit dem Mann würde sie als Nächstes reden, doch vorerst wollte Judith sich einen Eindruck vom Fundort verschaffen.

Die Leiche war nicht zu übersehen. Sie lag auf dem Rücken mitten im Wohnzimmer auf dem Boden. Leicht angewinkelte Beine, die Füße zeigten zur Tür. Unter dem Kopf hatte sich eine ausgedehnte Blutpfütze auf dem weißen Wollteppich gebildet. Es schien schon reichlich eingetrocknet zu sein.

Bellheim schoss weitere Fotos, legte ein paar Markierungen aus und bestimmte damit die Stellen, die sich die Leute von der Tatortgruppe genauer ansehen sollten. Übrig blieb ein schmaler Pfad, den er mit einer Folie bedeckte, über die Judith näher zur Leiche gelangen konnte. Sie streifte Einmalhandschuhe über und wartete geduldig, bis er ihr grünes Licht gab. Sie hockte sich neben den Toten, einen auffällig jungen Mann. Er war ungewöhnlich gut aussehend, auf eine Weise, die vielen Frauen und selbstredend ebenso Männern gefährlich werden konnte. Selbst im Tode, mit blassem und erschrockenem Ausdruck, hatte er wenig von seiner Attraktivität eingebüßt. Die glatten schwarzen Haare waren von einem echten Profi geschnitten worden, obwohl sie so aussahen, als hätten sie bald schon einen neuen Haarschnitt nötig. Ein Bartschatten betonte sein markantes Kinn; die leicht geöffneten Lippen sahen aus, als würde er vor seinem Tod gelächelt haben. Die Tatsache passte nicht zu den dunkelblauen Augen, die gebrochen an die Decke starrten und den Schrecken seiner letzten Sekunde konservierten. Judith besah sie sich die Kleidung des Toten. Gute Qualität. Markenjeans. Das ärmellose T-Shirt, das wohlproportionierte Muskeln präsentabel zur Geltung brachte, stammte von einem Designer, dessen Klamotten gemeinhin von Bikern bevorzugt wurden. Alles schwarz. Um den Hals trug er eine schmale Kette aus breitgeklopften Gliedern in feinstem Sterlingsilber. Der Mann war barfuß, was mit Rücksicht auf die häusliche Situation und die Jahreszeit naheliegend war, aber nicht zum vereinbarten Termin mit dem Vertreter passte. Judith stand wieder auf. Sie sah sich um. Kampfspuren waren nicht auszumachen, keine Sohlenabdrücke oder verspritzte Blutstropfen. Sie ging vorsichtig zurück in den Flur. »Haben Sie sich schon etwas umgesehen?«, fragte sie den Streifenpolizisten über die Schulter. »Konnten Sie eine Tatwaffe entdecken?«

»Nee, wir haben lieber von draußen aufgepasst, dass die neugierigen Nachbarn hier nicht hereinströmen und alles zertrampeln.«

»Gut gemacht.«

»Keine sichtbaren Einbruchspuren an den Türen und Fenstern«, verkündete Bellheim nach kurzem Rundgang und deutete auf den Leichnam. »Er wird seinem Mörder selber die Tür geöffnet haben.«

Judith stimmte der Vermutung gedanklich erst mal zu; nach einem Einbruch sah das hier in der Tat nicht aus. Alles wirkte aufgeräumt. Wie von selbst kam ihr der Kleinkriminelle vom Revier in den Sinn. Wo genau war dieser Erich Pförtner gestern in Gestien eingestiegen? In welches Haus? Das würde er bei einem Ortstermin sicher wiederfinden. So groß war das Dorf nicht. Hatte er bei der Vorbereitung für seinen Bruch etwas beobachtet, was ihnen im Falle des Toten helfen könnte?

Als das Klappen mehrerer Autotüren zu vernehmen war, ging Judith vor die Tür und begrüßte die Kollegen von der Tatortgruppe. Ihnen würde sie das Haus – den Tatort – erst einmal überlassen müssen.

 

 

~ 3 ~

 

 

Christian Letzien, Stellvertreter des Chefs vom Fachkommissariat 1, dem für schwerste Verbrechen zuständigen Kommissariat bei der Polizeidirektion in Stendal, stieg aus seinem Wagen. Er sah sich suchend um, ging dann geradewegs auf Judith zu und begrüßte sie: »Guten Tag, Frau Brunner. Könnte ich Sie wohl kurz unter vier Augen sprechen?«

»Sicher.« Judith folgte ihm gelassen, als sie gemeinsam ein paar Schritte zur Seite traten. Wo steckte Anton Sello? Hatte Müller-Nordergreen den Mann nicht erreicht?

