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Der kleine Fürst
– Staffel 8 –

E-Book 71-80

Viola Maybach

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-468-0

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Vertrau mir, Franziska!

Graf Lucius hat eine Idee und lässt nicht mehr locker

Roman von Maybach, Viola

»Baron von Wegeringsfeld ist da, er möchte dir seine Aufwartung machen, Franzi«, sagte Elsbeth Lüders.

Franziska zu Randershausen hob den Blick. Sie saß am Schreibtisch und korrigierte ein Diktat ihrer Schüler. »Er ist noch da?«, fragte sie erschrocken. »Du hast ihn nicht weggeschickt?«

Elsbeth war ihre Haushälterin – und im Laufe der Zeit ihre Freundin geworden. Franziska hatte ihre Mutter bereits verloren, als sie noch ein Kind gewesen war: Bereits zu dieser Zeit hatte Elsbeth als Haushälterin für die Familie gearbeitet.

»Doch, habe ich«, seufzte Elsbeth. »Ich wollte nur mal sehen, wie du reagierst. Ich kann nicht ständig alle Leute wegschicken, Franzi, das weißt du. Irgendwann müssen wir auch mal jemanden hereinlassen.«

»Nein, müssen wir nicht!«, erklärte Franziska eigensinnig.

Kein Wunder, dass all ihre Schülerinnen und Schüler für sie schwärmen, dachte Elsbeth nicht zum ersten Mal. Die junge Frau sah bezaubernd aus mit ihren funkelnden hellen Augen, der frechen Stupsnase und dem üppigen Mund. Eine dichte braune Lockenmähne umrahmte ihre feinen Gesichtszüge. Von ihrer Figur freilich war nichts zu sehen, denn sie trug mehrere dicke Pullover übereinander und hatte sich außerdem noch in eine Decke gewickelt: Obwohl draußen frühlingshafte Temperaturen herrschten, war es im Inneren des alten Gutshauses noch immer kalt. Zwar hatten sie die Fenster geöffnet, um die warme Luft hereinzulassen, aber es schien unendlich lange zu dauern, bis die dicken Mauern etwas von der Wärme annahmen. Sie hatten auch während des strengen, langen Winters nur einen Raum geheizt, alles andere wäre viel zu teuer gewesen.

Es war ihr erster Winter im Gutshaus gewesen – der erste seit mehreren Jahren. Franziskas Vater Johannes hatte nicht lange nach dem Tod ihrer Mutter ein zweites Mal geheiratet und mit Nora, seiner neuen Frau, noch einen Sohn bekommen. Obwohl sich Franziska sowohl mit Nora als auch mit ihrem Halbbruder Alexis recht gut verstand, war sie sich in der neuen Familie ihres Vaters wie eine Außenseiterin vorgekommen, und so war sie direkt nach dem Abitur ausgezogen.

Wenig später hatte Nora bei Johannes durchsetzen können, dass auch die Familie das alte Gutshaus verließ und in ein großzügiges Penthouse in der Stadt zog. Johannes hing an dem Haus, das von seinem Urgroßvater erbaut worden war, aber Nora hatte »den alten Kasten« von Anfang an nicht gemocht und so lange gedrängt, bis Franziskas Vater schließlich bereit gewesen war, mit ihr und Alexis umzuziehen. Er war dann nur noch gelegentlich hier gewesen, bis er vor einem Dreivierteljahr an einem Herzinfarkt gestorben war.

Das Haus hatte er seiner Tochter aus erster Ehe schon vor längerer Zeit überschrieben, und Franziska hatte immer gewusst, dass sie wieder hierherziehen würde. Aber ihr war nicht klar gewesen, wie viel Geld ihr Vater Jahr für Jahr für den Unterhalt des alten Gemäuers hatte aufwenden müssen, nur damit es nicht völlig in sich zusammenfiel. Er hatte nur noch das Nötigste machen lassen, doch selbst das musste ihn Unsummen gekostet haben.

Sein großes Vermögen indes war vollständig an seine Frau und seinen Sohn gegangen. Manchmal kam Franziska die Frage in den Sinn, warum er ihr nicht wenigstens einen Teil des Geldes vererbt hatte, denn er musste doch gewusst haben, dass sie von ihrem Gehalt als Lehrerin das Guthaus nicht würde erhalten können. Aber sie schob diese Gedanken immer schnell beiseite, weil sie sich undankbar vorkam. Er hatte sie geliebt und war davon ausgegangen, dass sie es auch ohne sein Geld schaffen würde, und so war sie fest entschlossen, das Haus gegen alle Widerstände zu halten.

Und dann war dieser unglaublich strenge Winter gekommen, in dem es so manchen Abend gegeben hatte, an dem sie dem Aufgeben näher gewesen war als dem Durchhalten. Das Haus war ein Fass ohne Boden. Hatte sie irgendwo eine Lücke gestopft, tat sich an einer anderen Stelle bereits die nächste auf. Ohne die treue Elsbeth an ihrer Seite, das stand fest, hätte sie jedenfalls schon längst aufgegeben.

»Du kannst nicht immer alle Leute wegschicken, Franzi!«, wiederholte die Haushälterin und riss Franziska damit aus ihren Gedanken. »Die wissen doch sowieso, wie es hier aussieht, mach dir da bloß keine Illusionen.«

Franziska stand auf und schälte sich aus der dicken Wolldecke. »Lass uns ein bisschen nach draußen in die Sonne gehen«, sagte sie. »Ich bin völlig steif vor Kälte.« Sie warf einen Blick auf die alte Puppe, die früher immer auf ihrem Schreibtisch gesessen hatte – ein Geschenk ihres Vaters zu ihrem sechsten Geburtstag, seitdem war die Puppe so etwas wie ihr Talisman geworden. Aber seit seinem Tod saß sie im Regal, denn noch immer bekam Franziska einen Kloß im Hals, wenn ihr Blick auf sie fiel. »Hallo, Mia«, murmelte sie.

