Dämmerung der Liebe

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2019

Copyright Cartland Promotions 1985

 

Gestaltung M-Y Books

www.m-ybooks.co.uk

Vorbemerkung der Autorin

Im Jahr 1913 veröffentlichte George Bernard Shaw sein Stück Pygmalion. Diese Geschichte eines Blumenmädchens, das von einem Phonetiker dazu ausgebildet wird, als gesellschaftsfähige Dame aufzutreten, ist eine höchst gelungene Satire auf das englische Klassensystem und nicht im gleichen Maße ein Gedankenspiel wie alle anderen wichtigen Stücke Shaws.

Aufgrund seiner großen Menschlichkeit wurde es eines der beliebtesten Stücke sowohl als Musical auf der Bühne wie auch als Film (mit Rex Harrison und Audrey Hepburn in den Hauptrollen).

Cecil Beatons hervorragende Ausstattung trug viel zu seinem Erfolg bei, und Eliza Doolittle ist eine von Shaws unvergeßlichen Gestalten.

Erstes Kapitel

Der ehrenwerte Peregrine Gillingham sprang aus der Droschke, entlohnte den Kutscher und ging die Stufen zur Tür des Hauses Windlemere hinauf.

Sie stand offen; er gab seinen großen Hut einem Diener mit einer gepuderten Perücke und nickte dem Butler zu.

»Guten Abend, Dawkins.«

»Guten Abend, Sir.«

»Ist Seine Gnaden in der Bibliothek?«

»Ja, Sir, er erwartet Sie schon seit fast einer Stunde.«

In der wohlklingenden Stimme des Butlers schwang ein etwas vorwurfsvoller Ton mit, und Peregrine lächelte im Stillen, als er den energischen Schritten des Dieners durch die Marmorhalle folgte.

Windlemere House war von all den eleganten Häusern in der Park Lane das imposanteste.

Der Großvater des Herzogs hatte es gebaut, so wie man sich am Anfang der viktorianischen Zeit das Haus eines Herzogs eben vorstellte.

Erfreulicherweise waren noch Spuren der georgianischen Architektur sichtbar, so daß es geschmackvoller war als die meisten anderen Herrschaftshäuser hier.

Aber Peregrine dachte jetzt nicht weiter über Windlemere House nach, in dem er schon oft genug gewesen war. Er hoffte nur, Alstone möge nicht allzu schlecht gelaunt sein, weil er sich verspätet hatte.

Der Herzog wurde von Freund und Feind gleichermaßen mit großem Respekt behandelt; sogar Peregrine, einer seiner besten Freunde, war ziemlich deprimiert, wenn Alstone sich in eine eisige Reserve zurückzog, um so sein Mißfallen kundzutun.

»Mr. Peregrine Gillingham, Euer Gnaden«, verkündete Dawkins an der Tür, und der Herzog, der gerade die Times las, blickte von der Zeitung auf und sagte: »Perry! Warum kommst du so spät, zum Teufel?«

»Tut mir leid, Alstone«, erwiderte sein Freund und ging auf ihn zu. »Mein Vater hat mich unerwartet zu sich beordert, und du weißt, wie weitschweifig er ist.«

Der Herzog warf die Zeitung auf den Tisch und sagte: »Ich fürchte, ich muß das als Entschuldigung akzeptieren. Ich weiß, daß man deinen Vater nicht bremsen kann, wenn er auf ein Thema zu sprechen kommt, das ihn interessiert.«

»Er war eigentlich gar nicht besonders interessiert — nur verärgert«, erwiderte Perry mürrisch.

»Ging es um Geld?« fragte der Herzog.

»Natürlich. Worüber sollte mein Vater sonst mit mir sprechen?«

»Du solltest eben nicht so ausschweifend leben.«

»Du hast gut reden...« begann Perry, doch dann lachte er, weil er merkte, daß der Herzog ihn aufzog.

