image

Ralph Sauer

All meine Quellen
entspringen in dir

Eine Sammlung von Predigten

image

Meinen Predigthörerinnen und -hörern in Vechta und am Schliersee in Dankbarkeit gewidmet

Für die Bezieherinnen und Bezieher der Zeitschrift »Gottes Volk« ist dieser Band Bestandteil des Abonnements.

ISSN 0946-8943

www.bibelwerk.de

© 2019 Verlag Katholisches Bibelwerk, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Für die Texte der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, vollständig durchgesehene und überarbeitete Ausgabe © 2016 Katholisches Bibelanstalt GmbH, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Umschlagmotiv: © photocase.com

Satz: Rund ums Buch – Rudi Kern, Kirchheim/Teck

Druck und Bindung:

Finidr s.r.o., Lípová 1965, 737 01 Český Těšín, Czech Republic

Verlag: Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Silberburgstraße 121, 70176 Stuttgart

ISBN 978-3-460-26789-3

Auch als E-Book erhältlich unter ISBN 978-3-460-51059-3

Inhalt

Vorwort

Gott und Jesus Christus

Der barmherzige Vater

Ist Gott allmächtig?

Der verborgene Gott

Gott – ein Fremder in unserem Land

Gott – ein Freund des Lebens

Gottesbilder

Gott mehr gehorchen

„Viele Wege führen zu Gott, einer über die Berge“

Das unterscheidend Christliche

Jesus Christus – das Bild des unsichtbaren Gottes

„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“

Das Kreuz tragen

Der gute Hirt

Der lernwillige Jesus

Treue zu Jesus Christus

Die Kirche

Einheit in Vielfalt

Das kirchliche Lehramt

Die Universalkirche

Weltmission

„Vertraut den neuen Wegen“

Kirche und Karneval

Aufruf zur Reform der Kirche

Option für eine arme Kirche

Das Ringen um die Einheit der Christen

Streit in der Kirche

Das Gotteshaus

Das Kirchenjahr

Advent – Zeit der Besinnung und Umkehr

Johannes der Täufer

Der weihnachtliche Friede

„Er ist in unserer Mitte“

Weihnachten – Gott kommt als Kind

Die heilige Familie

Zum Jahresbeginn

Die Erscheinung des Herrn

Das Leidensgedächtnis am Karfreitag

Auferstehung mitten im Leben

Pfingsten – der Geburtstag der Kirche

Fest der leiblichen Aufnahme Mariä in den Himmel

Erntedank

Allerheiligen

Der heilige Martin

Mutter Teresa – Heilige der Dunkelheit

Die Lübecker Märtyrer

Christliche Existenz

Wer glaubt, sieht mehr

Das Wagnis des Glaubens

Das Abenteuer des Glaubens

Der Weg zum Glauben

Der Glaubenszweifel

Das Ringen mit Gott

Hörer und Täter des Wortes

„Du bist mein geliebter Sohn“

Das Gesetz und das Gewissen des einzelnen

Die Wozufrage

Die Seligpreisungen

Wer ist ein Geistlicher?

Das Bittgebet

Verfolgte Christen

Das Unkraut im Weizen

Das Kind – das große Geheimnis

Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht

„Der Welt verhaftet sein und doch Nachbar der Ewigkeit“

Authentischer Lebensstil

Be-gabungen

„O Seligkeit, getauft zu sein“

Das Wichtigste im Leben eines Christen

Die doppelte Treue

Der Kraftquell der Stille

Die Liebe ist stärker als der Tod

Jeder Mensch ist ein Würdenträger

Das Schöne als Vorschein der göttlichen Herrlichkeit

Die Wüste als Ort der Gottesnähe

„Ein Tag ohne Lachen ist ein verlorener Tag“

Der Himmel der Tiere

Die Umkehr der Werte

„Protest gegen den Tod“

Taborstunden

Der Christ und der Humor

Geistliche Berufungen

„Wir sind alle Flüchtlinge“

Vorbild oder Modell?

Aktives und beschauliches Leben

Vorwort

Der Titel dieser Predigtsammlung ist dem 87. Psalm, Vers 7 entnommen. Die hier vorliegenden Predigten sind die Frucht meiner langjährigen Predigttätigkeit in Vechta (Südoldenburg) und am Schliersee in Oberbayern, wo ich seit 18 Jahren meinen „Arbeitsurlaub“ verbringen darf. Die folgenden Ausführungen sind ihnen gewidmet. Denn der Predigthörer ist keineswegs ein rein passiver Hörer, sondern nimmt indirekt auch Einfluss auf die Predigt. Er ist gewissermaßen Mitautor der Predigten. Ihn hat der Prediger bei seiner Verkündigung im Auge, oder sollte es zumindest. Sein Bemühen geht dahin, den biblischen Text oder das Thema in den Lebenshorizont seiner Hörer zu übersetzen. Das aber ist kein leichtes Unterfangen, trennen doch die Entstehung des biblischen Textes und die heutigen Hörer mehr als 2000 Jahre. Lessing spricht vom „garstigen Graben“, den es zu überbrücken gilt, soll der heutige Adressat sich von diesem Text ansprechen lassen. Außerdem gibt es den Hörer nicht, vielmehr sind es viele unterschiedliche Menschen mit ihren spezifischen Erwartungen, denen der Prediger gerecht werden soll. Er kann immer nur eine bestimmte Gruppe von Predigthörern ansprechen. Allen kann er nicht gerecht werden. Hier liegt die Grenze einer jeglichen Verkündigung, sie muss sich damit begnügen. Schließlich hat jeder Prediger auch seine Vorlieben und theologischen Schwerpunkte, die in seiner Predigt immer wieder durchschimmern, mag er sich noch sehr um Objektivität bemühen. Mit diesem Vorbehalt übergebe ich diese Predigten dem Leser in der Hoffnung, dass er sich den einen oder anderen Gedanken aneignen kann. Möge er dadurch in seinem angefochtenen Glauben gestärkt und gefestigt werden.

