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Chefarzt Dr. Norden
– Box 1 –

E-Book 1111-1115

Patricia Vandenberg

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-420-8

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Dr. Daniel Norden, Klinikchef

Ein neuer Wirkungskreis für einen begnadeten Arzt

Roman von Vandenberg, Patricia

»Aufstehen!« Tatjana Bohde stand neben dem Bett und blickte auf ihren Freund hinab. Schon vor einer Stunde hatte ihr alter blecherner Wecker geklingelt, der imstande war, sogar Tote aufzuwecken. Doch Dr. Danny Norden schlief immer noch tief und fest. »Heute ist dein großer Tag!«

Danny kroch tiefer unter die Decke. Er sah die Dinge völlig anders als Tatjana und kniff die Augenlider fest zu.

»Wendy ist bestimmt schon in der Praxis. Sie lüftet die Zimmer, gießt die Blumen und ordnet die Zeitschriften im Wartezimmer, während du, ihr Chef, noch faul im Bett herumliegst.«

Er ließ ein demonstratives Schnarchen verlauten, um Tiefschlaf vorzutäuschen. Tatjana sollte nur nicht denken, dass ihr perfider Plan – ihn mit einem schlechten Gewissen aus dem Bett zu treiben – aufgehen würde.

»Wenn sie damit fertig ist, geht sie in die Küche und setzt Kaffee auf«, fuhr Tatjana unbeeindruckt fort. »Auf dem Tresen steht ein großer Blumenstrauß. Alles soll perfekt sein an diesem denkwürdigen Tag.«

Am liebsten hätte sich Danny ganz unter die Bettdecke verkrochen. Aber er durfte sich nicht bewegen. Schon die kleinste Bewegung hätte ihn verraten. Tatjanas untrügliches Gespür für ihre Umwelt war legendär und manchmal sogar unheimlich.

Doch es war zu spät. Dannys unregelmäßige Atemzüge hatten ihn verraten. Tatjana holte zum ultimativen Schlag aus.

»Janine bereitet inzwischen die Überraschung vor, die wir uns für dich ausgedacht haben.«

In diesem Moment konnte Danny nicht länger an sich halten.

»Überraschung?« Er setzte sich kerzengerade im Bett auf und starrte Tatjana an. »Sag bloß, du hast deine sagenumwobene Prinzregententorte für mich gebacken?« Allein beim Gedanken an diese Köstlichkeit, die nur zu ganz besonderen Anlässen auf den Tisch kam, lief ihm das Wasser im Mund zusammen.

»Ach, sieh mal einer an.« Sie lächelte maliziös auf ihn hinab. »Du bist ja doch wach!«

»Gerade erst aufgewacht«, versprach Danny und hob die Hand zum Schwur, nicht ohne die Zehen zu überkreuzen.

»Überleg dir gut, was du tust!« Mit einem Ruck zog Tatjana die Bettdecke weg. Streng deutete sie auf seine Zehen. »Du bist gerade dabei, deine Überraschung zu verspielen.«

»O bitte, Jana, es ist so früh.« Verzweifelt flehte Danny um Gnade. »Da kann noch kein vernünftiger Mensch solche Diskussionen führen.«

Er stopfte sich das Kissen in den Rücken und lehnte sich zurück. »Warum hast du mich überhaupt schon aufgeweckt?«

»Weil das vermutlich das letzte Mal in unserer Beziehung ist, dass wir gemeinsam frühstücken werden.«

Danny fiel von einem Schrecken in den nächsten.

»Verlässt du mich? Schon wieder? Was habe ich denn diesmal getan?«, stellte er panisch eine Frage nach der anderen.

»Du bist ab heute alleiniger Chef der Praxis Dr. Norden. Realistisch, wie ich bin, weiß ich, dass deine Zeit in Zukunft knapp bemessen sein wird.« Mit verschränkten Armen stand sie vor dem Bett und sah zu ihm hinunter. »Deshalb wollte ich noch einmal die Ruhe mit dir genießen. Komm!« Sie wollte sich umdrehen, als sie fühlte, wie sie an der Hand gepackt wurde. Wenige Augenblicke später fand sie sich rücklings auf der Matratze wieder. Danny kniete über ihr und funkelte sie belustigt an.

»Realistisch, wie du bist, hättest du wissen müssen, dass ich deinen Plan vereiteln werde.« Er beugte sich über sie und küsste sie, dass ihr Widerstand schmolz wie Schnee in der Sonne. Als er sich von Tatjana gelöst hatte, betrachtete er sie nachdenklich. »Du machst dir doch nicht wirklich Sorgen?«, stellte er die naheliegende Frage.

Das übermütige Blitzen in Tatjanas Augen verschwand.

»Ehrlich gesagt schon ein bisschen.« Sie versetzte Danny einen Schubs und rollte sich zur Seite.

»Aber das musst du nicht. Dad ist doch schon seit ein paar Wochen nicht mehr in der Praxis. Hat sich deshalb etwas an meinen Arbeitszeiten geändert?«

»Bis jetzt nicht«, räumte Tatjana ein. »Aber erstens war es eine ruhige Zeit. Und zweitens ist er immer in die Praxis gekommen, um dich zu unterstützen, wenn Not am Mann war. Das wird in Zukunft nicht mehr möglich sein.«

Danny unterdrückte ein Seufzen. Auf keinen Fall sollte Tatjana denken, dass er sie nicht ernst nahm.

»Du darfst nicht vergessen, dass ich immer mehr Routine bekomme. Und außerdem: Schau dir Mum und Dad an. Jahrelang war mein Vater der einzige Arzt in der Praxis. Und trotzdem ist es ihnen gelungen, ihre Beziehung zu pflegen.«

»Aber deine Mutter hat viele Jahre nicht gearbeitet. Ich dagegen habe einen Job mit unmöglichen Arbeitszeiten.«

»Und meine Mutter hatte fünf Kinder mit unmöglichen Schlafgewohnheiten«, konterte Danny und streckte die Hand aus, um Tatjana über die Wange zu streicheln.

In einem Anfall von Zärtlichkeit hielt sie sie fest und küsste sie, nur um sie im nächsten Moment fallen zu lassen wie eine heiße Kartoffel.