»Also schön, ich habe in letzter Zeit ein wenig übertrieben. Aber du weißt genauso gut wie ich, daß Molly außerordentlich anspruchsvoll ist; schließlich hast du dich ja selbst mal für sie interessiert.«

»Ich habe nicht lange den Preis verdorben wie du es mir so oft vorwirfst«, erwiderte der Herzog.

»Lange genug«, sagte Perry. »Du hast Molly nicht nur an Kaviar und Champagner gewöhnt, sondern auch an Diamanten, und das Taschengeld, das mir mein Vater gibt, hat für derlei noch nie gereicht.«

Er stöhnte auf, ehe er fortfuhr: »Es ist die Hölle, ein jüngerer Sohn zu sein. Du warst nie in dieser Situation.«

»Auch ich habe so meine Schwierigkeiten«, erwiderte der Herzog.

»Ich frage mich, was für welche das sein könnten«, sagte Perry.

Während er sprach, nahm er ein Glas Champagner von einem silbernen Tablett, das ein Diener ihm reichte.

Auch der Herzog nahm ein Glas, und Dawkins stellte die Champagnerflasche in einen kostbaren silbernen Kübel, der mit Eis gefüllt war. Dann zogen sich die beiden Diener zurück.

»Du hast mir über deine Schwierigkeiten berichtet«, sagte der Herzog mit einem schwachen Lächeln. »Willst du dir jetzt vielleicht einmal meine anhören?«

»Mit Vergnügen, aber ich dachte immer, du hättest keine.«

»Die meinen sind nicht finanzieller, sondern geistiger Art«, erwiderte der Herzog. »Bevor du kamst, habe ich darüber nachgedacht, daß ich mich langweile, Perry.«

»Mein Gott, Alstone, wenn ich je etwas Absurdes gehört habe, dann ist dies das Absurdeste«, sagte Peregrine. »Du und dich langweilen? Du, der du alles hast? Das nehme ich dir nicht ab.«

»Aber es ist so«, antwortete der Herzog. »Und ich gebe dir die Schuld daran, weil du dich verspätet hast, so daß ich mir darüber klar werden konnte.«

»Weshalb langweilst du dich, um Gottes willen?« fragte Perry. »Du bist der reichste Mann, und hast den größten Grundbesitz auf den britischen Inseln. Du hast die schönsten und feurigsten Pferde und kannst dir jede schöne Frau leisten, die du haben willst.«

Peregrine holte tief Luft, ehe er fortfuhr: »Und wir alle wissen warum. Es kommt daher, daß du so verdammt gut aussiehst und der Traum aller Mädchenherzen bist.«

»Sei still, Perry, mir wird übel«, unterbrach ihn der Herzog.

»Das ist nichts gegen das, wie mir wird, wenn du behauptest, du würdest dich langweilen. Soll ich dir deine übrigen Besitztümer aufzählen? Deine Yacht, dein Schloß in Frankreich mit der besten Eberjagd in ganz Europa, deine Lachsgewässer...«

»Sei still!« befahl der Herzog. »Ich spreche über etwas ganz anderes.«

»Und das wäre?«

»Ich glaube, ich kann es am besten als das Bedürfnis nach geistiger Anregung bezeichnen«, sagte der Herzog. »Es liegt daran, daß alles, was ich mache, mir in gewisser Hinsicht vertraut ist — es gibt einfach nichts Überraschendes oder Spannendes mehr für mich.«

Er sprach sehr ernst, und sein Freund sah ihn verblüfft an.

Perry war intelligent, wenn es darauf ankam. Er merkte, daß der Herzog nicht scherzte, daß dies keine leeren Sprüche waren, sondern daß er mit einem ungewöhnlichen Gedanken spielte,

»Als wir gestern abend miteinander Karten spielten«, fuhr der Herzog fort, »kam mir der Gedanke, daß wir uns eigentlich viel zu gut kennen, als daß wir uns beim Spiel noch wirklich amüsieren könnten. Ich weiß sofort, wenn Archie ein gutes Blatt hat, weil er dann mit den Augen zwinkert, und Charles preßt die Lippen zusammen, wenn er ein schlechtes hat, und du schnippst mit den Fingern, ehe du einen Trumpf ausspielst.«

»Verdammt, Alstone, das grenzt ja an Betrug!« protestierte Perry.

