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Lotte Minck (*1960) ist von Geburt halb Ruhrpottgöre,
halb Nordseekrabbe. Nach 50 Jahren im Ruhrgebiet und
etlichen Jobs in der Veranstaltungs- und Medienbranche entschied sie
sich, an die Nordseeküste zu ziehen. Erst kürzlich überkam sie
dort heftiges Heimweh, als sie nach Jahren auf dem Land zum ersten
Mal in einen echten Stau geriet, der aus mehr als sieben Autos vor
einer Ampel bestand und sich diese Bezeichnung dank einer halben
Stunde totalen Stillstands redlich verdient hatte. Ihre Heldin
Loretta Luchs und alle Personen in Lorettas Universum sind eine
liebevolle Huldigung an Lotte Mincks alte Heimat.

Besuchen Sie Lotte Minck im Internet:

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www.lovelybooks.de/autor/Lotte-Minck/

www.roman-manufaktur.de

Ruhrpott-Krimödien mit Loretta Luchs bei Droste:

Radieschen von unten

Einer gibt den Löffel ab

An der Mordseeküste

Wenn der Postmann nicht mal klingelt

Tote Hippe an der Strippe

Cool im Pool

Die Jutta saugt nicht mehr

Voll von der Rolle

Mausetot im Mausoleum

3 Zimmer, Küche, Mord

Ruhrpott-Krimödien mit Stella Albrecht bei Droste:

Planetenpolka

Venuswalzer

Lotte Minck

Darf’s ein
bisschen Mord sein?

Eine Ruhrpott-Krimödie mit Loretta Luchs

Droste Verlag

Figuren und Handlung dieses Romans sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und
nicht beabsichtigt.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 Droste Verlag GmbH, Düsseldorf

Umschlaggestaltung: Droste Verlag unter Verwendung

einer Illustration von Ommo Wille, Berlin

eISBN 978-3-7700-4175-6

E-Book-Konvertierung: Bookwire Gesellschaft zum Vertrieb digitaler Medien mbH

www.drosteverlag.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Epilog

Tante Emma und ihre Läden

Kapitel 1

Wo ist der Tierschutz, wenn es darum geht,
Hunde vor Modesünden zu bewahren?, fragt sich Loretta

Als ich die Ladentür öffnete, erklang das vertraute Bimmeln, das mich jedes Mal grinsen ließ, weil es so schön altmodisch war. Das ganze Geschäft wirkte, als wäre hier irgendwann in den Sechzigern die Zeit stehen geblieben, bis hin zur Ladenkasse. Hier wurde nichts mit nervtötendem Piepsen gescannt, hier wurden die Preise noch mit der Hand eingetippt. Neben der Kasse stand selbstverständlich ein großes Glas mit Kirschlollis, aus dem die Kinder sich bedienen durften – falls sie nicht vorher schon ein Stückchen Fleischwurst ergattert hatten. Eigentlich hatte Gitti das nach dem Entweder-oder-Prinzip handhaben wollen, doch endete es meist damit, dass die Kids in der einen Hand ein Stück Wurst und in der anderen einen Lolli als Beute aus dem Laden schleppten.

»Tach, Loretta«, sagte Gitti, die an der Frischetheke – so nannte man es wohl – gerade eine Kundin bediente, die sich prompt neugierig zu mir umdrehte. Aha, Frau Sievers; sie wohnte in meiner Nachbarschaft. Zumindest hatte ich sie schon oft mit ihrem Hund die Straße entlanggehen sehen.

»Tach, Gitti. Tach, Frau Sievers«, erwiderte ich und nahm mir einen der Draht-Einkaufskörbe, die sich neben der Tür zu einem Türmchen stapelten.

»Loretta, haste draußen gesehn? Rosenköhler, frisch geerntet aus Oppa Krause sein Garten. Du magst doch Rosenkohl?«, fragte Gitti, obwohl sie die Antwort kannte.

»Ich geh gleich mal gucken.«

Bimmelbimmelbimmel machte das Glöckchen, als ich wieder hinausging. Tatsächlich, knackfrischer Rosenkohl, noch am Stängel. Und da war auch Purzel, Frau Sievers’ Rauhaardackel, den sie am Fahrradständer angebunden hatte. Als Purzel mich sah, erhob er sich von seinen vier Buchstaben und wedelte frenetisch.

Ich bückte mich zu ihm hinunter und tätschelte seinen Kopf. »Na du? Hat Frauchen dich wieder schick gemacht?«

Als hätte er mich verstanden, hörte er mit dem Wedeln auf und blickte mich so waidwund an, wie es nur Rauhaardackel können. Frau Sievers hatte ihm ein Mäntelchen angezogen, das offenbar von einem Modeschöpfer mit starkem Hang zu glamourösen Effekten stammte: Es war aus royalblauem Samt und mit goldenen Krönchen bestickt. Als hätte ein Rauhaardackel, meines Wissens eine der robustesten Hunderassen überhaupt, ein wärmendes Mäntelchen nötig – vom Design will ich gar nicht erst anfangen.

Immerhin hatten wir nicht klirrende Minusgrade, sondern einige Grad über null, obwohl es kurz vor Weihnachten war. Dass überall nach Schnee geplärrt wurde, konnte ich kein Stück verstehen. Wer Schnee wollte, sollte nach Bayern ziehen. Oder in die Arktis. Hier im Ruhrpott braucht den Schnee kein Mensch.

Na ja – ich nicht.

Vielleicht mal für einen Tag oder so, wenn ich nicht unbedingt Auto fahren musste. Dann würde ich mit der Kamera in den Park gehen und ein paar hübsche Fotos machen, aber gleich danach dürfte der Schnee von mir aus rückstandslos wieder verschwinden.

Purzel fiepte und sah mich flehend an.

»Ich verstehe, dass die Kutte dir peinlich ist«, murmelte ich mit einem abschließenden Kraulen, »aber ich kann dich leider nicht davon befreien, dann schimpft dein Frauchen mit mir. Trag sie mit Würde, Purzel. Wer, wenn nicht du? Siehste.«

Er seufzte schwer und setzte sich wieder hin.

Als ich den Laden wieder betrat, standen Gitti und Frau Sievers an der Kasse.

»Ihr Purzel sieht heute ja aus wie ein Märchenprinz«, sagte ich zu Frau Sievers, und ihr Gesicht leuchtete auf.

»Ja, nicht wahr? Ist aus dem Shopping-Fernsehen. Nicht gerade ein Schnäppchen, aber ich wusste sofort, das ist wie gemacht für mein kleines Schätzchen.«

»Es kleidet ihn ganz vortrefflich«, erwiderte ich und drehte mich schnell weg, denn hinter ihrem Rücken rollte Gitti mit den Augen und ließ den Zeigefinger an der Schläfe kreiseln.

Während die Damen noch ein wenig tratschten, schlenderte ich an den Holzregalen entlang. Hier gab es so herrliche Dinge wie Perlsago, Puddingpulver zum Kochen, Scheuerpulver und Kernseife. Der Honig kam vom lokalen Imker, die Marmelade von Damen aus der Nachbarschaft. Biobauern aus der Umgebung lieferten Käse, Gemüse, Wurst und Fleisch. Das Angebot war überschaubar, aber von überragender Qualität. Gut, ich bekam hier im Dezember keine Himbeeren, aber wurde nicht sowieso empfohlen, sich regional und saisonal zu ernähren? Na also. Seit ich Gittis Laden kannte, kaufte ich kaum noch beim Discounter ein.