»Arme Puppe, der ist auch kalt«, stellte Elsbeth fest und fuhr fort: »Ich habe dir schon so oft gesagt, du sollst die Arbeiten deiner Schüler draußen korrigieren.« Elsbeth war eine hübsche Frau in den Vierzigern, mit einem offenen, gutmütigen Gesicht und starken Händen, die ordentlich zupacken konnten. Sie war bis zum Schluss Johannes zu Randershausens Haushälterin gewesen, gegen den Widerstand von Nora hatte er an ihr festgehalten. Aber vermacht hatte er ihr nichts – und das war etwas, was Franziska geradezu kränkte. Ihr Vater hatte Elsbeth sehr geschätzt, sie konnte nicht verstehen, dass er sie in seinem Testament nicht bedacht hatte. Aber nun war es zu spät, um ihn danach zu fragen – und Elsbeth hatte die Angelegenheit mit keinem Wort erwähnt.

»Wenn ich draußen sitze, können alle sehen, dass ich da bin, also kann ich Besuch nicht wegschicken – wie oft habe ich dir das schon erklärt, Elsbeth?«, seufzte Franziska.

Sie traten vor die Tür, und die Wärme traf sie wie ein Schlag. »Das ist ja beinahe wie Sommer, Elsbeth.«

»Ich weiß. Zieh deine Pullover aus und wärm dich mal richtig auf. Ich habe mir schon überlegt, ob wir nicht hinter dem Haus ein sonniges Plätzchen finden können, sodass du nicht sofort zu sehen wärst, wenn mal wieder Besuch käme«, erwiderte Elsbeth. »Du wirst dir nämlich auf Dauer ernsthafte Krankheiten holen in dem Eishaus da drin.«

»Du nicht?«

»Nein, ich nicht, weil ich praktisch immer in Bewegung bin. Aber eine Schreibtischtäterin wie du, das ist etwas anderes.«

Sie holten sich zwei Stühle und setzten sich direkt vor die Haustür, die Gesichter der Sonne zugewandt. »Das ist wundervoll«, murmelte Franziska. »Wenn ich eine Weile hier sitze, wird mir vielleicht doch noch einmal warm. Eben habe ich nämlich gedacht, dass ich überhaupt nicht mehr weiß, wie das geht: schwitzen. Es kommt mir so vor, als hätte ich in den letzten Monaten nur gefroren, Elsbeth.«

»Kommt dir nicht nur so vor«, brummte die Haushälterin.

Sie wechselten einen kurzen Blick, dann lachten sie beide, doch Elsbeth wurde rasch wieder ernst.

»Einen zweiten Winter überstehen wir hier nicht, Franzi«, sagte sie ruhig. »Das ist dir hoffentlich klar?«

»Ich versuche, nicht daran zu denken«, gestand Franziska.

»Das wirst du aber müssen. Du hast nicht die Mittel deines Vaters, um ständig beliebig viel Geld in dieses Haus zu stecken, wie er es getan hat.«

»Das weiß ich.«

»Und es ist dem Haus natürlich auch nicht gut bekommen, dass es in den letzten Jahren praktisch nicht bewohnt war, weil deine Stiefmutter sich geweigert hat, auch nur ein paar Tage hier zu verbringen.«

»Ja, das ist mir auch klar. Das Dach, die Heizung, die Fenster …«

»Und noch einiges mehr. Du musst darüber nachdenken, das Haus mitsamt dem Grundstück zu verkaufen. Du würdest viel Geld dafür bekommen, weil das Grundstück wertvoll ist, und dann müsstest du dir um Geld nie wieder Sorgen machen.«

Franziska sah die Ältere nachdenklich an. »Glaubst du, dass mein Vater das gewollt hätte, Elsbeth?«

»Ehrlich gesagt, diese Frage habe ich mir seit seinem Tod schon oft gestellt. Er hat das Haus geliebt, das wissen wir beide. Aber wenn er gewollt hätte, dass du es behältst, hätte er dich mit den notwendigen Mitteln ausstatten müssen, nicht wahr?«

»Es ist ja nicht so, dass ich nichts von ihm bekommen hätte«, murmelte Franziska. »Er hat mir immer was gegeben, wenn wir uns gesehen haben, Elsbeth.«

»Ja, mir auch«, bemerkte die Haushälterin trocken.

Überrascht sah Franziska sie an. »Das hast du mir ja noch nie erzählt.«

»Ich habe nach einer passenden Gelegenheit gesucht. Weißt du, was ich glaube? Er musste das heimlich machen, weil es Nora nicht gefallen hätte. Die wollte alles für ihren Sohn.«

»Das glaubst du?«

»Ja, das glaube ich. Wir waren immer allein, wenn dein Vater mir Geld gegeben hat – und er hat immer leise gesprochen und mich gedrängt, es sofort einzustecken. Ganz so, als hätte er Angst, wir würden beide erwischt. Ich meine, das ist doch verrückt, oder? Schließlich war es sein Geld. Nora Müller war vollkommen mittellos, als er sie geheiratet hat.«

»Ich weiß nicht, Elsbeth – aber ich glaube, du irrst dich in ihr.«

»Oh, ich werfe ihr nichts vor, sie hat deinen Vater aufrichtig gern gehabt, die beiden sind gut miteinander ausgekommen. Aber sie weiß, wie es ist, wenn man nichts hat, und dieses Schicksal möchte sie ihrem Sohn ersparen, das kann ich durchaus nachvollziehen. Und dass sie mich gerne aus dem Haus haben wollte, verstehe ich auch. Ich kannte ja noch deine Mutter, und daran wollte sie nicht ständig erinnert werden. Das verstehe ich gut, wirklich.«

»Aber?«, fragte Franziska.