Bei der Überarbeitung der Predigtvorlagen habe ich die biblischen Texte nach der neuen Einheitsübersetzung von 2016 zitiert, das gleiche gilt für die Lieder aus dem neuen Gotteslob von 2013.

Bei der Fertigstellung des Manuskriptes danke ich meinem religionspädagogischen Kollegen Karl Josef Lesch für seine kritische Durchsicht des Manuskriptes und Frau Gerda Büssing, die wie immer für die sorgfältige Endgestalt der Veröffentlichung gesorgt hat.

Vechta, im April 2018

Gott und Jesus Christus

Der barmherzige Vater

Eine der bekanntesten Erzählungen Jesu im Neuen Testament ist die Beispielgeschichte vom barmherzigen Vater. Sie liefert den Schlüssel zum Verständnis Gottes, der auf extravagante Weise seinen „verlorenen Sohn“ in die Arme schließt. In der neuen Einheitsübersetzung wird sie traditionsgemäß betitelt mit: „Der verlorene Sohn“. Aber damit wird der Akzent falsch gesetzt; denn nicht der jüngere Sohn steht hier im Mittelpunkt, auch nicht der ältere Sohn, sondern der Vater. Seine Bereitschaft zum Verzeihen übersteigt unsere gängigen Erwartungen. Daher müsste die richtige Überschrift lauten: Der barmherzige oder auch der gütige Vater.

In der früheren Erstbeichtkatechese wurde der verlorene Sohn in der Beispielerzählung immer als Muster eines Umkehrwilligen herausgestellt. An ihm sollten die Kinder in der Vorbereitung auf die erste heilige Beichte Maß nehmen. Aber eignet er sich dafür? Ist er ein Muster der Umkehrbereitschaft? Als er am Tiefpunkt seines Lebens fern der Heimat angekommen war, musste er die Schweine hüten, das war für den gläubigen Juden eine schwere Sünde. In dieser Situation erinnerte er sich an das Leben der Arbeiter bei seinem Vater daheim. Sie hatten ein Dach über dem Kopf und satt zu essen. Er aber musste sich von den Schweineschoten ernähren. So beschloss er, nach Hause heimzukehren, um als Knecht seinem Vater zu dienen. Er rechnete nicht damit, dass sein Vater ihn wieder in die alten Sohnesrechte einsetzen würde. Ein so großes Vertrauen in seinen Vater besaß er nicht mehr. Er überlegte, mit welch frommen Worten er seinem Vater gegenübertreten wollte. Als der Vater seinen verlorenen Sohn schon in der Ferne bemerkte, tat er etwas, was für einen Israeliten ungewöhnlich war: Er lief ihm entgegen. Der Sohn wollte seinen frommen Spruch aufsagen, aber der glückliche Vater ließ ihn gar nicht erst ausreden. Er nahm ihn in seine Arme und setzte ihn wieder in seine alten Sohnesrechte ein. So groß war seine Freude über den unerwartet Heimgekehrten. Sein älterer Bruder erwies sich als selbstgerecht und lässt sich von einem Anspruchsdenken leiten. Das Verhalten seines Vaters konnte er nicht nachvollziehen, er distanzierte sich von seinem Bruder, den er nicht mehr als Bruder anerkannte. So spricht er von „deinem Sohn“. Beide waren eigentlich, jeder auf seine Weise, „verlorene Söhne“, ohne Verständnis für das überraschend barmherzige Verhalten ihres Vaters.

Als Kontrastbeispiel für einen echten Umkehrwilligen möge der Lebensweg eines Menschen dienen, der die Tiefen und Abgründe menschlichen Lebens durchlitten hatte. Sein bürgerlicher Name lautete: Gerhard Bauer, er stammte aus Bremen. Sein Künstlername war: Rocky, der Irokese. Er war Mitglied der Rockerband von Udo Lindenberg und der Beiname verwies auf seine Haartracht, er trug einen Irokesenhaarschnitt. An jedem Ohr trug er sieben Ringe, auch einen durch die Nase und war von Kopf bis zum Fuß tätowiert. Er war der Abgott der Rocker und Punker und lehrte jeden das Fürchten. Er war stolz darauf, gewalttätig zu sein. Wenn einer schon am Boden lag, trat er mit seinen Kampfstiefeln noch nach. Manche sind an den Folgen gestorben. Zehntausend Fans feierten in Köln mit Wunderkerzen den „Rocky“. Er hatte sich dem Leibhaftigen verschrieben und feierte schwarze Messen. Aber eines Tages stieg er aus, als er den Leibhaftigen spielen sollte. Nach den Konzerten fiel er in ein tiefes Loch, wenn er in sein einsames Hotelzimmer zurückkehrte. Er ahnte, dass die Show nicht alles war. Er sucht nach einem festen Halt im Leben, nach Liebe, die ihm die Rockerszene nicht geben konnte. Als er aus dem ostdeutschen Gefängnis entlassen wurde, fand er seine langjährige Verlobte mit seinem besten Freund verheiratet. Das war ein harter Schlag für ihn.