»Nein, ganz im Gegenteil, das ist einfach Beobachtung; so weiß man immer, was geschehen wird — was übrigens, wie ich hinzufügen möchte, auch für meine anderen Interessen gilt.»

»Ich vermute, damit spielst du auf Daisy an«, sagte Perry. »Ich habe schon seit einiger Zeit den Eindruck, daß sie dir langsam auf die Nerven geht.«

Einen Augenblick lang dachte Perry, er sei zu weit gegangen. Der Herzog war immer sehr zurückhaltend, wenn jemand auf seine Liebesaffären zu sprechen kam.

Aber an diesem Abend war er in einer vertrauensseligen Stimmung.

»Daisy ist ohne Zweifel die schönste Frau in ganz London«, sagte er. »Aber auch Schönheit kann etwas Eintöniges an sich haben.«

»Da hast du recht«, stimmte Perry zu. Es wunderte ihn nicht, daß die Gräfin von Hellingford den Herzog allmählich langweilte.

An ihrer atemberaubenden Schönheit bestand tatsächlich kein Zweifel, wenn man sie zum ersten Mal sah, aber sie neigte auch dazu, sehr anspruchsvoll und manchmal herrisch zu sein, und Perry wunderte sich ohnehin, daß der Herzog es schon so lange mit ihr aushielt.

»Wie wäre es mit einer Auslandsreise?«

»Wohin sollte ich denn fahren?« fragte der Herzog. »Ich habe gestern abend darüber nachgedacht, daß ich fast alle sehenswerten Orte der Welt schon besucht habe. Wenn ich also nicht gerade die Wüste Gobi durchqueren oder den Mount Everest besteigen will, bleibt nicht viel übrig.«

Perry lachte.

»Wirklich — der ‘arme kleine reiche Junge’!«

»Genau!« stimmte der Herzog zu. »Und deshalb bitte ich dich um irgendwelche Vorschläge.«

»Frage um Gottes willen nur mich um Rat«, sagte Perry. »Du weißt, was für einen Aufruhr es gäbe, wenn du so etwas der Bande gegenüber verlauten lassen würdest. Sie sind voll und ganz damit zufrieden, wie es jetzt ist.«

Der Herzog verzog die Lippen zu einem zynischen Lächeln.

Er wußte sehr wohl, daß Perry mit ‘Bande’ seine Freunde meinte, die hinsichtlich Pferderennen, Angeln, Segeln, Jagen und allen anderen Vergnügungen, die auf den Besitztümern des Herzogs und in seinen vielen Häusern stattfanden, ganz von seiner Gunst abhängig waren.

Es war fast schon eine Gewohnheit des Herzogs, jedes Wochenende in Mere, seinem großen und außerordentlich komfortablen Haus in Surrey, immer die gleichen Leute zu empfangen.

Seine engeren Freunde hielten dies so sehr für eine Selbstverständlichkeit, daß immer die gleichen Zimmer für sie bereitgehalten wurden, und sie ließen dort sogar einen Teil ihrer persönlichen Habe zurück, damit sie nicht jedes Mal alles mit nach London zurück nehmen mußten.

Wenn also der Herzog tatsächlich seinen Lebensstil ändern sollte, dann würde es bestimmt unter seinen Freunden Heulen und Wehklagen geben. Er nannte sie im Stillen die ‘Schmarotzer‘ und er hatte nicht vor, sich ihr Gejammer anzuhören.

»Wohin willst du denn fahren?« fragte Perry.