»Was machst du da mit mir, Danny Norden junior?«, fragte sie in gespielter Empörung und stand endgültig auf. »Ich bin viel zu nett. So hält man auf Dauer keinen Mann.«

»Mann nicht. Du schon«, witzelte er und rollte sich aus dem Bett. »Komm, lass uns frühstücken. Wenn du depressiv wirst, ist meist der Hunger daran schuld.« Gut gelaunt nahm er sie an der Hand und zog sie mit sich in die Küche, wo sie schon ein fürstliches Frühstück vorbereitet hatte. Auch wenn sie kein zärtlicher Mensch war, bewies sie Danny mit diesen Gesten immer wieder, wie wichtig er ihr war. Wie unerschütterlich sie zu ihm stand und an ihn glaubte. Niemals würde er sie enttäuschen. Auch nicht als alleiniger Chef der Praxis Dr. Norden. Und falls es doch einmal zu Problemen kommen sollte, wusste er, an wen er sich wenden konnte. Solange Danny denken konnte, waren ihm seine Eltern als leuchtendes Beispiel vorangegangen, und er wollte nichts weniger, als in ihre Fußstapfen zu treten.

»Aber über die Anzahl der Kinder müssen wir uns noch unterhalten«, unterbrach Tatjana seinen Gedankengang.

Danny stutzte einen Moment.

»Kannst du Gedanken lesen?« Da war sie wieder, ihre unheimliche Sensibilität.

»Hab ich von deiner Mum gelernt.« Sie zwinkerte ihm zu. Gleichzeitig griff sie nach einem Croissant, bestrich es mit Butter und schob es ihm in den Mund.

*

»Halt, warte! So kannst du unmöglich in die Klinik gehen!« Als Daniel Norden Anstalten machte, das Esszimmer zu verlassen, sprang seine Frau Felicitas vom Stuhl auf und lief ihm nach.

Sie erwischte ihn an der Hand und drehte ihn zu sich herum. »Was hast du denn mit der Krawatte angestellt?« Kopfschüttelnd nestelte sie am Knoten und schob ihn zurecht.

»Schlimm genug, dass ich überhaupt so ein Ding tragen muss.« Dr. Norden versteckte seine Nervosität hinter einer gehörigen Portion Unwillen. »Dabei bin ich nur deshalb Arzt geworden, damit ich keine Krawatte tragen muss.«

»Pech gehabt, mein Lieber. Daran wirst du dich als Direktor einer Klinik gewöhnen müssen.« Fee schob ihn ein Stück von sich und betrachtete zufrieden ihr Werk.

»Wieso? Jenny hat doch auch keine getragen«, witzelte er.

Spontan stellte sich Felicitas auf die Zehenspitzen und küsste ihren Mann.

»Keine Angst, mein Schatz. Das heute ist doch nur noch eine Formalität. Faktisch bist du doch schon seit Wochen Chef der Behnisch-Klinik.«

»Trotzdem ist es etwas anderes. Du als Psychologin müsstest das doch eigentlich wissen.«

»Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Und das nur halb«, korrigierte sie ihn. »Wartest du auf mich? Dann fahre ich gleich mit dir mit.«

»Wolltest du nicht unterwegs noch bei Tatjana vorbei schauen? Dafür habe ich keine Zeit.«

»Nicht nötig. Sie unterstützt Lenni heute im Klinikkiosk und bringt mir die Sachen gleich mit.«

»Welche Sachen?« Daniel betrachtete seine Frau mit schief gelegtem Kopf.

»Seit wann bist du so neugierieg? Das war doch bisher keine deiner hervorstechenden Eigenschaften.«

Er zwinkerte ihr zu.

»Schön, dass ich dich immer noch überraschen kann.«

»Auch das ist ein Grund, warum ich dich so liebe.« Fees zärtlicher Blick ruhte auf ihrem Mann, ehe er sie sehr unromantisch daran erinnerte, dass es höchste Zeit wurde, sich endlich auf den Weg zu machen.

»Schließlich will ich nicht gleich an meinem ersten Tag zu spät kommen.« Er schlüpfte in den Mantel, griff nach den Autoschlüsseln und trat hinaus in den noch jungen Morgen. Vor der Tür blieb er stehen und atmete tief ein. Die Luft war frisch und kühl. Die Eiseskälte der vergangenen Wochen hatte den Widerstand endlich aufgegeben und sich in höhere Lagen verzogen. Fröhlich zwitschernd begrüßten die Vögel die Ahnung von Frühling. War der Himmel an den vergangenen Tagen noch trüb und grau gewesen, war er an diesem Morgen klar und wolkenlos.

»Sieh mal einer an. Hast du Petrus bestochen?«, fragte Fee, als sie neben ihrem Mann nach draußen trat. Aus Gewohnheit hatte sie die Mütze tief ins Gesicht ziehen wollen. Beim Anblick des herrlichen Wetters beschloss sie aber, sie zu Hause zu lassen.

»Bestechung ist ein Fremdwort für mich«, brummte Daniel unwillig. Seine Verstimmung lag beileibe nicht an dem neuen Posten, den er an diesem Tag hochoffiziell übernehmen sollte. Es ging vielmehr um seinen Unwillen, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Dabei hatte die Chefin Jenny Behnisch auf eine große Übergabezeremonie verzichtet. Eine kleine Veranstaltung war auch ganz in ihrem Sinne.

Auch wenn er es nicht laut aussprach, wusste Felicitas um seine Gedanken.

»Sag bloß, du gönnst den Kollegen den Sekt nicht«, scherzte sie gut gelaunt. Sie sah der Zukunft optimistisch entgegen und freute sich auf die Zusammenarbeit mit ihrem Mann.

»Nur einem nicht«, erwiderte Daniel auf dem Weg zum Wagen. »Aber diese Missgunst beruht auf Gegenseitigkeit.« Er ließ die Schlösser des Wagens aufschnappen und hielt seiner Frau die Tür auf.

Fee dankte ihm mit einem Lächeln und nahm auf dem Beifahrersitz Platz.