Elsbeth zögerte kurz, dann zuckte sie mit den Schultern. »Nichts aber«, erklärte sie. »Vielleicht hat dein Vater gemeint, er kann dir heimlich so viel Geld zustecken, dass es für den Erhalt des Hauses reicht, aber dann ist er von diesem Herzinfarkt überrascht worden. Er wollte vermutlich nicht, dass du das Haus verkaufst, aber du wirst es trotzdem tun müssen, wenn du dich nicht vollkommen ruinieren willst – und das ist, meiner Meinung nach, kein altes Gemäuer wert, auch wenn man mit ganzem Herzen daran hängt.«

»Du hängst doch auch daran.«

»Ja, tue ich«, gab Elsbeth zu. Sie knöpfte ihre Strickjacke auf und streckte die Beine von sich, dann wandte sie ihr Gesicht wieder der Sonne zu. »Aber ich bin auch Realistin, und als solche sage ich dir: Noch so ein Winter, und wir beide sind am Ende. Hast du überhaupt noch etwas Geld in Reserve?«

»Etwas, ja.«

»Ich auch«, stellte Elsbeth fest. »Etwas, nicht viel. Kann ja sein, dass wir während des Sommers nichts zusätzlich ausgeben müssen, aber eigentlich sollten die Fenster ausgetauscht und die Isolierung erneuert werden – vom Dach ganz zu schweigen.«

»Ich habe mir das alles auch schon tausend Mal gesagt, Elsbeth, aber alles in mir wehrt sich dagegen.«

»Ich weiß, deshalb sage ich es dir, weil es nämlich sonst niemand tut.«

Sie hörten, dass sich ein Auto näherte und sprangen hastig auf, nahmen die Stühle und verschwanden im Haus. Doch bevor sie die Tür schloss, erkannte Franziska das Auto und stieß einen erleichterten Seufzer aus. »Es ist Alexis«, sagte sie. »Kein Grund zur Aufregung.«

»Ich gehe dann mal in die Küche und koche einen Tee. Ihr könnt ja vielleicht draußen sitzen bleiben.«

Franziska nickte und stellte die Stühle wieder vor die Tür.

Im nächsten Augenblick fuhr ihr jüngerer Halbbruder vor. Er brems­te scharf und sprang dann über die geschlossene Tür seines Sportwagen-Cabrios, das nagelneu war, wie Franziska feststellte. Sie spürte Ärger in sich aufwallen, drängte diesen aber beiseite. Alexis war gerade zwanzig Jahre alt geworden, da gehörte Angeben noch dazu. Sie selbst war sicherlich auch nicht besser gewesen in dem Alter, und sie wollte ihn auf keinen Fall darum beneiden, dass er im Gegensatz zu ihr keine Geldsorgen hatte.

»Na, große Schwester?«, lächelte er, als er sich zu ihr beugte und sie auf beide Wangen küsste. Dann ließ er sich auf den freien Stuhl fallen. »Bist du aus der Eiseskälte im Inneren geflohen?«

»Ja, bin ich«, gab Franziska zu, während sie ihn verstohlen musterte. Alexis ähnelte seiner Mutter Nora: Er war ein großer Blonder, schlank, mit ebenmäßigem Gesicht und schönen blauen Augen, die freilich nie verrieten, was er dachte. Er sah zufrieden mit sich und der Welt aus, und er hatte sich nicht nur den Wagen gekauft, sondern auch eine teure Uhr, stellte sie fest – und die Garderobe, die er trug, war auch nicht billig gewesen. Unauffällig elegant, aber exklusiv. Erneut muss­te sie sich gegen aufkommende Bitterkeit wehren.

»Dann verkauf mir den alten Kas­ten«, sagte er beinahe beiläufig.

»Wie bitte?«, fragte Franziska verblüfft. »Das ist jetzt aber nicht dein Ernst, oder? Nora und du, ihr konntet ihn doch noch nie leiden.«

»Stimmt«, gab er freimütig zu, »aber das heißt ja nicht, dass ich blind bin. Der Grund und Boden hier ist gut, man könnte eine Menge daraus machen.«

»Aha. Und was zum Beispiel?«

»Weiß ich nicht, ich habe bisher nicht darüber nachgedacht, weil ich dachte, du gibst das Gut sowieso nicht her. Aber vielleicht änderst du ja deine Meinung. Sollte das so sein, bin ich jedenfalls interessiert.«

In Franziskas Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander. »Wenn ich es an dich verkaufte, bliebe es immerhin in der Familie«, murmelte sie.

Er wandte sich ihr zu. »Ist das wichtig für dich?«

»Frag nicht so dumm, Alexis, natürlich ist das wichtig, das weißt du doch. Das Haus wurde …«

» … von unserem Urgroßvater erbaut, ja, ich weiß.« Seine Stimme klang ungeduldig. »Du hast also tatsächlich schon daran gedacht zu verkaufen?«

»Nicht richtig, aber ich schätze mal, ich kann es auf Dauer nicht halten«, gestand sie. »Es müsste von Grund auf renoviert werden, und dazu fehlen mir die Mittel.« Sie warf ihm einen raschen Blick zu. »Es sei denn, du würdest sie mir vorstrecken.«

Er sah sie erstaunt an. »Was ist das denn für eine Idee?«

»Gar keine – der Gedanke ist mir eben erst gekommen. Natürlich wird mir keine Bank der Welt das erforderliche Kapital für eine Renovierung leihen – so lange kann ich ja gar nicht leben, um die Schulden wieder abzutragen.«

Alexis fing an zu lachen. »Und ich soll das tun, was jede Bank ablehnen würde? Das kann nicht dein Ernst sein, Franzi.«

»Du bist mein Bruder, und dieses ist der Stammsitz unserer Familie.«

»Das stimmt, aber ich will mich dafür nicht ruinieren«, entgegnete er. »Außerdem ist mein Verhältnis zu diesem Haus ein ganz anderes als deins. Ich habe nur ein paar Jahre hier verbracht, und die meiste Zeit habe ich mir gewünscht, woanders zu sein. Ich war froh, als meine Mutter es geschafft hat, Papa zu einem Umzug zu überreden, das kannst du mir glauben.«

»Du würdest es also verkaufen«, stellte sie fest.

Er wollte spontan antworten, tat es aber nicht. »Keine Ahnung«, sagte er schließlich ausweichend. »Ist ja alles nur Gedankenspielerei. Aber interessiert bin ich, das meine ich ernst.«

Ihr Gespräch wurde von Elsbeth unterbrochen, die den Tee brachte. Alexis und sie siezten sich, er hatte irgendwann gesagt, er wolle von ihr nicht mehr geduzt werden, und er ließ auch nie einen Zweifel daran, wie unmöglich er es von seiner Halbschwester fand, dass sie sich »mit einer Angestellten« duzte. Franziska ging auf entsprechende Äußerungen gar nicht mehr ein.

