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Systemische Horizonte – Theorie der Praxis

Herausgeber: Bernhard Pörksen

»Irritation ist kostbar.«
Niklas Luhmann

Die wilden Jahre des Konstruktivismus und der Systemtheorie sind vorbei. Inzwischen ist das konstruktivistische und systemische Denken auf dem Weg zum etablierten Paradigma und zur normal science. Die Provokationen von einst sind die Gewissheiten von heute. Und lange schon hat die Phase der praktischen Nutzbarmachung begonnen, der strategischen Anwendung in der Organisationsberatung und im Management, in der Therapie und in der Politik, in der Pädagogik und der Didaktik. Kurzum: Es droht das epistemologische Biedermeier. Eine Außenseiterphilosophie wird zur Mode – mit allen kognitiven Folgekosten, die eine Popularisierung und praxistaugliche Umarbeitung unvermeidlich mit sich bringt.

In dieser Situation ambivalenter Erfolge kommt der Reihe Systemische Horizonte – Theorie der Praxis eine doppelte Aufgabe zu: Sie soll die Theoriearbeit vorantreiben – und die Welt der Praxis durch ein gleichermaßen strenges und wildes Denken herausfordern. Hier wird der Wechsel der Perspektiven und Beobachtungsweisen als ein Denkstil vorgeschlagen, der Kreativität begünstigt.

Es gilt, die eigene Intelligenz an den Schnittstellen und in den Zwischenwelten zu erproben: zwischen Wissenschaft und Anwendung, zwischen Geistes- und Naturwissenschaft, zwischen Philosophie und Neurobiologie. Ausgangspunkt der experimentellen Erkundungen und essayistischen Streifzüge, der kanonischen Texte und leichthändig formulierten Dialoge ist die Einsicht: Theorie braucht man dann, wenn sie überflüssig geworden zu sein scheint – als Anlass zum Neu- und Andersdenken, als Horizonterweiterung und inspirierende Irritation, die dabei hilft, eigene Gewissheiten und letzte Wahrheiten, große und kleine Ideologien solange zu drehen und zu wenden, bis sie unscharfe Ränder bekommen – und man mehr sieht als zuvor.

Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft
an der Universität Tübingen

Markus Gabriel
Matthias Eckoldt

Die ewige Wahrheit und
der Neue Realismus

Gespräche über (fast) alles,
was der Fall ist

2019

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Reihe: »Systemische Horizonte«,

hrsg. von Bernhard Pörksen

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2019

ISBN 978-3-8497-0312-7 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8201-6 (eBook)

© 2019 Carl-Auer-Systeme Verlag

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Inhalt

Vorwort

INeuer Realismus

Die Universalien, das Hundsein des Hundes und die Quantenmechanik

Das Ding an sich oder: Was Gott über einen Stuhl sagt

Die richtige Thermodynamik für Gedichte, die Theoriedeckelung und warum es Menschen geben muss(te)

Sexuelle Belästigungen, das Ende der Postmoderne und der Klimawandel

Warum es das Ganze nicht gibt und die Welt ebenso wenig

Über geglückte Flugzeugstarts, den Konstruktivismus und die Kritische Theorie

Der Herbststurm an sich und das Hirn als Differenzdetektor

Warum Gott keinen Sinn gibt und wie man zur Welt kommt

IIPhilosophie des Geistes

Von der Unsterblichkeit der Seele oder: Warum Menschen immer suchen müssen

Über Hegels Methode, die deutsche Polizei und die Unsterblichkeit der Seele

Das neuronale Korrelat des Bewusstseins, brutaler Realismus und Schmerz im Glas

Tiefe Traurigkeit, das Gehirn als Differenzdetektor und der freie Unwille

Ein Vogel, der Skateboard fährt, der Weltgeist zu Pferde und der Gottesschock

IIIWeg zur Philosophie

Zwei Laternen, ein Tropfen im Auge und der Versuch, die Schulzeit abzukürzen

Ich habe das Sein noch nie vergessen!

Begriffsfindung an der Supermarktkasse

Denksinn, Feldsinn und die Höhlenerfahrung

Schwarze Raben und neurealistisches Temperament

IVDigitalisierung

Warum künstliche Intelligenzen keine Fehler machen und trotzdem nicht intelligent sind

Krieg der Welten und die Sehnsucht nach einem mathematisch eleganten Universum

Ein Besuch im Märchenwald, Chatbots und das amerikanische Verständnis von Freiheit

Wie die Technik geschickt wird

Schickt man Kinder ins Casino?

Aufgeklärter Humanismus oder: Warum 100 000 Euro im Monat reichen sollten

Literatur

Register

Über die Autoren

Vorwort

Warum sind wir Menschen immer auf der Suche? Warum haben wir niemals das Ganze? Warum sind Begriffe nicht an Sprache gebunden? Warum lieben wir Höhlen? Warum sind wir fehlbar und erkennen die Wirklichkeit trotzdem so, wie sie ist? Was würde Gott über einen Stuhl sagen? Warum genügen die Naturwissenschaften nicht, um unsere Wirklichkeit zu beschreiben? Warum stellen die Medien die Dinge nicht dar, wie sie sind, und lügen dennoch nicht? Wo irrte Immanuel Kant? Warum sind wir determiniert und haben trotzdem einen freien Willen? Was steckt hinter der Idee der sozialen Netzwerke? Warum gibt es die Welt gar nicht? Warum sind künstliche Intelligenzen nicht intelligent? Was spricht gegen die Metaphysik? War die Entstehung intelligenten Lebens bereits bei Entstehung des Universums eingeplant? Sind alle Raben schwarz? Warum sucht unser Hirn ausschließlich nach Differenzen? Warum können Schachcomputer gar nicht Schach spielen? Was spricht für die Unsterblichkeit der Seele und was dagegen? Wie kann der menschliche Geist die Physik aushebeln? Ob es Schmerz in der Petrischale gibt? Wie kann man durch einen Wassertropfen im Auge zum Philosophen werden? Was ist ein philosophischer Geistesblitz?

Diesen und anderen Fragen geht das Buch nach und macht eine Denkweise sinnlich erfahrbar, die unter dem Markennamen »Neuer Realismus« bekannt geworden ist. Auf den folgenden Seiten wird der Beweis dafür angetreten, dass unser Denken sinnlich ist. Das Denken gehört zu den Sinnen wie das Tasten, Riechen und Sehen. Denken ist kein mehr oder minder komplizierter Datenverarbeitungsprozess, sondern ein Sinn wie die anderen fünf bekanntesten auch. Wie der Hörsinn Töne wahrnimmt, nimmt der Denksinn Sinnfelder auf. Wenn das Denken aber zu den Sinnen gehört, befinden wir uns als erkennende Wesen immer schon mitten in der Wirklichkeit und müssen sie nicht erst denkend und wahrnehmend erzeugen. Wir sind nicht getrennt von einer Umwelt, die wir wie durch ein Schlüsselloch betrachten und uns deswegen schamlos zunutze machen und nach Gutdünken zerstören können, sondern wir sind – auch denkend – immer schon bei den Dingen. So wird Philosophie als die Wissenschaft, die das Denken bedenkt, im vorliegenden Dialog als ein öffentliches Geschäft kenntlich.