Ich hatte das Geschäft gleich bei meinem ersten sonntäglichen Erkundungsrundgang entdeckt, als ich vor einigen Monaten in dieses Viertel gezogen war. Ich hatte es kaum glauben können: ein echter Tante-Emma-Laden! Zwei Schaufenster, in der Mitte die Ladentür. ›Lebensmittel Scheffer‹ verkündete die altmodische, geschwungene Neonschrift oben an der Fassade, und an der rechten Schaufensterscheibe prangte ein fetter grüner Aufkleber mit gelber Beschriftung. Ich traute meinen Augen nicht, aber da stand tatsächlich: ›Leute, kauft bei Scheffer ein, denn Scheffer hält die Preise klein!‹ Mit Ausrufezeichen. Wie lustig war das denn bitte? Eine Gisela Scheffer sei die Eigentümerin, informierte mich ein kleines Schild im Fenster, und die angegebene Adresse legte die Vermutung nahe, dass sie über dem Laden wohnte.

Gleich am nächsten Tag ging ich dort einkaufen; der Fußweg zwischen meinem neuen Zuhause und diesem Geschäft betrug ziemlich genau fünf Minuten. Irgendwie hatte ich eine gemütliche Omi mit grauem Dutt und weißem Kittel erwartet, deren Vater vor Urzeiten das Geschäft eröffnet hatte, aber Gitti war nichts dergleichen. Vom Alter her residierte sie durchaus in der Omi-Kategorie, aber sie war ein drahtiges Persönchen mit strohblond gebleichtem Haar und kohlschwarz nachgezogenen Augenbrauen. Ihren Mozartzopf hielt stilecht eine Samtschleife zusammen, und ihr Lippenstift war für meinen Geschmack einen Tick zu rosa.

Mittlerweile wusste ich, dass sie ein Faible für Oberteile mit jeder Menge Paillettengedöns in durchaus mutigen Farben hatte, die vermutlich vom selben Designer stammten wie Purzels Prunkmäntelchen. Dazu trug sie Jeans und bequeme Schuhe. Ach so, und einen stets offenen Nylonkittel, der in Farbe und/oder Muster nie auch nur im Ansatz zum jeweiligen Pulli des Tages passte. Sie war ein optisches Gesamtkunstwerk, genau wie meine geliebte Kollegin Doris. Nur noch greller.

Unsere erste Begegnung war denkwürdig. Ich betrat den Laden, und die prachtvoll glitzernde Gitti musterte mich prüfend.

»Tach. Sie habbich noch nie hier gesehn«, sagte sie zur Begrüßung.

»Ich bin auch gerade erst hergezogen«, erwiderte ich. »Frau Scheffer, nicht wahr? Ich bin Loretta Luchs. Ich denke, wir sehen uns in Zukunft öfter.«

Keine Ahnung, was mich dazu trieb, mich mit Namen vorzustellen; schließlich war ich nicht in einem Loriot-Film. Auch wäre ich im Discounter in tausend kalten Wintern nicht auf die Idee gekommen, der Kassiererin meinen Namen zu nennen. Wahrscheinlich hatte ihr Anblick mich derart verblüfft, dass ich nicht mehr so genau wusste, was ich sagen sollte. Wie auch immer: Es war genau das Richtige gewesen.

Strahlend hielt sie mir die Hand hin. »Freut mich, Loretta. Ich bin die Gitti. Wat kann ich denn für dich tun?«

»Weiß ich gar nicht so genau. Ich hab Ihren …« Ihre pechschwarzen, dünnen Brauen schossen hoch, und ich fuhr hastig fort: »Also, ich hab deinen Laden gestern entdeckt, und jetzt will ich mich mal umsehen, wenn ich darf.«

Sie nickte. »Nur zu. Wat ich nich hab, kannich besorgen. Körbe sind neben der Tür.«

Damit wandte sie sich wieder der Lieferung zu, die sie gerade auspackte, und ließ mich in Ruhe.

Mittlerweile kannte sie meine Vorlieben – wie die jedes ihrer Stammkunden – und wies mich immer auf frisch eingetroffene Ware hin, von der sie wusste, dass ich sie mochte. Wie in diesem Fall auf den Rosenkohl von Oppa Krause.

Untermalt von einem Bimmeln hatte Frau Sievers den Laden verlassen, und jetzt hörten wir sie draußen mit ihrem Purzel reden. In Babysprache, versteht sich. »Ei, ei, ei, wie sich mein tleines Männlein freut! Will mein tleines Männlein mit der lieben Mami Teita gehen? Na? Na?«

Gitti warf mir einen beredten Blick zu. »Da hat dat tleine Männlein wohl keine Wahl, wat? In wat hat Lore die arme Socke denn heute reingepfercht? Schottenkaro?«

»Nee. Blauer Samt mit goldenen Krönchen.«

Theatralisch warf Gitti die Hände in die Luft. »Dat müsste verboten werden, so ’ne hilflose Kreatur dem öffentlichen Spott auszuliefern. Wo ist der Tierschutz, wenn man ihn braucht, frag ich dich?«

Prustend schüttelte ich den Kopf. »Ach, lass sie doch. Es macht ihr halt Spaß, für ihren geliebten Purzel hübsche Sachen zu kaufen.«

»Hübsch? Na, ich weiß nich.«

Verzweifelt bemühte ich mich, den paillettenverzierten Hirsch auf ihrem Pullover nicht allzu auffällig anzuglotzen. An den Enden seines Geweihs baumelten gestickte Christbaumkugeln. Himmel, hilf. Aber immerhin fügte sich Gitti auf diese Weise nahtlos in die vorweihnachtliche Dekoration des Ladens ein. Blinken und Glitzern, wohin man blickte.

Da ich nichts sagte, fuhr sie fort: »Du ziehst deinem Kater doch keine hübschen Kleidchen an, oder? Obwohl du ihn liebst. Siehste.«

Natürlich wusste sie von Baghira, da ich auch Katzenfutter bei ihr kaufte.

»Nee. Aber der schält mir auch mit seinen Krallen die Haut in Streifen vom Gesicht, wenn ich das versuche.«

Gitti kicherte meckernd, dann deutete sie auf den Rosenkohlstängel in meiner Hand. »Spitze, die Kohlköpfchen, astreine Qualität. Fest und knackig wie der Hintern vonne Svetlana. Dat is die russische Stangentänzerin zwei Häuser weiter.«

Kurz stellte ich mir die Frage, woher sie so genau über die Beschaffenheit von Svetlanas Hintern Bescheid wusste, aber dann zuckte ich innerlich mit den Achseln. Gitti wusste einfach alles.

»Wat darf’s denn sonst noch sein?«, fragte sie.