Elsbeth verschwand gleich wieder im Haus, und kaum eine Viertelstunde später verabschiedete sich Alexis wieder. Er sprang erneut wieder über die geschlossene Tür des Cabrios, ließ den Motor an und fuhr mit Vollgas vom Hof.

»Er ist und bleibt ein Kindskopf, Elsbeth«, stellte Franziska fest, als Elsbeth wieder auftauchte und sich neben sie setzte.

»Was wollte er denn?«, fragte sie, ohne auf Franziskas Worte einzugehen.

»Er ist daran interessiert, das Gut zu kaufen, weil das Land wertvoll ist«, erklärte Franziska.

Elsbeth verschluckte sich und fing an zu husten. »Hat er das gesagt?«, krächzte sie.

»Ja, das hat er. Ich habe ihn gefragt, ob er mir nicht Geld für die Sanierung leihen will, aber den Gedanken schien er abwegig zu finden.«

»Kann ich mir vorstellen.«

»Ich habe ja nicht ernsthaft gefragt – die Idee schoss mir nur so durch den Kopf, und da habe ich sie einfach mal ausgesprochen.«

»Wirst du ihm das Gut verkaufen?«

»Im Augenblick will ich ans Verkaufen überhaupt noch nicht denken, Elsbeth. Aber wenn ich es wirklich tun muss, dann doch besser an Alexis als an einen Fremden, oder?«

Elsbeth blieb ihr die Antwort schuldig, doch das fiel Franziska nicht einmal auf. Die Sonne machte sie schläfrig, und sie wollte nicht mehr über schwierige Entscheidungen nachdenken. Ein bisschen Zeit, fand sie, konnte sie sich damit durchaus noch lassen.

*

»Ich kenne all meine neuen Nachbarn, nur Frau zu Randershausen noch nicht. Sie scheint ständig unterwegs zu sein«, erzählte Lucius Graf von Rethmann seinem Onkel Ulrich von Rethmann, der ihm an diesem sonnigen Frühlingstag einen Besuch abstattete. Lucius hatte ein charmantes altes Haus auf dem Land gekauft, mit einem weitläufigen Grundstück dazu. Er fühlte sich sehr wohl in der neuen Umgebung. Sein Onkel war an diesem Kauf nicht ganz unschuldig, denn er hatte das Haus ausfindig gemacht. Lucius, der mit Antiquitäten handelte, wollte das Haus gelegentlich auch benutzen, um besonders schöne alte Stücke einem ausgesuchten Publikum zu präsentieren, bevor er sie in seinem Geschäft zum Verkauf anbot.

Ulrich war der jüngste Bruder von Lucius’ Vater, einer, der »aus der Art geschlagen war«, wie die Familie das nannte. Aber Ulrich fühlte sich als schwarzes Schaf sehr wohl, er pfiff auf Konventionen und lebte sein Leben, wie es ihm gefiel. Schon früh hatte er die ganze Welt bereist und war schließlich, um viele Erfahrungen reicher, nach Deutschland zurückgekehrt. Er hatte sich selbst ein bescheidenes Haus gebaut auf einem Grundstück, das er geerbt hatte. Dort lebte er als Selbstversorger, veröffentlichte ab und zu einen Kriminalroman und war mit seinem Leben sehr zufrieden. Er hatte alles, was er brauchte – die Welt des Adels und der feinen Empfänge mied er. Nur selten tauchte er bei Familienfeiern auf, und bei diesen Gelegenheiten unterhielt er sich hauptsächlich mit Lucius. Die beiden Männer mochten einander, und Lucius sah nicht ein, warum er auf die Freundschaft zu diesem klugen und ungewöhnlichen Mann verzichten sollte.

»Das dürfte dir auch schwerfallen«, stellte Ulrich fest. »Sie lässt niemanden herein, seit sie wieder auf dem Gut wohnt.«

Es wunderte Lucius nicht, dass sein Onkel über solche Informationen verfügte: Er verkehrte zwar nicht mehr mit Leuten seines Standes, dafür aber mit zahlreichen Bauern und Handwerkern der Umgebung. Es gab niemanden, der besser informiert war als er. »Und warum nicht?«, fragte er.

»Weil ihr das Haus über dem Kopf zusammenfällt«, erklärte Ulrich gelassen. »Hast du die Geschichte etwa noch nicht gehört?«

»Nein«, erklärte Lucius. »Was für eine Geschichte denn?«

»Ihr Vater hat beinahe sein gesamtes Vermögen der zweiten Frau und dem Sohn aus zweiter Ehe vermacht – das Haus hatte er seiner Tochter schon vorher überschrieben. Jetzt sitzt sie da und weiß nicht, wie sie es halten soll. Sie wird über kurz oder lang verkaufen, darin sind sich alle einig.«

»Kennst du sie?«

»Nicht persönlich«, erklärte Ulrich. »Ich gestehe aber, dass ich mich für den Fall interessiere, obwohl sie eine Adelige ist – aber sie scheint zu den Ausnahmen zu gehören, so wie du und ich.«

»Du meinst, sie ist sympathisch, trotz ihres Standes?«

Ulrichs Augen blitzten, als er nickte. Er war schwarzhaarig wie Lucius, sie hatten auch die gleichen dunklen Augen. Aber anders als Lucius, der groß und schlank war, hatte sein Onkel eine breite, eher untersetzte Figur. Für einen Grafen hielt ihn niemand, der ihn zum ers­ten Mal sah – und er tat alles dafür, dass die Leute, mit denen er umging, möglichst spät oder sogar nie von seinem Titel erfuhren.