Als er eines Tages, tief depressiv, über die Reeperbahn in Hamburg lief, begegnete er einer Gruppe christlicher Jugendlicher die einer evangelikalen Freikirche angehörten. Sie nahmen ihn ohne Vorurteile an, erzählten ihm von Jesus, der jeden bedingungslos, ohne Vorleistungen annimmt. Er bekennt sich zu ihm, so wie er ist, und verzeiht ihm sein Versagen. Er ergriff die Hand, die ihm auf diese Weise entgegengestreckt wurde, die ihn aus dem Sumpf gezogen hatte. Hier hatte er das gefunden, das er immer suchte: eine vorurteilslose Liebe, in der man sich geborgen fühlen durfte. Fortan verkündete er diesen Jesus, in dem ihm die barmherzige Liebe des göttlichen Vaters begegnet war. Damals war sein ganzer Körper schon voll von Krebs. Er ging in Hamburger Schulen und erzählte den Heranwachsenden von seinem Lebenswandel und von seiner Bekehrung. Das imponierte den Jugendlichen, die im liberalen Hamburg aufwuchsen, wo der christliche Glaube keine Rolle mehr spielt. Seine letzten Worte auf dem Sterbebett lauteten: „Vater, ich gehe jetzt zu dir.“ Hier war einer verloren und wurde vom Gott Jesu Christi wiedergefunden, wie im Evangelium vom barmherzigen Vater.

„Lasst euch mit Gott versöhnen“ (2 Kor 5,20), werden wir in der Heiligen Schrift aufgefordert. Gott will sich auch mit uns versöhnen, ergreifen wir seine ausgestreckte Hand, dann verlieren wir die Angst vor dem Tod, ja, sogar vor dem Sterben wie Rocky, der Irokese.

Ist Gott allmächtig?

Angesichts der vergasten sechs Millionen Juden in Auschwitz und an anderen Orten haben Menschen die Frage gestellt: Warum hat Gott nicht eingegriffen? Warum hat er das unsägliche Leid der Menschen nicht verhindert? Als der 18jährige Albert Camus, der spätere Literaturnobelpreisträger, Zeuge eines tödlichen Verkehrsunfalls in Algier geworden ist, stößt er seinen Freund neben ihm an und zeigt auf den Himmel und sagt: „Und der Himmel schweigt!“ Das Schweigen Gottes in der Situation des Leidens bedrängt uns und bringt den Glauben in Erklärungsnot. Ist Gott vielleicht gar nicht allmächtig, wenn er stumm zuschaut, wie Menschen leiden müssen und er nicht eingreift? Ein amerikanischer Jude hat gesagt: „Entweder ist Gott allmächtig, dann ist er der Teufel, der diesen Massenmord zugelassen hat, oder er ist gerecht, dann fehlt ihm die Allmacht.“ Müssen wir uns also vom allmächtigen Gott verabschieden, wie wir ihn im Apostolischen Glaubensbekenntnis bezeugen? Einige christliche Theologen haben diesen Abschied bereits vollzogen. 1992 behauptete der „Spiegel“: „An einen allmächtigen Gott glauben die meisten Deutschen angesichts der Leiden und Schäden in dieser Welt nicht mehr.“ Vielleicht müssen wir anders vom allmächtigen Gott sprechen.

Bei seiner Gefangennahme hat Jesus gesagt: „Oder glaubst du nicht, mein Vater würde mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel schicken, wenn ich ihn darum bitte?“ (Mt 26,53). Eine Legion umfasste damals 6000 Männer. Aber Gott verzichtet darauf, er greift nicht ein, er überantwortet Jesus seinem Geschick. Und Jesus bittet Gott, seinen Vater, auch nicht um diese Hilfe, vielmehr geht er bewusst und entschieden den Weg des Leidens und Sterbens. Ist das nicht die Konsequenz der Menschwerdung? Wenn Gott einer von uns wird, dann nimmt er auch das menschliche Leid auf sich. Wir dürfen Gott Leiden und Schmerzen zuschreiben, sagte der ehemalige Papst Benedikt XVI. in einem Interview. Das hatten früher die Theologen abgestritten. Mit der Menschwerdung geht diese Welt und ihr Schicksal Gott selbst unmittelbar an, jetzt ist sie ein Stück von ihm selbst. Es ergeht ihm nicht besser als uns selbst. Für ihn gibt es auf Erden keine Sonderbehandlung. Aber warum nimmt Gott das alles auf sich? Für den Koran ist das undenkbar, daher lässt Mohammed ihn auch direkt zum Himmel auffahren. Am Kreuz sei statt seiner ein anderer gestorben, behauptet er gegen alle historischen Erkenntnisse.

Im Christushymnus des Philipperbriefes heißt es von Jesus: „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,6-8). Gott begibt sich aus freien Stücken seiner Macht aus Liebe zu den Menschen, weil er mit ihnen den Weg des Leidens und Sterbens gehen will. Im menschlichen Leben, Leiden und Sterben begibt sich Gott seiner göttlichen Macht aus Liebe zu uns Menschen. Nur so kann er ihnen auch in den äußersten Situationen ihres Lebens nahe sein. Er verzichtet auf die Ausübung seiner Macht, er beschränkt sich, vor allem achtet er auf die Freiheit des Menschen, auch wenn dies böse Folgen haben kann. Aber wenn Gott sich dem Leiden unterwirft, dann tut er dies auf göttliche Weise, er nimmt es freiwillig auf sich, was bei uns nicht der Fall ist. Uns widerfährt das Leid. Es befällt ihn nicht, sondern er lässt sich von ihm betreffen. Er kann leiden, muss es aber nicht. Nur wenn wir Liebe und Allmacht miteinander in Verbindung bringen, erhalten wir einen Zugang zum Verständnis der Allmacht Gottes. Seine Allmacht ist die Macht seiner Liebe, die sich am Kreuz ganz für uns hingegeben hat. Und diese Liebe erweist sich am Ende stärker als der Tod, das wird in der Auferstehung von den Toten offenbar. Seine Allmacht verbirgt sich hinter der scheinbaren Ohnmacht des Kreuzes.