»100 Gramm Stinkekäse.«

Sie nickte, ging hinter ihre Frischetheke und packte den Tilsiter-Laib aus, den sie dann auf ihre altmodische Schneidemaschine legte. »Dick oder dünn?«

»Mittel.« Während die Maschine surrte, sondierte ich das Angebot. »Die Koteletts sehen fantastisch aus, davon nehme ich eins. Du hast doch mehligkochende Kartoffeln?«

Wieder nickte sie. »Draußen. Nimm die Agria. Willze Pü von machen, hm?« Sie zwinkerte. »Dann weiß ich ja genau, wat heute bei dir auffen Tisch kommt: ein schönes, lecker paniertes Kotelett, gebratener Rosenkohl und Kartoffelpü. Du weißt, wat gut ist.«

»Mensch, Gitti, du bist ja eine richtige Hellseherin«, sagte ich grinsend.

Sie nickte geistesabwesend, denn sie war ganz mit meinem Käse beschäftigt. Erst nahm sie eine Scheibe vom kleinen Stapel auf der Waage, dann legte sie sie wieder drauf. Hm. Ich wusste, was das bedeutete: Scheibe weg – unter 100 Gramm; Scheibe drauf – mehr als 100 Gramm. Natürlich hätte ich direkt drei oder vier Scheiben Käse verlangen können, aber dann hätte ich mich um die Mutter aller Tante-Emma-Laden-Floskeln gebracht.

Gitti sah hoch und zwitscherte: »Darf’s ein bisken mehr sein?«

»Aber natürlich!«, tirilierte ich zurück.

Machen wir uns nichts vor: Erst dieses kleine Ritual macht den Einkauf in einem Lebensmittelgeschäft alter Schule komplett. Für mich jedenfalls.

Draußen suchte ich mir ein paar wohlgeratene Exemplare aus der Kiste mit den Agria-Kartoffeln und legte sie in meinen Korb. Gerade wollte ich wieder hineingehen, als mir aus dem Augenwinkel auf der gegenüberliegenden Straßenseite zwei Männer auffielen. Sie schienen das Haus, in dem Gittis Laden sich befand, zu begutachten. Gerade noch hatte der eine, ein großer, schlaksiger Typ, hierhin und dorthin gezeigt. Als ich jedoch genauer hinsah, beugte er sich zusammen mit dem anderen, der deutlich kleiner war, über ein Klemmbrett, auf das der Kleine etwas schrieb. Ihre Gesichter konnte ich deshalb nicht erkennen, zumal sie Kapuzen über die Köpfe gezogen hatten.

Was hatte das denn bitte zu bedeuten?

»Sag mal, willst du dein Haus verkaufen?«, fragte ich Gitti, als wir an der Kasse standen.

»Wat? Nie im Leben. Wie kommste darauf?«

»Weil da drüben zwei Typen stehen und sich eindeutig über dieses Haus unterhalten«, erwiderte ich und deutete durch die Scheibe über die Straße. Dann ließ ich die Hand sinken. Die Männer waren weg.

Gitti spähte nach draußen, wandte sich mir wieder zu und sah mich fragend an.

»Keiner mehr da«, murmelte ich.

»Vielleicht gehören die zu dem Kerl, der letztens hier war und wissen wollte, wie viel ich für dat Haus haben will. Er hat wat gelabert von wegen man will hier irgendwat hinbauen. Hat mich nich die Bohne interessiert.« Sie zuckte mit den Schultern. »Dat ist mein Elternhaus, dat ist unbezahlbar, habbich dem gesagt, hier kriegste mich höchstens mit die Füße zuerst raus.«

»Und? Wie hat er reagiert?«

»Nich grade begeistert. Alles hat seinen Preis, hat er gesagt, dann ist der Heiopei wieder abgezittert.« Sie schnaubte höhnisch. »Alles hat seinen Preis? Dat wüsste ich aber. Mein Elternhaus nich, und ich erst recht nich.«

»Hat er denn den Eindruck gemacht, er könnte sich mal eben ein Haus kaufen?«, fragte ich weiter. Allmählich wurde die Geschichte interessant, fand ich.

»Du stellst aber viele Fragen.« Gitti musterte mich belustigt. »Wie ’n reicher Schnösel sah er nich gerade aus. Aber auch nich wie einer, der mit ’ner Pulle Bier durch die Gegend torkelt. Heutzutage haben die reichen Leute ja nicht automatisch ’nen feinen Anzug an und ’ne fette Zigarre im Mund. Wat weiß ich, wie viel Geld der auffem Konto hat. Ist aber auch schnurz. Der kriegt mein Haus nich.«

Sie hatte natürlich recht mit dem Anzug und der Zigarre. »Hat er auf dich irgendwie bedrohlich gewirkt?«

Gitti hob die Brauen. »Bedrohlich? Nich die Spur. Außerdem habbich hier anne Kasse ’nen Baseballschläger. Wer mir krumm kommt, kriegt den vor die Birne, aber ratzfatz.«

Das konnte ich mir lebhaft vorstellen. »Bist du schon mal überfallen worden?«

Sie nickte grinsend. »Ja, dat war so ’n Bengel aus der Nachbarschaft, den ich schon kannte, wie der mir nur bis zum Knie reichte. Wohnt schon länger nich mehr hier. War irgendwann total tätowiert, auch anne Hände. Steht der plötzlich abends vor mir und will dat Geld aus meiner Ladenkasse. Hat sich so ’ne Skimaske übergestülpt, aber vergessen, Handschuhe anzuziehn, der Volltrottel. Ich guck ihn an und sag: Pass auf, Bernie, wenn du einfach wieder verschwindest, bleibt die Sache hier unter uns. Und deiner Mutter sag ich auch nichts; die würde sich deinetwegen halb zu Tode schämen, und dat hat sie nich verdient. Aber lass dich nie wieder in meinem Laden blicken, verstanden?«

Atemlos hatte ich zugehört. »Und weiter?«

»Nix weiter. Bernie ist rausgeschlichen wie ein begossener Pudel, und ich hab ihn nie wieder gesehn. Aber seitdem liegt hier ein Baseballschläger. Man weiß ja nie.«

Baghira saß auf der Fensterbank und sah mir interessiert zu, als ich meine Einkäufe zu Hause auspackte und verstaute. Die beiden Männer gingen mir nicht aus dem Kopf, stellte ich fest.

»Warum interessieren die sich derart für Gittis Häuschen?«, fragte ich den Kater, dessen Aufmerksamkeit allerdings zu hundert Prozent auf das Kotelett gerichtet war, das bestimmt verführerisch duftete, da es nur in Papier eingeschlagen war. »Was wollen die da hinbauen? Ein neues kleines Haus?«

Denn groß war das Gebäude wahrlich nicht. Zumindest nicht, wenn man davon ausging, was an der Straße zu sehen war. Wie breit mochte es sein? Zehn bis zwölf Meter vielleicht? Unten der Laden, darüber Gittis Wohnung – nicht gerade ein Palast. Allerdings hatte ich keine Ahnung, was sich dahinter verbarg. Seitlich gab es ein blickdichtes Tor, etwas breiter als eine handelsübliche Einfahrt. Wenn Ware geliefert wurde, geschah das durch dieses Tor: Der jeweilige Lieferant fuhr hindurch bis zu einer Seitentür, die zum Lagerbereich des Geschäfts führte; dort wurde abgeladen. Das hatte ich mal im Vorbeilaufen gesehen.

Aber bis wohin reichte das Grundstück? Vielleicht ja bis zum Horizont? Konnte doch sein, dass noch weitere zehn von Gittis Häuschen dahinterpassen würden?