»Wie kommst du darauf, dass sie nett ist, Onkel Uli?«

»Ach, ich höre mich halt hier und da um«, erklärte der Ältere ausweichend. »Und ich muss sagen, die Geschichte beschäftigt mich. Man fragt sich doch, was der alte Randershausen sich dabei gedacht hat, seiner Tochter das Gut zu überschreiben, sie dann aber praktisch mittellos zu lassen.«

»Und wovon lebt sie?«

»Sie ist Grundschullehrerin – sehr beliebt bei den Kindern, sehr fleißig und gewissenhaft, wie man hört. Aber natürlich kann sie von ihrem Lehrerinnengehalt das Gutshaus nicht sanieren.«

»Lebt sie da ganz allein?«

»Mit ihrer Haushälterin, hörte ich.«

Lucius sah seinen Onkel neugierig an. »Bist du schon mal dort gewesen?«

»Als ich dich das letzte Mal besucht habe, habe ich mir das Haus mal aus der Ferne angesehen, mehr nicht.«

»Dann hilf mir, sie kennenzulernen!«, forderte Lucius. »Du hast mich richtig neugierig gemacht, Onkel Uli.«

»Sie werden vielleicht bald Hilfe brauchen, die beiden Damen«, erklärte Ulrich. »Hier bei euch gibt es doch diese Wildschweinrotte …«

»Allerdings!«, rief Lucius. »Wenn mein Grundstück nicht durch massive Mauern gesichert wäre, hätte ich auch schon Ärger gehabt, schätze ich.« Er brach ab. »Du meinst, die Wildschweine könnten sich auf den Gutshof verirren?«

»Möglich wäre es jedenfalls. Aber selbst die Bedrohung würde uns einen Grund liefern, dort vorzusprechen und zu fragen, ob wir ihnen helfen sollen, ihren defekten Zaun wieder dichtzumachen.«

»Du hast schon darüber nachgedacht, bevor ich das Gespräch darauf gebracht habe.«

Ulrich nickte. »Wie gesagt, ich interessiere mich für die Geschichte dieser seltsamen Erbschaft.«

»Was ist daran seltsam?«

Ulrich streifte seinen Neffen mit einem langen Blick. »Johannes zu Randershausen liebte das alte Gut. Er hat es deshalb seiner Tochter aus erster Ehe vermacht. Und dann gibt er ihr nicht die Mittel in die Hand, das Gut zu erhalten? Für mich

passt das nicht zusammen, Junge.«

»War er geschieden?«

»Nein, Witwer. Seine erste Frau ist schon vor langer Zeit gestorben, und wie man hört, war auch seine zweite Ehe glücklich.«

»Dann ist es doch verständlich, dass er seine zweite Frau und den Sohn absichern wollte – oder nicht?«

»Sicher. Aber er war ziemlich reich, Lucius. Er hätte ohne Probleme auch noch seine Tochter absichern können.«

»Und was willst du damit sagen, Onkel Uli?«

»Gar nichts. Ich habe dir nur erzählt, warum ich die Sache seltsam finde. Da ich nichts weiter weiß, kann ich noch keine Schlussfolgerungen ziehen.«

»Aber du hast doch einen Verdacht. Bitte, sag ihn mir!«

Doch Ulrich schüttelte den Kopf. »An Klatsch und Tratsch beteilige ich mich nicht. Aber wenn du deine Nachbarin kennenlernen willst, können wir beide ja in den nächs­ten Tagen mal unser Glück versuchen.«

Lucius willigte ein, und er machte keinen Versuch mehr, seinen Onkel zu weiteren Auskünften zu drängen. Das war aussichtslos und würde nur für Verstimmungen sorgen, die er ihnen beiden gern ersparen wollte.

So trennten sie sich eine Stunde später in bestem Einvernehmen und mit einer Verabredung für das kommende Wochenende.

*

»Herr zu Randerhausen ist da, Herr von Hoyningen.« Iris Aldekamp hatte die Stimme gesenkt, als sie ihrem Chef diese Ankündigung machte.

Der Notar Dr. Robert von Hoyningen zuckte kaum merklich zusammen, seiner Sekretärin entging diese Reaktion nicht. »Sagen Sie, ich bin in einer Besprechung, Frau Aldekamp.«

»Das habe ich schon, aber er …«

Die Tür wurde geöffnet und Alexis zu Randershausen erschien. »Besprechung, soso«, bemerkte er, während er seinen Blick im Zimmer umhergleiten ließ. »Lassen Sie uns allein, Frau Aldekamp, Ihr Chef hat jetzt nämlich eine Besprechung – mit mir!«

Iris Aldekamp warf dem Notar einen unsicheren Blick zu. Er nickte, und so zog sie sich zurück.

Alexis ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Was soll das?«, fragte er wütend. »Sie haben für mich jederzeit zu sprechen zu sein, und das wissen Sie auch.«

»Was wollen Sie noch, Herr zu Randershausen?«, fragte Robert von Hoyningen. Seine Stimme klang belegt, die Augen hinter der dicken Brille zuckten unruhig. Er war ein dicker kleiner Mann mit beginnender Glatze und weißer Haut. Ein Mann, den die meisten Frauen übersahen – bis sie erfuhren, wie erfolgreich im Beruf er war und wie viel er verdiente. Sobald sie im Besitz dieser Informationen waren, änderte sich ihr Verhalten ihm gegenüber schlagartig. Nur war bisher keine seiner »Beziehungen« von Dauer gewesen, obwohl ihn jede einzelne ein kleines Vermögen gekostet hatte.

