Tina Soliman

Ghosting

Vom spurlosen Verschwinden
des Menschen im digitalen Zeitalter

Klett-Cotta

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Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg unter Verwendung eines Fotos von ©Torsten Lapp

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96337-3

E-Book: ISBN 978-3-608-19198-1

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Für meine Mutter Gisela Soliman
und für M. G.

Das Gefühl ist der Halbedelstein,
das Wort die goldene Fassung.

Péter Nádas

Einleitung

Was ist Ghosting?

Wenn man beim Siebdruck ein Bild auf eine Oberfläche bringen möchte, bleibt nach dem Druck ein Farbschatten im Siebgewebe hängen, der das Motiv noch einmal aufscheinen lässt. Man sieht diesen »Ghost« nur, wenn man das Sieb auf einen Untergrund legt, nicht aber, wenn man es gegen das Licht hält. Um weiter drucken zu können, muss dieser »Ghost«, wie man die schemenhafte Figur auf dem Sieb nennt, verschwinden. Dafür gibt es einen Geisterbildentferner: den »ANTIGHOST«. Im Handel für kaum 10 Euro erhältlich.

Nun wird mancher denken: Wie toll ist das denn? Ein Heilmittel für das sichtbar Unsichtbare? So etwas müsste es auch für Menschen geben!

Sicher, wenn ein Mensch wie ein Geist verschwindet, sich buchstäblich in Luft aufzulösen scheint, ist das für die meisten Menschen keine schöne Erfahrung. Es hat Folgen für Körper und Seele. Dass das Verschwinden gute Gründe haben kann, gehört allerdings auch zur Wahrheit. Manchmal schweigt man, um entrüstete Reaktionen zu vermeiden.

Geist – Ghost – Geisterbildentferner? Wovon ist eigentlich die Rede? – Dramatisch zunehmend erreichen mich Zuschriften – auch aus dem Ausland – zum Kontaktabbruch bei Paaren. Menschen, die sich im Zwischenmenschlichen verheddern, an zu hohen Erwartungen scheitern – gegen die Einsamkeit ankämpfen. Doch warum sich den Konflikten, der Auseinandersetzung oder der Ablehnung aussetzen? Ist es nicht bequemer, wie ein Geist zu verschwinden? Abtauchen, ohne sich zu erklären! Für dieses Phänomen gibt es den Begriff: »Ghosting«.

Der Begriff »Ghosting« kommt aus den USA und beschreibt das Phänomen, wenn sich Menschen, die man »datet«, mit denen man sich verabredet, verbindet, befreundet oder gar verpartnert, in Luft aufzulösen scheinen. Anrufe oder Nachrichten bleiben unbeantwortet. Es wirkt so, als hätte man es mit einem Hologramm oder einem rahmenlosen Körper zu tun gehabt, einem Gespenst oder Geist.

2015 nahm der Collins, eines der wichtigen englischen Wörterbücher, »Ghosting« sogar als feststehenden Begriff in seine neueste Ausgabe auf und erläuterte das Phänomen wie folgt: Das Beenden einer Beziehung durch den plötzlichen Kontaktabbruch. Das Urban Dictionary (ein Online-Wörterbuch für englische Slangwörter) beschreibt Ghosting als »Akt der plötzlichen Aufhebung der Kommunikation mit jemandem. Dies geschieht in der Hoffnung, dass die Person realisiert, dass kein Kontakt mehr erwünscht ist, ohne es der Person mitteilen zu müssen.« Ghosting sei nicht spezifisch für ein Geschlecht oder eine Altersgruppe, stehe aber in engem Zusammenhang mit den Reife- und Kommunikationsfähigkeiten des Menschen.

»Ghosting« statt »Funkstille« – alter Wein in neuen Schläuchen? – Seit 15 Jahren treibt mich das Thema »Funkstille« um, das plötzliche Verschwinden aus – nahen – Beziehungen ohne Erklärung. Als ich damals überlegte, wie man wohl »Funkstille« für den anglo-amerikanischen Raum übersetzen könnte, fiel mir nur wenig ein: »Stonewalling«, »Sound of silence«, »Fade out«!

Nun gibt es für das wortlose Abtauchen also einen englischsprachigen Begriff, nämlich »Ghosting«, der mittlerweile fast schon epidemisch für alle plötzlichen Abbrüche ohne Erklärung gebraucht wird, etwa auch für das Verschwinden aus Jobs. Handelt es sich aber gerade dabei nicht um dasselbe Phänomen wie bei »Funkstille«, die ich in zwei Büchern aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben habe?1

Ja, teilweise berühren und überschneiden sich beide Begriffe. Und doch sollten wir Funkstille und Ghosting klar voneinander unterscheiden und trennen. Auch beim Ghosting ereignet sich ein plötzlicher Kontaktabbruch ohne jede Erklärung. Auch das Ghosting lässt Leidende zurück – allerdings sind es eher die Verlassenen, die leiden, nicht derjenige oder diejenige, die wie ein Geist im Nichts verschwinden.