»Kein Wunder. Schließlich hast du Lammers‘ ehrgeizige Pläne durchkreuzt«, bemerkte sie und schnallte sich an.

Daniel startete den Motor, legte den Rückwärtsgang ein und lenkte den Wagen aus dem Carport.

»Ich dachte, er hat es auf deinen Posten abgesehen.«

»Das ist sein Nahziel. Aber wenn sich die Chance geboten hätte, hätte er bestimmt auch nicht nein zur Klinikleitung gesagt«, unkte Fee.

Sie wusste nicht, dass Volker Lammers seine Fühler tatsächlich ausgestreckt, sie aber schnell beleidigt wieder eingezogen hatte, als Jenny Behnischs Entscheidung die Runde in der Klinik machte.

»Damit könntest du durchaus recht haben.«

Dr. Norden ahnte schon jetzt, dass ihm keine leichten Zeiten bevorstanden.

Nichtsdestoweniger überwog inzwischen die Freude über die neue Herausforderung. Er war sich der Ehre wohl bewusst, die seine langjährige Freundin Jenny Behnisch ihm zuteil werden ließ. Nicht viele Menschen in seinem Alter bekamen die Chance, noch einmal beruflich derart durchzustarten. Diese Gedanken beschäftigten ihn, bis er den Wagen auf dem Klinikparkplatz abstellte.

»Wir sehen uns später bei Jennys Feier«, raunte Fee ihm zu, als sie gemeinsam durch die Türen der Behnisch-Klinik traten.

Wie immer herrschte dort lebhaftes Treiben. Angehörige und Patienten bevölkerten die Lobby ebenso wie Schwestern, Pfleger und Ärzte. Daniel Norden war dankbar dafür, dass niemand von ihm Notiz nahm, als er durch die Lobby dem Aufzug entgegenstrebte. Oben angekommen, schlug er wie in den vergangenen Wochen auch den Weg Richtung Jennys Büro ein.

Nach einem Magengeschwür und einer schicksalhaften Operation, die sie um ein Haar das Leben gekostet hatte, war die Klinikchefin eine andere geworden. Zur großen Überraschung ihrer Freunde hatte sie die langjährige Bitte ihres Lebensgefährten endlich erhört und Daniel die Klinikleitung angeboten. Trotz der Ehre hatte er sich die Entscheidung nicht leicht gemacht. Zu groß war seine Sorge, in einen ähnlichen Sog zu geraten wie Jenny viele Jahre lang. Erst die Versicherung seiner Familie, das nicht zuzulassen, hatte ihn endlich überzeugt.

»Ich tue das Richtige!«, sprach er sich selbst Mut zu, als er vor der Tür zum Vorzimmer stand. Er gab sich einen Ruck, klopfte an und trat ein. »Einen wunderschönen guten Morgen, Andrea«, begrüßte er die Assistentin, die schon an ihrem Platz saß.

»Das können Sie laut sagen. Sie haben herrliches Wetter mitgebracht«, erwiderte Andrea Sander seinen Gruß gut gelaunt. »Wenn das kein gutes Zeichen ist …« Sie zwinkerte ihm zu und deutete auf die angelehnte Tür, aus der leises Summen klang. Ein verstörend fremdes Geräusch aus Jenny Behnischs Büro. »Gehen Sie nur rein. Sie werden erwartet.«

»Danke!« Er nickte ihr zu, zögerte einen winzigen Augenblick und schob die Tür auf.

Jenny war gerade dabei, ihr persönliches Hab und gut aus Regalen und Schränken in einen Umzugskarton zu packen. Einen Bildband in den Händen – das Geschenk eines angesehenen Kollegen – drehte sie sich zu ihm um.

»Ach, Daniel, da bist du ja! Schön, dich zu sehen.« Sie begrüßte ihn mit einem Küsschen rechts und links auf die Wange, um sich gleich darauf wieder über den Karton zu beugen. »Jetzt wird es ernst.« Sie legte das Buch in die Kiste und blickte einen Moment lang versonnen hinein. So einfach war es also, die Vergangenheit verschwinden zu lassen!

Daniels Räuspern riss sie aus ihren Gedanken.

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass wir die Feierlichkeiten so klein halten.« Ähnlich Daniel Norden war sie nie eine Freundin großer Reden gewesen.

»Du sprichst mir aus der Seele.« Er machte einen Schritt auf sie zu und musterte das Gesicht der Frau, die er schon so lange kannte. Dies war der richtige Moment, um ihr das zu sagen, was ihm schon eine Weile auf dem Herzen lag. »Trotzdem will ich nicht darauf verzichten, dir zu sagen, dass es mir ein Anliegen und eine Ehre ist, deine Klinik in deinem und Dieters Sinne weiterzuführen.« Während er sprach, füllten sich seine Augen mit lange zurückliegenden Erinnerungen. Seit Jenny ihm die Leitung angeboten hatte, musste er so oft wie lange nicht an seinen Studienkollegen Dieter Behnisch denken. Lustige Zeiten waren das gewesen, bevor der Ernst des Lebens sie gefangen genommen hatte. Doch auch danach hatten sich die Freunde nicht aus den Augen verloren. Daniel erinnerte sich noch genau an seine erste Begegnung mit der spröden, unnahbaren Ärztin Dr. Jenny Behnisch, die einige Zeit in einem Entwicklungsland in Afrika gearbeitet hatte. Bis zum Tod ihres Mannes hatte sie in der Klinik mitgearbeitet und danach die Leitung übernommen. Inzwischen war die kleine Privatklinik nicht wiederzuerkennen. »Dieter wäre wahnsinnig stolz gewesen auf dich. Auch wenn der sture Esel das niemals gezeigt hätte.« Daniel lächelte mit einer Mischung aus Schmerz und dankbarer Erinnerung.

»Ich bin dir wirklich zutiefst verbunden, dass du meine Standhaftigkeit nicht vor Publikum auf die Probe gestellt hast.« Daniel konnte sich nicht daran erinnern, Jenny je weinen gesehen zu haben. An diesem Morgen aber wischte sie sich tatsächlich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Doch der schwache Moment verging schnell, und als sie sich wieder umdrehte, war alles wie immer. »Das hier ist ab heute dein Reich.« Mit einem letzten prüfenden Blick klappte sie den Karton zu.

