Die Autorin

Karin Kehrer – Foto © privat

Karin Kehrer lebt und arbeitet im Mühlviertel in Oberösterreich. Für ihre Kurzgeschichte und Romane in den Genres Krimi, Fantasy und Thriller lässt sie sich von der malerischen Landschaft des Mühlviertels und von Reisen auf die Britischen Inseln inspirieren. Neben dem Wandern zählt auch das Singen zu ihren großen Hobbys. 

Das Buch

Bee Merryweather ermittelt in ihrem zweiten Fall Es ist Herbst in South Pendrick und die Nachfrage nach Bees gehäkelten Eierwärmern steigt. Bee muss ihren Garnvorrat dringend aufstocken und macht sich auf den Weg ins Dorf. Als sie bei ihren neuen Nachbarn Percy und Lavinia in Waterford Manor vorbeikommt, trifft sie einen Fremden, der vorgibt Fotos vom Herrenhaus zu machen. Wenige Tage später buddelt der Nachbarshund die Leiche eben jenes Mannes aus. Bees Aufmerksamkeit ist geweckt, doch das Nachbarspaar, das sonst immer so freundlich ist, wirkt plötzlich abweisend und reagiert verstimmt auf Bees Schnüffeleien. Anlässlich eines Geburtstages wird auf dem Anwesen eine Feier veranstaltet, bei der ein weiterer Toter gefunden wird. Bee ist sofort klar, dass es nur einer von den Partygästen gewesen sein kann. Doch wer hatte ein Motiv? Von Karin Kehrer sind bei Midnight by Ullstein erschienen: Todesklang und Chorgesang Leichenschmaus im Herrenhaus

Karin Kehrer

Leichenschmaus im Herrenhaus

Ein Cornwall-Krimi

Midnight by Ullstein
midnight.ullstein.de

Originalausgabe bei Midnight Midnight ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin August 2019 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat E-Book powered by pepyrus.com ISBN 978-3-95819-258-4

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Kapitel 1

Über dem Rasen, der trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit noch immer ein saftiges Grün aufwies, lagerten feine Dunstschleier. Sie milderten die Konturen des grauen Klotzes, der sich im Hintergrund erhob. Waterford Manor. Zeichen vergangenen Reichtums, vergessener Größe. Alles, was geblieben war von einer Familie, die ebenso wie andere dieses Standes die Bevölkerung für ihre Zwecke ausgenutzt und auf deren Kosten ein angenehmes Leben geführt hatte.

Gut, ganz stimmte das nicht. Immerhin hatte einer dieser Privilegierten das Dorf South Pendrick erbaut, um den Arbeitern in der Schiefermine ein Zuhause zu geben. Winzige Cottages aus dem Stein dieser Mine, aufgereiht an einer Hauptstraße mit Kreisverkehr, an deren Ende eine Kirche mit einem für dieses kleine Dorf viel zu wuchtigen Turm, einem Pub, einer Schule, der Polizeistation und einem Gemischtwarenladen. Etwa ein Drittel der Gebäude stand leer, auch das Pfarrhaus. Ein zum Aussterben verurteilter Flecken mitten in Cornwall.

Obwohl – das konnte man eventuell mit den nötigen finanziellen Mitteln ändern. South Pendrick war vorübergehend zu medialer Aufmerksamkeit gelangt, als gleich drei Todesfälle die Dorfgemeinschaft gehörig erschütterten. Vielleicht ließ sich auch eineinhalb Jahre nach den tragischen Ereignissen noch Kapital daraus schlagen? Eine inszenierte Mördersuche für die Touristen. Ein Krimi-Dinner.

Percy Sheldrake schüttelte den Kopf. Seltsam, welche Gedanken ihm plötzlich durch den Kopf geisterten! Daran war nur seine Schlaflosigkeit schuld, die ihn in den letzten Wochen plagte. Litt er womöglich schon an seniler Bettflucht?

Unsinn. Nicht in seinem Alter. Das fing doch erst mit sechzig an, oder? Davon war er noch zehn Jahre entfernt. Aber daran mochte er nicht denken. Im Hier und Jetzt leben. Jeden Tag genießen, das war wichtig, sonst nichts.

Er trat durch die Glastür aus dem Wohnzimmer ins Freie, tastete nach den Zigaretten in der Tasche seines Morgenmantels, zündete sich eine davon an und inhalierte gierig. Er starrte auf den von Morgentau feuchten Rasen. Die Nebelschleier hoben sich langsam, am Himmel war schon eine Ahnung von Blau zu erkennen. Es würde ein schöner Septembertag werden. Schade. Er liebte Nebel. Dieses Weiß hatte etwas Geheimnisvolles, es verbarg Hässliches wie Schönes, machte alles gleich. Es brachte die Menschen dazu, behutsamer und vorsichtiger zu sein.

Ein Lächeln zuckte um seinen Mundwinkel. Wurde er auf seine alten Tage zum Poeten?

Er fuhr zusammen, als ein lautes, vielstimmiges Krächzen erscholl. Eine Schar Krähen ließ sich auf dem Rasen nieder und begann eifrig zu picken. Lästige Störenfriede! Gaben nur Obszönitäten von sich! Schwarmdenken. Er hatte sich davon gelöst, in manchen Bereichen des Lebens war es sicherer, allein zu handeln und sich nicht auf andere zu verlassen. Mitwisser störten früher oder später immer, wie er zurzeit mit Bedauern feststellen musste. Als ob er nicht schon genug Probleme hatte!