»Sie wissen genau, was ich will – und Sie wissen auch, dass Sie es mir beschaffen werden«, erklärte Alexis unbekümmert. »Es hat schon einmal wunderbar geklappt, es wird auch beim zweiten Mal wunderbar klappen. Sie und ich werden noch viel reicher werden, und das ist es doch, was wir wollen, oder?«

Der Notar schluckte. »Mir reicht, was ich habe«, sagte er. »Und ich möchte es gern dabei belassen.«

Alexis’ Augen wurden schmal, als er sich vorbeugte und ihn fixierte. »Was soll das denn heißen?«, fragte er mit scharfer Stimme. »Los, sagen Sie es: Was soll das heißen?«

»Ich möchte mich an solchen … solchen Dingen nicht mehr beteiligen. Bitte, suchen Sie sich jemanden anders, Herr zu Randershausen.«

Alexis’ Hand schoss nach vorn und legte sich mit festem Griff auf den Arm des Notars. Seine schönen blauen Augen glitzerten gefährlich. »Ich denke gar nicht daran«, erklärte er. »Außerdem kann ich weitere Mitwisser nicht gebrauchen. Sie und ich, das reicht. Im Grunde genommen ist es schon einer zu viel, aber das lässt sich ja nun einmal nicht ändern. Also hören Sie auf, so einen Unsinn zu reden. Wir machen weiter – und zwar so lange, bis ICH genug habe. Was SIE wollen, spielt dabei leider keine Rolle. Haben wir uns verstanden?«

»Bitte, ich habe keine Nerven für …«

Alexis sprang auf und wischte dieses Argument weg, bevor es ganz ausgesprochen worden war. »Sie lernen das schon, mein Lieber. Das erste Mal ist immer am schwers­ten, aber wenn sich erst eine gewisse Routine einstellt …«

Im Nacken des Notars hatte sich Schweiß angesammelt, der ihm jetzt in den Kragen seines blütenweißen gestärkten Hemdes lief. »Mein Magen«, stammelte er, »ich habe einen nervösen Magen. Ich möchte das nicht mehr machen, es raubt mir die Ruhe. Schlafen kann ich auch nicht mehr.«

Alexis stellte sich direkt vor ihn, der Blick seiner schönen Augen war kalt, ebenso wie seine Stimme. »Tut mir leid«, sagte er, »aber aussteigen können Sie nicht. Ich lasse Sie sofort hochgehen, wenn Sie es versuchen, und das wissen Sie natürlich auch. Also hören Sie auf mit die­-sem Gezeter, ich finde es lächerlich. Reißen Sie sich zusammen. Ich bin ja kein Unmensch und verlange Unmögliches von Ihnen. Und Sie sind nun einmal ziemlich gut, ich vertraue Ihnen.«

Er betrachtete den kleinen dicken Mann, der zusammengesunken vor ihm saß und nicht aufblickte, mit kaum verhohlener Verachtung, bevor er sich abwandte und zum Fenster spazierte. »Also, können wir uns jetzt endlich über die Einzelheiten unserer nächsten Transaktion unterhalten? Ich habe nicht ewig Zeit.«

»In Ordnung«, erwiderte der Notar mit kaum vernehmbarer Stimme.

»Fein!« Alexis strahlte. »Also, dann hören Sie mir mal genau

zu …«

Als er eine halbe Stunde später die Kanzlei verließ, war er bester Laune, ließ aber einen am Boden zerstörten Robert von Hoyningen zurück.

Iris Aldekamp öffnete vorsichtig die Tür und stellte ihrem Chef einen Becher Kamillentee hin. Als er ihr dankte, sah sie, dass er Tränen

in den Augen hatte.

Erschrocken setzte sie sich zu ihm. »Was will er von Ihnen?«, fragte sie. »Bitte, sagen Sie mir die Wahrheit, Herr von Hoyningen. Ich spüre doch, dass da etwas nicht stimmt.«

Er zitterte am ganzen Körper, während er ihrer Aufforderung nachkam. Zwischendurch trank er in kleinen Schlucken seinen Kamillentee und wischte sich immer wieder mit dem Taschentuch über die schweißnasse Stirn. Als er seinen Bericht beendet hatte, blieb es lange still.

Endlich sagte Iris Aldekamp mit klarer Stimme: »Das dürfen Sie auf gar keinen Fall tun, Herr von Hoyningen!«

*

»Frau zu Randershausen ist soeben eingetroffen, Frau Baronin«, kündigte Eberhard Hagedorn, der langjährige Butler auf Schloss Sternberg an.

»Franziska?«, fragte Baronin Sofia von Kant erfreut, doch der Butler schüttelte den Kopf.

»Nein, Frau Baronin«, erklärte er mit ruhiger Stimme, »Nora zu Randershausen bittet darum, von Ihnen empfangen zu werden.«

»Oh!« Sofias Blick begegnete demjenigen des Butlers, der auch jetzt keine Miene verzog. »Bitte, führen Sie sie herein, Herr Hagedorn«, sagte sie nach kurzem Überlegen.

Er nickte und zog sich zurück. Der Baronin blieben noch einige Augenblicke, sich auf die Besucherin vorzubereiten. Ihr Mann, Baron Friedrich, war mit dem Verwalter unterwegs, wie sie wusste, es waren einige wichtige Entscheidungen zu fällen. Die Kinder waren in der Schule, sie würde sich also allein mit Nora unterhalten müssen.

Es war nicht so, dass sie Nora nicht mochte – aber als Freundinnen konnte man sie auch nicht bezeichnen. Friedrich und sie waren früher gut mit Noras Mann Johannes befreundet gewesen. Diese Freundschaft hatte selbstverständlich auch Franziska eingeschlossen, Johannes’ Tochter aus erster Ehe. Nora hatte dann dafür gesorgt, dass die Beziehung zu Johannes abkühlte, aus welchen Gründen auch immer. Nur Franziska hatte es immer wieder durchgesetzt, dass sie nach Sternberg fahren durfte. Seit sie erwachsen war, konnte es ihr ja ohnehin niemand mehr verbieten.

In den vergangenen Jahren waren sie Nora und Johannes gelegentlich auf Empfängen und Bällen begegnet, wobei Johannes durchaus den Eindruck gemacht hatte, dass ihm daran lag, seine Freundschaft zu den Sternbergern wieder aufleben zu lassen. Doch dazu war es nicht mehr gekommen, sein Herzinfarkt hatte allen eventuellen Überlegungen in dieser Richtung ein Ende bereitet.

Und nun kam Nora also zu Besuch – unangemeldet. Das war eine große Überraschung.

»Frau zu Randershausen, Frau Baronin«, hörte sie Eberhard Hagedorn sagen. Eine sehr elegant gekleidete Blondine mit schönen blauen Augen kam auf sie zu. Nora war einige Jahre älter als Sofia, was man ihr aber nicht ansah. Sie muss­te sich den Fünfzig nähern, wirkte aber gut und gern zehn Jahre jünger.