»Ich fahre überhaupt nirgendwohin«, antwortete der Herzog. »Ich frage dich nur, was ich tun soll, das ich vielleicht interessant finden könnte, anstatt hier zu sitzen und Däumchen zu drehen, so wie ich es jetzt mache. Langsam bekomme ich das Gefühl, ich werde ein Fossil.«

»Das ist das letzte, was du je sein wirst!« rief Perry. »Aber ich begreife, was du damit sagen willst, und ich werde versuchen, mir etwas auszudenken.«

»Ich möchte etwas Neues erleben, etwas, das sich vom üblichen Trott unterscheidet, der mein Leben im Augenblick so langweilig macht wie einen Ententeich.«

»Wie wär's, wenn wir einfach die Rollen tauschen?« fragte Perry. »Ich kann dir versichern, du würdest genug Aufregendes erleben, wenn du dir anhören müßtest, wie sich mein Vater über Verantwortung, Verschwendungssucht und mein zielloses Leben ausläßt und mir beweist, daß ich nichts weiter bin als ein Tunichtgut.«

Der Herzog lachte.

»Dein Vater war immer dagegen, daß wir beide befreundet sind. Er glaubt, daß ich meine Verantwortung nicht ernst genug nehme; das hat er meinem Vater erklärt, fast noch ehe ich alt genug war, um lange Hosen zu tragen.«

»Wenn er dich im Augenblick hören könnte, würde er feststellen, daß du im Gegenteil alles viel zu ernst nimmst«, erklärte Perry. »Amüsiere dich, Alstone! Oder warum versuchst du es nicht mit einer Heirat? Das wäre eine interessante Abwechslung.«

Einen Augenblick herrschte unheilvolles Schweigen.

Dann sagte der Herzog: »Du kennst meine Antwort darauf. Nie wieder! Niemals!«

»Das ist die lächerlichste Bemerkung, die du je gemacht hast«, sagte Perry. »Natürlich mußt du eines Tages heiraten. Du brauchst einen Erben.«

»Mein Bruder Thomas hat schließlich drei Söhne.«

»Das ist nicht das gleiche, wie selbst Kinder zu haben. Es würde dir bestimmt Freude machen, deinem Sohn das Reiten und Schießen beizubringen und zu wissen, daß er die Familientradition weiterführt.«

»Das reizt mich nicht im mindesten«, erwiderte der Herzog barsch. »Als Elaine ums Leben kam, empfand ich keinerlei Trauer, und ich kann dir versichern, daß ich, einmal dem Joch der Ehe entronnen, durchaus keine Lust habe, mich ein zweites Mal an die Kette legen zu lassen.«

Perry sagte nichts.

Er erinnerte sich sehr wohl daran, daß der Herzog noch sehr jung gewesen war, als sein Vater für ihn die Ehe mit der Tochter eines anderen Herzogs arrangiert hatte.

Vom gesellschaftlichen Standpunkt aus war es eine phantastische Verbindung gewesen, aber die beiden hatten sich von dem Augenblick an gestritten, in dem sie die Kirche verließen; als dann Alstones Frau bei einem Jagdunfall ums Leben kam, erwartete eigentlich jedermann, daß er wieder heiraten würde.

Aber von diesem Augenblick an machte er ganz deutlich, daß seine Absichten, was Frauen anbetraf, nicht die ehrenhaftesten waren.

Umgeben und regelrecht verfolgt von den schönsten und gebildetsten Damen der Gesellschaft, amüsierte sich der Herzog ausschließlich mit Frauen, die verheiratet waren und selbstzufriedene Gatten hatten, von denen die meisten wesentlich älter waren als er selbst.

Der Herzog war jetzt dreiunddreißig Jahre alt, und er hatte sich als Gefährtinnen Schönheiten erkoren, die fast so alt waren wie er oder nur wenig jünger, aber auch sie waren alle verheiratet, und es war zu bezweifeln, ob ihm überhaupt daran lag, ein heiratsfähiges Mädchen kennenzulernen.

Damit entsprach er einer Sitte, die der verstorbene Monarch Edward VII. mit dem ‘Marlborough House Set’ am Ende des letzten Jahrhunderts eingeführt hatte.