»Der Chef hat Urlaub«, beantwortete Letzien die unausgesprochenen Fragen. Seinen legeren Kleidungsstil – er trug nie Anzug und Krawatte, wie viele andere Ermittler – betonte er heute mit einem mit kleinen Segelbooten bedruckten Hemd, das er offen über Jeans und T-Shirt trug. »Dieses Mal haben wir beide das Vergnügen miteinander. Sie und ich. Und, äh, es gibt da gleich mal ein großes Problem.«

Nanu? Judith konnte Letzien ganz gut leiden. Er war zwar manchmal etwas ruppig und burschikos und zuweilen gab er sich gern den Anschein eines Frauenhelden, aber im Großen und Ganzen war er ein exzellenter Ermittler und einer von den netteren Kollegen. Judith hatte immer den Eindruck gehabt, diese Sympathie beruhe auf Gegenseitigkeit. Sie konnte sich deswegen nicht recht vorstellen, weswegen eine gemeinsame Ermittlung schwierig werden würde.

»Also ich–« Letzien stockte und hob eine Hand. Er sah einen kurzen Moment so aus, als bereite es ihm große Mühe, sich zusammenzureißen. »Bitte ... Ich kenne Sie und weiß, dass Sie das eigentlich auch ohne mich hinbekommen würden. Und mir wäre es ehrlich gesagt am liebsten, ich müsste mich so wenig wie möglich mit den Ermittlungen hier herumschlagen. Mir platzt ohnehin schon der Kopf. Also, wenn Sie einverstanden sind, würde ich Ihnen diesen Fall ab sofort als leitende Ermittlerin übertragen. Ich erwarte natürlich regelmäßig Ihren Bericht.«

»Geht es Ihnen gut?« So sehr Judith sich über Letziens Vertrauen freute, beschlich sie mit einem Mal ein ganz mieses Gefühl. Der Kriminalhauptkommissar hatte bei der Formulierung des Angebots nicht besonders wach geklungen, eher bedrückt. Er sah mitgenommen aus, war unrasiert und an einem seiner Schuhe hatte sich ein Schnürsenkel gelöst und hing herunter.

»Ja, ja. Alles in Ordnung. Ich ... Es ist nur ...« Letzien fluchte unterdrückt: »Ach, verdammte Scheiße!«, keuchte er schwer atmend auf und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar.

Als er Judith dann mühsam ansah, sah sie in seinen Augen für einen kurzen Moment einen grausamen Schmerz, eine Qual, die weit über gelegentliche Verletzungen hinausging, und dazu etwas, das sie nicht einordnen konnte. Trauer? Schuld? »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte sie leise.

Stumm schüttelte Letzien den Kopf. »Dafür gibt es keine Hilfe.« Er klang resigniert, überzeugt, dass es ohne Zweifel so war. »Ich kann mich nur nicht wie gewohnt konzentrieren. Aber ich muss arbeiten. Sonst werde ich verrückt. Verstehen Sie?«

Nein. Judith verstand gar nichts. Sie war hin- und hergerissen. Etwas stimmte hier nicht. Letzien war in einem besorgniserregenden Zustand.

»Bitte. Ich verlasse mich auf Sie. Ermitteln Sie und bleiben Sie mit mir in Verbindung. Ich werfe nur kurz einen Blick auf den Toten und verschwinde dann wieder in meine Dienststelle. Von dort aus kläre ich alles Nötige, auch das mit der Staatsanwaltschaft.«

»Christian«, wagte Judith angesichts der seltsamen Situation die zuvor nie benutzte private Anrede. »Sind Sie sicher, dass Sie zurechtkommen?«

Letzien nickte wenig überzeugend; doch stand ihm ein verzweifelter Trotz im Gesicht.

»Na gut.«, gab Judith auf. »Dann lassen Sie uns kurz ins Haus sehen. Ich melde mich umgehend bei Ihnen, sobald wir hier fertig sind.«

Fünf Minuten später verließ Letzien den Tatort.