Auf dieses Stichwort schien Andrea Sander nur gewartet zu haben.

»Ich hätte da schon ein kleines Geschenk für Sie!« Sie trat durch die offene Tür und reichte Dr. Norden ein kleines Paket.

Sichtlich verlegen nahm Daniel es entgegen.

»Aber ich habe doch nicht Geburtstag heute.«

»Sie werden es trotzdem schätzen. Nachdem wir keinen Hausmeister haben …« Der Rest des Satzes schwebte unausgesprochen in der Luft.

Während Daniel das Papier aufriss, tauschten Jenny und Andrea wissende Blicke.

»Ein Zollstock? Wofür das denn?«

»Sie wollen doch sicherlich ihre eigene Einrichtung haben. Da leistet so ein Meterstab ganz gute Dienste«, erwiderte Andrea augenzwinkernd.

Dr. Norden lachte dankbar.

»Das Wichtigste ist, dass Sie in dieses Büro passen. Und das haben Sie ja schon oft genug bewiesen.«

Andrea Sander konnte kaum glauben, was sie da hörte.

»Oh, Chef! Das ist das schönste Kompliment, das ich seit Jahren bekommen habe.«

»Dann wurde es aber höchste Zeit«, erwiderte Daniel, als Jenny in die Hände klatschte.

»Genug Gefühlsduselei für heute.« Plötzlich war ihre Stimme so resolut wie eh und je. »Daniel, auf dem Schreibtisch liegt eine Unterschriftenmappe. Und wenn ich mich nicht irre, ist dein Terminkalender brechend voll.« Ehe er etwas darauf erwidern konnte, wandte sie sich an ihre Assistentin. »Und Sie besorgen mir bitte einen starken Mann, der diese Kartons in meinen Wagen bringt.«

»Natürlich, Chefin.« Sofort verschwand Andrea Sander aus dem Zimmer und hinter ihrem Schreibtisch.

Jenny lächelte zufrieden.

»Es wird mir fehlen, dass alle nach meiner Pfeife tanzen«, sagte sie zu Daniel, der inzwischen am Schreibtisch saß und in der Mappe blätterte.

»Dafür kenne ich einen, der sich schon auf die Zähmung der Widerspenstigen freut«, unkte er und konnte sich ein kleines, freches Lachen nicht verkneifen.

*

Tatjanas Prophezeiung sollte nicht in Erfüllung gehen. Danny Norden hatte die Praxis kaum betreten und die obligatorische Tüte Brötchen und Gebäck auf den Tresen gelegt, als ihn der Alltag auch schon gefangen nahm. Eine junge Patientin betrat kurz nach ihm die Praxis. Die Assistentin Janine, die schon mit einem Blumenstrauß in der Tür zur kleinen Küche stand, zog sich wieder zurück. Wendy stellte die Torte wieder in den Kühlschrank.

»Guten Morgen, Frau Staller«, begrüßte Danny seine Patientin überrascht. Wegen eines Bandscheibenvorfalls war sie bereits mehrfach in der Praxis gewesen. Da er ihr mit konventionellen Schmerzmitteln, Krankengymnastik und verschiedenen Therapiearten nicht helfen konnte, hatte er sie zu einem Facharzt überwiesen. »Konnte Ihnen der Kollege Wagenknecht nicht helfen?« Er war sichtlich überrascht, sie so unvermutet wieder vor sich zu sehen. Rasch tauschte er die Jacke gegen einen frischen Kittel.

»Dieser Arzt ist unsympathisch und arrogant«, beschwerte sich Sarina mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Deshalb habe ich die Bilder verlangt und bin wieder gegangen.«

»Oh, das tut mir leid.« Danny kannte solche Fälle. »Die Geschmäcker sind leider verschieden. Viele unserer … meiner Patienten sind begeistert von Dr. Wagenknecht.«

»Zu denen gehöre ich definitiv nicht«, stöhnte Sarina. Ihre Stimme verriet, dass sie den Tränen nahe war. »Bitte, Herr Dr. Norden, Sie müssen mir helfen.« Sie reichte ihm die Hülle mit der CD.

Danny dachte nicht lange nach. Er gab Wendy ein Zeichen, ehe er Sarina unter dem Ellbogen fasste und in sein Behandlungszimmer brachte.

»Können Sie sich setzen?« Er deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Oder ist liegen besser?«

»Liegen.«

»Gut. Dann gehen wir hinüber ins Behandlungszimmer. Da steht eine Liege.« Er half ihr hinüber und bettete sie so bequem wie möglich. Dass es trotzdem noch nicht gut war, verriet ihr Gesicht.

»Dann wollen wir mal sehen, was der Kollege da Hübsches aufgenommen hat.« Er setzte sich an den kleinen Tisch und schob die CD in den Computer. Ein paar Augenblicke später betrachtete er Sarina Stallers Wirbelsäule. Nachdenklich klickte er sich durch die Bilder.

»Das sieht leider nicht gut aus.« Er drehte den Bildschirm so, dass sie etwas sehen konnte. »Sehen Sie diese Stelle hier? Dort drückt der Gallertkern der Banscheibe auf einen Nervenstrang. Ist das über einen längeren Zeitraum der Fall, droht eine irreparable Schädigung der Nerven.« Er wiegte den Kopf. »Wenn bisher keine Therapie angeschlagen hat, bleibt nichts anderes übrig als eine Operation.«

»Oh.« Sarina stand der Schrecken ins Gesicht geschrieben.

»Keine Sorge.« Sofort war Danny darum bemüht, sie zu beschwichtigen. »Dieser Eingriff wird heutzutage meist endoskopisch durchgeführt. Wenn möglich, wird der aus der Bandscheibe ausgetretene Gallertkern in einem halbstündigen Eingriff endoskopisch entfernt.« Wie sein Vater auch setzte er auf Aufklärung, um den Patienten die Ängste zu nehmen. »In der Regel sind die Beschwerden danach meist schlagartig verschwunden.«

»Das klingt zu schön, um wahr zu sein.« Wieder stöhnte Sarina Staller, diesmal bei dem Versuch, die Position auf der Liege zu wechseln. »Allein der Gedanke daran, endlich mal wieder eine Nacht durchzuschlafen, ist ein Traum.«

»Dann wollen wir Ihren Traum so schnell wie möglich Wirklichkeit werden lassen«, lächelte Danny und griff zum Telefon, um Sarinas Ankunft in der Behnisch-Klinik anzukündigen.