„Gott ist nicht gekommen, um das Leid zu beseitigen. Er ist nicht einmal gekommen, um es zu erklären. Aber er ist gekommen, um es mit seiner Gegenwart zu erfüllen“, sagt der französische Schriftsteller und Diplomat Paul Claudel. Im Kreuzestod zeigt Gott seine Sympathie mit den leidenden Menschen, sein Mitleiden. Er nimmt am Leiden der Menschen Anteil, steht ihm nicht unbeteiligt gegenüber. Das konnten Menschen in den dunkelsten Stunden ihres Lebens erfahren, wo alle sie verlassen hatten, wo keiner ihnen mehr helfen konnte. Nur auf einen war da Verlass, der selbst diesen Weg bis ins Äußerste der Gottverlassenheit gegangen ist. Und dies gilt auch für die in Auschwitz Vergasten. Darum waren in den mittelalterlichen christlichen Hospizen die Betten der Kranken auf das Kreuz Jesu ausgerichtet. Daher können wir am Gründonnerstag zu Beginn der Eucharistiefeier beten:

„Wir rühmen uns des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus.

In ihm ist uns Heil geworden, Auferstehung und Leben.

Durch ihn sind wir erlöst und befreit.“

Der verborgene Gott

Im Buch Exodus werden wir mit einem Schlüsseltext der Heiligen Schrift konfrontiert. Er stellt uns vor das abgrundtiefe Geheimnis des Gottes, der uns in Jesus Christus nahegekommen ist. Es handelt sich um die bekannte Szene des brennenden Dornbusches, der nicht verbrennt. Er ist immer wieder Gegenstand unterschiedlicher Auslegungen geworden (Ex 3,1-4,17). Diese beziehen sich vor allem auf die Namensoffenbarung des Herrn. Vertiefen wir uns einmal in diesen Spitzentext der Bibel, der für unser Gottesverständnis von fundamentaler Bedeutung ist.

Mose befindet sich auf der Flucht vor dem Pharao, nachdem er einen ägyptischen Oberaufseher getötet hatte. Dabei gelangt er zu dem Priester Jitro auf der Sinaihalbinsel. Dieser ist auch Besitzer einer Viehherde. Mose heiratet dessen Tochter und wird so auch Viehhüter. Eines Tages weidet er die Ziegen und Schafe seines Schwiegervaters und gelangt zum Gottesberg Horeb. Dort wird er gewahr, dass ein Dornbusch zu brennen beginnt, ohne aber zu verbrennen. Aus Neugier will er näher treten; „denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden“ (Ex 3,6). Er befindet sich im Machtbereich des Heiligen Israels, der alles verwandelt. Durch das Ausziehen der Sandalen bringt er zum Ausdruck, dass er auf jeglichen Rechts- und Besitzanspruch gegenüber Gott verzichtet. Der Sprechende offenbart sich als Gott der Erzväter Abraham, Isaak und Jakob, der mit dem Volk Israel einen Bund geschlossen hat. Er hat das Elend seines Volkes gesehen und sich seiner erbarmt. Mose beruft er zum Führer seines Volkes, er soll dieses aus dem Sklavenhaus Ägypten herausführen in das verheißene Land. Mose begnügt sich aber nicht mit dieser Selbstvorstellung Gottes, er bohrt weiter nach und fragt nach seinem Namen, um sich vor seinem Stamm legitimieren zu können. Bei dieser Frage geht es um mehr, als nur darum, seine Neugier zu befriedigen. Während für uns der Name nichts anderes als ein beliebig auswechselbares Etikett bedeutet, zielt im Orient zur damaligen Zeit der Name auf das innere Wesen des Namensträgers. Wer den Namen des anderen, vor allem des Fremden, kannte, besaß Macht und Gewalt über ihn, er konnte über ihn verfügen. Wenn also Mose nach dem Namen Gottes fragt, dann drückt sich darin das Verlangen aus, über diesen Gott verfügen zu wollen. Das ist eine Urversuchung des Menschen, der Gott in den Griff bekommen möchte, ihn vor den eigenen Karren spannen will, damit er ihm zu Willen ist. Wenn heute die Salafisten oder Islamisten ihre Terrorakte und Kriege rechtfertigen wollen, dann berufen sie sich auf ihren Gott Allah. In seinem Namen werden unzählige Unschuldige umgebracht oder zur Konversion gezwungen. Aber wir Christen müssen vor der eigenen Tür kehren und uns bewusst werden, dass auch wir immer wieder geneigt sind, über Gott verfügen zu wollen. Als im Mittelalter Papst Urban II. den Kreuzzug zur Wiedereroberung des Heiligen Landes verkündete, hat er ihn mit den Worten gerechtfertigt „Gott will es!“ Woher wusste er das, war das nicht eine Anmaßung, Gott in den Dienst eigener Machtinteressen zu nehmen? Hier hat sich einer an die Stelle Gottes gesetzt. Es kann heute noch vorkommen, dass ein Bischof den Gehorsam seiner Priester und Gläubigen einfordert mit Berufung auf Gott.

Wie aber beantwortet Gott die bohrende Frage des Mose? Die Antwort besteht aus vier Konsonanten; denn das hebräische schriftliche Alphabet kennt nur Konsonanten, die vier lauten: J H W H gesprochen und mit Vokalen ergänzt: Jahwe. Die Übersetzung dieser vier Worte, auch Tetragramm genannt, lautet nach Meinung der meisten Exegeten: „Ich werde für euch da sein“. Hat Gott damit aber seinen Namen dem Mose mitgeteilt? Keineswegs, denn er sagt lediglich darüber etwas aus, wie er zu seinem Volk steht. Aber sein eigentliches Wesen bleibt dem menschlichen Zugriff verborgen. So verwehrt er es dem Menschen, über ihn verfügen zu wollen. Er bleibt der ganz Andere, uns Entzogene, Unverfügbare.