»Oder«, sagte ich zu Baghira, »es steht auf einer verschütteten Goldmine. Oder einer Ölquelle. Und Gitti weiß nichts davon. Wie auch immer: Hoffentlich rücken die Kerle ihr deswegen nicht weiter auf die Pelle.«

Mit zuckenden Ohren starrte Baghira mich aus großen Augen an. Als er zu dem Schluss kam, dass keines meiner Worte irgendwie nach Fressi geklungen hatte, sprang er von der Fensterbank auf den Boden, streckte sich ausgiebig und stolzierte zur Terrassentür. Dort setzte er sich hin und blickte abwechselnd mich und die Klinke an. Als ich nicht umgehend reagierte, miaute er fordernd.

»Ist ja schon gut.«

Ich öffnete die Tür für ihn und blieb dort stehen, denn ich kannte das Ritual, das jetzt folgen würde: Es war Zeit für seine Runde durchs Revier. Meine Souterrainwohnung verfügte nach hinten raus über eine große Terrasse, die komplett von einer dichten Hecke umgeben war. Baghira marschierte dicht an der Hecke entlang, beschnüffelte den einen oder anderen Blumentopf, sah noch kurz unter dem Pavillondach nach dem Rechten und schlängelte sich dann wieder an mir vorbei ins Haus.

Wäre das also auch erledigt.

Kapitel 2

Loretta entdeckt, wie klein die Welt manchmal ist
und dass ein gewisser Wohlstand
nicht zwangsläufig sichtbar sein muss

In diesem Jahr waren wir ganz schön spät dran, Doris und ich. Also, eigentlich war Doris spät dran, und ich hing mit drin, weil ich ihr immer dabei half, die zahllosen Geschenke für ihre Familie einzupacken. Ihr Nachwuchs, der sich auch bereits vervielfältigt hatte, durfte sich jedes Jahr über mindestens drei hübsch dekorierte Päckchen pro Nase freuen.

Da Erwins diesbezügliches Talent dramatisch unterentwickelt war – vielleicht gab er sich aber auch nur ungeschickt, man wusste es nicht –, unterstützte er uns, indem er uns mit Leckereien versorgte.

Doris liebte es, Geschenke zu machen.

Das ganze Jahr über benutzte sie ihr Handy, um sich selbst Sprachnachrichten zu hinterlassen. Erwin mag den gestreiften Schal bei Herrenmoden Schrader im Schaufenster oder Irene braucht eine vernünftige Rosenschere lauteten die Botschaften an sich selbst, die sie dann systematisch abarbeitete. Jeder bekam sein eigenes Geschenkpapier und dazu passendes Schleifenband, damit zusammengehörige Gaben sofort erkennbar waren. Die Vermutung lag nahe, dass sie der Geschenkpapierindustrie ungefähr 40 Prozent des Jahresumsatzes bescherte.

Wenn ich also – traditionell an einem späten Samstagvormittag – zur alljährlichen Verpackungsorgie eintraf, war stets alles generalstabsmäßig vorbereitet: Papier, Band und Gaben lagen jeweils zu Haufen geschichtet bereit, sodass auch ich loslegen konnte, ohne unnötige Fragen stellen zu müssen. Traditionell untermalte Doris die Aktion durch das Abspielen von CDs mit Weihnachtsliedern, gerne vom seligen James Last und seinen siebentausend Geigern interpretiert. Wahrlich nicht meine Lieblingsmusik. Aber wenn Doris dann die bekannten Melodien lächelnd mitsummte, war ich nur zu gern bereit, den süßlichen Musikbrei ihr zuliebe auszuhalten. Außerdem gab es immer diesen selbst gemachten Eierlikör, mit dem ich mir den Schmalzterror zur Not schönsaufen konnte.

Als Erwin uns zum Essen rief, hatten wir ungefähr ein Viertel des Pensums geschafft. In der Küche erwartete uns Köstliches vom Grill, dazu Kartoffelgratin und Gurkensalat.

»Ist es zum Grillen nicht etwas zu frisch draußen?«, fragte ich, als ich mich an den gedeckten Tisch setzte.

Erwin warf mir einen beredten Blick zu. »Ernsthaft? Sehe ich aus wie eine Frostbeule? Das ist doch nicht kalt draußen!«

Nun, das war durchaus diskutabel.

Eskimo oder Menschen aus Sibirien glaubten sich bei den momentanen Temperaturen vermutlich in den Tropen, aber ich fand fünf Grad über null nicht gerade warm. Ich hätte wenig Lust gehabt, draußen neben einem Grill auszuharren. Erwin hatte wahrscheinlich nicht einmal eine Jacke über sein T-Shirt gezogen. Ich hatte ihn auch schon bei Eis und Schnee grillen sehen; lediglich monsunartiger Regen in Kombination mit starkem Wind konnte ihn davon abhalten.

Wie auch immer – ich profitierte gern von seiner Leidenschaft und freute mich über Bratwürstchen und Steaks.

Während ich es mir schmecken ließ, fiel mir ein, dass ich ihn etwas fragen wollte.

»Sag mal, Erwin, das Viertel, in dem ich jetzt wohne – war das nicht mal dein Revier?«

Er nickte kauend, dann schluckte er den Bissen herunter. »Ja, stimmt. Ich war nicht nur dort auf Streife, aber ziemlich häufig. Warum fragst du?«

»Kennst du die Gitti Scheffer?«

»Klar kenne ich die Gitti. Hat mir immer einen Apfel spendiert, wenn ich dort vorbeigelaufen bin und sie mich gesehen hat. Ich hab oft ein bisschen mit ihr geschwatzt, wenn die Gelegenheit sich bot.«

»Mit der Gitti Scheffer bin ich übrigens zur Schule gegangen«, sagte Doris zu meiner Überraschung. »Macht sie immer noch den Laden?«

Damit war auch geklärt, wie alt Gitti war: über siebzig. Dafür war sie noch verdammt flott unterwegs. Genau wie Doris, aber Gitti stemmte tagtäglich ihren Laden. Wareneinkauf, von morgens bis abends im Geschäft stehen, nie Urlaub machen. Vielleicht war es genau das, was sie so fit hielt.

»Ach, dann kennst du bestimmt auch ihre Familie, Doris?«, fragte ich.

»Sicher. Ganz früher hab ich ja auch in der Gegend gewohnt«, erwiderte Doris. »Also haben wir auch immer dort eingekauft. Gitti hat ihren Eltern schon als kleines Mädchen im Laden geholfen. Im Nachhinein hat es sich als Glück herausgestellt, dass sie über alles Bescheid wusste, denn sie war noch relativ jung, als ihre Eltern mit dem Auto verunglückt sind. Vielleicht Mitte zwanzig. Und plötzlich hatte sie das Geschäft an der Backe. Die Melitta – ihre Schwester – war da längst verheiratet und aus dem Haus; die hatte kein Interesse. Den Laden abzugeben, kam für Gitti nicht infrage, also hat sie ihn weitergeführt.«

»War sie nie verheiratet?«

Doris schüttelte den Kopf. »Nee, nicht dass ich wüsste. Es gab da zwar mal einen jungen Mann, aber sie hatte nach dem Tod ihrer Eltern schlicht keine Freizeit mehr. Sie konnte keine Ausflüge machen oder abends tanzen gehen, dazu war sie nach der vielen Arbeit zu müde. Aber ich weiß natürlich nicht, was genau sie seitdem an jedem Tag ihres Lebens gemacht hat. Diese Frage kann Erwin dir vermutlich viel besser beatworten.«

»Ein Ehemann? Hab nie einen gesehen«, sagte Erwin.