Am liebsten hätte er seine Flinte geholt, um die Vögel abzuschießen. Nur um zu sehen, ob er so treffsicher wie früher war. Aber dann unterdrückte er den Impuls. Es hätte nur für unnötigen Aufruhr gesorgt, und die morgendliche Stille war ihm heilig.

Er warf den Zigarettenstummel auf den Boden und trat ihn mit der Fußspitze aus. Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen schob er ihn zur Seite. Er hätte das Rauchen längst aufgeben müssen, aber das konnte er nicht. Es spielte ohnehin keine Rolle mehr. Warum sollte er sich mit einem Entzug peinigen? Er hustete, und stechender Schmerz schoss in seine Brust, breitete sich darin aus und ließ ihn hilflos nach Luft schnappen. Sein Atem rasselte. Ein beängstigendes Geräusch. Er keuchte, zwang sich, regelmäßig ein- und wieder auszuatmen. Der Schmerz verschwand. Das tat er immer, aber er kam auch immer wieder. Um ihn daran zu erinnern, wie es um ihn stand.

Er fröstelte, zog den Morgenmantel enger um sich. Burgunderrote chinesische Seide mit einem gestickten Drachen auf dem Rücken. Früher hätte er so etwas nicht getragen. Zu schwülstig, zu elitär. Aber er hatte ihn von Vinnie zum Geburtstag bekommen, also tat er ihr den Gefallen.

Die Krähen hackten unbeirrt weiter auf den Rasen ein. Sollte er sie doch verscheuchen?

Er nahm eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr und drehte den Kopf. Sein Blick erfasste die Statue an der Hausecke. Eine nackte Nymphe, die im weichen Licht des restlichen Nebels ein wenig von ihrer Hässlichkeit und Schäbigkeit verlor. Er hätte schon längst mit Lady Amaryllis Waterford Kontakt aufnehmen müssen. Neulich hatte er festgestellt, dass quer über den Sockel ein tiefer Riss verlief. Er hatte Vinnie angewiesen, sich von der Statue fernzuhalten, bis geklärt war, wer sie beseitigen sollte. Seiner Meinung nach war die Hausherrin dafür zuständig, auch wenn sie jetzt irgendwo in Frankreich weilte, um mit ihrem Verlobten das Leben zu genießen.

Neben dem Sockel entdeckte er mit einem Mal einen großen schwarzen Fleck. Percy blinzelte. Der Fleck hatte einen Schwanz, dessen Spitze aufgeregt zuckte. Der Kater seiner Nachbarin Bee Merryweather. Wie hieß er gleich? Irgendwas von Shakespeare. Othello, genau.

Percy starrte auf den Kater, der fasziniert die Krähen beobachtete. Würde er es wagen, auf eine von ihnen loszugehen?

Er war sich nicht sicher, ob er Mrs Merryweather leiden konnte. Neugierige alte Schachtel. Aber Vinnie mochte sie offensichtlich, besuchte sie öfter, um mit ihr Tee zu trinken.

Der Kater duckte sich, trippelte mit den Hinterbeinen. Gleich würde er springen.

Percy sah gebannt zu, fühlte die Spannung des Jägers. Er wünschte ihm Erfolg. Mutiger Kerl. Groß und prächtig, schimmerndes Fell. Ein wahrer Herrscher in seinem Revier.

Der Kater machte einen Satz. Der Schwarm stob mit protestierendem Krächzen auf, eine Wolke von schwarzen Federn.

Der Kater stand allein auf dem Rasen, sah dem lärmenden Federvieh hinterher. Dann schritt er über das Gras davon, mit weichen, federnden Schritten, in königlicher Haltung. Eine unbedeutende Niederlage, weiter nichts.

Percy beobachtete ihn, bis er am Ende des Fußweges verschwand, der zum Cottage seiner Nachbarin führte. Schade, alter Junge. Aber wenn nicht heute, dann beim nächsten Mal. Beharrlichkeit führte fast immer zum Ziel. Er selbst war das beste Beispiel dafür. Er hatte alles erreicht, wovon er geträumt hatte. Macht, Geld, eine schöne junge Frau, die ihn anbetete. Nun, es war wohl nicht ganz sicher, ob es doch nicht eher sein Reichtum war, der ihr gefiel. Aber das hinterfragte er nicht, und es spielte wohl auch kaum eine Rolle. Wenn sie ging, würde er schnell eine andere bekommen. Sie waren austauschbar, diese Gefährtinnen, auch wenn er vielleicht nicht mehr viele davon haben würde.

Er schmunzelte. Vinnie war eine angenehme Begleiterin. Ein wenig naiv, leicht zu beeindrucken und zu lenken. Sie war geradezu vernarrt in dieses Haus, in dem es angeblich spuken sollte, redete von Schwingungen und Atmosphäre. Unter anderem hatte er deshalb die alte Bude gemietet, in der der Mief der Vergangenheit lagerte, in der es ständig zog, auch wenn die Fenster geschlossen waren. Er würde Unsummen an Heizkosten haben, das wusste er schon jetzt. Aber das konnte er verkraften.