Die Philosophie hat im antiken Griechenland in der Form der platonischen Dialoge begonnen. Das ist kein Zufall. Denn das menschliche Denken entfaltet sich im Gespräch. Die folgenden Gespräche kreisen im Wesentlichen um alles. Doch eines ihrer Themen lautet, dass es alles (die Welt als allumfassende Gesamtheit) gar nicht gibt. Deswegen müssen wir uns mit fast allem bescheiden, worüber man sich philosophisch verständigen kann.

Dennoch sollen die ewigen Wahrheiten nicht preisgegeben werden (was im Übrigen ohnehin nicht möglich ist). Der Neue Realismus stellt unter den Betriebsbedingungen des 21. Jahrhunderts Kontakt zu etwas her, was wir vorschnell aus dem Blick verloren haben, demjenigen, was dem rasanten Fluss der gegenwärtigen Globalisierung aller Verhältnisse entzogen bleibt und dennoch einer ihrer geheimen Motoren ist. Die ewigen Wahrheiten definieren die Grenzen dessen, was möglich ist. Es gibt sie in der Form von mathematisch ausdrückbaren Naturgesetzen; Entwicklungsgesetzen der Formen des Lebendigen; der Logik und Mathematik; vor allem aber: als die Einsichten der Philosophie.

Wir hoffen, dass die Leserinnen und Leser dieser Zeilen mit Vergnügen unserem Fingerzeig folgen und mit uns gemeinsam eine ganz andere Perspektive auf die Gegenwart einnehmen. Denn nur auf diese Weise können wir verstehen, worum es heute eigentlich geht, da wir die ideologischen Nebelschleier des digitalen Zeitalters lüften müssen, um einen philosophisch geschulten Blick hinter die Kulissen zu werfen. Im begrifflichen Getriebe der Digitalisierung sieht es gar nicht gut aus. Die Digitalisierung richtet sich gegen den Menschen und meldet diesen selbstzerstörerischen Anspruch in der Form des Transhumanismus heute sogar schamlos auf dem Markt der Ideologien an. Noch ist Zeit umzudenken, und dazu laden wir ein.

Markus Gabriel und Matthias Eckoldt, Neujahr 2019

INeuer Realismus

Die Universalien, das Hundsein des Hundes und die Quantenmechanik

MATTHIAS ECKOLDTIhr Name ist mit der philosophischen Denkrichtung des Neuen Realismus verbunden. Das provoziert geradezu meine ersten beiden Fragen: Was war der alte Realismus, und was konnte der nicht beschreiben, sodass Sie einen Neuen Realismus begründen mussten?

MARKUS GABRIELDer alte Realismus ist die Annahme, dass es eine von unserem Denken, Sprechen, Handeln, Bewusstsein und unserer Geistigkeit unabhängige Wirklichkeit gibt. Der Grund, den man dafür anführt, ist, dass es denkende, sprechende, handelnde geistige und bewusste Lebewesen nicht immer gab. Daraus schließt man dann, dass die Wirklichkeit nicht identisch mit der Wirklichkeit sein kann, wie sie uns erscheint. Denn es gab Wirklichkeit auch schon vor uns, und es wird Wirklichkeit auch nach uns geben. Der alte Realismus gibt das als Goldstandard der Realität aus. Realismus im alten Sinne ist also die Verpflichtung darauf, dass es eine solche von unserem Denken, Handeln und Bewusstsein unabhängige Wirklichkeit gibt und dass diese Wirklichkeit darüber entscheidet, was wirklich existiert. Der alte Realismus gerät durch diese begriffliche Festlegung automatisch in Teufels Küche.

MATTHIAS ECKOLDTInwiefern?

MARKUS GABRIELWenn wir Wirklichkeit über den Begriff der Bewusstseinsunabhängigkeit bestimmen, stellt sich ja sofort die Frage, wie es dann um Bewusstsein, Sprache, Denken und Geist bestellt ist. Diese Qualitäten erscheinen uns dann durch die begriffliche Festlegung als unwirklich, als nicht so richtig dazugehörig, als rätselhaft. Das liegt aber nicht daran, dass Bewusstsein und Geist besonders rätselhaft wären – sagen wir mal: im Unterschied zum Spin von Elektronen –, sondern daran, dass wir die Begriffe so sortiert haben, dass wir durch unser Realitätskriterium das Bewusstsein von der Wirklichkeit ausgeschlossen haben.

MATTHIAS ECKOLDTMit dem Realismuskriterium, dass es eine bewusstseinsunabhängige Wirklichkeit gibt, handelt sich der alte Realismus also das Problem ein, dass er nicht erklären kann, wie das Geistige in die Wirklichkeit passt.

MARKUS GABRIELZumindest braucht er große Umwege für diese Erklärung, denn er sagt, wirklich sei das, was wir repräsentieren, nicht aber die Repräsentation. Warum sollte aber die Repräsentation nicht wirklich sein? Man sieht sofort, dass da Schwierigkeiten entstehen, die Richard Rorty mit seinem Buch Der Spiegel der Natur auf den Punkt gebracht hat. Das heißt, der alte Realismus glaubt, dass unser Denken, unser Theoretisieren, die Wissenschaft und so weiter versuchen, ein Spiegel der Natur zu sein. Die Natur ist da draußen, und durch Spiegelverhältnisse versuchen wir, sie in Modellen einzufangen.

MATTHIAS ECKOLDTDurch realitätsgetreue Abbildung …

MARKUS GABRIELDas nennt der Philosoph Bernard Williams in seinem übrigens sehr empfehlenswerten Buch über Descartes sehr zutreffend »die absolute Konzeption der Wirklichkeit (the absolute conception of reality)« und sagt, Descartes’ Fehler war zu glauben, dass Wirklichkeit an einer solchen absoluten Konzeption zu messen sei. Nun sind dagegen allerlei Einwände vorgetragen worden. Der alte Realismus ist nicht kostenfrei zu haben, trotzdem glauben viele immer noch, dass er richtig sei. Selbst Fachphilosophen verbinden den Begriff »Realismus« bis heute mit genau jener Annahme einer bewusstseinsunabhängigen Außenwelt.