So war das also. Gitti stand seit beinahe fünfzig Jahren alleine in ihrem Laden und hatte vermutlich nie etwas anderes gemacht. Oder sich mal etwas gegönnt.

»Erstaunlich, dass der Laden sich behaupten konnte. Viel kann der nicht abwerfen, oder?«

Erwin legte sein Besteck beiseite und musterte mich neugierig. »Diese Fragen stellst du doch nicht ohne Grund. Hat Gitti irgendwelche Probleme?«

»Probleme? Ja, vielleicht … nee, keine Ahnung. Bestimmt sehe ich Gespenster.« Ich zuckte mit den Schultern. »Nur so ein blödes Gefühl.«

»Blödes Gefühl?« Erwin hob die Brauen. »Aber das kommt doch nicht aus dem Nirgendwo. Was ist passiert?«

»Ach, es ist bestimmt nichts. Sie hat mir erzählt, dass letztens jemand bei ihr war und ihr das Haus abkaufen wollte. Sie hat abgelehnt und ihn aus dem Laden geworfen. Ich frage mich, warum sie das Angebot nicht annimmt.«

»Weil sie bestimmt ihr Leben liebt, so wie es ist«, sagte Doris. »Sie hat zu tun, und sie wird gebraucht. Und das in ihrem Alter. Ist doch toll.«

»Ich würde sie ganz sicher vermissen, wenn es sie und ihren Laden nicht mehr gäbe«, erwiderte ich. »Aber hat sie es sich nicht auch verdient, einen gemütlichen Lebensabend zu haben? Sich die Kohle zu schnappen und auf Weltreise zu gehen, vielleicht? Sie sollte den Rest ihres Lebens genießen.«

»Den Rest ihres Lebens?« Doris schnaubte entrüstet. »Jetzt mach aber mal ’n Punkt, junge Dame. Die Gitti ist in meinem Alter, und ich bin weit davon entfernt, an einen drögen Lebensabend zu denken. Also wirklich.«

Ups. Da hatte ich wohl mit Anlauf eine Arschbombe ins Fettnäpfchen gemacht. Andererseits hatte Doris doch selbst gerade Gittis Alter angeführt … aber es kam wohl immer darauf an, wer dieses Thema anschnitt. Das sollte ich mir unbedingt merken.

»Du setzt gerade die Freundschaft mit meinem Täubchen aufs Spiel, Loretta«, sagte Erwin grinsend. »Die beiden sind doch junge Hüpfer.«

»Natürlich sind sie das! Ich habe mich blöd ausgedrückt. Ich wollte nicht sagen, dass Gitti zu alt für den Job ist. Aber sie hat ihr Leben lang geackert. Sie hat keine Familie wie du, Doris. Du bist umgeben von Menschen, die dich lieben. Sie hockt abends alleine in ihrer Wohnung. Denkt ihr nicht, dass sie sich auch mal amüsieren möchte? Zumal ihr nicht eine bestimmte Summe geboten wurde, oh nein. Sie soll sagen, was sie haben will.«

»Nicht für alles auf der Welt gibt es einen Preis, Loretta.« Doris lächelte. »Ich freue mich, von Gitti zu hören. Sie ist ein Teil meiner Kindheit. Ich glaube, ich werde sie demnächst mal besuchen.«

Nach dem Essen packten wir weiter Geschenke ein. Wir hingen unseren Gedanken nach. Ich war mir nicht sicher, ob Doris mir meine Bemerkung über ihr Alter noch übel nahm.

»Du, Doris … ich wollte dich vorhin nicht beleidigen oder respektlos sein.«

Doris blickte mich überrascht an; offenbar hatte sie keinen Schimmer, wovon ich sprach.

»Na, die Sache mit dem Lebensabend«, fügte ich hinzu.

Sie winkte ab. »Ach das. Schon längst vergessen. Du willst ja nur, dass es ihr gut geht.«

»Genau. Ich dachte, sie kann das Geld vielleicht gut gebrauchen, weißt du? Mit dem Laden kann sie keine Reichtümer angehäuft haben. Vielleicht muss sie weiterhin arbeiten. Wie hoch kann ihre Rente schon sein?«

»Glaub mir, sie braucht das Geld nicht.«

»Gut, sie muss wahrscheinlich keine Miete zahlen, weil ihr das Haus gehört, aber …«

»Schätzchen, Gitti gehört nicht nur das Haus, sondern die halbe Straße, soweit ich weiß.«

Vor Verblüffung fiel mir beinahe die Schere aus der Hand. »Wie bitte?«

»Hätteste nicht gedacht, wie?« Doris grinste vergnügt. »Ihr Vater war ein echter Sparfuchs, und seinerzeit war er der einzige Lebensmittelhändler weit und breit. Bei ihm konnte man anschreiben lassen, wenn das Geld am Monatsende mal knapp war. Und er hat Leuten, die nicht so gut zu Fuß waren, die Einkäufe nach Hause geliefert. Ich seh ihn und seine Frau noch in ihren weißen Kitteln im Laden stehen. Immer freundlich und zuvorkommend. Und mittendrin die kleine Gitti. Während wir uns zu Weihnachten einen Kaufmannsladen wünschten, um damit zu spielen, hatte sie einen echten. Ich glaube, als Kind hat sie es als Spiel betrachtet, Äpfel auszuwiegen, die Einkaufskörbe zu stapeln und für Kunden Dinge aus dem Lager zu holen.« Sie lächelte versonnen. »Ich habe sie damals richtig beneidet.«

»Hm. Ohne dich in deiner sentimentalen Rückschau stören zu wollen, Doris, käme ich gerne noch mal zurück zu der halben Straße, die ihr gehört.«

Doris zuckte mit den Schultern. »Na ja, wie man halt so sagt, nicht? Vier oder fünf Häuser sind es wohl, soweit ich weiß. Wenn sie also Geld brauchen würde, müsste sie nur eins davon verkaufen, und schon wäre die Brieftasche wieder voll. Dass sie sich gerade von ihrem Elternhaus keinesfalls trennen will, kann ich gut verstehen. Du etwa nicht?«

»Doch, natürlich. Aber so viele Häuser zu besitzen, bringt auch gleichzeitig viele Verpflichtungen mit sich. Du sitzt doch nicht nur da und kassierst die Miete. Wenn im Dach ein Loch ist, muss der Besitzer ran.«

»Tja, keine Rose ohne Dornen.«

»Mein Röschen hat keinen einzigen Dorn«, sagte Erwin, der in diesem Moment mit einem Tablett hereinkam. Er beugte sich zu Doris und gab ihr einen Kuss. »Hier ist ein wenig Süßkram zur Stärkung. Worüber redet ihr?«

»Immer noch über Gitti«, erwiderte ich. »Wenn sie so viele Häuser hat, ist sie doch auch für die anfallenden Reparaturen zuständig, oder?«

Erwin schob sich ein weihnachtlich aussehendes Plätzchen in den Mund und nickte kauend. »Daff mafft der Ffemf.«

»Was? Bitte runterschlucken und wiederholen.«

Er lachte dröhnend und ließ seine Minipli-Löckchen tanzen. »Das macht der Jens, habe ich gesagt.«

»Warte mal – Jens? Heißt so nicht der Sohn ihrer Schwester?«, fragte Doris.