Sobald eine schöne Frau einmal einige Jahre verheiratet war und ihrem Gatten einen Erben geschenkt hatte, erwartete man mehr oder weniger von ihr, daß sie eine Liaison hatte, vorausgesetzt, diese war diskret und führte niemals auch nur zum geringsten Skandal.

König Edwards Liebschaften, die er bis zum Tage seines Todes hatte, waren seinen nahen Freunden natürlich bekannt, aber außerhalb der Hofkreise bewahrte ihn das Auftreten der schönen Königin Alexandra bei allen öffentlichen Anlässen vor jeglicher Kompromittierung, sogar bei der Presse.

Perry wußte, daß sein herzoglicher Freund, der unter seinen Vertrauten als Frauenheld galt, für die übrige Welt ein Muster an Tugend war.

»Wenn du schon keine Lust hast, dich zu verheiraten«, sagte Perry, »dann werden wir uns eben nach jemandem umsehen, der dein Gefallen findet.«

»Ich zweifle daran, daß du jemanden finden könntest«, erwiderte der Herzog mürrisch. »Allmählich glaube ich nämlich, daß sie alle gleich sind, aus welcher Gesellschaftsschicht sie auch kommen mögen.«

Er stand auf, ging durchs Zimmer und schenkte sich noch ein Glas Champagner ein. Dabei sagte er: »Wenn du glaubst, Molly sei anspruchsvoll, dann hast du keine Ahnung davon, was von mir erwartet wird.«

»Du kannst es dir schließlich leisten.«

»Das schon, aber es ist ausgesprochen ärgerlich, wenn man weiß, daß das eigentliche Interesse einer Frau an deiner Person darin besteht, daß sie in dir einen Dukatenesel sieht«, erklärte er verbittert.

Perry lachte.

»Ich erinnere mich an einen Onkel von mir, der einmal sagte: ‘In meinem Alter erwartet man von mir, daß ich bezahle.‘ Wenn ich den Text ein wenig ändere, kann ich dir erklären, daß du als Herzog eben nichts ohne Gegenleistung erwarten kannst.«

Der Herzog antwortete nicht und Perry fuhr fort: »Hör auf, romantisch zu sein und um deiner selbst willen geliebt werden zu wollen. Nimm, was die Götter dir schenken und sei dankbar dafür! Wenn einer von der Bande zufällig unser Gespräch mitanhören könnte, würde er seinen Ohren nicht trauen.«

Der Herzog lachte.

»Ich gebe ja zu, daß du recht hast«, sagte er. »Ich mache mich zum Narren. Es ist am besten, wir gehen zu den anderen. Sie sind inzwischen sicher schon eingetroffen.«

Der Herzog sah auf die Uhr über dem Kamin und stellte fest, daß es schon dreiviertel acht Uhr war.

»Wie wäre es, wenn wir nach dem Essen ausgehen?« fragte Perry. »Wir könnten uns den letzten Akt im ‘Gaiety’ ansehen.«

»Den habe ich schon dreimal gesehen«, sagte der Herzog.

»Es gibt schließlich auch noch andere Theater.«

»Dafür essen wir zu spät. Wenn du willst, könnten wir später zu Romano hinübergehen und schauen, was dort los ist.«

»Gut, aber erwähne es nicht vor Archie und den anderen, sonst kommen sie alle mit.«

»Wir gehen allein«, versprach der Herzog.

Er stellte sein leeres Glas hin, und sie gingen in den Blauen Salon, in dem sich die Freunde des Herzogs vor dem Essen eingefunden hatten.

An diesem Abend war es eine reine Männergesellschaft, denn einige Gäste waren bei den Rennen gewesen und wollten darüber sprechen, was das weibliche Geschlecht unweigerlich gelangweilt hätte.

Sie waren zu sechst im Blauen Salon, und alle hatten sie Gläser in der Hand, als der Herzog und Perry eintraten.