Denn auch er wollte genau hier sein, in diesem Relikt vergangener Größe. Am liebsten hätte er das Herrenhaus selbst angemietet, aber das hatte der National Trust natürlich nicht zugelassen. Das Witwenhaus von Waterford Manor musste genügen, bis er seine Pläne in die Tat umgesetzt hatte. Eigentlich hatte er andere gehabt, aber manchmal spielte das Schicksal schlimme Streiche.

Das Handy in der Tasche seines Morgenmantels vibrierte. Er runzelte die Stirn. Wer störte ihn so früh am Morgen? Er wusste im gleichen Moment die Antwort, und es widerstrebte ihm, die Nachricht zu lesen. Dann holte er das Handy doch aus der Tasche, starrte auf das Display. Er schüttelte unwillig den Kopf, löschte die Nachricht und steckte das Mobiltelefon wieder ein. Was für ein Idiot!

Er wandte sich ab, schloss die Glastür und ging durch das Wohnzimmer in die Diele. Die Treppe knarrte unter seinem Gewicht, als er die ersten Stufen nahm.

Er betrat den Flur, zögerte kurz vor der Tür seines Schlafzimmers. Die Vorstellung, noch einmal unter die bereits ausgekühlten Laken zu kriechen, widerstrebte ihm. Er brauchte jetzt Wärme und einen weichen, weiblichen Körper, der sich willig an ihn schmiegte.

Percy öffnete leise die Tür zum Schlafzimmer seiner Frau. Vage nahm er im Dämmerlicht, das durch die zugezogenen Vorhänge fiel, ihre Konturen im Bett wahr. Als er nähertrat, hörte er ein leises Fiepen. Natürlich schlief der blöde Köter wieder bei ihr!

»Raus hier, du hässliches Biest«, zischte Percy und schubste die Bullterrier-Hündin aus dem Bett. Sie winselte und trottete zu ihrem Korb, um sich mit einem protestierenden Schnaufen darin zusammenzurollen. Weiß Gott, warum Vinnie an dieser dummen, unerzogenen Töle eine solche Freude hatte!

Er schlüpfte aus dem Morgenmantel, ließ ihn achtlos auf den Boden fallen und stieg in das Bett. Dann schmiegte er sich an Vinnies Rücken, umschlang ihren schlafwarmen Körper und schob ihr Nachthemd hoch. Sie versteifte sich kurz, seufzte leise und lag dann still, ergab sich seinen Berührungen. Kurz darauf legte er sich schwer atmend auf den Rücken, schloss die Augen und schlief mit einem zufriedenen Lächeln ein.

Kapitel 2

Bee Merryweather zupfte die goldfarbene Schleife zurecht, die sie um die Schachtel geschlungen hatte. Darin befanden sich fünfzig gehäkelte Eierwärmer in Tannenbaumform, dunkelgrün, bestickt mit roten und weißen Perlen, eingeschlagen in Seidenpapier. Wie immer war sie froh, einen Auftrag erledigt zu haben. Ja, es machte Spaß, die Anforderungen der Kunden erfüllen zu können, die Arbeit selbst sah sie als Entspannung, und doch freute sie sich schon jetzt auf eine neue Herausforderung. Aufträge wie dieser führten auch zu einer gewissen Monotonie, und mittlerweile konnte sie dieses Grün nicht mehr sehen.

Dank der Bemühungen von Stewart, dem Sohn ihres Freundes Dr. Marcus Strong, der ihr eine Website gestaltet hatte, konnte sie über mangelnde Aufträge für ihre gehäkelten Eierwärmer nicht klagen. Der nächste wartete schon, aber die Inhaber der Frühstückspension in Truro waren sich über das Modell noch nicht einig.

Bee warf einen Blick auf die Uhr. Fünf Minuten vor halb neun. Alles war fertig. Gleich würde Marcus kommen, um sie abzuholen. Es war seine Idee gewesen, die Eierwärmer direkt bei ihrem Auftraggeber, dem Fünfsternehotel The Avalon in Tintagel, abzugeben, nachdem er sich in den letzten Wochen ziemlich rargemacht hatte.

Sie trat vor die Tür des Cottage, um nach Marcus´ Wagen Ausschau zu halten, und quietschte erschrocken, als sie die riesige tote Maus auf dem Fußabstreifer entdeckte. Mit ziemlicher Sicherheit ein Geschenk von Othello. Neuerdings dehnte er seinen Morgenspaziergang immer weiter aus, und daran hatten nicht nur die kleinen Nager Schuld, die sich überall im Park und auf den Wiesen tummelten, um Reserven für den Winter anzulegen. Er streunte mit Vorliebe in der Nähe des Witwenhauses herum, um mit Sugar zu spielen, der weißen Bullterrier-Hündin von Lavinia Sheldrake.

Vor mittlerweile fünfeinhalb Jahren hatte sie den schwarzen Kater aus dem Tierheim geholt, zusammen mit seiner Gefährtin, einer Cockerspaniel-Hündin. Deren Frauchen war verstorben. Ihr Mann Wilbur und sie hatten damals die beiden unzertrennlichen Tiere aufgenommen. Leider mussten sie die Hündin ein paar Monate später einschläfern lassen. Sie hatte einen Bandscheibenvorfall erlitten – ein typisches Leiden für diese Hunderasse. Othello hatte sichtlich um seine Gefährtin getrauert. Sie hatten dann Dessy und Jago aufgenommen, damit er Gesellschaft hatte, aber vielleicht erinnerte ihn Sugar an seine hündische Freundin.