»Genau.« Erwin nickte. »Er hat einen Handwerkerbetrieb, denke ich. Oder ist es eine kleine Baufirma? Ich erinnere mich nicht. Auf jeden Fall hat er immer die Reparaturen erledigt. Zumindest in den letzten paar Jahren. Das hat sie mir mal erzählt, als ich vor drei Jahren oder so bei ihr reingeschaut habe.«

»Zu günstigen Preisen, vermute ich.«

»Da dürftest du richtig vermuten. Aber dagegen ist ja nix zu sagen.«

Nee, da hatte er wohl recht.

Am nächsten Morgen dehnte ich meinen traditionellen Spaziergang, der stets an Franks Kiosk endete, etwas aus. Ich ging einen Umweg an Gittis Laden vorbei. Um ganz exakt zu sein: Ich wollte Gittis Immobilien mal etwas mehr als nur einen flüchtigen Blick schenken. Auch wenn ich nicht wusste, welche der Häuser ihr gehörten.

Ich ging durch eine Zechensiedlung, wie sie fürs Ruhrgebiet typisch waren. Es gab sie in ganz unterschiedlicher Aus prägung, mal waren es kleine Gebäude für eine Familie, mal größere für mehrere Mietparteien. Aber eines hatten sie gemeinsam: Die Häuser der jeweiligen Siedlung sahen alle gleich aus.

Zum Teil handelte es sich um zweigeschossige Häuser mit spitzem Giebel, die parallel zur Straße standen und in zwei Haushälften geteilt waren. Fünf Stufen führten zu den Haustüren hinauf, die direkt nebeneinanderlagen. Rechts beziehungsweise links davon zwei Fenster, hinter denen vermutlich die Wohnzimmer lagen. Ich konnte mir das Innere genau vorstellen: Die Küche ging nach hinten raus zum kleinen Gemüsegarten, eine schmale Treppe führte hoch zu Kinderzimmer und Elternschlafzimmer – beide mit Dachschräge.

Alles ziemlich klein und eng, aber immerhin bewohnte man ein eigenes Häuschen, wenn auch nur zur Miete. Die Vorgärten – wenn man sie überhaupt so nennen wollte – waren winzig. Alles war sehr adrett und gepflegt, stellte ich fest.

Als ich an Gittis Laden vorbeikam, sah ich sie im Inneren werkeln. Ich klopfte ans Fenster und winkte. Sofort kam sie zur Tür und schloss auf.

»Guten Morgen, Loretta. Da hast du aber Glück, dat ich gerade unten bin. Ist dir die Milch ausgegangen? Oder dat Brot? Komm rein.«

»Ich brauche nichts, danke. Ich hab dich zufällig gesehen und wollte nur kurz Hallo sagen. Aber was machst du denn im Laden? Es ist Sonntag.«

Amüsiert schüttelte sie den Kopf. »Leider putzt es sich hier nicht von alleine. Und für morgen früh gibt es auch einiges vorzubereiten. Dat mache ich lieber jetzt, dann kann ich morgen zwei Stunden länger schlafen. Wer steht schon gerne um halb vier auf? Ich jedenfalls nicht.«

»Oh mein Gott, ich auch nicht. Halb vier ist unmenschlich. Niemand sollte um diese Zeit aufstehen müssen.«

Gittis pechschwarze Brauen hoben sich. »Dann gäbe es morgens keine frischen Brötchen, dat ist dir hoffentlich klar. Normalerweise reicht ja auch halb sechs.«

»Finde ich schon schlimm genug. Warum nimmst du dir eigentlich keine Aushilfe?«

»Ach, dat habe ich schon versucht. Aber die waren entweder unzuverlässig oder schlicht zu dämlich und zu langsam, um die einfachsten Aufgaben zu erledigen. Oder gleich beides. Da hatte ich keine ruhige Minute, wenn ich nicht im Laden war. Alleine bin ich viel besser dran, dat kannste mir glauben. Willste ’nen Kaffee?«

»Nee, danke. Ich bin nur auf der Durchreise; mein Kumpel Frank wartet bestimmt schon.«

»Kumpel? Oha.« Sie zwinkerte mir zu. »Nachtigall, ick hör dir trapsen …«

»Da trapst rein gar nichts, meine Liebe. Dieser Kumpel liebt seine Frau heiß und innig. Ich muss jetzt weiter, Gitti. Bis die Tage.«

»Bis die Tage, Loretta.«

Während ich die Straße hinunterging, hörte ich Gittis Türglocke lustig hinter mir bimmeln.

Frank lehnte im Verkaufsfenster von ›Kropkas Klümpchenbude‹, seinem Kiosk, und winkte mir schon von Weitem zu. »Wat is los?«, blökte er. »Hasse verpennt? Ich dachte schon, du komms nich mehr.«

»Hab mich ein bisschen mit Gitti verplaudert«, erwiderte ich, als ich ihn erreicht hatte. Ich hielt nichts von quer über die Straße gegrölten Unterhaltungen.

»Gitti? Wer is dat denn schon wieder?«

»Gitti Scheffer. Ihr gehört das Lebensmittelgeschäft in meiner Nachbarschaft.«

»Wat?« Missbilligend runzelte er die Stirn. »Die hat sonntachs ihrn Laden offen? Is dat überhaupt erlaubt? Verkauft die etwa frische Brötchen?«

Soso, Frank witterte Konkurrenz, wie es schien.

»Nein, sie hat natürlich nicht geöffnet. Aber sie war im Laden, als ich daran vorbeiging. Sie kam raus, wir unterhielten uns …« Ich stutzte und fuhr fort: »Sag mal, bist du die Inquisition?«

Frank grinste. »Kann ja nich schaden, seine Mitbewerber im Blick zu behalten. So groß is dat Viertel nu auch nich. Mit meine Brötchen mach ich eine Menge Umsatz, weisste? Und den brauch ich auch. Kein Bock, die paar Kröten zu teilen. Auch nich mit deine geliebte Gitti.«

Deine geliebte Gitti – also wirklich. Kam jetzt etwa auch noch Eifersucht ins Spiel?

»Jetzt entspann dich mal, mein Freund. Ich werde dir immer treu bleiben, versprochen. Selbst, wenn direkt neben mir eine Bäckerei öffnen würde – meine Sonntagsbrötchen würde ich trotzdem bei dir kaufen. Bis in alle Ewigkeit.«

»Weiß ich doch. So ’n Lädchen, dat wär noch mein Traum.«

»Ich dachte, der Kiosk wäre dein Traum. Hab ich irgendwas verpasst?«

Er schüttelte den Kopf. »Nee. Aber so ’n richtiget Lädchen, so mit Obst und Gemüse und so … dat macht bestimmt Spaß. Und ab Samstachmittach haste Wochenende.«

Es sei denn, du musst sonntags den Laden putzen, dachte ich. »Hast du noch Brötchen für mich?«

»Na klar. Zwei Körner und ein Krossong, wie immer. Hab ich extra für dich wechgepackt. Brauchste sonz noch wat?«

Ich schüttelte den Kopf. »Danke, aber mein Kühlschrank ist gut gefüllt. Ich war gestern bei Doris zum Geschenkeeinpacken. Du weißt ja: Ohne Fresspaket kommst du da nicht weg. Erwin hat gegrillt. Und sein Kartoffelgratin hätte für eine ganze Fußballmannschaft gereicht.«

»Na, dann weiß ich ja schon, wat et heut bei dir gibt: Steaks und Grateng.« Er verschwand im Kiosk und brachte bei seiner Rückkehr ins Fenster nicht nur eine Tüte mit meinen Brötchen, sondern auch einen Becher knallgrüne Götterspeise mit verstörend gelber Vanillesoße mit. »Hier, Nachtisch. Geht aufs Haus.«

Interessant, wie viele Leute sich Gedanken darüber machten, was ich zu essen gedachte. Wie es schien, war ich von kulinarischen Hellsehern umgeben.