»Hallo, Alstone!« sagte jemand. »Wir dachten schon, du hättest uns vergessen.«

»Na, wie war's?« fragte der Herzog freundlich.

Alle auf einmal antworteten ihm. Er erfuhr, daß es ein Desaster gewesen war und die Favoriten von Außenseitern geschlagen worden waren.

»Ich habe vor, meinen Kummer zu ertränken«, erklärte Lord Carnforth, »Aber ehe ich das tue, möchte ich deine Ansicht über eine kleine Meinungsverschiedenheit hören, die ich mit Hugo hatte, ehe du hereinkamst, Alstone.«

Der Herzog nahm ein Glas Champagner, setzte sich und sagte: »Ich bin bereit zu richten. Worum handelt es sich?«

»Wir sprachen über dieses neue Stück von George Bernard Shaw«, erklärte Sir Hugo Benson. »Es heißt Pygmalion, hast du es schon gesehen?«

»Nein, um was geht es denn da?« fragte der Herzog.

»Um einen Phonetiker, der ein Blumenmädchen von Covent Garden so meisterlich unterrichtet, daß er sie, sobald sie korrekt sprechen kann, in die Gesellschaft einführt, ohne daß jemand mißtrauisch wird.«

»Etwas Lächerlicheres habe ich noch nie gehört«, rief Lord Carnforth. »Ich habe Shaw früher sehr bewundert, weil er originelle Ideen hat, aber dieses Stück ist eine Beleidigung für den gesunden Menschenverstand!«

»Das glaubst du«, erwiderte Hugo Benson. »Ich sage, daß ein Mädchen, das jung und intelligent ist und von einem ausgezeichneten Lehrer unterrichtet wird, sehr viele Leute hinters Licht führen könnte.«

»Sie müßten ja alle schwachsinnig sein«, ereiferte sich Archie Carnforth. »Bildest du dir etwa ein, daß einer von uns sich von einer Außenseiterin täuschen lassen würde? Natürlich nicht!«

»Ich glaube, es hängt davon ab, ob das Mädchen gut aussieht und wie es gekleidet ist«, warf Perry ein.

»Wir sprechen schließlich nicht von Prostituierten«, konterte Archie Carnforth, »wir sprechen davon, ob man intelligente Leute glauben machen kann, ein einfaches junges Mädchen sei eine Dame, denn darum geht es in Shaws Stück. Ich halte das für lächerlich.«

»Ich bin ganz deiner Meinung«, sagte einer der Gäste. »Man kann die Gesellschaft leicht täuschen, aber genau das ist für die Eingeweihten unter Umständen außerordentlich aufschlußreich.«

»Was meinst du damit?« fragte jemand.

»Nun, nimm zum Beispiel uns«, sagte Archie Carnforth. »Angenommen, jemand versuchte, uns ein einfaches Mädchen unterzuschieben. Wir würden doch sofort merken, ob sie echt ist oder nicht. Es wäre so, als ob man behaupten würde eine unechte Halskette sei von Cartier. Wir würden sie sofort als Imitation erkennen. Was meinst du, Alstone?«

»Ich bin geneigt, dir zuzustimmen«, sagte der Herzog. »Aber ich kann mir gut denken, daß Shaws Stück recht interessant ist. Ich werde es mir ansehen.«

»Ich würde dafür keinen Penny ausgeben«, sagte Archie Carnforth. »Das Ganze ist von Anfang bis zum Ende Schwindel.«

»Da bin ich nicht deiner Meinung«, erklärte Sir Hugo Benson. »Außerdem glaube ich, daß Frauen so anpassungsfähig sind wie ein Chamäleon, das je nach Bedarf die Farbe wechseln kann.«

»Das ist doch der reinste Unfug«, sagte Lord Carnforth aggressiv. »Frauen müssen in ihrer Gesellschaftsschicht bleiben, andernfalls sind sie hilflos oder fallen auf wie ein Pickel auf der Nase.«

Sir Hugo stand auf.