Judith kam am Polizisten an der Tür vorbei. »Wenn Sie alle Angaben von diesen Leuten hier haben, hören Sie sich bitte mal in der unmittelbaren Umgebung wegen eines Einbruchs um. Wir haben jemanden auf dem Revier, der sich gestern hier herumgetrieben hat. Sein ungebetener Besuch ist inzwischen sicher bemerkt worden«, sagte sie. Dann fiel ihr ein: »Auf dem Weg hierher sieht man von der Straße aus einen hohen Feuerwachturm, auf einem kleinen Hügel. Von dort oben dürfte man die Zufahrt zum Dorf und alles andere hier recht gut im Blick haben. Erkundigen Sie sich bitte mal, wen ich deswegen ansprechen muss.«

Ihr Kollege überlegte nicht allzulange. »Das müsste der Turm auf dem Weinberg sein. Ich hab einen Kumpel bei der Freiwilligen Feuerwehr, den kann ich fragen.«

»Ausgezeichnet. Bis der Tatort freigegeben wird, besuche ich diesen Versicherungsvertreter. Ich bin dann gleich wieder zurück.«

Der Streifenpolizist wies ihr den Weg. »Das dritte Haus.«

Als sie in die angegeben Richtung lief, sah sie Letzien abfahren und konnte nicht verhindern, dass sie sich große Sorgen machte. Was plagte diesen Mann?

 

 

~ 4 ~

 

 

Bei Judiths Rückkehr war Dr. Martens, die Gerichtsmedizinerin aus Magdeburg, noch mit der Untersuchung des Leichnams beschäftigt. Ihrer hohen Pumps hatte sie sich entledigt und so lief sie nur auf Strümpfen umher.

Ein mutiger Schritt angesichts der riesigen Blutlache.

»Hallo, Judith«, begrüßte sie die Kommissarin und verkündete optimistisch: »Das sieht mir recht simpel aus.«

»Wunderbar«, grüßte Judith mit einem Augenzwinkern zurück. »Wer hat es getan?«

Elinor Martens grinste. »Irgendwer mit ziemlich viel Wut im Bauch, würde ich sagen. Da wurde kräftig zugeschlagen. Kommen Sie ruhig näher. Die Spurensicherung ist längst fertig. Übrigens: schickes Kleid.«

»Danke. Ich hatte mich auf einen ruhigen Tag im Büro eingerichtet«, nahm Judith das Kompliment an, trat heran und beugte sich erneut über den Leichnam. Sie sah, dass er inzwischen minimal bewegt worden war. Judith tastete die vorderen Hosentaschen ab. Nichts. Keine Motorradschlüssel. Na ja, unter Umständen waren die Bikerklamotten nur ein Bekenntnis zu Freiheit und Abenteuer und damit das alltägliche Outfit des Opfers. »Hatte er sonst was bei sich?«, fragte sie Dr. Martens. »Hat die Spurensicherung Ihnen was gesagt?«

»Nein. An ihm war nichts zu finden. Wir haben ihn schon mal kurz umgedreht und in den Hosentaschen hinten nachgesehen. Kein Portemonnaie, kein Taschentuch, keine Schlüssel. Er trug absolut nichts bei sich.«

»Na schön. Was hat ihn denn nun umgebracht?«

»Sturz oder Unfall kann ich ausschließen. Dann hätten wir Blut an der Tischkante dort oder meinetwegen an der Chromschiene des Freischwingers.« Elinor Martens kniete sich fest hin. »Helfen Sie mir mal. Drehen wir ihn wieder ein wenig rum. Dann sehen Sie das alles besser.«

Sie hievten den steifen Toten auf die Seite. Am Boden wurde in Höhe des Kopfes der ganze Blutfleck sichtbar. Am Hinterkopf des Mannes verklebte Blut die Haare. Judith sah, dass die Kopfhaut über eine Länge von mehreren Zentimetern aufgeplatzt war. Der Schädel war hell im zerstörten Gewebe zu erkennen.

»Das war ein einziger kräftiger, präzise gesetzter Schlag von hinten. Das Opfer wird wahrscheinlich schon tot gewesen sein, als es auf den Boden fiel. Es steckte so viel Wucht darin, dass der Mann im Fallen sich etwas drehte. Deshalb lag er auf dem Rücken, als er gefunden wurde. Entweder war das ein äußerst geübter Täter, der genau wusste, mit welcher Kraft er seine Waffe zu führen hatte, oder da hat jemand ein bestens geeignetes Werkzeug benutzt und gleich beim ersten Schlag Glück gehabt. Oder beides kam zusammen. Wie auch immer: Der Täter hatte auf Anhieb sein Ziel erreicht, in Sekundenbruchteilen hätte er wieder verschwinden können. Ich bezweifle sogar, dass er sich irgendwie beschmutzte.«

»Und das, bei dem ganzen Blut, das zu sehen ist?«, fragte Judith ungläubig mit Blick auf den riesigen Fleck.