MATTHIAS ECKOLDTDagegen wenden Sie sich mit dem Neuen Realismus. Wie sieht dann Ihr Realismuskriterium aus?

MARKUS GABRIELDer Neue Realismus korrigiert den alten Realismus und fragt sich: Warum sollte im Gefüge dessen, was offensichtlich existiert, unsereiner besonders unwichtig sein? Warum sollten wir mit unseren Gedanken nicht genauso wie Fermionen und Bosonen und Sterne und Tische wirklich sein? Natürlich sind Menschen weniger mächtig als die Grundkräfte der Natur. Menschen sind nicht überall im Universum wirksam. Aber warum sollte das bedeuten, dass wir ontologisch, also hinsichtlich unserer Existenz, irgendwie den Bergen unterlegen sind? Berge sind größer als Menschen, der Mond älter als jedes geistige Lebewesen usw., aber das sind triviale Tatsachen und philosophisch erst mal nicht von Belang. Also dreht der Neue Realismus jetzt die Perspektive um und behauptet dreierlei. Erstens: Wir können die Wirklichkeit so erkennen, wie sie ist. Zweitens: Unsere Erkenntnis der Wirklichkeit ist so wirklich wie alles andere auch. Drittens: Die Wirklichkeit ist kein singulärer Gegenstand, in einem Slogan ausgedrückt: »Die Welt gibt es nicht.« Es gibt also, wenn man so will, viele Wirklichkeiten und nicht eine. Das sind die Grundthesen des Neuen Realismus.

MATTHIAS ECKOLDTMit diesen drei Thesen werden wir uns gleich näher beschäftigen. Zuvor würde ich gern noch einmal in die Geschichte der Philosophie schauen. Wäre Demokrit, dessen Philosophie auf der Grundlage ruhte, alles, was es gibt, bestehe aus Atomen – wäre der so eine Art früher oder gar erster Realist? Er vertrat auch einen Realismus, allerdings keinen in Ihrem Sinne, weil er ja die gesamte Welt unter einem einzigen Kriterium betrachtet, nämlich dem, dass alles aus Atomen besteht. Wäre dieser Atomismus aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert ein Ansatz für den ersten Realismus?

MARKUS GABRIELAuf alle Fälle. Ich würde sogar sagen, Demokrit ist geradezu der beispielhafte alte Realist. Von Demokrit bis in die Gegenwartsphilosophie wird man immer diese Position finden, die der amerikanische Philosoph Peter Unger in einem wichtigen Buch mit dem Titel Empty ideas. A critique of analytic philosophy als »scientificalism« bezeichnet. Das ist die Annahme, dass man zwar besonders wissenschaftlich klingt, wenn man Dinge sagt wie »Alles besteht aus Atomen«, dass man damit aber eigentlich letztlich leere philosophische Äußerungen tätigt. Das Buch heißt im Untertitel »Eine Kritik der analytischen Philosophie«, und Unger zeigt, dass so gut wie keine Idee, die seit etwa dem Zweiten Weltkrieg in der sogenannten analytischen (v. a. anglophonen) Philosophie geäußert wurde, irgendeinen Inhalt hat. Deswegen sei sie eben analytisch, eine bloße Begriffsanalyse, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat.

Die Uridee des alten Realismus seit Demokrit lautet, dass es in Wahrheit nur Atome und das Leere gibt. Damit taucht das Problem auf, wie es dann eigentlich noch geistiges Leben geben soll, das wohl kaum aus Atomen und dem Leeren besteht. Das ist alter Realismus par excellence. In diesem Szenario gibt es überhaupt kein Bewusstsein. Das atomistische Modell von Demokrit ist im Grunde genommen nie ganz aus der Philosophie verschwunden. Die Quantenmechanik hat damit zwar gründlich aufgeräumt, aber das haben die Philosophen nicht alle bemerkt.

MATTHIAS ECKOLDTDas haben sie nicht mitgekriegt, meinen Sie?

MARKUS GABRIELDie meisten nicht. Es gibt einige Philosophen, die das schon gemerkt haben. Die sehen aber ihre Aufgabe in der Philosophie der Quantenmechanik eher darin, die Quantenmechanik so brav umzuinterpretieren, dass am Ende wieder Demokrit herauskommt.

MATTHIAS ECKOLDTDiese Uminterpretation läuft dann wohl auf eine Rettung der Kausalität hinaus, also Ursache und Wirkung.

MARKUS GABRIELJa, alles schön brav kausal, Einzeldinge, die aufeinandertreffen, was der Philosoph James Ladyman ironisch als »Mikrostöße (microbangings)« anspricht. Die meisten Philosophen wollen, dass die Quantenmechanik am Ende doch wieder brave Mikrostöße von Elementarteilchen beschreibt, was zwar nicht richtig ist, aber leider von den meisten Philosophen geglaubt wird. Warum? Weil sie genau einem solchen alten Realismus anhängen wollen.

MATTHIAS ECKOLDTBei der Quantenmechanik gibt es ja das probabilistische Modell, das besagt, dass es eigentlich nur noch Wahrscheinlichkeiten und eben keine Kausalitäten mehr in diesem strengen Sinne gibt. Das wäre philosophisch eigentlich unglaublich spannend.

MARKUS GABRIELIch glaube, wenn man sich der Quantenmechanik philosophisch stellt, wird man mit einem alten Realismus nicht weit kommen. Denn die Quantenmechanik beschreibt unter anderem sehr erfolgreich Messvorgänge. Zu Messvorgängen gehört auch etwas, was bewusste Lebewesen vollziehen. Der Messbegriff in der Quantenmechanik ist natürlich nicht auf Bewusstseinssysteme zugeschnitten, aber er schließt sie auch nicht aus. Das heißt, die Quantenmechanik schließt zumindest nicht aus, dass bewusstes Leben Gegenstand der Physik sein kann. Ganz im Gegenteil: Denn bewusstes Leben ist ja durch unsere Sensorik ein relationales Messen, das nicht ohne Elektronen, Photonen und Elektrizität auskommt. Und das sind alles quantenphysikalische Phänomene. Unser bewusstes Leben ist quantenmechanisch realisiert (man denke nur an den Umstand, dass elektromagnetische Phänomene zentral für die Signalübertragung im Gehirn sind), und insofern kann die Quantenmechanik das leisten, was der alte Realismus nicht kann, nämlich physikalisch versuchen, sich dem Bewusstsein zu nähern.