Bei der Funkstille flieht der Abbrecher meistens aus einer Situation, die für ihn unlösbar, ja, ausweglos erscheint. Er will sich schützen, muss flüchten, um zu überleben. Vor Scham versinkt er im Boden und möchte eigentlich doch ›nur‹ mit seinen Bedürfnissen wahrgenommen werden. Er sendet die Botschaft an seine Umwelt aus, die er flieht: Bitte höre, was ich nicht sage! Funkstille offenbart ein paradoxes Wissen, das sich nicht anders zu helfen weiß, als sich nicht direkt mitzuteilen, und ein widersprüchliches Handeln, das aus der menschlichen Nähe flieht, die der Fliehende eigentlich sucht und dringend benötigt. Funkstille ist eine Flucht, eine existentielle Ausnahmesituation, ein existentieller Notstand. Funkstille signalisiert Angst und Überforderung.

Beim Ghosting ist es genau umgekehrt. Bei der Funkstille sucht der Inhalt nach einer Form, die paradox ist, wie die Flucht oder eben die völlige Stille. Beim Ghosting hingegen bestimmt die Form den Inhalt: Dieses Schweigen und dieses Verschwinden beim Ghosting besagen: ›Du bist nicht da‹ oder ›ich bin nie da gewesen‹. Ghosting ist abgeklärter und kälter als die Funkstille. Und Ghosting ist auf den ersten Blick für den Abbrecher mit weniger Emotionen verbunden. Wer in die »Funkstille« entweicht, ist ein Ausbrecher. Wer andere ghostet, ist ein Abbrecher.

»Funkstille« wird als rein privat, ja, sogar als tabubehaftet angesehen, hingegen ist »Ghosting« auffallend gesellschaftsfähig geworden. Ghosting gehört zu unserer neuen Umgangskultur. Langfristig betrachtet dürften die Folgen für den »Geist«, für das menschliche (Selbst-)Bewusstsein und für das soziale Miteinander jedoch extrem schädlich sein, wie wir auf den folgenden Seiten erfahren werden.

»Funkstille« spielt sich überwiegend in Familien ab – mit dramatischen Folgen. Verwandtschaft lässt sich durch keine Funkstille auflösen noch kündigen und schon gar nicht beenden.

Eine Liebesbeziehung oder Freundschaft hingegen lässt sich sehr wohl beenden oder abbrechen. Ghosting bezieht sich daher auf Paarbeziehungen und Freundschaften. Einer von beiden zieht eilig weiter, auf der Suche nach etwas Besserem. Jeder ist eine Option – auch er selbst. Kein Blick zurück. Ghosting verhindert – so eine erste Vermutung –, Beziehungen als Prozess zu verstehen. Ghosting unterbindet es, sich selbst besser zu verstehen. Es verstärkt Muster. Und Ghosting verhindert Entwicklung und Reifung.

Das Verstehen von Beziehungen, um überhaupt Bindungen eingehen zu können, ist unendlich viel wichtiger als die permanente Suche, die häufig eher eine Ablenkung von der eigenen Beziehungsunfähigkeit ist und damit das Erfassen dessen, was geschehen ist, verhindert. Beziehungen verstehen bedeutet, aufrichtig handeln, bedeutet, wahr sein! Wenn wir weiter und weiter gehen, sollten wir uns ab und zu fragen: Wonach suchen wir eigentlich? Liebe? Bestätigung? Trost? Oder vermeiden wir damit nicht erst recht, uns selbst zu erkennen, wie wir wirklich sind, was wir tatsächlich können und was nicht.

Angst vor Nähe, vor potentieller Abwertung und Widerspruch, der als Bedrohung empfunden wird, Angst vor der falschen Entscheidung oder vor dem Verlust der Eigenständigkeit, enthält im Kern fast jede Geschichte, die mir erzählt wurde. Beinahe täglich schreiben mir Menschen aus der ganzen Welt, die sich mit Kontaktabbrüchen plagen: Verlassene ebenso wie Abbrecher. Und fast alle berichten von der Angst, sich festzulegen, sich falsch zu entscheiden. Überall Verwirrung und Unsicherheit. Doch ohne Vertrauen und ohne Entscheidung geht es nicht. Das bedeutet auch, dass man mit Widerspruch und versäumten Alternativen leben lernen muss.