»Ja. Die Kopfhaut ist akkurat durchtrennt. Da spritzt nicht viel. Deswegen vermute ich einen scharfkantigen Gegenstand, vielleicht auch nur halbscharf. Den üblichen Klassiker – stumpfe Gewalteinwirkung –, können wir gewiss ausschließen. Es war ein Beil oder eine Machete. Etwas in der Art. Beim Abtasten schien mir der Schädelknochen fast gespalten zu sein; ich vermute eine Schneide von mindestens acht Zentimeter Länge. Wie gesagt, ein Schlag hat genügt.«

»Danke.« Sie standen wieder auf. »Wann, meinen Sie, ist es denn passiert?«

Dr. Martens sah auf ihre Armbanduhr. »Wir haben es jetzt gleich halb elf. Hm ... Gestern, weit vor Mitternacht. So am frühen Abend. Die Totenstarre kann sich bei der Wärme schneller eingestellt haben, ist jetzt aber voll da. Zwölf Stunden ist das mindestens her. Genauer geht es im Moment nicht.«

Judith betrachtete den Toten ein paar Augenblicke lang. Dann murmelte sie vor sich hin: »Trug er keinen weiteren Schmuck? Zu seiner Kluft würden Ringe passen. Eine fette Panzerkettenuhr?«

Dr. Martens hob die Schultern. »Vielleicht hat die Spusi was eingesammelt?« Sie sah sich um. »Ich warte nur noch auf die Staatsanwaltschaft, dann nehme ich ihn mit. Morgen kann ich Ihnen dann schon Konkreteres sagen.«

»Ja. Danke. Wenn irgendwas ist – Sie wissen ja, wo Sie mich erreichen.«

»Sicher. Wo steckt Sello eigentlich? Der kommt doch sonst immer vorbei und sieht sich um.«

»Urlaub. In zwei Wochen ist er wieder im Dienst. Deswegen habe ich bei diesem Fall den alleinigen Hut auf.«

»Na dann, viel Erfolg. Wir sehen uns«, verabschiedete sich Elinor Martens in Richtung ihres Einsatzfahrzeuges. Ihr Klemmbrett benutzte sie als Winkelement und verdeutlichte damit, dass sie die unvermeidliche Wartezeit für erste Aufzeichnungen zu ihrem Bericht zu füllen gedachte.

Judith sah sich genauer im Haus des Toten um. Die Möblierung war mehr als gediegen. Schon im Wohnzimmer waren ihr die hochwertigen Polstermöbel, der edle Teppich und das feine Furnier der Anbauwand aufgefallen. Ein flaches Regal an der Stirnseite des Raumes fasste einen imposanten Fernsehapparat und eine gediegen aussehende Musikanlage. Große Boxen rahmten das Ganze ein. Ein Zimmer weiter war das Arbeitszimmer im Stil eines vornehmen Herrenzimmers mit wuchtigen Möbeln aus der Gründerzeit ausgestattet, mit großem Bücherschrank, Bücherregal, Schreibtisch, Ledersesseln und einer exquisit gefüllten Bar. Schlafzimmer und Küche wirkten modern und vor allem teuer eingerichtet.

Laut Aussage des Versicherungsvertreters war Wolf Prott 24 Jahre alt und nach eigener Behauptung vollkommen gesund. Er lebte ohne Verwandtschaft oder Ehefrau in geordneten wirtschaftlichen Verhältnissen, wie der Gebietsrepräsentant es so schön ausdrückte. Prott gab an, Student zu sein und nebenbei auf Messen und ähnlichen Events zu jobben. War viel unterwegs. Angeblich wollte er eine Lebensversicherung abschließen und hatte deswegen den Beratungstermin ausgemacht. Tja. Wie konnte sich ein vierundzwanzigjähriger Student, Single, solch eine Einrichtung leisten? Wen hatte er beerbt? Judith war auf Protts finanziellen Hintergrund gespannt.