Bee stieß einen Seufzer aus und holte Kehrbesen und Mistschaufel aus dem Schrank im Flur, um den Kadaver zu beseitigen. Dann spähte sie in den Garten und rief den Kater, in der Hoffnung, den fleißigen Jäger noch dazu bewegen zu können, ins Haus zurückzukehren. Die Katzen konnten jederzeit ins Freie, es gab eine Katzenklappe in der Haustür, aber es war ihr lieber, alle drei geborgen auf der Couch im Wohnzimmer zu wissen, wenn sie wegfuhr.

»Othello?« Sie ließ ihren Blick über den pinkfarbenen Zaun schweifen, der ihr kleines Grundstück begrenzte. Ihr ganzer Stolz, sah er doch wirklich prächtig aus. Zwischen den weißen Hortensienbüschen hatte sie dieses Jahr Dahlien und Astern in Farbabstufungen von Hellrosa bis Dunkelviolett gepflanzt. Sie hoffte, den Kater irgendwo inmitten der Blumen zu entdecken, doch sie musste noch zwei Mal rufen, ehe er mit einem Satz über den Zaun hechtete. Sie zuckte zusammen. Er lief mit erhobenem Schwanz auf sie zu und miaute durchdringend.

Sie bückte sich erleichtert, um ihn zu streicheln. »Jaja, du Streuner! Jetzt kommst du an und beschwerst dich, weil du noch kein Frühstück hattest. Na, komm, Dessy und Jago warten bestimmt schon auf dich!«

Im Gegensatz zu Othello verließen die weiße langhaarige Katzendame Desdemona und der grau getigerte Jago so gut wie nie das Haus und hatten es sich schon auf der Couch im Wohnzimmer gemütlich gemacht.

Sie ging zurück in die Küche, um Othello zu füttern. Er begann gierig zu fressen, als hätte er tagelang hungern müssen. Typisch! Sie musste lächeln, als sie ihm zusah.

Vor der Haustür ertönte ein Hupen. Ach, du liebe Zeit! Jetzt musste sie sich aber beeilen!

Sie holte die Schachtel aus dem Wohnzimmer. Dessy und Jago hoben nur mit einem schläfrigen Blinzeln die Köpfe und rollten sich dann wieder zusammen.

»Bye, ihr Lieben. Seid schön brav. Ich komme gegen Abend wieder nach Hause.«

Bee schlüpfte in ihre dunkelblaue Wollweste, überlegte kurz, ob sie auch das Cape mitnehmen sollte, und entschied sich dann dafür. Der Tag versprach zwar sonnig zu werden, aber an der Küste wehte immer eine kühle Brise vom Atlantik her.

Sie klemmte die Schachtel unter den Arm und schloss die Haustür ab. Marcus Strong war schon ausgestiegen und kam ihr auf dem schmalen, gepflasterten Zugang entgegen. Wie jedes Mal, wenn sie ihn sah, machte ihr Herz einen kleinen Hüpfer. Er war trotz seiner sechzig Jahre immer noch ein attraktiver Mann. Groß und schlank, mit einem gepflegten grauen Vollbart, grauem, dichtem Haar und Brille. Er trug ein sportliches Tweed-Sakko und Jeans.

»Guten Morgen, meine Liebe. Alles in Ordnung?« Er küsste sie auf beide Wangen und nahm ihr die Schachtel ab.

»Hallo, Marcus. Ja, natürlich, alles bestens.« Sie lächelte ihn an und musterte ihn dann forschend. »Bei dir auch?« Er sah besser aus als bei ihrem letzten Zusammentreffen, auch wenn er noch immer ein wenig müde und traurig wirkte. Also hatten sich die Wogen wohl geglättet, nachdem seine Frau wieder einmal reumütig zu ihm zurückgekehrt war. Er zuckte mit den Schultern. »Sie ist wieder weg.«

»Aha.«

Bevor sie nachfragen konnte, wandte er sich um und ging zum Wagen, den er vor dem Zugang geparkt hatte.

In den eineinhalb Jahren, seit sie Marcus kannte, war sein Leben – und somit auch ihres – von seiner On-off-Beziehung zu seiner Frau bestimmt. Bee hatte aufgehört zu zählen, wie oft Hillary ihn verlassen hatte und wieder zu ihm zurückgekehrt war. Hillary schien neuerdings an Depressionen zu leiden, wenn sie nicht gerade einen neuen Liebhaber hatte, und Marcus fühlte sich dann natürlich verpflichtet, sie zu unterstützen. Wobei Bee mittlerweile den Verdacht nicht mehr loswurde, dass Hillary seine Gutmütigkeit nur ausnutzte. Sie hätte ihm vorschlagen können, Hillary endgültig zu verlassen, aber sie scheute sich davor, obwohl sie Freunde waren.

Marcus stellte die Schachtel mit den Eierwärmern auf den Rücksitz und stieg ein. Bee setzte sich auf den Beifahrersitz und schnallte sich an.

Marcus startete den Wagen und lenkte ihn auf die schmale Straße, während Bee überlegte, ob sie das Thema Hillary noch einmal zur Sprache bringen sollte. Sie warf ihm einen vorsichtigen Seitenblick zu.

Marcus hatte ihn natürlich bemerkt und lächelte ihr kurz zu. »Ich frage mich, ob du dir nicht ein Auto zulegen solltest«, sagte er plötzlich.