Nun legt sich an dieser Stelle der Einwand nahe: Er hat sich uns doch in Jesus von Nazaret geoffenbart. Ist er damit nicht aus seiner Verborgenheit in unsere Sichtbarkeit getreten? Hat er nicht einen Namen und ein Angesicht angenommen? Offenbarung Gottes bedeutet keineswegs, dass damit Gott alles über sich ausgesagt hat, dass nichts mehr verborgen bleibt. Diesen Eindruck hinterlassen oft die gängigen Katechismen, die zu viel über Gott wissen und damit nicht mehr das Geheimnis Gottes wahren. Gott teilt sich uns mit als der verborgene und uns entzogene Gott. Das zeigt sich im anfänglichen Unverständnis der Jünger, erst nach der Auferstehung gehen ihnen die Augen auf. Und doch bleibt er weiterhin der ganz Andere, Fremde, den wir nicht in den Griff bekommen. Bezeichnenderweise erkennen die Jünger von Emmaus den Herrn beim Brotbrechen; aber im gleichen Augenblick, da ihnen die Augen aufgehen, entzieht er sich ihren Blicken. Auch als Offenbarer Gottes bleibt Gott für uns Menschen verborgen und geheimnisvoll, er wohnt „in unzugänglichem Licht“, wie es im 1. Timotheusbrief heißt (1 Tim 6,16).

Wahren wir also das Geheimnis des verborgenen Gottes, verneigen wir uns vor ihm und beten es an.

Gott – ein Fremder in unserem Land

Vor einiger Zeit wurden im Fernsehen neu inszenierte Winnetou-Filme gezeigt. Als Winnetous Schwester die Gretchenfrage stellt: „An welche Götter Old Shatterhand glauben?“ erhält sie zur Antwort: „Ich bin zwar getauft, aber ich glaube eigentlich nur an die menschliche Vernunft.“ Damit steht er in diametralem Widerspruch zum Old Shatterhand in der Originalfassung von Karl May. Dort bekannte er sich zu seinem christlichen Glauben und Winnetou sagte im Sterben: „Ich glaube an den Heiland, Winnetou ist ein Christ.“ Jetzt aber in der neuen Fassung ist an die Stelle des christlichen Glaubens ein bloßer Humanismus ohne Gott übrig geblieben. Der moderne westliche Mensch vertraut allein seinen eigenen Fähigkeiten und fühlt sich nicht mehr einer göttlichen Vernunft verbunden. Er kreist um sich selbst und begnügt sich mit dem bloßen Diesseits ohne die Verheißung eines Mehr.

Vor 500 Jahren rang der Augustinermönch Martin Luther noch mit der ihn bedrängenden Frage: „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ Diese Frage bedrängt heute nur noch wenige westliche Menschen. Der heutige Mensch fragt nicht mehr nach dem tragenden Grund der Wirklichkeit. Gott ist für ihn ein Fremder im eigenen Land geworden, er spielt in seinem Leben keine tragende Rolle mehr. Dies wird uns besonders anschaulich in den östlichen Ländern Deutschlands vor Augen geführt. Die überwiegende Mehrheit der Menschen in diesen Landstrichen kann der Frage nach Gott keine Bedeutung mehr beimessen, er ist für sie zu einem Fremdwort geworden. Sie dürsten nicht mehr nach Gott, wie die Sänger der alttestamentlichen Psalmen. Kürzlich hat ein katholischer Junge, der mit seinen Eltern in Berlin wohnt, seine Mutter gefragt: „Mama, das ist doch normal, dass wir beten?“ Offensichtlich stieß er mit seinem Bekenntnis zum Gebet bei seinen Altersgenossen auf Befremden und Ablehnung. Für sie war das Gebet etwas völlig Anormales, für ihn auf Grund seiner katholischen Erziehung etwas Selbstverständliches. Bei einer Befragung der Süddeutschen Zeitung zur Frage „Was ist Gott?“ gab ein Schriftsteller zur Antwort: „Gott ist ein tragischer Hokuspokus! Nee, ich buckle und winsle vor keinem, auch nicht vor einem Weltenhöchsten, den man als Angstmaschine in die Welt gezerrt hat.“

Die Gottesfinsternis ist zum Markenzeichen des modernen westlichen Menschen geworden, im Unterschied zu Afrika und Asien. Vor dieser bedrückenden Tatsache dürfen wir nicht unsere Augen verschließen. Wir müssen uns dieser Herausforderung stellen. Wir müssen uns fragen, wie können wir in der Gegenwart das Gottesgerücht aufrechterhalten? Wir können nicht mehr so selbstverständlich von Gott sprechen wie in den Katechismen und vielen anderen frommen Schriften. Es ist nicht leicht, auf diese so existentielle Frage eine Antwort zu geben. Meine Antwort ist nur ein behutsamer Antwortversuch:

1. Im Umgang mit dem Wort Gottes sollten wir sehr zurückhaltend sein. Es darf uns nicht so leicht über die Lippen kommen. Wie unbedacht sagen wir gelegentlich: „O Gott, o Gott.“ Die Juden wagen es nicht, direkt von Gott zu sprechen, an seine Stelle setzen sie andere, ihn umschreibende Worte wie: Herr der Heerscharen. In unserem Reden von Gott muss eine heilige Scheu zu spüren sein, dass wir hier das größte Geheimnis unseres Lebens auszusprechen wagen. Heinrich Böll, ein nach dem Krieg bekannter deutscher Literaturnobelpreisträger, hat in einer Erzählung unser gedankenloses Sprechen von Gott karikiert. Sie trägt den Titel „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“. Darin schneidet ein Redakteur des Kirchenfunks aus einem Manuskript das Wort Gottes heraus und sammelt auf diese Weise 27 Schnitzel. Dabei kommt er auf 3 Minuten Schweigen. Wir sollten dieses geheiligte Wort mit anderen Worten umschreiben, um seiner Abnutzung entgegenzutreten. Zum Beispiel: Das absolute Geheimnis, der Grund aller Wirklichkeit, das ewige Du.