»Das ist das Dümmste, was ich je gehört habe«, fauchte er. »Natürlich haben sich die Frauen die ganze Geschichte hindurch der Gesellschaft angepaßt, in die sie durch die Umstände hineingestellt wurden; darüber hinaus ist es ihnen oft genug gelungen, die Königin zu spielen, manchmal sogar buchstäblich.«

»Dieser Meinung bin ich allerdings auch«, bemerkte der Herzog.

»Ich zweifle daran, daß Hugo das beweisen kann«, erwiderte Archie Carnforth.

»Kannst du es?« fragte ein anderer.

»Betrachte es doch einmal von dieser Seite«, sagte Lord Carnforth. »Wir kennen einander sehr gut und wir kennen auch die Frauen, die Alstone aushält, so wie er uns großzügig aushält. Könnt ihr euch vorstellen, daß eine Fremde aus einem anderen Milieu, die plötzlich unter uns auftaucht, nicht auf höchst peinliche Art und Weise isoliert wäre und wir uns in ihrer Gegenwart entsetzlich langweilen würden?«

»Ich weiß, was du meinst. Sie würde einfach nicht dazu gehören. Sie würde unsere Witze nicht verstehen, könnte unseren Gesprächen nicht folgen, und es könnte sein, daß es für sie ebenso peinlich wäre wie für uns.«

»Genau«, sagte Archie. »Und Hugo weiß darauf nichts zu erwidern.«

»Aber natürlich«, fauchte Sir Hugo. »Keine Gesellschaft ist statisch. Neue Menschen kommen dazu, und obwohl sie sich zuerst vielleicht fremd fühlen, passen sie sich rasch an.«

»Trotzdem behaupte ich, es ist nicht leicht, wenn derjenige nicht in der gleichen Gesellschaftsschicht geboren worden ist, oder die gleichen Interessen hat wie diejenigen, mit denen er verkehrt«, sagte Archie Carnforth.

Er blickte sich im Zimmer um, ehe er fortfuhr: »Stellt euch vor, wir hätten heute abend einen Mann hier, der noch nie bei einem Rennen war, nie Bridge gespielt hat, keine höhere Schule besucht hat und nie zuvor mit uns zusammen war. Ich kann nur sagen, mir täte der arme Teufel verdammt leid.«

»Aber angenommen, es wäre eine Frau?« fragte jemand lachend.

»Selbst, wenn sie hübsch oder sogar schön wäre, käme sie sich reichlich verloren vor, wenn sie keinen von uns kennt, niemals irgendwo gewesen ist, wo wir verkehren, und nicht weiß, daß Alstone der attraktivste Herzog im ganzen Debretts Adelskalender ist«, erwiderte Lord Carnforth.

»Sie müßte blind sein, wenn sie das nicht sieht«, sagte Perry, und es erhob sich schallendes Gelächter.

»Frauen haben es da leichter als Männer«, sagte Sir Hugo, als das Lachen abebbte. »Und deshalb behaupte ich, daß Shaws Pygmalion durchaus etwas für sich hat. Außerdem nahm sich dieser Professor viel Zeit, um Eliza Doolittle eine korrekte Aussprache beizubringen, schließlich ist er Phonetiker. Angenommen, wir suchen ein Mädchen aus guter Familie aus — glaubst du nicht, daß sie sich sehr schnell bei uns zu Hause fühlen würde? Ich bin sicher, wir würden sie ohne weiteres akzeptieren.«

»Unmöglich«, widersprach Archie Carnforth, »kannst du dir etwa ein einfaches Mädchen vorstellen, das sich mit Daisy oder Kitty unterhält, ohne daß diese sie durchschauen? Sie wäre innerhalb von wenigen Minuten in Tränen aufgelöst.«

»Wenn sie so jung wie Shaws Eliza Doolittle wäre, glaube ich, daß beide sie akzeptieren würden«, meinte Sir Hugo.