Bee erstarrte. Ein Auto? Sie genoss ihre gemeinsamen Ausflüge immer sehr, aber vielleicht wollte er sie nicht mehr? »Ich … ich weiß nicht.« Sie senkte den Blick und verkrampfte ihre Hände im Schoß, wagte nicht, ihn anzusehen.

Er lachte. »Jetzt denkst du, ich möchte nicht mehr mit dir unterwegs sein.«

Sie nickte. »Es … ich meine, wenn du Wichtigeres zu tun hast …« Natürlich hatte sie manchmal ein schlechtes Gewissen. Marcus war schließlich ein vielbeschäftigter Arzt mit eigener Praxis. Und wie es bei Landärzten so üblich war, hatte er meist mehr als genug Patienten und Einsätze.

»Aber nein, Liebes, so etwas darfst du nicht denken!« Er schüttelte den Kopf. »Ich meine nur, es ist schade, wenn du dich selbst so einschränkst. Du hast schließlich den Führerschein, und dann wärst du viel unabhängiger. Ich kann dir auch gerne Fahrstunden geben, wenn du möchtest.«

»Ja, vielleicht hast du recht.« In Wahrheit graute ihr vor dem Gedanken. Sie war nie gerne selbst gefahren. Während ihrer Ehe hatte das wie selbstverständlich ihr Mann Wilbur übernommen, und als er dann bei diesem schrecklichen Unfall ums Leben gekommen war, brachte sie es zwei Jahre lang nicht einmal fertig, überhaupt in ein Auto zu steigen. Mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt, mit dem Rad zu fahren. Das hatte sie auch nicht aufgegeben, nachdem sie vor eineinhalb Jahren nach einem Mordanschlag schlimm gestürzt war. 

»Warst du eigentlich schon einmal in Tintagel?«, versuchte sie den Gedanken an die unerfreulichen Ereignisse von damals beiseitezuschieben.

Marcus nickte. »Ist aber schon einige Jahre her. Ich war zusammen mit den Jungs dort. Sie wollten unbedingt Merlin’s Cave und die Burg sehen.«

»Ach ja, genau.« Bee hatte sich, als feststand, dass sie diesen Ausflug unternehmen würden, über die Sehenswürdigkeiten in dem kleinen Ort informiert. Sie selbst war noch nie dort gewesen.

Während der etwa zwanzig Minuten langen Fahrt sprachen sie nicht mehr viel. Bee hing ihren Gedanken nach, und auch wenn sie mit Marcus über so einige Themen reden wollte, erschien ihr eine Autofahrt doch nicht gerade geeignet dafür. Irgendwann würde er seine privaten Probleme klären müssen, denn so konnte es nicht weitergehen.

Fürs Erste nahm sie sich aber vor, den wunderschönen Herbsttag in Marcus´ Gesellschaft einfach zu genießen. Der morgendliche Nebel hatte sich verzogen, die Sonne strahlte von einem blitzblauen Himmel und tauchte die Landschaft in intensive Farben. Sattgrüne Wiesen, sanfte Hügel, gesäumt von den dunkleren Flecken von kleinen Wäldern, dazwischen verstreut einzelne Cottages mit weiß getünchten Mauern. Selbst die grauen Schieferdächer wirkten heute freundlich. Es herrschte kaum Verkehr, die meisten Touristen waren bereits fort, nur ein einziger Reisebus kam ihnen entgegen, und Marcus hielt an, um ihn auf der schmalen Straße vorbeizulassen.

Wenig später erreichten sie Tintagel. Das Hotel, in dem sie ihre Ware abliefern sollte, befand sich an der Atlantic Road. Sie fuhren am Old Post Office vorbei, einem der wohl am meisten fotografierten Gebäude in dem kleinen Ort. Auch Bee wollte es mit Marcus später besichtigen.

Marcus stellte den Wagen auf dem großen Parkplatz gegenüber vom Hotel ab. The Avalon war ein dreistöckiger heller Bau im Edwardianischen Stil mit Erkern und Giebeln. Bee gefiel es sofort, aber es war wohl nicht ganz ihre Preisklasse. Klein, aber sehr fein.

In der Hotelhalle, die mit bunten Fliesen ausgelegt war, kam ihnen der Besitzer entgegen. Ein freundlicher, grau melierter Herr, der sie zu einer Tasse Tee in den schönen Garten einlud. Bee und Marcus nahmen Platz, nachdem die geschäftlichen Formalitäten abgewickelt waren.

Bee lehnte sich mit einem Seufzer zurück, schloss die Augen und hielt ihr Gesicht in die Sonne. Sie zuckte zusammen, als Marcus leicht ihre Hand berührte. »Es tut mir leid«, meinte er leise.