2. Es fällt auf, dass wir eigentlich nur das von Gott sagen können, was er nicht ist. So sagen wir: Er ist unendlich, er ist keiner Zeit und keinem Raum unterworfen, er ist nicht begrenzt, er ist nicht sichtbar usw. Dagegen fällt es uns schwer, von Gott positive Aussagen zu machen. Auch in dieser Weise von Gott zu sprechen, drückt sich eine tiefe Ehrfurcht vor dem heiligsten Geheimnis aus. Diese „negative Theologie“ ist vornehmlich die Sprache der Mystiker.

3. Der heutige Mensch möchte mit diesem Urgrund persönliche Erfahrungen machen, er möchte den Spuren Gottes in unserer Welt nachgehen können. Und davon gibt es eine Vielzahl. Allerdings müssen wir dafür aufgeschlossen sein. Welche Spuren könnten es sein? In der zwischenmenschlichen Liebe erfahren die Liebenden, dass sich dahinter eine größere Liebe verbirgt, der sie sich verdanken. Und wenn ihnen dann ein Kind geschenkt wird, stehen sie staunend vor dem Geheimnis des Lebens, das sie dankbar entgegennehmen. Selbst hartgesottene Männer, die bislang Gott nicht beachtet haben, werden in diesem Augenblick empfänglich für eine Spur Gottes in ihrem Leben. Viele Menschen finden heute den Weg zu Gott über die Kunst, ganz besonders über die Musik, welche die Nabelschnur ist, die uns mit der Welt der Transzendenz verbindet. Ein bekannter Komponist von christlichen Kinderliedern fand bei einer Tournee mit einem religiösen Musical den Weg zum Glauben. Er war in einer glaubensfernen Familie aufgewachsen. Für uns ist Jesus Christus die entscheidende Spur Gottes, die Gott auf unserer Erde hinterlassen hat. In ihm hat Gott sich zu erkennen gegeben, hat er ein Gesicht, einen Namen erhalten, der über allen Namen ist. Er versichert uns die bleibende Nähe Gottes zu uns Menschen.

4. Jesus hat zu uns gesagt: „Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben … So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Taten sehen und euren Vater im Himmel preisen“ (Mt 5,14-16). Wie dies geschehen kann, zeigt uns ein Beispiel aus der ehemaligen DDR: An einem Sonntagmorgen wollte ein im staatlich verordneten Atheismus aufgewachsener Mann am Sonntag einmal erleben, wie „die Sonntagsleute“, damit waren die Christen gemeint, ihren Tag verbringen. Er ging in der Frühe auf die Straße und begegnete zwei jungen Männern, die zielstrebig einem Ort entgegeneilten. Er schloss sich ihnen an und landete in einer kleinen katholischen Kapelle, wo die heilige Messe gefeiert wurde. Er war von dem Glaubenszeugnis dieser beiden Katholiken und der gesammelten Andacht der Gläubigen während des Gottesdienstes so beeindruckt, dass er beschloss, sich auf den Weg des Glaubens zu begeben. Auch wir sollten durch unseren gelebten Glauben in der Öffentlichkeit für Gott in Jesus Christus Zeugnis ablegen. Junge Muslime können uns in der Bereitschaft zum Zeugnis für den eigenen Glauben oft beschämen. Sie haben keine Scheu, auf den Fluren der Schulen und Hochschulen ihren Gebetsteppich auszubreiten für das vorgeschriebene Gebet. Hätten wir auch einen ähnlichen Mut, unseren Glauben in der Öffentlichkeit zu leben und zu bezeugen? So könnten wir Salz der Erde und Licht der Welt sein.

Lassen wir das Licht unseres Glaubens weithin leuchten, haben wir keine Scheu, den zu bekennen, dessen Name über allen Namen erhaben ist, dann werden unsere Zeitgenossen auch unseren Vater im Himmel preisen.