»Sehr jung? Großer Gott, hast du schon einmal ein Mädchen erlebt, das direkt aus dem Schulzimmer kam?« fragte Archie Carnforth. »Die sind linkisch, ungewandt und hoffnungslos schüchtern. Ich staune immer wieder, wie der bloße Akt des Heiratens sie in die geistvollen, charmanten Wesen verwandelt, die wir alle so reizend finden.«

»Vermutlich hat die Ehe eine ähnliche Wirkung wie Shaws Phonetiker«, gab Sir Hugo zu. »Aber wir kommen vom Thema ab. Ich behaupte, daß es möglich wäre, eine Außenseiterin wie dieses verdammte Pferd, das heute nachmittag gewonnen und den Favoriten geschlagen hat, einzuschmuggeln.«

Man sah dem Herzog an, daß er sich für das Thema interessierte. Nach einer Weile sagte er: »Du behauptest also, wenn ein einfaches junges Mädchen in unseren Kreis eingeführt würde, wäre sie nicht linkisch und schüchtern, wie Archie behauptet, sondern bald ebenso sicher und gewandt in ihrem Auftreten wie wir selbst es von uns glauben?«

»Wie wir es sind«, behauptete Perry.

»Nun gut. Wie wir es sind«, gab der Herzog nach.

»Das ist richtig«, sagte Sir Hugo. »Du hast es treffend ausgedrückt. Und was meinst du dazu, Archie?«

»Ich sage, ihr habt den Verstand verloren! So etwas ist im wirklichen Leben vollkommen absurd. Aber wenn du deiner so sicher bist, Hugo, dann beweise es uns doch!«

Es trat ein überraschtes Schweigen ein.

Dann sagte der Herzog in einem amüsierten Tonfall: »Das ist eine Herausforderung, Hugo, und ich bin bereit, darauf eine Wette einzugehen.«

»Ich auch«, rief einer. »Wer führt das Buch?«

»Ich«, sagte Perry.

Er glaubte, daß dies eine ausgezeichnete Gelegenheit war, den Herzog aus seiner melancholischen Lethargie zu reißen.

Er ging zum Louis-XIV.-Schreibtisch hinüber, nahm ein Blatt Schreibpapier aus der Samtschachtel und einen Federkiel.

»Ich hoffe, du verfluchst uns nicht, Hugo«, sagte er.

»Laßt mich nur einen Augenblick nachdenken«, sagte Sir Hugo.

»Wir fordern dich auf, ein junges Mädchen herbeizuschaffen«, drängte der Herzog. »Um Zeit zu sparen, darf sie aus gutem Hause sein, sie soll aber bisher keinen Kontakt mit der höheren Gesellschaft gehabt haben und keine Erfahrung mit dem, was uns allen vertraut ist. Innerhalb kürzester Zeit muß sie sich in unserer Gesellschaft so wohl fühlen, daß wir sie als eine von uns akzeptieren. Ist das richtig so?«

Sir Hugo nickte.

Lord Carnforth meinte lächelnd: »Ich bin bereit, tausend zu eins zu wetten, daß Hugo mit seinen recht theoretischen Ansichten kläglich scheitert.«

»Ich stimme dir zu«, sagte der Mann, der neben ihm saß.

»Schön, Hugo, ich wette fünfhundert Pfund Sterling, daß das Experiment mißlingt.«

»Ich nehme eure Wetten an«, sagte Sir Hugo. »Und wie steht es mit dir, Alstone?«

»Ich bin der Schiedsrichter«, erwiderte der Herzog. »Ich denke, wir sollten uns von allem Anfang an darauf einigen, daß die Entscheidung des Richters unanfechtbar ist, Perry.«

»Ja, natürlich«, stimmte Perry zu. »Noch weitere Wetten? Ich persönlich stehe auf Hugos Seite.«

»Danke, Perry. Ich habe das Gefühl, daß ich einen Freund brauchen kann.«

»Mit mir kannst du auch rechnen«, bemerkte jemand, aber drei weitere Gäste setzten kleinere Beträge ebenfalls gegen Sir Hugo.