»Willkommen auf Sternberg, Nora«, begrüßte Sofia ihre Besucherin. »Trinkst du einen Tee mit mir?«

»Lieber Kaffee«, erwiderte No­ra, »wenn das keine allzu unverschämte Bitte ist.«

»Aber natürlich nicht.«

Eberhard Hagedorn zog sich bereits zurück, bevor Sofia ihm auch nur einen Blick zuwerfen konnte, um das Gewünschte zu holen.

»Bitte, nimm Platz, Nora.«

Graziös ließ sich Nora zu Randershausen auf einen Stuhl sinken, schlug die schlanken langen Beine übereinander und lehnte sich zurück. »Ihr habt es wirklich schön hier!«, sagte sie.

»Ja, und wir wissen es zu schätzen.« Sofia ließ es bei diesem Satz bewenden. Nora war nicht gekommen, um ihr Komplimente zu machen, das wusste sie. Aber weshalb dann?

Doch Nora war offenbar nicht gewillt, sofort zum Kern ihres Anliegens zu kommen. »Wie geht es Christian?«, fragte sie. »Mit fünfzehn die Eltern zu verlieren, muss furchtbar sein. Er kann von Glück sagen, dass er euch hat.«

Sofia biss sich auf die Lippen. Sie verspürte wenig Lust, mit Nora über die Tragödie zu sprechen, die Sternberg vor mehreren Monaten heimgesucht hatte: Bei einem Hubschrauberunglück war das Fürstenpaar von Sternberg tödlich verunglückt. Prinz Christian von Sternberg, der einzige Sohn des Paares und zukünftige Fürst, war damit Vollwaise geworden. Fürstin Elisabeth war Sofias Schwester gewesen, Christian also ihr Neffe. Da sie mit ihrer Familie ebenfalls schon lange auf Sternberg lebte, zogen sie den Jungen nun gemeinsam mit ihren beiden eigenen Kindern Anna und Konrad auf.

»Er ist tapfer«, sagte sie mit erzwungener Ruhe, »und natürlich ist er reifer als viele andere seines Alters. Aber er geht gut mit seiner Trauer um – und er besucht seine Eltern jeden Tag auf dem Familienfriedhof.«

»Und für dich?«, fragte Nora. »Die Fürstin war deine Schwester, ihr habt euch sehr nahegestanden.«

Sofia konnte nicht verhindern, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten.

Sie wollte nicht mit Nora zu Randershausen über Lisa sprechen, ihre Schwester, die zugleich ihre beste Freundin gewesen war – dazu kannte sie Nora nicht gut genug.

»Entschuldige«, bat Nora, »ich wollte keine Wunden aufreißen, Sofia. Aber natürlich hat mich dieses entsetzliche Unglück ebenso beschäftigt wie alle anderen.«

»Sie fehlt mir«, sagte Sofia. »Sie fehlt mir jeden Tag, Nora.« Sie schaffte es, die Tränen hinunterzuschlucken.

»Heißt Christian noch der kleine Fürst?«, fragte Nora.

»Oh ja, und dieser Name wird ihm sicherlich auch bleiben, bis er volljährig ist.«

Daraufhin verstummte Nora erneut, bis sie sich straffte und endlich zum Zweck ihres Besuchs kam. »Du fragst dich natürlich, warum ich so plötzlich hier aufkreuze, nachdem wir ja in den letzten Jahren nur wenig Kontakt zueinander hatten.«

Wenig Kontakt, dachte Sofia. Gar keinen hätte es besser heißen müssen, und das hat nicht an uns gelegen. Sie lächelte höflich und erwiderte nichts. Warum sollte sie es Nora leichtmachen?

Die elegante Blondine zeigte ers­te Anzeichen von Nervosität. Offenbar hatte sie angenommen, die Baronin werde ihr entgegenkommen, nun musste sie erkennen, dass das nicht der Fall war.

»Also …«, setzte Nora wieder an, doch sie erhielt noch einen kleinen Aufschub, denn Eberhard Hagedorn erschien mit dem Kaffee und einigen Stücken des exquisiten Gebäcks, das die junge Sternberger Köchin Marie-Luise Falkner erst an diesem Vormittag hergestellt hatte. »Haben Sie sonst noch Wünsche, Frau Baronin?«, fragte er.

»Nora?«, erkundigte sich die Baronin.

»Nein, nein, vielen Dank«, antwortete Nora. »Ich muss auf meine Figur achten, und dieses Gebäck sieht ohnehin schon viel zu verführerisch aus …«

Der Butler zog sich zurück, und danach blieb es erst einmal still, denn Nora ließ ein paar Körnchen Zucker in ihren Kaffee rieseln und rührte dann so andächtig um, als gäbe es nichts Wichtigeres zu tun.

Sofia nippte an ihrem Tee und wartete weiter.

Endlich sah Nora auf und sagte feierlich: »Es geht um Alexis, Sofia.«

Aha, dachte die Baronin, damit wären wir immerhin einen Schritt weiter. »Um Alexis?«, wiederholte sie. Sie hatte keine Ahnung, worauf Nora hinauswollte. Franziskas Halbbruder kannten sie praktisch nicht. Zwar war er ihnen bei einer Gelegenheit, an die sie sich nicht einmal mehr erinnerte, vorgestellt worden, aber mehr als ein paar höflich-nichtssagende Worte hatten sie noch nie mit ihm gewechselt. Sie wussten aber von Franziska, dass sie sich sowohl mit Alexis als auch mit Nora recht gut verstand. »Es ist nicht die ganz große Liebe«, hatte sie einmal freimütig gesagt, »aber ganz bestimmt ist Nora für mich nicht die böse Stiefmutter. Und Alexis kann eine Pest sein, aber das sind wahrscheinlich alle jüngeren Brüder. Dass er Nora nähersteht als ich, finde ich selbstverständlich, er ist immerhin ihr Sohn.«

»Ich habe einen Fehler gemacht, dass ich eure Freundschaft mit Jo … nun ja, dass ich sie nicht unterstützt habe«, fuhr Nora fort. »Aber weißt du, Sofia, ihr kanntet seine erste Frau, und ich wollte nicht ständig mit Leuten zu tun haben, die mich mit ihr vergleichen. Davor hatte ich damals Angst. Heute weiß ich, dass das dumm war. Aber wenn man jung ist …«

Du hättest diesen Fehler aber längst korrigieren können, dachte Sofia, sagte jedoch auch das nicht laut, denn noch immer fragte sie sich, warum Nora gekommen war.