Nahe Beziehungen sind wichtig und werden von fast jedem ersehnt. Eine Beziehungsentscheidung ist folgenreich, denn sie bestimmt unsere Lebensqualität. Autonomie und Partnerschaft sind grundlegende Bedürfnisse! Der Wunsch nach Bindung ist Conditio humana! Das private Glück steht über allem. Zumindest in Europa. In den USA jedoch, so erklären mir dort praktizierende Psychiater, sei der berufliche Erfolg wichtiger.

Eigentlich geht es beim Ghosting um den Gegensatz zwischen Kontinuität von Beziehungen, Gefühlen und Gedanken einerseits und der unablässigen Suche – manchmal auch Sucht – nach Neuem, nach Veränderung, nach Wandel andererseits. So geht es in diesem Buch auch um die Folgen der Diskontinuität, einer Art nervöser Unbeständigkeit und Wechselhaftigkeit. Am Ende aber hat, wenn wir Pech haben, nichts mehr Bestand.

Wollen wir ein Leben ohne Bestand? – Ich glaube, dass wir uns generell mit dem Verschwinden befassen müssen: Denn es verschwindet ja jede Menge – unsere Lebenszusammenhänge, unsere Naturzusammenhänge, die Tierwelt, die Ressourcen – die Demokratie, wenn es ganz schlecht läuft! Gibt es noch Gewissheiten in der globalisierten und digitalisierten Welt – und welche sind es? Befinden wir uns in einem Zeitalter der Unsicherheit, gar der physischen Auflösung?

Warum also bekomme ich immer häufiger Zuschriften von »Ghosting-Opfern«, die plötzlich und abrupt wortlos von ihrem Partner oder »dem Date« verlassen wurden? Die Zeilen, die ich zugeschickt bekomme, lesen sich nicht weniger dramatisch als die Zuschriften zur »Funkstille«. »Ghosting-Opfer« fühlen sich verletzt und sind schwerwiegend verunsichert. Ihr Selbstbild, aber auch ihre Wahrnehmung, ist getrübt. Haben sie sich alles nur eingebildet? Was hatte man sich erträumt? Was habe ich falsch gemacht? Bin ich nicht liebenswert? Welche Rolle spielten eigene Wünsche und Vorstellungen? Projektionen? War gar alles nur ein Traum? Was ist wahr?

Aber auch diejenigen, die verschwinden, schreiben mir, durchbrechen ihre Sprachlosigkeit, finden also doch Worte. Und vor allem: Es gab sie wirklich. Sie waren keine Geister! Sie haben sich erst dazu gemacht?! Oder sind sie es durch die Umstände geworden? Der Tenor ihrer Zuschriften: Ich suche. Ich suche nach dem Passenden. Dem Besten. Der Andere sollte so oder so sein, erfüllte aber meine Ansprüche nicht. Also brach ich ab. Dies oder das habe eben gestört. Wozu das in Worte kleiden? Dank der Digitalisierung sei das virtuelle Regal gut gefüllt. Man müsse nur zugreifen. Passt einer nicht, geht er eben retour. Die Zeilen erinnern an einen Online-Einkauf bei Amazon. Wenn in allen Bereichen das Bestellprinzip gilt, warum nicht auch in Beziehungen?

Sie preisen die Freiheit der Auswahl, wissen aber nicht, wen sie wählen sollen. Und nicht wenige halten, obgleich sie in einer Beziehung leben, weiter nach einem Partner Ausschau. Der »Bessere« oder die »Beste« könnte ja noch kommen. Man muss nur suchen, hart genug daran »arbeiten« – auch an sich. So reihen sich die Suchenden voller Zuversicht in das Regal der Möglichkeiten ein, auch die, die nie die Möglichkeit hatten, zu einer Konsequenz zu werden. Was aber geschieht, wenn die Möglichkeiten zu Mauern werden?

Die Digitalisierung, die Partnervermittlungs- und Dating-Plattformen haben Ghosting als Tool zur Option gemacht, so wie sie aus den Nutzern selbst Optionen gemacht haben. Das Algorithmus-generierte Kennenlernen erfasst nicht mehr, was Annäherung bedeutet. Dating-Plattformen haben die Begegnung, die einst absichtslos geschah, sich bestenfalls magisch einstellte, das vorsichtige Sich-näher-Kommen in ihr Programm eingespeist, berechnet und damit beschleunigt. Denn Zeit hat keiner mehr. Nähe wird auf Knopfdruck produziert, die Auswahl berechnet und der Prozess des Kennenlernens ausgespart.

Die Magie der absichtslosen Annäherung: abgeschafft. Das Flirten: spart man sich. Das vorsichtige Kennenlernen: Es geht auch schneller. Der permanent drohende Ausstieg des Anderen ist ins Programm eingespeist. Gut für diejenigen, die Begegnungen organisieren.