»Sie können jetzt überall im Haus kramen. Auch in den Schränken und Schubladen«, informierte Bellheim, der einen Kollegen aus Stendal im Schlepptau hatte. »Wir haben kurz in der Garage zu tun. Nur ein Motorrad steht drin, eine teure Kiste von BMW, zugelassen auf das Opfer. Und auf dem Hof und im Nebengelass wartet jede Menge Arbeit auf uns. Sagen Sie mir trotzdem Bescheid, wenn ich Ihnen helfen kann.«

»Mir fällt gleich was ein, Jurik. Ich brauche seine Telefondaten.« Sie deutete auf den modernen Apparat, der auf einem filigranen Beistelltischchen aus Glas neben dem Sofa stand. »In der Küche ist ebenfalls eins. Kriegen Sie raus, mit wem er die letzte Woche über so telefoniert hat.«

Bellheim nickte, ging in die Hocke, hob den Apparat hoch und schrieb sich irgendetwas von einem Schild am Boden des Telefons ab. Im Aufstehen meinte er: »Also – wie es aussieht, ist alles gut nachzuvollziehen. Offenbar hat das Opfer seinem Mörder die Tür selbst geöffnet und der hat nicht lange gezögert und ihm eins übergebraten. Ein gewaltiger Schlag. Keine Blutspritzer, die wir hätten finden müssen, wenn der Mörder mehrmals ausgeholt hätte. Und Tropfspuren, die beim Wegtragen der Tatwaffe entstanden wären, gibt es ebenfalls nicht. Na ja, bei einem einzigen Schlag wird nicht viel Blut anhaften. Hm. Kampf- oder Schlagspuren an irgendwelchen Möbeln – Fehlanzeige.«

Judith nickte. Das deckte sich mit Dr. Martens Vermutungen. »Na schön. Vielleicht findet sich die Tatwaffe ja bald.« Sie würde einstweilen mit den Papieren des Toten anfangen. Daraus ließ sich oft das ganze Leben ablesen. Kontoauszüge, Kalender, Rechnungen, seine Post. Aus welcher Familie stammte er, wo hatte er bisher gearbeitet, die Uni natürlich. Judith nahm sich Protts Schreibtisch vor, und packte alle dort gefundenen Dokumente und Unterlagen auf einen Haufen. Dann durchsuchte sie die Schränke, fand die üblichen Hefter und Mappen mit Verträgen, Kündigungen oder Rechnungen. Wolf Prott war ordentlich gewesen. Offen zugänglich, in einem Regalfach im Arbeitszimmer, stand ein mit Intarsien verziertes Kästchen mit Deckel, das die private Korrespondenz enthielt. Das stellte sie zu den interessanten Sachen.

»Jurik?«, rief sie fragend durch die offen stehende Terrassentür, an der sie jemanden vorbeihuschen sah. »Sie kommen wie gerufen. Packen Sie das hier alles für mich ein und bringen es aufs Revier? Dieses Kästchen nehmen Sie sich bitte gleich vor, und wenn Sie mit den Fingerabdrücken fertig sind, stellen Sie mir die Sachen in das leere Büro von Modersohn. Ich sehe es mir dann dort an.«

»Wird gemacht, Chefin. Ach so: Die Spusi hat eine ziemlich teure Uhr gefunden. Sie lag gut sichtbar in der Küche. Raubmord scheidet damit wohl aus. Sie haben nichts weiter entdecken können, keinen Ring oder sonst was. Er war wohl nicht verheiratet?«

 

 

~ 5 ~

 

 

Bizarr war gar kein Ausdruck! So etwas hatte es in der Altmärkischen Schweiz noch nie gegeben! Wolfgang Merker stand verlegen grinsend im Eingang seines Gasthauses und bestaunte die illustre Schar der nach und nach eintreffenden ungewöhnlichen Gäste.

Wer hätte geahnt, dass die eher unscheinbare Tochter seiner ehemaligen Schulfreundin in einem barocken Kostüm so überwältigend aussehen würde! Elegant, souverän und kein bisschen zurückhaltend wie an dem Tag, als Bianca sein Vereinszimmer für das Treffen ihrer Gruppe gemietet hatte. Als würden schwarzer Taft, eine hochgesteckte Frisur und ein Sonnenschirm aus dunkler Spitze eine andere Person aus ihr machen! Mit nur einem Arm hievte sie eine prall gefüllte Reisetasche, an deren Tragehenkeln lange, schwarze Federn baumelten, aus dem Kofferraum eines alten VWs. Ihr Schirmchen legte sie dafür nicht beiseite, sondern benutzte es als Richtungsweiser.