Sie öffnete die Augen. »Was?«

Er sah sie verlegen an. »Ich bin … mir ist bewusst, dass ich mich dir gegenüber unmöglich verhalten habe. Du hast das nicht verdient. Aber es ist – schwierig.«

»Ich weiß«, sagte sie ernst. Eigentlich wollte sie nicht gerade jetzt über das leidige Thema Hillary reden, dazu war der Tag viel zu schön. Aber wenn Marcus dazu bereit war …

»Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Du glaubst gar nicht, wie oft ich schon daran gedacht habe, endlich die Scheidung einzureichen. Aber kaum schneide ich dieses Thema an, wird sie hysterisch. Oder sie verfällt in Depressionen, wie zuletzt. Dann bringe ich es nicht übers Herz, sie vor vollendete Tatsachen zu stellen. Dass unsere Beziehung am Ende und nicht mehr zu retten ist.«

Bee lächelte traurig. »Du bist eben durch und durch ein Gentleman. Dabei behandelt sie dich die längste Zeit schon wie ihren Fußabstreifer. Du sagtest, sie sei wieder weg?«

Marcus nippte an seiner Teetasse. »Ja.« Er lächelte schief. »Ein Typ auf einem Motorrad hat sie abgeholt. Tätowiert und kahl geschoren. Sie fährt wohl neuerdings auf einen Rocker ab.«

Bee schnappte nach Luft. »Um Himmels willen! Was sagen eigentlich Andrew und Stewart dazu?«

Marcus zuckte mit den Schultern. »Denen ist das alles mehr als peinlich. Sie wollen nichts mehr mit ihrer Mutter zu tun haben.«

»Wie traurig«, murmelte Bee. Sie hatte Hillary Strong bis jetzt nicht persönlich kennengelernt, hatte auch nicht das Bedürfnis danach. Einmal hatte sie zufällig einen Blick auf ein Foto erhascht, das Marcus in der Brieftasche trug. Eine schöne blonde Frau, aber mit einem harten Zug um den Mund. Sie war die einzige Tochter eines angesehenen Arztes, der sich anderes für sein Kind gewünscht hätte als eine Heirat mit einem einfachen Landarzt. Aber Hillary hatte, wie anscheinend meistens, auch damals ihren Willen durchgesetzt.

»Sie glaubt, etwas im Leben versäumt zu haben«, meinte Marcus in ihre Gedanken. »Wir haben wohl wirklich viel zu jung geheiratet. Und jetzt …« Er schüttelte den Kopf.

Bee legte tröstend ihre Hand auf seine und drückte sie. »Eine Entscheidung wird früher oder später nicht ausbleiben.« Er sah sie an. In seinen hellgrauen Augen las sie Erschöpfung, aber auch eine Spur Zärtlichkeit. Ihr Herz stockte kurz. Sie wagte noch immer nicht zu glauben, dass Marcus mehr für sie empfand als Freundschaft. Und doch … Er musste sich tatsächlich entscheiden. Wenn schon nicht ihretwegen, dann seinetwillen. Er war so ein netter, einfühlsamer Mensch, er hatte es nicht verdient, von dieser Furie gequält zu werden …

»Möchten Sie noch Tee?« Die Kellnerin zerstörte den besonderen Moment mit ihrem Auftauchen.

Marcus schüttelte den Kopf. »Nein, vielen Dank. Ich glaube, wir werden uns noch ein wenig hier umsehen, nicht wahr?«, sagte er, zu Bee gewandt.

»Ja, natürlich. Wenn wir schon einmal hier sind …«

Wenig später wanderten sie durch das Dorf, besichtigten die vielen kleinen Geschenkläden und natürlich das alte Postamt. Das komplett aus Schiefersteinen errichtete Cottage aus dem 14. Jahrhundert faszinierte Bee. Ursprünglich als Farmhaus erbaut, wurde es im Viktorianischen Zeitalter als Poststation genutzt und beinhaltete heute eine Ausstellung dazu.

Sie blinzelte, als sie aus den dunklen, niedrigen Räumen wieder in das Sonnenlicht traten.

»Und jetzt zur Burg?« Marcus sah sie fragend an.

»Ja, wunderbar!«

Als sie die Straße entlangmarschierten, die zur Anlage führte, fiel ihr ein buntes Plakat ins Auge.

Meister Jeevan stand darauf in großer, verschnörkelter Schrift. Darunter das Porträt eines Mannes mit verklärtem Blick, langem Haar und Vollbart. Das Ganze sah furchtbar kitschig aus.

»Der Erleuchtete Meister Jeevan übermittelt die Antworten des Universums an die Fragenden«, las Marcus halblaut vor. »Was für ein Quatsch ist das denn?«

»Ach, wer weiß.« Bee schmunzelte. »Vielleicht hat er ja tatsächlich einen Draht zu höheren Sphären. Sieh mal, er hält einen Vortrag im Camelot Castle. Das ist doch dieses Hotel, das an eine Ritterburg erinnert, nicht wahr? Leider erst morgen.«

»Was heißt hier leider?« Marcus schnaubte. »Du willst doch nicht …«

»Na ja, immerhin sieht er gut aus.« Bee lachte.

»Du nimmst mich auf den Arm, oder?«, brummte Marcus. Seine Augen glitzerten. »Das ist doch alles Humbug, um Leichtgläubigen Geld aus der Tasche zu ziehen.«

»Weiß ich doch. Aber immerhin kannst du wieder lachen.«

Er schenkte ihr einen intensiven Blick. »Und dafür danke ich dir.«

Bee bekam weiche Knie. »Das … ich … ach, schon gut.« Ihr wurde heiß, sie senkte den Kopf und starrte auf ihre Schuhspitzen.

»Wollen wir?«

Sie zuckte zusammen und blickte auf.

Marcus lächelte. Unbefangen, wie ihr schien. »Zur Burg, oder?«

»Ja, gerne.« Für einen Moment kam sie sich dumm und unreif vor. Das ging doch nicht an! Sie benahm sich ja wie ein verliebter Teenager!