MATTHIAS ECKOLDTEs gab den Versuch der sogenannten Kopenhagener Deutungen von Niels Bohr und Werner Heisenberg, die den nichtdeterministischen Charakter quantenphysikalischer Vorgänge beschreiben beziehungsweise ihren Frieden mit diesem nichtkausalen Prinzip machten. Ist so etwas philosophisch für sie interessant?

MARKUS GABRIELSolche Deutungen kommen immer wieder in Schwierigkeiten, weil nicht klar wird, warum irgendjemand das Bewusstsein in diese ganzen Prozesse hineingeschmuggelt hat. Schrödinger höchstpersönlich tut das freilich, aber nicht in der Quantenphysik. Schrödinger glaubt auch, Bewusstsein sei fundamental. In seinem wunderbaren Buch Geist und Materie sagt Schrödinger ziemlich klar, Materie gibt es am Ende gar nicht. Er sagt allerdings auch, dass das keine Auswirkungen auf die Quantenmechanik habe. Das ist ein Problemfeld. Richtig ist jedenfalls, dass die Quantenmechanik letztlich keine Schwierigkeiten mit dem Neuen Realismus hat – ganz im Gegenteil. Ich habe so viele Zuschriften bekommen aus der Quantenphysik, dass ich das inzwischen sehr ernst nehme. Wir haben ein neues Forschungszentrum gegründet, das Zentrum für Wissenschaft und Denken. Das leite ich gemeinsam mit einem Quantenphysiker. Das ist an der Universität Bonn zustande gekommen, weil mich viele Quantenphysiker ansprechen und mir sagen, das, was ich mache, sei im Grunde eine Form von Physik. Ich habe jüngst bei den Physikern an der Universität Tokio einen Vortrag über meine Sinnfeldontologie gehalten, da meldete sich ein Stringtheoretiker und sagte: »Das ist doch ganz konservative Quantenmechanik, was Sie da machen!« Dem habe ich gesagt, ich hätte damit nichts zu tun, ich sei ja kein Physiker. »Doch, das ist reine Quantenmechanik«, sagte der daraufhin! Er konnte keinen Unterschied sehen zwischen dem, was ich anbiete, und der sogenannten relationalen Interpretation der Quantenmechanik. Die wird in der Philosophie wenig diskutiert. Am ehesten noch von Carlo Rovelli, einem im Moment sehr populären Physiker, der, nebenbei gesagt, auch ein durchaus guter Philosoph ist. Carlo hat mir als Erster beibringen wollen, der Neue Realismus sei im Grunde eine Form von Quantenmechanik.

MATTHIAS ECKOLDTIch wollte noch, bevor es zum Kern des Neuen Realismus geht, auf einen zweiten Realismus zu sprechen kommen. Denn die Position des Realismus gab es auch im sogenannten Universalienstreit, der im Mittelalter aufkochte, aber letztlich auch die weitere Philosophiegeschichte durchzieht. Die Nominalisten gingen davon aus, dass die Worte lediglich konkrete Objekte benennen, die wir der Einfachheit halber zu Begriffen zusammenfassen. Die Begriffe ihrerseits aber sind leer. Die Realisten dagegen glauben an die Existenz der Ideen und behaupten, dass Begriffe mehr sind als leere Hülsen und dass sie begrifflich tatsächlich etwas nachzeichnen.

MARKUS GABRIELIn dieser Diskussion ergreift der Neue Realismus Partei gegen den Nominalismus und sagt: Begriffe gibt es wirklich. Dafür spricht aus philosophischer Sicht sehr viel, aber auch hier treffen sich Philosophie und Physik, denn in der Physik legt das der heutige Begriff der Information nahe. Dieser Informationsbegriff geht davon aus, dass es nicht bloß Materieorganisationen gibt, sondern verschiedene Codierungsmöglichkeiten. Die Codierung von Information in der Form von Bildern oder Datenübertragungen funktioniert nur deswegen, weil wir unterstellen, dass im Wirklichen Begriffe anwesend sind. Das Begriffliche und das Wirkliche befinden sich da gar nicht in Spannung. Das Universum ist lesbar und auslesbar, was voraussetzt, dass es sich verschiedenen Codierungen nicht sperrt. Der Nominalismus unterstellt hingegen, dass das Wirkliche nur von Einzeldingen gebildet werden kann, die an sich nicht lesbar sind. Der Nominalismus identifiziert die Wirklichkeit beziehungsweise die Realität der Dinge mit ihrem Einzelsein. Dagegen hat der Realismus immer gesagt, das Allgemeine, also z. B. das Rotsein, ist so wirklich wie dieses Rote dort – eine alte Debatte, die schon Platon und Aristoteles auf besonders tiefschürfende Art geführt haben. Der Neue Realismus sagt ganz klar, das Rotsein ist so wirklich wie das Rote, und im Übrigen gebe es nichts Rotes ohne sein Rotsein. In der alten Diskussion stehe ich klar auf der begriffsrealistischen und nie auf der nominalistischen Seite.

MATTHIAS ECKOLDTAber das hat nichts Mystisches, wie es dem Ganzen manchmal angedichtet wird in der Weise, dass es so etwas wie vorgearbeitete Strukturen in der Wirklichkeit gibt, die sich dann in Begriffen zeigen?

MARKUS GABRIELIn Begriffen kann sich deshalb etwas so leicht zeigen, weil jeder wohlgebildete Begriff aus dem Anlass einer Konfrontation mit Tatsachen gebildet wird. Wie erkenne ich diesen Tisch als Tisch? Am besten dadurch, dass es erstens ein Tisch ist und ich dies zweitens weiß. Das heißt also, dass dies ein Tisch ist, kann ich so ausdrücken, dass dieses Ding hier [zeigt auf den Tisch] das Tischsein hat. Ein anderes Ding kann das Tischsein auch haben, nämlich ein anderer Tisch. Wir haben jetzt zwei Gegenstände, die beide ein Sein haben: Tischsein. Daran ist überhaupt nichts mysteriös. Das wirkt nur dann mysteriös, wenn man glaubt, dass zwei Gegenstände doch nichts gemeinsam haben können. Das stimmt aber natürlich nicht. Zwei Gegenstände können in verschiedenen Hinsichten ähnlich sein, ohne identisch zu sein. Zwei Tische sind hinsichtlich ihres Tischseins dasselbe, nämlich Tische, aber das heißt naturgemäß nicht, dass sie derselbe Tisch sind. Mit einer solchen Passgenauigkeit unserer Begriffe müssen wir auf irgendeiner Ebene rechnen. Und dann ist man automatisch Realist. Denn nehmen wir einmal an, unsere Begriffe wären – ganz nominalistisch – alles nur Worthülsen, die hilfreich sind zur Klassifikation unserer sensorischen Erfahrung …