»Du sagtest, es ginge um Alexis«, erinnerte sie ihre Besucherin.

»Ja. Er leidet unter meinem Fehler«, erklärte Nora. »Er hat mir neulich gesagt, wie schade er es findet, dass ich ihm die Bekanntschaft mit euch praktisch verbaut habe.«

»Das verstehe ich nicht, Nora.« Sofia schüttelte den Kopf. »Er wäre uns jederzeit willkommen gewesen – er hätte doch nur Franzi einmal begleiten müssen, sie besucht uns immerhin regelmäßig, wie du sicher weißt.«

Nora strahlte sie an. »Ich hatte so sehr gehofft, dass du das sagen würdest, Sofia, aber Alexis wollte sicher sein, dass ihr nichts gegen ihn habt, nur weil ich damals dafür gesorgt habe, dass eure Freundschaft zu Johannes … nun ja, einschläft.«

»Dafür kann Alexis ja nichts«, bemerkte die Baronin freundlich. Sie hatte das Gefühl, dass Nora noch immer nicht alles gesagt hatte, was ihr auf der Seele lag.

Sie irrte sich nicht, aber sie muss­te noch eine Viertelstunde warten, bis Nora es endlich zur Sprache brachte.

»Ich hörte, dass ihr gelegentlich Gäste zu einem festlichen Abendessen einladet, Sofia …«

»Das stimmt«, lächelte die Baronin. Sie kam sich ein wenig schäbig vor, dass sie Nora zappeln ließ, obwohl sie jetzt endlich wusste, wo­rauf diese hinaus wollte.

Das Lächeln ihrer Besucherin wurde ein wenig starr, es fiel ihr sichtlich schwer, die Bitte auszusprechen, wegen der sie hergekommen war. »Ich wäre euch sehr dankbar, wenn in nächster Zeit auch Alexis einmal unter den Gäs­ten sein dürfte«, sagte sie.

»Gern«, erwiderte Sofia vollkommen ruhig, »allerdings planen wir in nächster Zeit keine solche Einladung, aber sollten wir darüber nachdenken, ist uns Alexis herzlich willkommen, Nora. Wir haben ja nicht geahnt, dass er daran Interesse hat, sonst hätten wir ihn sicher schon einmal eingeladen.«

Nora entspannte sich wieder. Sie war sichtlich erleichtert, ihr Anliegen vorgebracht zu haben – und auch darüber, dass es freundlich aufgenommen worden war.

Sofia beobachtete sie unauffällig. Warum war Alexis mit einem Mal an Kontakten nach Sternberg interessiert?

Sie fand keine Antwort auf diese Frage. Als Nora sich wenig später wieder verabschiedete, machte sich Sofia auf die Suche nach ihrem Mann, um ihm von diesem Besuch zu berichten.

Baron Friedrich war nicht weniger verwundert als sie selbst. »Alexis von Randershausen?«, rief er aus. »Aber was will er denn hier? Er kennt uns kaum, und soviel ich weiß, verkehrt er sonst mit Leuten, die uns nicht unbedingt nahestehen.«

»Schade, ich dachte, du könntest mir das erklären«, seufzte Sofia. »Ich habe jedenfalls nicht die geringste Ahnung, was er von uns will, Fritz.«

»Es wird sich schon herausstellen«, meinte der Baron. »Komm mit, ich will dir unsere neue Stute zeigen.«

Sie folgte ihm gern, und der Anblick des herrlichen Tiers, das ihr Mann auf der letzten Auktion erworben hatte, verdrängte Nora und ihren Sohn vollständig aus ihren Gedanken.

Abends beim Essen erwähnte sie Noras Besuch dann aber den Kindern gegenüber und wurde besonders von Anna und Christian sofort mit Fragen überschüttet. »Wieso war sie denn hier, Mama?«, wollte Anna wissen.

»Na ja, es scheint, als wollte sie die Entfremdung rückgängig machen zwischen uns und ihrer Familie.«

»Mit Franziska sind wir gut befreundet«, warf Christian ein. »Da ist überhaupt keine Entfremdung.«

»Das stimmt, aber zu ihr und ihrem Sohn besteht ja praktisch überhaupt keine Beziehung mehr, und das wollte sie offenbar gern ändern.«

»Wir kennen Alexis überhaupt nicht«, stellte der sechzehnjährige Konrad fest, der dem Gespräch bis dahin schweigend gefolgt war.

»Dann lernt ihr ihn eben bei nächster Gelegenheit kennen«, erklärte die Baronin. »Er ist immerhin Johannes’ Sohn, und Johannes haben wir ja sehr geschätzt.«

»Aber wieso …«, begann Anna von Neuem, doch dieses Mal unterbrach der Baron seine Tochter.

»Anna, keine weiteren Fragen, die wir nicht beantworten können«, bat er. »Nora war hier, sie hat praktisch eine freundschaftliche Annäherung angeboten, wir werden darauf eingehen – Ende. Mehr gibt es nicht zu sagen.«

Die Baronin bemerkte den langen Blick, den Anna und Christian tauschten. Sie unterdrückte einen Seufzer. Die beiden witterten also wieder einmal ein Geheimnis, das es aufzuklären galt.

Und vielleicht hatten sie ja sogar Recht damit …

*

»Wildschweine, Franzi!«, rief Elsbeth und rüttelte Franziska heftig an der Schulter. »Wir müssen sie irgendwie abdrängen, sie sind schon hinten im Garten. Wenn die über die morsche alte Terrasse trampeln, ist sie völlig hinüber.«