Kapitel 3

Loretta lernt medizinische Fachausdrücke und entdeckt etwas,
das ihren Chef sehr glücklich machen könnte

Es war bereits Mitte der Woche, als ich Gittis Türglöckchen wieder über mir bimmeln ließ. Im Callcenter war kurz vor Weihnachten nicht viel zu tun, also hatte ich mir den Nachmittag freigenommen.

Gitti war alleine im Laden und mühte sich – mit dem Rücken zu mir – ächzend damit ab, Konserven ins Regal zu stellen. Ihr sonst so akkurater Zopf sah irgendwie zerzaust aus. Sie drehte sich zu mir um, und ich sah, dass sie offenbar gehandicapt war: Sie hatte ihren linken Arm mithilfe eines großen Tuchs am Körper fixiert. Gitti schien Schmerzen zu haben, denn sie war blass, und ihr Gesicht glänzte vor Schweiß.

»Gitti! Was ist passiert?«, fragte ich bestürzt.

Sie verzog das Gesicht. »Blöd gefallen. Auffe Schulter.«

»Wann war das?«

»Gestern Morgen.« Sie taumelte plötzlich. Mit der linken Schulter stieß sie gegen das Regal und zuckte mit einem Stöhnen zusammen. »Verdammt.«

»Warst du beim Arzt?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits kannte: Kein Arzt der Welt würde eine verletzte Schulter mit einem grellgeblümten Fransentuch verbinden, dessen war ich mir ziemlich sicher.

»Arzt?«, ächzte sie. »Brauch ich nich. Wird schon wieder. Kann den Laden nich einfach zumachen.«

Ihre knapp formulierten Sätze alarmierten mich zusätzlich. Es schien sie sogar zu viel Kraft zu kosten, so ausschweifend zu plappern, wie ich es sonst von ihr gewohnt war.

Ich fasste einen Entschluss. »Wir fahren zum Krankenhaus«, sagte ich. Sie wollte protestieren, aber ich hob die Hand. »Keine Widerrede. Es ist Mittwochnachmittag, Arztpraxen haben geschlossen. Wir fahren in die Notaufnahme.«

»Unsinn. Ich geh morgen früh hier zum Arzt, wenn es dich beruhigt.«

Ja, klar. Und der Papst hatte sich gerade verlobt.

»Gitti, es geht nicht darum, mir einen Gefallen zu tun. Ich mache mir Sorgen. Was, wenn etwas gebrochen ist? Das heilt nicht einfach so von alleine. Du kannst ruhig auch mal Hilfe annehmen, wenn sie dir angeboten wird.«

»Aber ich kann doch nich einfach den Laden …«

»Doch, du kannst«, fiel ich ihr rigoros ins Wort. »Ich schreibe ein Schild, und das hängen wir in die Tür. Wenn wir im Krankenhaus waren und genau wissen, was mit deiner Schulter los ist, sehen wir weiter.«

Ich nahm eines der Papptabletts, das sie für Kuchen benutzte, und holte einen Filzstift aus der Schublade unter der Kasse. Heute Nachmittag geschlossen schrieb ich, dann klebte ich die Nachricht in die Tür.

»So, ich hole jetzt mein Auto. In zehn Minuten bin ich zurück, und dann stehst du bitte auf dem Bürgersteig und wartest auf mich. Bis gleich.«

Sie starrte mich nur an und nickte.

In der Notaufnahme war weniger los, als ich befürchtet hatte. Wir waren relativ schnell an der Reihe, und ich lud mich selbst ein, Gitti in den Behandlungsraum zu begleiten. Sie protestierte nicht; vermutlich war sie zu schwach dazu.

Während sie untersucht wurde, hielt ich mich diskret im Hintergrund. Auch dem Arzt erzählte Gitti, sie sei auf die Schulter gestürzt. Er tastete ihr Schlüsselbein ab, und sie zog scharf die Luft ein.

Der Arzt, ein distinguiert wirkender Herr mit silbernen Schläfen, nickte. »Vermutlich indirektes Trauma der Klavikula«, verkündete er, »das lassen wir mal röntgen.«

Er winkte einem Pfleger, der gleich einen Rollstuhl mitbrachte, in den Gitti sich widerstandslos verfrachten ließ.

»Sie können draußen warten«, sagte er zu mir, »ich rufe Sie wieder herein, wenn Ihre Mutter zurück ist. Bis gleich.«

»Gitti ist nicht meine …«, begann ich, aber er hatte den Raum längst verlassen.

War ja auch wurscht.

Ich setzte mich in den Wartebereich und nahm mir ein Magazin vom Stapel auf dem niedrigen Tisch. Desinteressiert blätterte ich darin herum, dann legte ich es wieder beiseite. Indirektes Trauma der Klavikula … was das wohl bedeutete? Dass diese vermeintlichen Halbgötter in Weiß immer in ihrer Geheimsprache labern mussten, also wirklich. Auch wenn ich seine kryptischen Worte nicht verstanden hatte, schwante mir, dass Gitti Hilfe benötigen würde. Kaum vorstellbar, dass sie ihr Pensum im Laden schaffen konnte, und noch viel weniger vorstellbar, dass sie die Bude für ein paar Tage oder gar Wochen dichtmachen würde. Nie im Leben. Und wenn sie im Liegen bedienen musste.

Kurz entschlossen kramte ich mein Handy aus der Tasche und rief im Callcenter an. Ich benutzte Dennis’ Durchwahl, und mein Chef ging auch sofort ran.

»Karger, guten Tag.«

»Dennis, ich bin’s. Loretta.«

Er lachte. »Als würde ich deine Stimme nicht sofort erkennen, Schätzchen. Was gibt’s?«

Es war am klügsten, ohne Umschweife zur Sache zu kommen. »Ich brauche Urlaub. Ab sofort. Für mindestens zwei Wochen. Es handelt sich um einen Notfall.«

»Um Himmels willen – was ist passiert?«, fragte er erschrocken. »Ist bei dir alles in Ordnung?« Er stockte und fuhr fort: »Warte mal … du hast eine Leiche gefunden, richtig?«

»Nein, ich habe keine Leiche gefunden, Dennis. Wie kommst du bloß darauf?«

»Aber du bist irgendeinem Verbrechen auf der Spur. Erzähl doch mal.«

Das konnte ja wohl nicht wahr sein. »Nein, ich bin auch keinem Verbrechen auf der Spur. Keine Leiche, kein Verbrechen. Das schwöre ich dir.«

»Aber du brauchst immer dann Urlaub, wenn …«

Plötzlich fiel mir auf, dass alle Leute im Wartebereich mich unverhohlen anstarrten und die Ohren spitzten. Worte wie ›Verbrechen‹ und ›Leiche‹ schienen das allgemeine Interesse geweckt zu haben. Gleichzeitig wurde mir bewusst, mit welcher Selbstverständlichkeit ich sie aussprach.