MATTHIAS ECKOLDTDas würde bedeuten, wir tun ganz pragmatisch nur so, als gäbe es Hunde …

MARKUS GABRIEL… in Wahrheit gibt es aber nur den bellenden Oskar und die hechelnde Lilli, aber wir nennen sie beide »Hund«, um die Sache einfacher zu machen. Das ist genau das, was der Nominalist sagt. Nehmen wir jetzt einmal an, es wäre wirklich so, dass jedes Ding unsagbar einzeln ist, also dass wir keine Begriffe verwenden können, um angemessen zu sagen, was es ist. Wie sollten wir denn dann auf diesen Gedanken kommen? Warum sollte jemand das glauben? Nun, doch wohl deswegen, weil alle diese Einzeldinge immerhin Einzeldinge sind. Das heißt, der Begriff des Einzeldings wird über alle Einzeldinge gelegt zu dem Zweck, die These zu äußern, dass die Einzeldinge nicht begrifflich sind. Der Nominalismus verwendet selbst einen Begriff, und zwar den allgemeinsten, den er finden kann (den eines Einzeldings), und setzt in dieser Hinsicht einfach alles gleich.

MATTHIAS ECKOLDTDas wäre ein lupenreiner Selbstwiderspruch.

MARKUS GABRIELDas heißt, der Nominalismus bevölkert die Wirklichkeit mit Einzeldingen, verwendet dazu den erhabenen Begriff des Einzeldings als einzigen Begriff und meint deswegen, er habe keine. Der Nominalismus ist nur besonders begriffsarm, aber nicht so arm, dass er keinen Begriff hätte. In seiner ganzen Armut leistet er sich ironischerweise den umfangreichsten Begriff …

MATTHIASECKOLDTFür mich war der Nominalismus ja auch eine Erwiderung auf Platon und seinen Ideenhimmel, wobei sich die Idee des Hundes im Ideenhimmel befindet und diese Idee dann auf eine gewisse Weise – wie, ist nicht klar – in die Wirklichkeit emaniert und wir am Ende einzelne Hunde sehen.

MARKUS GABRIELGenau so ist es auch. Der Nominalismus hält gegen Platon an der Wirklichkeit der Einzeldinge fest. Platon spricht ja den Einzeldingen die Wirklichkeit sogar tendenziell ab. Damit erzeugt er dann auch die Schwierigkeit der Erkennbarkeit der Wirklichkeit. Die aristotelische Lösung der immanenten Universalien stimmt wahrscheinlich. Aristoteles sagt, der Hund da hat das Hundsein in sich, es gibt neben dem Hundsein dieses und jenes Hundes kein sozusagen abstraktes oder schematisches Hundsein. Das Hundsein des Hundes ist in allen einzelnen Hunden anwesend. Eine Theorie, die man heute in der analytischen Metaphysik über Universalien vertritt, ist die sogenannte Tropentheorie. Demnach sind Universalien wie Teppiche, die über die Hunde ausgelegt werden. Der Allgemeinbegriff »Hund« liegt sozusagen über allen Hunden. Die Hunde kleben alle daran. Darüber spottet Sokrates im Dialog mit Parmenides und nennt sie die Segeltuchidee, als wären die Ideen Segeltücher, die über die Hunde gelegt werden.

MATTHIAS ECKOLDTWelche Position bezieht da der Neue Realismus?

MARKUS GABRIELDer Neue Realismus sieht das unmetaphysisch, indem er einfach nur sagt: Wir sollten Begriffe nicht wie sinnliche Gegenstände behandeln, also weder wie Segeltücher noch wie Hunde. Hunde sind gewöhnliche sinnliche Gegenstände, der Begriff des Hundes nicht.

MATTHIAS ECKOLDTWas aus meiner Sicht in unseren Tagen für den Nominalismus spricht, ist die Idee aus der Sprachwissenschaft, dass nämlich die Zeichen arbiträr, also zufällig sind, wie im Anschluss an Ferdinand de Saussure formuliert wird. Dass wir zum Hund »Hund« sagen, ist lediglich eine menschliche Konvention und keine Notwendigkeit.

MARKUS GABRIELDas ist natürlich eine spannende These. Ich glaube allerdings nicht an die Arbitrarität der Zeichen. Was de Saussure sagt, ist gleichwohl ganz bemerkenswert. Die Arbitrarität bei de Saussure beschränkt sich nämlich auf das Verhältnis von signifiant und signifié, also von Signifikant und Signifikat. Der Signifikant ist das Zeichen, aber das Signifikat ist bei de Saussure nicht das Ding, sondern der Begriff. Das heißt, die Arbitrarität des Zeichens bei ihm besteht darin, dass verschiedene Sprachen denselben Begriff mit verschiedenen Wortzeichen ausdrücken können: »Hund« und »chien« etwa. Das heißt für de Saussure gerade nicht, dass die Begriffe arbiträr sind. Der Begriff des Hundes ist exakt derselbe Begriff im Deutschen wie im Französischen. Der wird nur im Deutschen mit »Hund« und im Französischen mit »chien« ausgedrückt. Das ist alles, was de Saussure gesagt hat. Deswegen ist er eigentlich gar kein Nominalist. In einem anderen Sinne gibt es noch eine weitere Einschränkung der Arbitrarität, denn es ist ja nicht so, dass wir die Wortetiketten »Hund« und »chien« einfach so wählen können. Ganz selten gelingt es, dass tatsächlich jemand ein Wort erfindet und in die Sprache einbringt, da die Sprachgemeinschaft mit reguliert, unter welchen Bedingungen ein Wort überhaupt in den Wortschatz eingeht. Deswegen ist die Arbitrarität höchst eingeschränkt. Jeder Dichter wird berichten können, dass der Versuch, ein genuin neues Wort zu schaffen, sozusagen fast ein ganzes Dichterleben kostet, weil so viel Sprachgemeinschaft und Geschichtlichkeit in unserer Sprache steckt, dass die Arbitrarität auch nur unter sehr idealen Theoriebedingungen zutage tritt. Es ist wohl auch kein Zufall, dass Ausdrücke für Indexikalisches wie »das« in verschiedenen Sprachen ähnlich klingen. Nicht nur indoeuropäisch – etwa Griechisch »tode ti«, sagt Aristoteles, »das da« auf Deutsch klingt auch fast so. Selbst im Chinesischen ist »das da« »tā«. Bei Kindern ist das Erste, was sie sagen: »da«, und das sagen sie auch im Chinesischen. Manche Ausdrücke wie »Papa« und »Mama« sind relativ universell, also weit über den indoeuropäischen Sprachraum hinausgehend vorzufinden. Das heißt, die Arbitrarität ist in vielerlei Hinsicht eingeschränkt. Wichtig ist jedenfalls, dass de Saussure gesagt hat, dass wir Begriffe mit verschiedenen Namen ausdrücken können. Ich glaube, er war eigentlich Begriffsrealist entgegen anderslautenden Interpretationen.