Sie wartete geduldig, bis er das Telefonat beendet hatte.

»Sind Sie sich auch wirklich sicher, dass alles gut geht?«, fragte sie, während er ihr von der Liege aufhalf. »Ich bin nämlich noch nie operiert worden.«

»Natürlich birgt jede Operation ein Risiko«, gestand Dr. Norden junior offen. »Ich kann aber guten Gewissens sagen, dass die Kollegen in der Behnisch-Klinik sehr erfahren sind und sehr gute Erfolge erzielen.«

»Ich vertraue Ihnen blind.« Wenn Sarina nicht so große Schmerzen gehabt hätte, hätte sie ein wenig mit dem gutaussehenden Arzt geflirtet. So aber musste sie wohl oder übel auf diesen kleinen Spaß verzichten und konnte es kaum erwarten, bis das Taxi endlich vor der Praxis hielt, um sie unverzüglich in die Klinik zu bringen.

*

»Frau Baader und ihr Mann sind erst in zehn Minuten dran. Das muss reichen für unsere Überraschung!« Wendy hörte die Stimmen im Flur und warf einen Blick auf den Terminkalender.

Sofort sprang Janine vom Schreibtisch auf und holte den Blumenstrauß, als sich die Tür öffnete und ein unerwarteter Gast hereinkam.

»Sind die für mich?«, fragte Sebastian Klotz und strahlte übers ganze Gesicht.

Ohne ein Wort zu sagen, drehte sich Janine um und verschwand mitsamt den Blumen wieder in der Küche. Wendy übernahm die Antwort.

»Natürlich nicht! Wie kommen Sie überhaupt auf so eine Idee?«

In diesem Moment erschien Danny auf der Bildfläche. Das Taxi wartete schon. Er half Sarina in die Jacke und begleitete sie zur Tür. Auf dem Weg zum Tresen bemerkte er, wie Janine die Augen verdrehte.

»Ich kann Ihnen das gern mal bei einem Glas Wein erklären«, fuhr der Pharmareferent ungeniert fort. Früher war er ebenso regelmäßiger wie lästiger Besucher in der Praxis Dr. Norden gewesen. Dabei galt sein Hauptinteresse den beiden Assistentinnen und nicht seiner Arbeit. Zu dumm nur, dass er die Bedeutung des Wörtchens Nein nicht verstand. Nach einer schweren Erkrankung, während der sich Wendy mitfühlend um ihn kümmerte, hatte er sich aber schon eine ganze Zeitlang nicht mehr blicken lassen. Wollte er die alte Gewohnheit nun wieder aufleben lassen? »Oder wie wäre es mit einem Abendessen zu zweit? Das war doch ganz schön damals. Finden Sie nicht?« Er lächelte, während Wendy mit den Augen rollte.

Danny bemerkte den Blick seiner Assistentin.

»Einen wunderschönen guten Tag, Herr Klotz.«

Der Pharmareferent zuckte zusammen. Er hatte den Chef nicht bemerkt.

»Oh, hallo, Herr Dr. Norden junior.«

»Sie irren. Seit heute bin ich Alleinherrscher über diese Latifundien«, erwiderte Danny. Im Normalfall war ihm sein Status egal. Nicht aber bei diesem besonders lästigen Exemplar Besucher, der seinen Assistentinnen offenbar schon wieder den Hof machte. »Wir haben uns ja schon lange nicht mehr gesehen. Was gibt es Neues?«

»Oh, gesundheitlich ist wieder alles bestens …«

Nur mit Mühe konnte sich Danny Norden ein Lachen verkneifen. Er wusste, dass sich Wendy damals wirklich Mühe mit Sebastian gegeben, schließlich aber völlig entnervt aufgegeben hatte.

»Ein Elefant im Porzellanladen ist eine Elfe im Gegensatz zu ihm«, hatte sie erzählt.

Daran erinnerte er sich, als er antwortete:

»Ich meinte, was es Neues an Medikamenten gibt.«

»Ach so.« Sebastian Klotz schluckte und fuhr sich über die einsame Haarsträhne, die er quer über seine Halbglatze gebreitet hatte.

Er stellte den Aktenkoffer auf den Boden und machte Anstalten, ihn zu öffnen. »Gut, dass Sie es sagen. Meine Firma hat ein bahnbrechendes Hauttonikum entwickelt, das in nahezu jeder Lebenslage hilft.«

»Tut mir leid, das geht nun wirklich nicht«, ging Wendy unbarmherzig dazwischen. Sie ärgerte sich darüber, dass der Pharmareferent ihnen die wertvolle Zeit stahl, die sie für die Überraschung ihres Chefs vorgesehen hatten. »Wenn Sie dem Herrn Doktor Ihre Pillen andrehen wollen, lassen Sie sich bitte einen Termin geben wie alle anderen auch.«

Erschrocken drehte sich Sebastian Klotz zu ihr herum.

»Warum denn so unfreundlich?«, fragte er sichtlich empört. »Was habe ich Ihnen denn getan?«

Wendy seufzte, verzichtete aber wohlweislich auf eine Antwort. Sie wollte ja nicht ausfallend werden. Notgedrungen schloss der Pharmareferent seine Aktentasche wieder, nicht ohne vorher einen Kugelschreiber mit Werbeaufdruck herauszuholen.

»Hier, ein Geschenk zur Beförderung.« Mit großer Geste überreichte er Dr. Norden den Kugelschreiber. »Ich wünsche Ihnen viel Glück!«

Obwohl Danny den Pharmareferenten gut kannte, tat ihm seine ruppige Art nun doch leid.

»Vielen Dank. Ich werde ihn in Ehren halten.«

Sebastian Klotz strahlte.