Sie atmete tief durch und ging hinter Marcus her, der schon den Hinweisschildern zur Burg von Tintagel folgte.

Eine Ankündigung beim Ticketschalter wies darauf hin, dass die Anlage von Oktober bis zum nächsten Frühjahr wegen der Errichtung einer neuen Fußgängerbrücke geschlossen sein würde.

»Da haben wir ja Glück gehabt«, strahlte Bee.

Nachdem Marcus den Eintritt bezahlt und eine Informationsbroschüre gekauft hatte, betraten sie den schmalen Pfad, der zu den Ruinen der Burg führte. Die Aussicht auf die zerklüfteten Felsen war atemberaubend. Bee hielt krampfhaft ihr Cape fest, das immer wieder von einer lebhaften Brise hochgeweht wurde, und folgte Marcus auf dem steilen Abstieg. Eine Treppe führte auf der anderen Seite des Hügels hinauf zu den Überresten der mittelalterlichen Burg, von der behauptet wurde, König Artus hätte sie errichtet. Bee versuchte sich zu erinnern, was sie noch über die Anlage gelesen hatte, aber das war jetzt eigentlich gar nicht so wichtig. Sie wollte einfach nur die spektakuläre Aussicht genießen.

»Du weißt schon, dass das hier nicht wirklich etwas mit König Artus zu tun hat«, meinte sie, nachdem sie die Mauerreste erreicht hatten und kurz verschnauften.

Marcus nickte. »Klar. Die Burg wurde viel später erbaut, aber man fand immerhin ein paar Überreste aus der Keltenzeit. Eine Schiefertafel mit Buchstaben, die angeblich auf Artus hinweisen sollen. Es könnte aber auch sein, dass nur Steinmetze Schriftzeichen geübt haben. Das steht zumindest in dieser Broschüre. Die Halbinsel liegt strategisch ja sehr günstig. Ich bewundere immer, mit wie viel Kraft, Ausdauer und Geschick diese Burgen errichtet wurden, wenn man bedenkt, dass damals noch keine Maschinen zur Verfügung standen. Auch, wie lange manche dieser Gebäude schon bestehen.«

Bee sah sich um. Die Sonne brachte das Grün des Grases und das Grau der Steine zum Leuchten. Die Überreste der Burg, oft nur mehr kaum kniehohe Mauern, fügten sich perfekt in den Verlauf der Hügel ein, waren Teil der Landschaft geworden.

Sie warf jetzt doch einen Blick in das Heft. »Die Überreste hier stammen aus dem 13. Jahrhundert.«

»Tja, ich nehme an, die hässlichen Betonbauten, mit denen wir heutzutage die Landschaft verschandeln, werden nicht so lange überdauern.« Marcus schmunzelte, und Bee dachte wieder einmal daran, wie ähnlich sie sich in ihren Ansichten waren.

Sie streiften eine Weile in einträchtigem Schweigen durch die Anlage. Bee genoss die herrliche Aussicht, die Wärme der Sonne, und selbst der frische Wind, der sie immer wieder an die fortgeschrittene Jahreszeit erinnerte, machte ihr nichts aus. Ab und zu ergriff Marcus ihre Hand, um sie auf dem unwegsamen Pfad zu führen, und jedes Mal durchlief sie ein warmes Prickeln. Sie fragte sich, ob er es auch spürte, aber in solchen Momenten wagte sie nicht, ihn anzusehen.

»Möchtest du auch noch Merlin’s Cave besichtigen?«, sagte sie stattdessen, um sich von den ihr ungehörig erscheinenden Gedanken abzulenken.

»Ja, sicher.« Marcus lächelte ihr zu. Der Ausflug tat ihm gut. Seine Wangen hatten sich gerötet, und die Traurigkeit war aus seinem Blick verschwunden. Sein verschmitztes Grinsen war wieder da, als er ihr den Arm bot. »Gestatten Sie, Madam, dass ich Sie führe.«

Bee nickte huldvoll. »Sehr gerne, Sir, es wäre mir ein Vergnügen.« Sie kicherte, als sie sich bei ihm unterhakte.

Der Abstieg zur Höhle, von der behauptet wurde, sie wäre der Unterschlupf des berühmten Magiers aus der Artus-Sage gewesen, stellte eine kleine Herausforderung dar. Zwar führte eine Treppe über den steilen Abhang, aber die Stufen waren nass und glitschig. Allerdings fühlte sich Bee mit Marcus´ Hilfe sicher. Es fiel ihr jedoch zunehmend schwerer, sich in seiner Gegenwart darauf zu konzentrieren, wohin sie ihre Schritte setzte. Sie atmete tief durch, als sie vor der Höhle standen und in das Halbdunkel spähten.

»Wenn der arme Merlin hier gewohnt hat, muss das ziemlich ungemütlich für ihn gewesen sein.« Marcus grinste.

Bee ging vorsichtig ein Stück in die Höhle hinein. Es war kühl und feucht hier drinnen. Der Boden war mit Gesteinsbrocken bedeckt, zwischen denen Wasser stand. Sie trug zwar feste Schuhe, aber sie widerstand trotzdem der Versuchung, bis ans andere Ende zu gehen, und kehrte schnell wieder um. Stattdessen wanderte sie ein Stückchen den Strand entlang. In dieser kleinen Bucht hatte es früher auch einen Hafen gegeben. Segelschiffe hatten hier noch Anfang 1900 Schiefer geladen, wie sie in der Broschüre gelesen hatte.