MATTHIAS ECKOLDTDas hatte, glaube ich, Umberto Eco auch mal geschrieben und auf den Begriff »Missverständnis der Referenz« gebracht. Denn die Frage ist ja, worauf sich das Zeichen letztlich bezieht, nämlich nicht auf Gegenstände, sondern auf Begriffe.

MARKUS GABRIELNach de Saussure sind es die Begriffe. Das Wortetikett für die Begriffe kann variieren. Einen harten Nominalismus, so wie man ihn oft de Saussure oder Derrida attestiert hat, vertritt übrigens Willard Van Orman Quine. Der ist schamloser Nominalist. Quine sagt, womit wir es in Wahrheit zu tun haben, ist einfach nur die sensorische Bühne. Das heißt, unsere Nervenenden werden gereizt, dadurch entstehen Sinneseindrücke, die können wir mit Statements bezeichnen, zum Beispiel mit »rot«, und »That’s it«. Das ist Sprache. Wer jetzt glaubt, es gebe das Rote, der verwechselt den wiederholten Anlass, »rot« zu sagen, mit einer Tatsache des Rotseins. Also, bei vielem Roten habe ich schon »rot« gesagt, das ist alles.

MATTHIAS ECKOLDTMeine Eltern auch und ihre Eltern und so weiter …

MARKUS GABRIELDas schiere Wiederholen des Wortes »rot«, sagt Quine, führe zu der idiotischen Idee der Philosophen, dass es ein Rotsein gibt. In Wahrheit gibt es nur wiederholte Rot-Äußerungen. Das war Quines Idee. Quine hat den strengsten und teilweise auch interessantesten Nominalismus vertreten, weil er immerhin mal versucht hat, das zu Ende zu denken, also dass da wirklich nichts bleibt von der Idee des Allgemeinen. Das führt dann bei Quine allerdings so weit, dass er sich selbst widerspricht, weil er sagt, es gibt keine sprachliche Bedeutung. Niemand meint jemals irgendetwas mit irgendwelchen Sätzen. Es gibt für ihn letztlich auch keine Sätze.

MATTHIAS ECKOLDTUnd damit hat er auch keine Sätze, um seine Philosophie zu vermitteln.

MARKUS GABRIELDeswegen ist Quine, wenn man mal genau hinschaut, eigentlich ein ganz guter Schriftsteller, weil er Nonsens verzapft und das selber weiß. Quine weiß, dass er nicht sagen kann, was er gerne sagen möchte, und tanzt deswegen mit teils sehr gelungenen Metaphern um den unmöglichen Ausdruck herum. Das ist gut gemacht, wird aber gerne übersehen.

MATTHIAS ECKOLDTEine Sache noch zum Neuen Realismus im Vorfeld. Sie erwähnen in Ihrem neuesten Buch einen Neuen Realismus aus dem Jahre 1912, über den ich nicht so viel habe ausfindig machen können.

MARKUS GABRIELEin Sammelband, der in den USA 1912 herauskam, hieß tatsächlich The new realism. Darin haben Autoren wie Roy Wood Sellars, der Vater des berühmteren amerikanischen Philosophen Wilfrid Sellars, mitgeschrieben. Die hatten ein ähnliches Programm wie der Neue Realismus. In jener Zeit hat zum Beispiel William James als Erster einen Pluralismus entworfen und das auch so genannt. Sein Pluralismus sieht auch so ähnlich aus wie das, was ich behaupte, aber eben nur so ähnlich. Damals kamen jedenfalls solche Ideen auf. Die brachen aber dann aufgrund ihrer – wenn man so will – Frühzeitigkeit in sich zusammen, und es kam noch einmal eine neue Welle des alten Realismus. Für einen Moment war die amerikanische Philosophie mit dem amerikanischen Pragmatismus und diesen neuen Realisten, wie sie sich selber nannten, kurz davor, auf eine solche zündende Idee zu kommen, und das wurde dann aber abgebrochen durch andere Einflüsse.

MATTHIAS ECKOLDTDurch den Behaviorismus mit seinem Reiz-Reaktions-Paradigma?

MARKUS GABRIELBesonders durch den Behaviorismus in der Philosophie des Geistes: Bertrand Russell und Ludwig Wittgenstein haben da erst mal wieder alles aus verschiedenen Gründen kaputt gemacht. Dann kam die österreichisch-britische Philosophie, teilweise noch verstärkt aus dem deutschen Sprachraum, aufgrund der beiden Weltkriege anders interpretiert in die USA. So setzte sich dann u. a. mit dem Wiener Kreis erst mal der alte Realismus fest, obwohl eigentlich die Philosophie damals schon kurz davorstand, den Absprung zum Neuen Realismus zu schaffen.

Das Ding an sich oder: Was Gott über einen Stuhl sagt

MATTHIAS ECKOLDTSie hatten ja drei Punkte genannt, die das Programm Ihres Neuen Realismus beschreiben. Vielleicht können wir mal so anfangen: Ich verwende jetzt mal bewusst den Ausdruck »die Welt«, obwohl Sie ja in einem Ihrer Bücher dargelegt haben, Warum es die Welt nicht gibt. Insofern sehen Sie mir die Formulierung bitte nach, wenn ich Ihnen die alte philosophische Frage stelle: Erkennen wir die Welt tatsächlich so, wie sie ist?

MARKUS GABRIELEin eindeutiges Ja!

MATTHIAS ECKOLDTWarum?

MARKUS GABRIELWeil »erkennen« heißt zu erkennen, wie etwas ist. Erkenntnis ist ein Erfolgsausdruck. Das bedeutet, dass, wenn jemand etwas erkennt, die Person dann eben weiß, wie es ist. Wenn ich Tatjana erkenne, dann weiß ich, dass es Tatjana ist. Ich kann nicht sagen, ich habe Tatjana erkannt, und es war aber Melania.

MATTHIAS ECKOLDTKönnte aber doch passieren.