»Dann komme ich noch kurz herein und präsentiere Ihnen unsere neuen Produkte. Wenn Sie sich schnell entscheiden, dauert es auch nicht lange.«

Glücklicherweise öffnete sich in diesem Augenblick die Tür, und das Ehepaar Baader kam herein.

»Tut mir leid, Herr Klotz.« In gespieltem Bedauern zuckte Danny mit den Schultern. »Sie sehen ja, ich habe zu tun.« Er nickte ihm zu, um sich im nächsten Augenblick um seine beiden Besucher zu kümmern.

Und auch Wendy und Janine steckten die Köpfe zusammen und gaben vor, angestrengt zu arbeiten. So blieb Sebastian nichts anderes übrig, als das Feld zu räumen.

Wendy atmete auf, als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war.

»Du meine Güte. Ich dachte, dieses Kapitel hätte ich hinter mir.«

»Vielleicht kommt er ja nicht wieder«, tat Janine ihre Hoffnung kund. Ein anderes Thema brannte ihr viel mehr unter den Nägeln. »Aber was machen wir denn jetzt mit unserer Überraschung?« Sie beugte sich über den Terminkalender.

»Bleibt nur noch die Mittagspause«, erwiderte Wendy. »Das ist eh die beste Lösung. Wir schließen die Tür ab und lassen den Chef einfach nicht raus.«

Das war ein frommer Wunsch. Würde er in Erfüllung gehen?

*

»Sie können sich wieder anziehen.« Der Leiter der Notaufnahme hatte die Untersuchung abgeschlossen.

»Leichter gesagt als getan.« Stöhnend richtete sich Sarina Staller auf der Untersuchungsliege auf. Unter Schmerzen schlüpfte sie in ihren Pullover, als sich die Tür öffnete und Dr. Daniel Norden hereinkam. Danny hatte ihn kurz telefonisch informiert. Nachdem er die Patientin kannte, wollte er selbst nach dem Rechten sehen.

»Hallo, Frau Staller.« Er reichte ihr die Hand. »Was machen Sie denn für Sachen?«

»Ihr Sohn hat mich hergeschickt. Er meinte, die Ärzte hier in der Klinik könnten meinen Traum Wirklichkeit werden lassen. Dafür lege ich mich sogar unters Messer.«

»Das wird nicht nötig sein«, erwiderte Dr. Weigand und winkte den Klinikchef zu sich, um ihm die Aufnahmen von Sarinas Wirbelsäule zu zeigen. »Eine Operation sollte der letzte Ausweg sein. Vorher habe ich noch eine andere Idee.«

»Ich bin gespannt.« Daniel sah den Kollegen fragend an. Genau wie Danny kannte und schätzte er Matthias schon seit Jahren. Trotz des Altersunterschieds war in dieser Zeit zwischen den Männern eine echte Freundschaft entstanden.

»Es gibt ein neues Verfahren, das auf einem Wirkstoff basiert, der aus dem Blut des Patienten gewonnen wird«, erläuterte er die neue Methode. »Er wird in den entsprechenden Wirbelsäulenabschnitt injiziert.«

Sarina Staller dagegen wirkte skeptisch.

»Wie soll das denn funktionieren?«

»Das ist keine Hexerei, sondern fundierte Wissenschaft«, versicherte Dr. Norden, der auch schon über die neue Methode gelesen hatte. »Das speziell aufbereitete Blutplasma enthält körpereigene, vitale Zellen, Eiweiß-Stoffe und bioaktive Zellbotenstoffe in hoher Konzentration«, ergänzte er die Erklärungen des Kollegen. Er lehnte am Schreibtisch und blätterte durch ihre Unterlagen.

Trotzdem war Sarina noch nicht überzeugt.

»Eine Spritze in den Rücken? Ist das nicht gefährlicher als eine Operation?« Die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Matthias Weigand lächelte beruhigend.

»Keine Sorge. Die Einspritzung erfolgt bildgesteuert an den definierten Stellen und stimuliert vor Ort eine regenerative Reaktion. Mal abgesehen davon, dass das Risiko dieser Behandlung deutlich geringer ist als das einer herkömmlichen Operation.«

Sarinas Augen wurden schmal vor Argwohn.

»Wenn dieses Verfahren so toll ist, verstehe ich nicht, warum Danny Norden mir nichts davon gesagt hat.«

»Weil diese Methode noch relativ neu ist und noch nicht von allen Krankenkassen akzeptiert wird«, musste er einräumen. »Ich bin aber überzeugt davon, dass sich diese Therapieformen in Zukunft mehr und mehr etablieren werden«, fuhr er schnell fort, um ihre Bedenken zu zerstreuen.

Daniel Norden hob den Kopf. Einen Moment lang sah er so aus, als wollte er etwas dazu sagen. Sarina bemerkte es.

»Was ist? Stimmt das nicht?«

»Doch, doch!«, versicherte er schnell, legte die Unterlagen beiseite und ging zur Tür. »Sie sind hier in den besten Händen«, versicherte er der jungen Patientin. »Darf ich den Kollegen kurz entführen? Ich muss etwas mit ihm besprechen.«

Verwirrt sah Sarina von einem zum anderen. Was blieb ihr anderes übrig, als zu nicken? Sichtlich verwundert stand Matthias auf und folgte seinem Freund nach draußen.

»Gibt es ein Problem?«, fragte er, kaum dass sich die Tür hinter ihm geschlossen hat.

Daniel drehte sich zu ihm um. Seine Miene war ernst.

»Danny hat nicht ohne Grund zu einer Operation geraten. Deshalb finde ich, du solltest seinem Rat folgen.«

»Ich verstehe nicht ganz.« Unwillig schüttelte Matthias Weigand den Kopf. »Ist es nicht im Sinne der Patientin, zunächst eine andere Methode zu versuchen? Zumal die PRP sehr vielversprechend ist.«

»Ich habe mir Sarinas Bilder genau angesehen. Ihr Bandscheibenvorfall ist derart gravierend, dass früher oder später mit irreversiblen Lähmungen zu rechnen ist. Eine Biointervention erscheint mir in diesem Fall zu unsicher zu sein. Zumal die Krankenkasse die Kosten nicht übernehmen wird.«

Dr. Weigand lachte spöttisch.