Gott – ein Freund des Lebens

Es sind wunderschöne, zu Herzen gehende Worte, die wir aus dem Munde des alttestamentlichen Weisheitslehrers vernehmen: „Du liebst alles, was ist und verabscheust nichts von dem, was du gemacht hast … Herr, du Freund des Lebens“ (Weish 11,24 und 26). Aber verraten sie nicht eine Blauäugigkeit, eine Naivität, die den Blick versperrt für die dunklen Seiten des Lebens? Sind diese Worte nicht zu schön, um wahr zu sein? Können wir ihnen trauen? Der französische Philosoph Jean Paul Sartre spricht in einem Theaterstück eine Frau an, die sich ein Kind wünscht: „Weib, dieses Kind, das du gebären willst, es ist gleichsam eine Neuauflage der Welt. Seinetwegen werden die Wolken und das Wasser und die Sonne und die Häuser und die Qual der Menschen einmal mehr existieren. Du wirst die Welt neu erschaffen, die sich wie eine dicke schwarze Kruste schließen wird, um ein kleines empörtes Gewissen, das hierbleiben wird, als Gefangener mitten in dieser Kruste wie eine Träne … Ein Kind erschaffen heißt, die Schöpfung aus tiefstem Herzen bejahen, heißt, dem Gott, der uns quält, sagen: ‚Herr, alles ist gut und ich sage dir Dank, dass du das Weltall gemacht hast‘. Willst du wirklich ein solches Lied singen?“ Aus diesen Worten spricht ein Hass auf das Leben, das einem Gefängnis gleicht, in dem der Mensch von Gott gequält wird. Machen wir nicht alle ähnliche Erfahrungen, dass das Leben alles andere als lebens- und liebenswert ist? Es gibt Menschen, die so sehr unter ihrem Leben leiden, dass sie es nicht mehr aushalten und ihrem Leben vorzeitig ein Ende bereiten. Leben ist Leiden, behauptet der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788-1860) im Gefolge des Buddhismus. Wir brauchen uns doch nur die Nachrichten im Fernsehen oder in der Tageszeitung anzuschauen, dann erfahren wir, wie es um das Leben in der Welt steht. Wir schauen in den Abgrund menschlicher Bosheit, wenn wir beispielsweise Zeugen der Grausamkeiten des sog. Islamistischen Gottesstaates werden, der sich nur des Namens Gottes bedient, um seinen mörderischen Absichten ein frommes Gesicht zu geben. Kann man angesichts dieser Grausamkeiten noch an einen Gott glauben, der von sich behauptet, er sei ein Liebhaber des Lebens? Er hat am Ende des ersten Schöpfungsberichtes seiner Schöpfung das Prädikat gut bis sehr gut erteilt. Viele würden ihr eher das Prädikat mangelhaft erteilen.

Unser Urteil über die Blauäugigkeit des biblischen Verfassers müssen wir revidieren, wenn wir uns die Zeit der Abfassung dieser Schrift vor Augen halten: Sie entstand, als Israel am Tiefpunkt seiner Geschichte angelangt war, als es in der babylonischen Gefangenschaft fern der Heimat lebte und sich voll Sehnsucht nach dem Verlorenen verzehrte. In dieser desolaten Situation findet der Verfasser den Mut, von Gott als dem Liebhaber des Lebens zu sprechen und ihn zu preisen, der alles ins Dasein gerufen hat und es im Dasein erhält. Er liebt alles, was ist, weil es sein Eigentum ist. Der Gläubige weiß um die Schattenseiten des Lebens, um die abgrundtiefe Bosheit des menschlichen Herzens, er leugnet sie nicht. Auch er leidet darunter. Aber wer das Leben mit den Augen des Glaubens betrachtet, der bleibt nicht an den negativen Erscheinungen hängen, der entdeckt auch die Lichtseiten, wo Gott am Werk ist. Auch er hat keine befriedigenden Antworten auf die Warumfrage angesichts des Leids in der Welt. Es bleibt für ihn ein Geheimnis schlechthin. Und dennoch kapituliert er nicht vor dem Leid, er kann wie ein afrikanischer Christ sagen: „Lepra ist ein Besuch Gottes.“ Auch im Leid spürt er die Nähe des Gottes, der in seinem Sohn selbst das menschliche Leid aufs Äußerste erfahren hat. So kann für ihn das Leid nicht der „Fels des Atheismus“ (G. Büchner), sondern der Fels des Glaubens sein. 60 Millionen Menschen befinden sich gegenwärtig auf der Flucht, sei es vor den Grausamkeiten der islamistischen Fanatiker, sei es, weil Naturkatastrophen ihr Bleiben in der Heimat unmöglich gemacht haben. Angesichts dieser weltweiten Katastrophe haben fast sämtliche politische Parteien in der Bundesrepublik die Grenzen nicht geschlossen, sondern sie hochherzig geöffnet und die Schutzsuchenden gastfreundlich aufgenommen. Dabei hat sich gezeigt, wie hochherzig ein Großteil unserer Bevölkerung auf die Fremden zugegangen ist und sich um ihre schwierige Integration bemüht. Unter ihnen ragen die Christen besonders hervor. Dieses ehrenamtliche Engagement hat weltweit Bewunderung hervorgerufen und die anderen europäischen Nationen beschämt, die sich abgeschottet und ihre Grenzen dicht gemacht haben. Die äußerste Not hat Kräfte entbunden, von denen wir vorher nichts geahnt haben. So können wir dem Leid noch eine gute Seite abgewinnen und dem blinden, rückwärtsgewandten Nationalismus die Stirn bieten. Es gibt uns die Chance, alle unsere Kräfte zu mobilisieren, um das Chaos zu bändigen.

Wer mit den Augen des Glaubens die Welt betrachtet, kann dem Leben bei all seinen Abgründen auch positive Seiten abgewinnen. Wer dem Liebhaber des Lebens vertraut, kann auch dem Tod ins Angesicht schauen, weil er überzeugt ist, dass dieser nicht das letzte Wort haben wird, sondern nur ein Durchgangsstadium zum verheißenen Leben in Fülle ist.