Als dem daneben parkenden Auto ein kahl geschorener Riese entstieg, der ebenfalls komplett in Schwarz gehüllt war, ahnte Merker, dass dies die vorherrschende Farbe für die kommenden Tage sein würde. Der Mann blickte ihn aus tiefschwarz umrandeten Augen an und stapfte furchteinflößend auf ihn zu.

»Dominic. Hallo. Bianca hat hier für uns gebucht«, grüßte er freundlich den Wirt. Die Stimme war etwas zu hoch für den massigen Körper. Jegliche Gefahr war gebannt.

Eine weitere junge Frau in Schwarz, die sich mit einem durchbrochenen Fächer Luft zufächelte, stellte sich neben ihn und präsentierte Wolfgang Merker huldvoll die Fingerspitzen.

Der Wirt sah konsterniert auf die in einem Spitzenhandschuh mit abgeschnittenen Enden steckende Hand. Was sollte er jetzt tun? Natürlich hatte er schon unzählige Kostümfilmchen gesehen, in denen die galanten Herren den Damen die Fingerspitzen küssten, aber doch nicht hier und heute!

»Violetta. Es kommen gleich noch mehr«, kündigte sie an, ohne die Verlegenheit des Hausherrn zu beachten, und sah erwartungsfroh die Dorfstraße hinunter. »Marco holt den Aufsteller ab.«

»Herzlich willkommen in Waldau. In meinem Gasthof«, brachte Merker, immer noch mit seiner Überraschung kämpfend, eine Begrüßung hervor. Insgeheim beglückwünschte er sich, damit einer namentlichen Vorstellung fürs Erste entgangen zu sein. Was sollte der ganze Quatsch mit den Vornamen? Wieso taten die so, als wüsste er genau, wer sie waren und als wären sie seit Jahren enge Freunde? Erwarteten diese jungen Leute etwa, dass er sie so anredete? Oder sie ihn? Lag es am Alter? Wenn er sich richtig erinnerte, könnte Bianca etwa Anfang zwanzig sein, der Kerl, Dominic, schien ein bisschen älter. Das andere Mädchen, Violetta, war definitiv in Biancas Alter. Nun, da hatte er ihnen satte zwanzig Jahre voraus. Eine ganze Generation. Duzte man sich heutzutage einfach? Beim ihm war das nur mit den Leuten vom Stammtisch üblich. Was war das überhaupt für eine Truppe?

Bianca hatte sich da nicht genau ausgedrückt, nur, dass sie mit ein paar Freunden eine Reise vorbereiten und ein paar Kostüme ausprobieren wollten. Er hatte sich zwar ein wenig gewundert, denn die Faschingszeit war lange vorbei, aber auf diesen ganzen Sommerfesten und Mittelaltermärkten liefen ständig kostümierte Figuren herum. Doch das hier schien was anderes zu sein. Ehe ihm ein Licht aufgehen konnte, hielt ein betagter Transporter neben den beiden parkenden Autos, selbstredend schwarz lackiert, wenn auch das Rostrot an vielen Stellen ihn leicht aufhellte. Zwei Männer sprangen heraus. Merker hatte es fast geahnt: schwarze Klamotten!

»Habt ihr´s?«, fragte Dominic, und eilte zu den beiden. Gemeinsam klappten sie die Hintertüren des Wagens auseinander und zogen eine flache Konstruktion in der Größe einer Tischtennisplatte von der Landefläche, die sich wenig später als der erwähnte Aufsteller herausstellte. Eine alte Decke schützte die Oberfläche. Fragend sahen die Männer den Wirt an.

»Sie wollen das hier draußen aufstellen? Vor meinem Gasthaus?«, vergewisserte Merker sich, dass er richtig vermutet hatte. Rasch überlegte er, wo die günstigste Stelle wäre. Auf dem Gehweg passend zur Tafel mit seinem Tagesangebot? Neue Pellkartoffeln mit Kräuterquark. Oder neben dem Aufsteller mit dem Mittagsmenü? Sommerlicher Blattsalat, Kotelett mit Buttermöhren, Götterspeise mit Vanillesoße. Oder dazwischen? Als er einen Augenblick später allerdings sah, worauf man aufmerksam machen wollte, wurde ihm klar, dass es nirgendwo einen geeigneten Stellplatz für das Ding geben würde: Auf einem großen, schwarz umrandeten Plakat war ein magerer, nahezu blaublasser Vampir abgebildet, von dessen Fangzähnen grellrotes Blut tropfte. Mit seinen langen, spinnendürren Krallenfingern wies er auf einen aufgeklappten Sargdeckel, auf dem in leuchtendem Rotton Treffen der Wave-Gothic-Freunde geschrieben stand.