»Seit wann redest du über Geld?«

»Seit ich Klinikchef bin und darüber nachdenken muss, dass Patienten bei einem möglichen Misserfolg einer Behandlung Forderungen an uns stellen könnten«, appellierte Daniel an die Vernunft seines Kollegen. »Allerdings sind die Finanzen nur ein Aspekt, den ich nicht aus den Augen verlieren darf. Über allem steht natürlich das Wohl der Patienten. Das ist der eigentliche Grund, warum ich im Fall von Frau Staller eine Operation empfehle.«

Schweigend hatte Matthias den Ausführungen zugehört. Steile Falten auf seiner Stirn zeugten davon, was er davon hielt.

»Die Entscheidung liegt aber bei mir, oder?«, versicherte er sich.

Daniel zögerte kurz.

»Nein. Sie liegt bei der Patientin«, erinnerte er Matthias an die Tatsachen. Der bedachte ihn mit einem langen Blick, ehe er sich abwandte und grußlos in das Behandlungszimmer zurückkehrte. Daniel sah ihm nach. Bevor er sich aber noch weitere Gedanken darüber machen konnte, klingelte das Telefon im Schwesternzimmer.

»Ja, der ist hier … .«, hörte er Schwester Klara sagen. »Ich richte es ihm aus.« Im nächsten Augenblick tauchte sie in der Tür auf. »Die Chefin lässt ausrichten, dass Sie zur Zeremonie erwartet werden.«

»So spät ist es schon?« Erschrocken sah Daniel auf die Uhr. Einen Augenblick später eilte er los. Um ein Haar hätte er Jennys Abschied und seine Inthronisierung verpasst.

*

Sehr zum Leidwesen der beiden Assistentinnen gab sich an diesem Vormittag ein Patient nach dem anderen die Klinke in die Hand. So vergingen die Stunden wie im Flug, und ihre große Hoffnung ruhte auf der Mittagspause. Der letzte Patient der Vormittagssprechstunde war noch im Behandlungszimmer. Diese Gelegenheit nutzte Janine, um den Tisch in der kleinen Küche zu arrangieren. Die Prinzregententorte, dekoriert mit Arztutensilien aus Schokolade und Zuckerguss fand ebenso ihren Platz wie der Strauß Blumen, die Wendy für diesen feierlichen Anlass besorgt hatte. Ein Päckchen mit druckfrischen Visitenkarten komplettierte den Gabentisch.

»Stell dir vor, ich habe eine halbe Stunde mit der Floristin diskutiert, bis sie eingesehen hat, dass rosa Rosen unpassend für einen jungen Mann sind«, empörte sich Wendy leise, während sie Janines Werk begutachtete. Schließlich blieb ihr hungriger Blick an der Torte hängen. »Tatjanas Prachtstück! Und so detailgetreu.« Bewundernd blickte sie auf die üppige Dekoration. In mühsamer Kleinarbeit hatte Tatjana Stethoskop, Spritzbesteck, Chromschale und alle erdenklichen anderen Utensilien aus Schokolade und Fondant geformt. »Was ist Danny doch für ein Glückspilz!«

»Denkst du, er isst sie ganz allein auf?« Dieser Gedanke ließ Janine nach Luft schnappen. Sie fastete schon den ganzen Tag, und ihr Magen hatte bereits mehr als ein Mal gefährlich geknurrt.

Wendy hielt sich den Bauch vor Lachen.

»Du kommst schon auf merkwürdige Ideen, wenn du Hunger hast.«

»Mag sein, dass du recht hast«, räumte die Freundin bereitwillig ein und ließ den Blick über den Tisch schweifen. »Ich denke, jetzt haben wir alles. Fehlt nur noch der Jubilar.«

»Wie das klingt.« Wendy schnitt eine Grimasse. »Als wäre der Junior neunzig Jahre alt.«

»Fällt dir was Besseres ein?«, stellte Janine eine berechtigte Gegenfrage. Sie bekam keine Antwort und kehrte an den Tresen zurück. In diesem Augenblick stürzte Danny aus seinem Sprechzimmer. »Da sind Sie ja endlich!«, rief sie ihm erfreut zu. Doch statt sich zu ihr an den Tresen zu gesellen, stürzte er zur Garderobe.

»Tut mir leid, ich habe keine Zeit. Ein Notfall.« In Windeseile tauschte er den Kittel gegen die Jacke und lief an Janine vorbei.

Ehe sie auch nur ein Wort sagen konnte, fiel die Tür krachend hinter ihm ins Schloss. Janine zuckte zusammen. Wendy tauchte in der Tür auf, um nach dem rechten zu sehen.

»Was war denn das?«

»Der Junio … der Chef.« Ungläubig starrte Janine auf die Tür.

»Warum hast du ihn nicht aufgehalten?«

»Er muss zu einem Notfall.«

»Das ist doch wie verhext heute! So einen verrückten Tag hatten wir schon lange nicht mehr.«

Die beiden Assistentinnen kehrten in die Küche zurück und blickten nachdenklich auf den Gabentisch.

»Glaubst du, es fällt auf, wenn wir ein winziges Stück von der Torte … «, begann Janine.

»Du darfst noch nicht einmal daran denken«, widersprach Wendy resolut. »Wir haben doch noch Brötchen von heute Morgen.«

»Aber die Torte …«

»Nein!« Wendy griff nach dem Kunstwerk und wollte es wieder in den Kühlschrank verfrachten. Auf halbem Weg blieb sie stehen. »Hmmm, wenn wir da hinten ein kleines Stück rausschneiden und die Figuren ein bisschen umdrapieren …«

»Das fällt ihm gar nicht auf.« Sofort war Janine Feuer und Flamme für diese Idee. »Wir wollen ja nur mal probieren.«

Wendy zögerte noch kurz. Der süße Duft nach Schokolade, Butter und Zucker stieg ihr in die Nase und benebelte ihre Sinne. Anders ließ sich nicht erklären, was dann geschah.