»Also ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich hätte jetzt Lust auf einen schönen Cream Tea«, meinte Marcus eine Weile später.

Bee zog ihr Cape enger um die Schultern. »Eine gute Idee. Langsam wird mir auch kalt. Wohin möchtest du? Zurück in den Ort?«

»Ja, mir schwebt die Cornish Bakery vor, da sind wir damals auch gewesen. Die Scones dort waren perfekt, aber auch die Pasties.«

Wenig später betraten sie die kleine Bäckerei, und Bee war froh über die Wärme darin. Denn mittlerweile war sie trotz des sonnigen Tages ziemlich durchgefroren.

Das kleine Lokal wurde von der Theke dominiert. Unter den Glasstürzen türmten sich die Köstlichkeiten: Scones mit Rosinen oder Schokostückchen, handtellergroße Cookies, auch die typische Spezialität Cornwalls, die Pasties, ein Mürbeteiggebäck mit verschiedenen Füllungen. Bee lief das Wasser im Mund zusammen bei so viel Auswahl.

Schließlich entschied sie sich für einen Cream Tea mit frischen Scones, Erdbeermarmelade und Clotted Cream.

Sie schenkte sich den dampfenden Tee ein. »Ich weiß nie, wie man das richtig macht«, gestand sie dann. »Zuerst die Marmelade auf die Scones und dann die Clotted Cream – oder umgekehrt?«

»Das kann ich dir genau sagen. Die ursprüngliche Heimat des Cream Tea ist ja Devonshire«, klärte Marcus sie auf. »Dort wird zuerst die Cream aufgestrichen, dann kommt die Marmelade. In Cornwall wird es genau umgekehrt praktiziert. Aber eigentlich ist es egal, Hauptsache, es schmeckt.«

»Und das tut es wirklich.« Bee beschloss, es diesmal auf die cornische Art zu probieren, und gab zuerst die Marmelade auf den noch warmen Scone, krönte ihn dann mit einem Klecks Clotted Cream.

Herrlich!

Nachdem sie alles verdrückt hatte, fühlte sie sich wunderbar satt und sogar ein wenig schläfrig. Dagegen half wohl nur ein weiterer kleiner Spaziergang, ehe sie die Heimfahrt antraten.

Marcus erstand noch ein Säckchen handgemachtes Fudge und drängte auch ihr eines auf. Sie kannte seine Vorliebe für Süßigkeiten mittlerweile, aber sie machte sich weniger aus dem zuckersüßen Konfekt. Doch sie wollte ihn nicht kränken, deshalb nahm sie es an.

Als sie die Bakery verließen, bemerkte sie mit Bedauern, dass die Schatten bereits länger wurden. Ihr Ausflug neigte sich dem Ende zu. Sie steuerten auf den Parkplatz gegenüber dem Hotel zu, in dem sie die Eierwärmer abgeliefert hatten. Plötzlich hörte sie Gesang und den Klang von Rasseln und Glöckchen. Vor ihnen tauchte eine Gruppe Frauen auf, gekleidet in lange weiße Gewänder. Bee rieb sich die Augen. War das jetzt eine Halluzination, ausgelöst durch den üppigen Cream Tea? Aber auch Marcus starrte verblüfft auf die singenden Frauen, die genau auf sie zukamen. Bee zählte zehn von ihnen, und in ihrer Mitte ging mit lächelndem Gesicht und huldvoll nickend eine Art Jesus-Kopie, ebenfalls in einem weißen Gewand. Allerdings hatte er Zugeständnisse an das englische Klima gemacht und trug feste Schuhe anstatt Sandalen.

»Das ist doch nicht …«, flüsterte Bee fassungslos.

»Oh doch. Meister Jeevan, wie er leibt und lebt.« Marcus grinste sie an.

Bee fasste nach seiner Hand, als die Frauen sie umringten und ihren Gesang fortsetzten. Sie verstand kein Wort, wahrscheinlich war es Indisch. Der Duft nach Räucherstäbchen umwehte sie. »Brahma und Shiva segnen euch«, wisperte eine der Frauen und wedelte mit der Hand vor ihren Augen. Dann trat sie zurück und gab den Blick frei auf ihren Meister. Bee war sofort gefangen von intensiven Blicken aus bernsteinfarbenen Augen. »Der Meister sieht alles«, flüsterte eine andere der Frauen.

Bee zuckte zusammen. Der Mann starrte sie noch immer an, stumm wie ein Fisch. Dann hob er die Hand, schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Die Frauen folgten ihm, begannen wieder zu singen.

»Puh!« Bee wedelte mit der Hand. »Was war das denn?«

»Eine Begegnung der anderen Art«, sagte Marcus trocken. »Also ich würde ja mein bestes Sakko darauf verwetten, dass dieser Schmalspur-Messias weder erleuchtet ist noch jemals in Indien war. Der spielt einfach eine Rolle, weiter nichts. Und die Leute fallen darauf herein.«

»Meinst du?« Ein Frösteln überlief sie. Dieser durchdringende Blick – es war, als würde er kommendes Unheil prophezeien. Aber das war bestimmt nur Einbildung …