Ich möchte mit einem kurzen Gebetsvers schließen: „Herr Jesus, in unser armes Leben, das wir so oft verachten, hast du dich ganz gegeben und hast es wert gemacht.“

Gottesbilder

Viele Menschen beklagen sich, Gott sei so unanschaulich, so abstrakt. Man könne ihn nicht fassen. Daher entwickeln sie Bilder von Gott, anschauliche Vorstellungen von ihm. Auf diese Weise hoffen sie, ihm näher zu kommen. Alle Religionen haben Bilder von Gott entworfen und sie der Nachwelt überliefert. Dies gilt auch für die Bibel und ihre Rede von Gott. Eine Vielfalt unterschiedlicher Gottesbilder tritt uns aus ihr entgegen. Gott wird vorgestellt als der Schöpfer, als der Weltenherrscher, als Kriegsherr, als König, als Bundespartner, ja auch als Liebhaber. Jesus hat uns Gott als seinen und unseren Vater nahegebracht, zu dem wir Du sagen dürfen. Jede Zeit entwickelt eine bestimmte Vorliebe für ein besonderes Gottesbild, das uns einen Aspekt seines geheimnisvollen Wesens erschließt. So erfreut sich heute das Bild von Gott als einem Freund besonderer Beliebtheit. Die heilige Edith Stein hat sich bei ihrem Ordenseintritt den Namen „Benedicta vom Kreuz“ zugelegt. Damit hat sie das Bild des mitleidenden, solidarischen Gottes heraufbeschworen, der sich am Kreuz für uns hingegeben hat. Angesichts der Erinnerung an die Shoa ist das ein heute naheliegendes Bild und sehr aussagekräftig.

Beim alttestamentlichen Propheten Elija stoßen wir auf ein anderes, zunächst ein wenig fremdartig anmutendes Bild von Gott. Elija befand sich auf der Flucht vor dem König und wanderte 40 Tage und Nächte, bis er zum Gottesberg Horeb gelangte. In der Erzählung heißt es von Gott: „Da zog der Herr vorüber. Ein starker, heftiger Sturm, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, ging dem Herrn voraus.“ Hier erscheint Gott zunächst im Gewitter. „Aber Gott war nicht im Sturm. Nach dem Sturm kam ein Erdbeben. Aber Gott war nicht im Erdbeben. Nach dem Erdbeben kam ein Feuer. Doch der Herr war nicht im Feuer. Nach dem Feuer kam eine Stimme verschwebenden Schweigens. Da tritt Elija aus der Höhle heraus und stellt sich an den Eingang der Höhle“ (1 Kön 19,11-13). (Die Übersetzung stammt von Martin Buber.) Das war für den Propheten eine völlig neue Erfahrung mit Gott. Der starke Gott hat es nicht nötig, laut und protzig aufzutreten. Er lässt sich in der Stille und im Schweigen finden. Selbst der große Gottesleugner Nietzsche hatte Ähnliches erkannt, wenn auch nicht auf Gott bezogen, wenn er sagt. „Alle großen Gedanken kommen auf leisen Füßen.“

Dies ist eine Lerngeschichte. Elija musste die ihm vertrauten Bilder von Gott hinter sich lassen und bereit sein, sich auf ein ungewohntes Bild von Gott einzulassen. Denn immer sind wir in Gefahr, die alten Bilder festzuschreiben, sie zu versteinern, Gott gewissermaßen darin gefangen zu nehmen. Wir müssen bereit sein, uns für neue Perspektiven zu öffnen, für Sichtweisen, die unserer Zeit und unserem Lebensgefühl angemessener sind. Bilder für Gott sind aber nicht ungefährlich, wenn wir sie absolut setzen und uns darauf versteifen. Ja, wir können in diese Bilder unsere Wunschvorstellungen hineinprojizieren. Hier setzt die moderne Religionskritik an, die uns vorwirft, dass wir in diese Bilder unsere geheimen Wünsche hineinprojizieren und ihnen dann Wirklichkeit zusprechen. Aus dem Gefühl der Ohnmacht und Begrenztheit entwerfen wir das Bild eines Allmächtigen und Unendlichen und merken nicht, dass es lediglich ein Wunschgebilde der menschlichen Phantasie ist. Dieser Gefahr können wir entgehen, indem wir kein Bild von Gott absolut setzen, sondern es immer wieder durch andere ergänzen bzw. relativieren. Ja, die Mystiker wie Meister Eckhard raten uns sogar, auf jedes Bild von Gott zu verzichten. Weil Gott in kein Bild von ihm einzufangen ist, können wir auch nicht über ihn verfügen. Er entzieht sich jedem Versuch, seiner habhaft werden zu wollen. Aber können wir darauf ganz verzichten, ihn uns bildlich vorzustellen? Wir müssen uns ihn bildlich vorstellen und zugleich davon wieder Abschied nehmen. Wir können daher nur auf gegensätzliche Weise vom geheimnisvollen Gott sprechen, der „in unzugänglichem Licht wohnt“ (1 Tim 6,26).

Denn Gott ist ganz anders, als wir ihn uns vorstellen, er ist das absolute Geheimnis, vor dem wir uns nur verneigen, und das wir anbeten können. Er ist größer als wir und kein menschliches Gebilde. Dieses hilflose Gefühl hat ein zeitgenössischer Theologe und Dichter feinfühlig zur Sprache gebracht. Es findet sich im Neuen Gotteslob unter der Nummer 422 und lautet:

„Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr; fremd wie dein Name sind mir deine Wege. Seit Menschen leben, rufen sie nach Gott; mein Los ist Tod, hast du nicht andern Segen? Bist du der Gott, der Zukunft mir verheißt? Ich möchte glauben, komm mir doch entgegen. Nimmst du mich auf in dein gelobtes Land? Werd ich dich noch mit neuen Augen sehen?

Sprich du das Wort, das tröstet und befreit, und das mich führt in deinen großen Frieden. Schließ auf das Land, das keine Grenzen kennt, und lass mich unter deinen Kindern leben. Sei du mein täglich Brot, so wahr du lebst. Du bist mein Atem, wenn ich zu dir bete.“ (Huub Osterhuis, 1966)

Gott mehr gehorchen