MARKUS GABRIELNein, denn dann habe ich mich ja getäuscht. Dann habe ich Tatjana gar nicht erkannt. Dann dachte ich, Tatjana erkannt zu haben. Wenn ich Tatjana erkannt habe, dann war es Tatjana. Wenn ich den Zug habe vorbeifahren sehen, dann war da ein Zug. Wenn da kein Zug war, dann habe ich das halluziniert, geträumt oder irgendetwas anderes, aber nicht gesehen. Das heißt, wenn wir etwas erkennen, dann erkennen wir immer, wie es an sich ist, sonst haben wir es nicht erkannt. Erkenntnis bedeutet, in Verbindung damit sein, wie etwas ist. Man kann nichts erkennen, was falsch ist. Ich kann nicht erkennen, dass zwei plus zwei sieben ist, weil zwei plus zwei vier ist. Ich kann mich allerdings täuschen. Ich kann meinen zu erkennen, ohne zu erkennen – keine Frage. Zu erkennen heißt nicht zu erkennen, dass man erkennt. Das gilt nur in besonderen Fällen.

MATTHIAS ECKOLDTGegen Ihre Position gibt es auch eine lange Tradition des Erkenntniszweifels. Zweifel an der Richtigkeit und an der Art und Weise der Wahrnehmung. Das fängt spätestens mit Platons Höhlengleichnis an, wo die Wahrnehmenden nur die Schatten, die Gegenstände an die Höhlenwand werfen, sehen können und nicht die Gegenstände selber. Inwiefern setzen Sie sich mit der Tradition des Erkenntniszweifels auseinander?

MARKUS GABRIELDie Schwierigkeit für eine Wahrnehmungstheorie ist immer, dass sie zweierlei zusammenzubringen muss. Erstens, dass wir die Gegenstände wahrnehmen, die wir wahrzunehmen glauben – zum Beispiel meine Hand –, und zweitens, dass wir die Gegenstände aus einer bestimmten Perspektive, also speziesspezifisch, wahrnehmen. Das heißt, ich weiß, dass andere anderes wahrnehmen und dass andere auch anders wahrnehmen, die Fledermaus, die Biene und so weiter. Es gibt viele Wahrnehmungsformate. Außerdem kann ich meine Hand aus verschiedenen Perspektiven wahrnehmen, und dann sieht sie jeweils anders aus. Wir müssen also die Identität des wahrgenommenen Gegenstandes und die Variabilität seiner Art und Weise, wie er mir in der Wahrnehmung erscheint, zusammenbringen. Wie passen also diese beiden Seiten, die Aktivität und die Perspektivität der Wahrnehmung, zusammen mit der anderen Annahme, dass die Wahrnehmung das Wahre aufnimmt? Das ist natürlich eine falsche Etymologie, »Wahrnehmung« heißt gewahrend aufnehmen, also bewusst erfassen und nicht das Wahre aufnehmen, aber Philosophen lesen seit Hegel und Husserl diese Etymologie falsch, was immerhin ein erhellender Kommentar zum Wortgebrauch ist. Die Wahrnehmung nimmt das Wahre aus einer Perspektive auf. Wie passt das nun also zusammen? Darauf muss jeder Realist eine Antwort geben, aber ebenso auch jeder Erkenntniszweifler. Meine Antwort darauf lautet, dass wir den Gegenstand selber aus einer bestimmten Perspektive wahrnehmen. Das erfordert aber, will man das wirklich anerkennen, dass man die Perspektive selber für etwas Wirkliches hält. Die Perspektive, in der ich etwas wahrnehme, ist nicht weniger wirklich als der Gegenstand dieser Wahrnehmung. Das heißt, die Perspektive ist ein relationaler Gegenstand, eine wirklich existierende, übrigens kausale Relation zwischen dem Wahrnehmungsgegenstand und mir. Die Kausalität im Wahrnehmungsfall ist aufgrund der Art und Weise, wie wir als Menschen gebaut sind, wiederum teilweise quantenphysikalisch, weil wir nichts wahrnehmen ohne elektromagnetische Strahlung. Also, wir müssen etwas hören oder sehen, und dazu brauchen wir Felder. Ohne Felder gibt es für uns nichts. Ohne elektromagnetische Felder gibt es keine kausale Informationsübertragung von der nichtmenschlichen Umwelt zum wahrnehmenden Tier.

MATTHIAS ECKOLDTDa wäre dann sozusagen ein Vakuum.

MARKUS GABRIELDa wäre ein Nichts zwischen mir und dem Stuhl, wie soll ich das bloß ausfüllen? Wenn zwischen mir und dem Stuhl nichts wäre als eine anonyme, gleichsam blinde Kausalkette, dann würde der Stuhl nie bei mir ankommen. Dann würden Reize vom Stuhl ausgehen, Schwingungen würden auf meine Nervenenden treffen, und das Gehirn machte dann irgendetwas Mysteriöses und baute ein Stuhlbild auf. Man kann in solchen Modellen nie verstehen, warum das Gehirn ausgerechnet ein Stuhlbild aufbaut, es könnte auch jedes andere Bild aufbauen. Denn der Reiz sagt nicht von sich her »Stuhl«. Stattdessen würde ich vorschlagen, dass wir auch hier die Quantenmechanik ernst nehmen und davon ausgehen, dass das kausale Verhältnis zwischen mir und dem Stuhl mit der Art, wie mir der Stuhl erscheint, identisch ist. Das heißt, die Perspektive von hier auf den Stuhl, die ich jetzt einnehmen kann, ist nichts anderes als die Summe der durch quantenmechanische Verhältnisse übermittelten Informationen. Diese Informationen sind wirklich da. Das heißt, der Bildfluss, dem ich von hier ausgesetzt bin, den können Sie fast so ähnlich erfassen wie ich, weil Sie ein ähnliches Lebewesen sind. Sie werden ihn nicht identisch erfassen, weil unsere Gehirne plastisch sind, Ihr Leib anders als meiner, Ihre Erinnerung anders als meine. Ich habe diesen Stuhl schon häufiger gesehen als Sie, deswegen werden Sie anderes aus dem Informationsfluss herausnehmen als ich, aber doch hinreichend Ähnliches. Deswegen können wir beide uns als Menschen über diesen Stuhl unterhalten. Mit der Fledermaus wird das schwieriger, es ist auch nicht zu erwarten, dass sie Stuhlbilder empfängt. Ich glaube, dass wir auch in der Wahrnehmung nicht nur den Gegenstand, den Stuhl, empfangen, sondern wir empfangen die Perspektive auf den Stuhl.

MATTHIAS ECKOLDTDas ist unmittelbar einleuchtend, da wir ja alle Gegenstände aus einer bestimmten Perspektive sehen. Insofern muss die Perspektive ja in der Wahrnehmung ebenso präsent sein wie der Gegenstand. Worin liegt dabei der Erkenntniswert?