»Aber nur ein ganz kleines Stück.« Sie drehte sich um und kehrte mit der Torte zum Tisch zurück. Behutsam stellte sie die Platte ab.

Janine zückte das Messer. Wenig später saßen die beiden Frauen in schönster Eintracht nebeneinander und ließen sich Buttercreme und Schokolade auf der Zunge zergehen. Ihre Augen glänzten und ihre Gesichter strahlten wie bei Kindern an Weihnachten.

*

»So, diesen Programmpunkt hätten wir abgehakt.« Erleichtert verließ Jenny Behnisch den großen Besprechungsraum, den sie für dieses Ereignis gewählt hatte. Den Strauß Blumen, den ihr ausgerechnet der Kinderchirurg Volker Lammers überreicht hatte, hielt sie nachlässig in der rechten Hand.

»Kurz und schmerzlos«, bestätigte Daniel, der ebenfalls einen Strauß bekommen hatte und schon jetzt danach trachtete, das Ungetüm an seine Frau weiterzureichen.

»Ganz so, wie wir es uns …«

Die eiligen Schritte hinter ihnen ließ Jenny innehalten.

»Ich hatte so viele Ideen für eine würdevolle Abschiedsfeier. Aber Frau Sander bestand auf dieser jämmerlichen Zeremonie.« Wie immer wirkte Volker Lammers Lächeln angestrengt.

Jenny blieb stehen. Sie zögerte kurz und drehte sich dann zu Fee Nordens Stellvertreter um.

»Vielen Dank. Aber Sie haben mir in den Jahren unserer Zusammenarbeit wahrlich genug geboten. Mein Bedarf ist gedeckt.« Sie schenkte ihm ein kühles Lächeln, ehe sie sich abwandte und ihn einfach stehen ließ.

Selbst überrumpelt von diesen ungnädigen Worten sah Daniel den Kollegen Lammers ratlos an und zuckte mit den Schultern. Dann drehte auch er sich um und folgte seiner Freundin im Laufschritt.

»Jenny, was ist denn in dich gefahren?« Als sie weit genug entfernt waren, hielt er sich nicht länger zurück und lachte belustigt auf. »So kenne ich dich gar nicht. Bisher hatte ich den Eindruck, du stündest wie ein Fels hinter Lammers.«

»Er ist der beste Kinderchirurg, der mir je untergekommen ist«, erwiderte sie spitz. »Das bedeutet aber noch lange nicht, dass ich auch nur ansatzweise Sympathien für ihn hege.« Sie schickte Daniel einen warnenden Seitenblick. »Mit Lammers werdet ihr noch viel Ärger haben. Er ist ein skrupelloser Königsmörder, der vor keiner Intrige zurückschreckt, wenn sie ihn nur zum Ziel führt. Das erste ist die Leitung der Pädiatrie, das Fernziel die Leitung der Klinik. Aber das wisst ihr ja längst.«

Daniel suchte nach einem Lächeln in ihrem Gesicht, einem schelmischen Funkeln in den Augen. Vergeblich. Sie meinte es bitterernst.

»Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, dass er begriffen hat, dass er an Fee nicht vorbeikommt«, erklärte er beunruhigt.

Jenny schüttelte den Kopf.

»Ein Mann wie Lammers gibt nicht auf. Im Augenblick verhält er sich nur ruhig, weil er über die neue Situation nachdenken muss. Du tust gut daran, ihm alles zuzutrauen. Dann wird er dich nicht überrumpeln.«

»Das sind ja heitere Aussichten. Hättest du mir das nicht vorher sagen können?« Er schnitt eine Grimasse.

Jenny lachte.

»Damit du mein Angebot ausschlägst? Niemals.«

Sie waren nicht mehr weit vom Büro entfernt. Ihre Stimmen hallten über den Flur, und Andrea Sander spitzte die Ohren.

»Achtung! Sie kommen!«, warnte sie ihre beiden Mitstreiterinnen vor dem Schreibtisch.

»Und jetzt?« Lenni sah sich erschrocken um. »Wo sollen wir uns verstecken?«

»Im Schrank«, machte Tatjana einen nicht ganz ernst gemeinten Vorschlag.

»Da passt du rein. Aber ich doch nicht«, zischte Lenni empört, als Tatjana sie auch schon hinter die Tür zog und den Zeigefinger auf die Lippen legte. Gerade noch rechtzeitig, bevor Dr. Norden und Jenny Behnisch das Vorzimmer betraten.

»Da sind wir wieder«, verkündete die ehemalige Klinikchefin. Sie hatte ihre gute Laune wiedergefunden, und ihr Gesicht strahlte eine Entspannung aus, wie man sie an ihr nicht kannte. Ganz so, als wäre eine große Last von ihr abgefallen.

»Und? War es so schlimm wie gedacht?« Andrea Sander wusste, was von ihr erwartet wurde, und spielte das Spiel gern mit.

»Noch viel schlimmer«, gestand Jenny. »Nichts gegen all die wunderbaren Abteilungsleiter und ihre Stellvertreter. Aber dieser Lammers …« Statt den Satz zu beenden, schüttelte sie den Kopf. »Aber jetzt ist es überstanden.« Sie stand im Vorzimmer und ließ den Vormittag noch einmal Revue passieren. »Obwohl ich es im Nachhinein doch schade finde, keine kleine Feier für meine besonderen Kollegen geplant zu haben. Für den kleinen Kreis der Menschen, die mich in all den Jahren nicht nur beruflich, sondern auch privat treu begleitet haben.« Wie so oft in den vergangenen Tagen überfiel sie eine Sentimentalität und Melancholie, die sie nie vermutet hätte.

Hinter der Tür stieß Tatjana die ehemalige Haushälterin der Familie Norden triumphierend in die Seite.

Lenni erschrak und hätte um ein Haar laut aufgeschrien. Tatjana bemerkte es und presste ihr in letzter Sekunde die Hand auf den Mund, sodass nur ein leises Prusten zu hören war.

Andrea Sander reagierte blitzschnell und hustete.

»Sie werden sich doch nicht etwa erkältet haben?«, erkundigte sich Daniel besorgt.