 

 

~ 6 ~

 

 

Kaum hatte Judith Brunner ihr Revier in Salzwedel betreten, wurde sie von KMN abgefangen.

Voller Entrüstung schnaubte er: »Was musste ich da gerade hören? Stendal will die gesamte Mordermittlung an uns abschieben?«

Judith blieb gelassen: »So würde ich es nicht unbedingt formulieren, aber Sie haben schon recht, ich soll die Ermittlungen eigenständig leiten.«

»Also doch! Und mit welchem Personal gedenken Sie zu arbeiten? Wie gesagt, haben wir Urlaubszeit und alle Hände voll zu tun!«

»Da wird mir schon was einfallen.«

Plötzlich wechselte der Revierleiter den Gesichtsausdruck. Er strahlte. »Das muss Ihnen gar nicht mehr. Ich habe ein Spitzenteam für Sie zusammengestellt. Aber nur unter einer Bedingung: Wie ich Ihnen schon sagte, ist mein Vorzimmer verwaist. Sie bekommen vier hervorragende Beamte von mir, wenn ich dafür Frau Uhlig mit ein paar Aufgaben betrauen dürfte. Keine Angst, wenn sie alles für mich erledigt hat, darf sie selbstverständlich noch in Ihrem Team mitmischen. Na, was sagen Sie dazu?«

Judith überlegte kurz. KMNs Schachzug war leicht zu durchschauen. Im Ernstfall saß Müller-Nordergreen das Hemd stets näher als der Rock. Er würde zweifelsohne den letzten Mann opfern, wenn er vor der Alternative stand, seinen Kaffee selbst brühen zu müssen. Vier Leute könnten reichen. »Also abgemacht. Wann kann ich loslegen?«

»Sofort, wenn Sie möchten. Im Besprechungsraum wartet man bereits auf Sie. Ich bestätige Letzien nur schnell unsere Bereitschaft, den Fall mit eigenen Kräften zu lösen.«

 

Erich Pförtner hatte eine beachtenswerte Skizze von Gestien gezeichnet. Judith pinnte das Blatt an eine der großen Tafeln, die Lisa im Besprechungsraum hatte aufstellen lassen, und studierte den Lageplan. Alle Achtung! In der Ausführung sah es zwar eher wie eine von Kinderhand gezeichnete Schatzkarte aus, aber der Mann hatte unbenommen einen Blick für das Detail. Falls er nicht der Mörder war – und sie ging angesichts der Tatsache, dass in Protts Haus keinerlei Wertgegenstände fehlten, erst einmal davon aus – dürfte Pförtner mit seiner Beobachtungsgabe ihre Ermittlungen unterstützen.

Sie warteten auf KMN, der unbedingt an der ersten Beratung des Teams teilnehmen wollte, aber, wie Judith wissen ließ, noch in einem Telefonat festhing.

Als er nach wenigen Minuten erschien, zwinkerte er der Kommissarin zu und nickte jovial in die Runde. »Kann losgehen.«

Judith standen somit vier Revierpolizisten zur Seite, die zweifelsohne etwas von ihrem Job verstanden: Döring und Tallert fuhren seit Jahren zuverlässig zusammen Streife, genauso wie Welters und Kochinke. Ob sie zu mehr in der Lage waren, würde sich schnell herausstellen. Und wie immer war Bellheim als Kriminaltechniker im Team, der die Zusammenarbeit mit dem Labor und der Technik beim LKA koordinierte. Lisa Uhlig, die die Schreibarbeiten und das Herumtelefonieren vom Vorzimmer des Revierleiters aus erledigen konnte, komplettierte die Runde. Das waren halbwegs annehmbare Voraussetzungen, um einigermaßen schnell voranzukommen. »Ich wurde vom Fachkommissariat mit der Leitung dieser Ermittlung beauftragt, weswegen alle Informationen hier auf unserem Revier zusammenlaufen. Stendal bekommt von uns Kopien; ich persönlich benachrichtige die Kollegen dort.«

Niemand stellte das infrage. KMN nickte beflissen.