MARKUS GABRIELIch habe besonders in den letzten zwei Jahren diese Nähe zur Quantenmechanik der Wahrnehmung akzeptiert. Das habe ich beispielsweise bei Thomas und Brigitte Görnitz gelernt, die über diese Dinge schreiben. Görnitz hat vor Jahren auch mit Carl Friedrich von Weizsäcker und Habermas am Max-Planck-Institut in Starnberg gearbeitet. Er ist ein interessanter Physiker, der auch philosophische Ansichten hat. Man kann Ähnliches auch bei Carlo Rovelli und vielen anderen lesen. In der Philosophie bei Mark Johnston, der das in seinem Buch Saving God folgendermaßen auf den Punkt gebracht hat: Wir sind keine Präsenzproduzenten. Das heißt, wir produzieren keine Tische oder andere Gegenstandsrepräsentationen im Gehirn, sondern wir sind Präsenzempfänger. Johnston benutzt dafür auch die Metapher der Probesonde. Unser Wahrnehmungsapparat stellt Probesonden zur Verfügung (ähnlich wie ein Echolot), und das, was zurückkommt, ist das, was schon da ist. So wie im Fall des Echos auch, da ist ja etwas, was ich höre. Wenn ich meinen Namen rufe, und etwas kommt zurück, dann kann das jemand anderes genauso hören, das ist objektiv da, was wir als Echolot in die Wirklichkeit schicken.

MATTHIAS ECKOLDTBeim Echolot gibt es dann also doch eine Verbindung zur Fledermaus, bloß eben auf einer anderen Frequenz.

MARKUS GABRIELAuf jeden Fall! Wir nehmen mit unserem Sinnesapparat in gewisser Weise so wie die Fledermaus wahr. Wichtig ist, dass die Bilder, die traditionell Sinnesdaten heißen, nicht in unserem Geist sind. Es gibt Sinnesdaten im Sinne des späten Russells oder Henri Bergsons. Die haben beide die Sinnesdaten nicht für etwas gehalten, das in einem mysteriösem Bewusstseinszimmer steckt oder gar im Gehirn, sondern für etwas, was objektiv existiert. Das heißt, in diesem Augenblick würde ich sagen, dass viele, genau genommen nicht unendlich viele, aber sehr viele Perspektiven auf diesen Stuhl existieren. Viele davon sind Ihnen und mir nicht zugänglich, aber zum Beispiel der Fledermaus. Die Fledermaus nimmt denselben Gegenstand, den wir »Stuhl« nennen, anders wahr als wir, und die Wahrnehmungsmöglichkeiten der Fledermaus sind uns derzeit versperrt.

MATTHIAS ECKOLDTDann würden die Gefesselten in Platons Höhlengleichnis an der Perspektive scheitern? Die Schatten sind ja eine Idee davon, dass es immer nur Perspektiven gibt, und die Idee ist bei Platon so, dass es unendlich viele verschiedene Perspektiven gibt, weswegen wir gar nicht sagen können, dass wir das Ding selber sehen, sondern wir haben eben nur Schatten davon.

MARKUS GABRIELDas meint Platon möglicherweise so, wobei es immer schwierig ist, das Höhlengleichnis zu interpretieren, eben weil es ein Gleichnis ist. Denn eigentlich passiert gar nichts: Die sitzen in einer Höhle, und dann geht einer raus. Das ist ja nicht spektakulär. Da sitzen ein paar Idioten in einer Höhle und verwechseln Schatten mit etwas anderem, das ist im Grunde genommen ja einfach nur ein grober Fehler.

MATTHIAS ECKOLDTDie Idioten sind aber Majorität bei Platon. Damit sind wir alle gemeint.

MARKUS GABRIELJa, bei Platon [lacht].

MATTHIAS ECKOLDTNur wenige, die das Zeug zum Philosophen haben, können die Fesseln lösen und hinausgehen aus der Höhle. Das sind dann sicherlich die späteren Philosophenkönige.

MARKUS GABRIELRichtig, aber wie, wenn das Ganze eine Parodie wäre? Man könnte – ich möchte das nicht als Platon-Deutung wagen – das Ganze ja mal als Parodie sehen. Was realisiert eigentlich der, der immer in der Höhle saß und gefesselt ist wie die anderen, und der Erste geht raus und wird geblendet von der Sonne? Irgendwann muss der doch verstehen, dass die Gegenstände draußen und die Gegenstände drinnen eigentlich dieselbe Art von Gegenständen sind. Das heißt, Schatten auf der Höhlenwand sind genauso wirklich oder nichtwirklich wie der See außerhalb der Höhle. Am Ende müsste das Platons Philosoph eigentlich verstehen, tut er aber nicht so richtig in dem Gleichnis.

MATTHIAS ECKOLDTWenn er zurückkommt, wird er ja auch erst mal von den anderen beleidigt und bedroht.

MARKUS GABRIELDie wollen ihn umbringen.

MATTHIAS ECKOLDTUnd zwar weil er die Wahrheit, das Wahre, das Ding an sich der Gegenstände in die Höhle mitbringt.

MARKUS GABRIELDa würde ich sagen: Das Wahre haben sie in der Höhle bereits, sie verstehen es nur nicht richtig. Das Wahre ist, dass sie Schatten an der Wand sehen. Wer Schatten an der Wand aber für etwas hält, was kein Schatten an der Wand ist, begeht unter Umständen einen Fehler. Wenn ich im Kino sitze und glaube, da – im Film – ist Darth Vader, mache ich keinen Fehler. Wenn ich aber im Kino sitze und verwechsele Star Wars mit den Abendnachrichten und bin ganz erschrocken, dass der Todesstern uns bedroht, begehe ich einen schrecklichen Fehler.

MATTHIAS ECKOLDTDann lassen sie uns einen Schritt weitergehen. Zum Ding an sich.

MARKUS GABRIELDas ist ein vermintes Gebiet.

MATTHIAS ECKOLDTUmso besser. Die Formulierung »das Ding an sich« geht auf Kant zurück. Ebenso wie die Einsicht, dass wir keine Möglichkeit haben, dieses Ding an sich wahrzunehmen und zu erkennen.

MARKUS GABRIELEs gibt eine Interpretation von Kant, die mir naheliegt, in der Kant eigentlich das Richtige sagt und in der Kant tatsächlich ein neuer Realist wäre. Das ist aber nicht so eindeutig, weil Kant vieles sagt, was nicht immer gut zusammenpasst. Die offizielle Doktrin lautet natürlich, wir können Dinge an sich nicht erkennen, sie bleiben für immer unbekannt. Das lässt keinen Zweifel daran, dass er den Begriff der Erkenntnis in folgendem Sinne verwendet: Dinge an sich sind nichts, was wir erkennen können. Wir können allerdings nach Kant über Dinge an sich trotzdem einiges wissen.

MATTHIAS ECKOLDTZum Beispiel?

MARKUS GABRIEL