Ich rang mir ein Lachen ab, das in meinen Ohren schrecklich künstlich klang. »Also wirklich – du und deine verrückten Späße, Dennis!« Mit gesenkter Stimme erklärte ich ihm Gittis Notlage und dass sie niemanden hatte, der ihr helfen konnte. Obwohl – was war eigentlich mit ihrem Neffen?, fiel mir plötzlich ein. Aber das konnte ich später noch klären und meinen Urlaub gegebenenfalls wieder rückgängig machen. »Also, es gibt eine winzige Option, dass die Sache sich anders regeln lässt. Aber ich hätte gerne dein Okay, dass ich ihr, falls nötig, zur Verfügung stehen kann.«

»Das ist alles?« Er klang enttäuscht.

»Ja, genau. Sei nicht so verflucht sensationslüstern, Chef. Gitti ist eine gute Bekannte und braucht Hilfe.«

»Gitti? Noch nie von der gehört. Wo kommt die denn so plötzlich her?«

Großer Gott. »Gitti gehört das Lebensmittelgeschäft, in dem ich seit meinem Umzug einkaufe.«

»Loretta, der gütige und selbstlose Engel aller Hilfsbedürftigen!«, deklamierte er mit entschieden zu dick aufgetragenem Pathos in der Stimme. »Und das kurz vor Weihnachten. Wenn du nicht aufpasst, wirst du glatt heiliggesprochen. Santa Loretta. Klingt gut, finde ich.«

Wider Willen musste ich lachen. »Du bist ein Spinner, Dennis. Also, was ist?«

»Wie könnte ich Nein sagen? Zumal ich ja selbst schon mal in Zeiten größter Not in den Genuss deiner Güte und Selbstlosigkeit gekommen bin. Zwei Wochen ab morgen gehen klar. Sag mir rechtzeitig Bescheid, wenn du eine Verlängerung brauchst, in Ordnung?«

»Geht klar. Du bist der Beste.«

Ich verstaute mein Handy wieder in der Tasche und fragte mich, ob ich Dennis’ Dankbarkeit mir gegenüber nicht irgendwann einmal überstrapaziert haben würde. Aber solange er nicht protestierte, war wohl alles in Ordnung. Immerhin hatte ich seine Firma gerettet.

Ich nahm mir ein anderes Magazin und vertiefte mich in einen höchst interessanten Artikel darüber, wie heilsam und gut fürs Immunsystem ein Waldspaziergang war. Als jemand mich an der Schulter berührte, zuckte ich zusammen und sah hoch. Es war der Pfleger von vorhin, der mit dem Rollstuhl.

»Ihre Mutter ist vom Röntgen zurück. Kommen Sie?«

Ich nickte und folgte ihm in einen weiteren Raum, in dem Gitti mit griesgrämiger Miene auf der Behandlungsliege hockte. Gleichzeitig mit meinem Eintreten kam der Arzt durch eine weitere Tür dynamisch hereingefegt.

Er studierte die Röntgenbilder, die vor einem Leuchtschirm hingen. Dann drehte er sich zu uns um. »Wie ich es mir dachte: indirektes Trauma der Klavikula. Die Frage ist, ob wir konservativ behandeln oder operieren.« Er blickte abwartend zu Gitti, dann zu mir und wieder zurück zu Gitti. »Nun?«

»Wissen Sie wat, Herr Professor?«, blaffte Gitti. »Überraschung: Ich versteh kein Wort. Ich bin nämlich kein Doktor so wie Sie. Also bitte noch mal dat Ganze, und zwar in einer Sprache, die ich verstehen kann!«

»Und ich auch«, warf ich ein.

»Natürlich«, sagte er. »Also: Ihr Schlüsselbein ist gebrochen, Frau Scheffer. Das ist nicht unüblich, wenn man schwer auf die Schulter oder den Oberarm fällt. Die sogenannte konservative Behandlung sieht vor, dass die Klavik…, dass Ihr Schlüsselbein mithilfe eines Rucksackverbandes stabilisiert wird. Das ist eine Art strammes … äh … Geschirr, das die Schulter nach hinten zieht und gleichzeitig das Schlüsselbein in der Längsachse ausrichtet. Das ist in Ihrem Fall möglich, da es sich um einen glatten Bruch handelt. Schneller und deutlich schmerzfreier ginge es allerdings mit einer Operation. Also, genau genommen sind es zwei Operationen: Bei der ersten wird eine Platte angebracht, die den Knochen fixiert. Bei der zweiten Operation, nachdem alles verheilt ist, wird die Platte wieder entfernt.«

»Keine Operation, auf keinen Fall«, knurrte Gitti. »Kommt nicht in die Tüte. Und zwei erst recht nicht.«

Der Arzt sah mich an, und ich zuckte mit den Schultern. »Das ist allein Frau Scheffers Entscheidung. Damit habe ich nichts zu tun, tut mir leid.«

Er seufzte. »Also gut. Sie sollte allerdings wissen, dass der Rucksackverband täglich kontrolliert und eventuell nachgezogen werden muss, da er stets ganz stramm sitzen muss. Das kann während der Woche Ihr Hausarzt machen, aber am Wochenende müssen Sie herkommen.«

»Und wie lange brauche ich dieses blöde Rucksackdings?«, fragte Gitti den Arzt. »Länger als ein paar Tage?«

»Das will ich meinen. Ich gehe von vier Wochen aus. Sie werden eine Haushaltshilfe benötigen, denn Sie sind in Ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Sie sind Rentnerin, nehme ich an? Oder arbeiten Sie noch? Dann stelle ich Ihnen eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aus.«

»Einen gelben Schein?« Gitti schnaubte amüsiert. »Den kann ich mir dann selbst überreichen. Oder gleich in den Papierkorb schmeißen. Ich hab nämlich ein Lebensmittelgeschäft, in dem ich täglich stehe, Herr Professor.«

Er sah mich verblüfft an, und ich nickte bestätigend. Daraufhin sagte er: »Das können Sie vergessen, Frau Scheffer, so leid es mir tut. Sie sind momentan körperlich nicht in der Lage, diese schwere Arbeit zu leisten.«

Gitti fuhr hoch. »Aber dat ist unmöglich, dat ich vier Wochen ausfallen soll! Wissen Sie wat? Ich gehe jetzt. Dat wird schon wieder. Auch ohne Ihr Rucksackdingsbums.«

Sie wollte von der Liege aufstehen, aber ich schob sie sanft an der gesunden Schulter zurück. »Mach keinen Blödsinn, Gitti. Ich helfe dir. Auch mit dem Laden. Wir werden das zusammen schon hinkriegen.«

»Wir? Aber wat ist denn mit deiner Arbeit?«

»Hören Sie doch bitte auf Ihre Tochter, Frau Scheffer«, sagte der Arzt.

»Sie ist nicht meine …«, begann Gitti, während ich synchron die gleichen Worte sagte.