Beim Online-Dating gibt es Vorabinformationen, Berechnungen, Abgleichungen – genannt: Matching. Wird alles uniform? Digitalität verträgt keine Abweichung. Jede graduelle Abweichung gilt als Störung. Der Gesuchte soll dem Profil entsprechen. Tut er das nicht sofort, ist er raus. Dieser Mechanismus hat seinen Weg in die analoge Welt gefunden. Hält eine Begegnung nicht, was sie – oder eben der Algorithmus – versprach, wird sie beendet, bevor sie eine Chance hat, eine wirkliche zu werden.

Anfang, Konsequenz und Ende. All das scheint sich zu verflüssigen, aufzulösen – Auf Begegnungen müssen Konsequenzen folgen, wenn sie mehr werden sollen. Das Ereignis braucht eine Form, um mehr zu werden. »Die Liebenden müssen (…) ein Alltagsleben schaffen und immanenten Widersprüchen standhalten. Deshalb definiere ich die Liebe erstens als Ereignis und zweitens als Prozess. Darin besteht der Sinn von Treue: nicht im subjektiven Sinn des ›Treuseins‹, sondern in der Organisation von Konsequenzen, in der Tatsache, dass meine Entscheidungen auf die Bewahrung von etwas zielen, das einen Anfang gehabt hat«, so der Philosoph Alain Badiou. Doch der über 80-jährige lebte die längste Zeit ohne Internet!

Als ich vor über einem Jahrzehnt damit begann, mich mit dem Verschwinden aus – vor allem familiären – Bindungen, dem abrupten Kontaktabbruch ohne Erklärung, intensiver zu beschäftigen, hat sich vieles verändert, vor allem die Form der Kommunikation, aber auch Erwartungshaltungen. In den neueren Zuschriften finden sich viel mehr extreme Sicherheitsansprüche, gepaart mit einer Form von Hasenfüßigkeit bei gleichzeitigem Geiz. Einem Geiz an Einsatz für den Prozess, der eine Begegnung zu mehr macht, einem Geiz an Gefühlen, Zeit und Ressourcen. Kleinkrämerei bei gleichzeitiger Risikominimierung und gleichzeitig ein Alles-Wollen!

Ein Beispiel: »Ich komme einfach nicht mehr mit. Im Job läuft zwar alles wunderbar. Ich funktioniere, und auch körperlich bin ich topfit. Schließlich mache ich Yoga und ernähre mich gesund. Wende ich aber meine Ansprüche auf einen Partner an, werde ich schnell enttäuscht. Dann breche ich wortlos ab. Der Andere fragt, warum? Aber wozu sollte ich mich erklären? Meist reicht es einfach nicht – jedenfalls nicht für mich. Irgendetwas stört mich immer, macht mich geradezu rasend«, schreibt mir eine Zweiundvierzigjährige. Sie wirkt wie jemand, der allergisch ist auf die Einzigartigkeit des Anderen, die ihr wie ein Makel erscheint. Sie ist überempfindlich. Auf alles. Auf jeden. Gleichzeitig ist sie ungeduldig, unterliegt der Illusion vom perfekten Partner, formuliert unerfüllbare Ansprüche – aber wird sie diesen selbst gerecht? Sie bricht ab, noch bevor sie den Anderen kennenlernen kann. Doch die Verfeinerung von Beziehungen kostet Zeit! Und: Liebe ist Risiko! Auch gibt es keinen Lohn dafür, dass man jemanden liebt, außer die Liebe selbst!

Aktuellen Umfragen zufolge suchen Frauen wie Männer in Beziehungen ›Ruhe und Harmonie‹. »Ruhe und Harmonie« klingt eher nach lauwarmer Wellness oder einschläferndem Wohlbehagen und nicht nach Intensität oder gar Rausch. Und da man nichts mehr wagt, wird berechnet, kalkuliert und verhandelt bis zum Erstickungstod der Liebe.

Der Soziologe Sven Hillenkamp spricht davon, dass wir – er nennt uns zynisch ›die freien Menschen‹ – geradezu »Meister der prä-amourösen Diagnostik, des frühzeitigen Leidenschaftsabbruchs« seien. Niemand spricht mehr mit dem Anderen, nicht jedenfalls, was er könnte, nicht, wie er es könnte. Es wird geschwiegen, bis alles kaputt ist. Ziele werden hinausgeschoben, bis sie unerreichbar werden. Erkennen – Grundvoraussetzung für die Liebe – braucht Zeit.

Zurück bleibt die Verbitterung darüber, auf den Anderen nicht so phänomenal zu wirken wie auf sich selbst. Es verändert sich gerade etwas, was mit Vorstellungen und Erwartungen an den Anderen zu tun hat.

Was passiert ist? – Die Digitalisierung! Das Internet. Und damit die Explosion der Suchmaschinen für die Liebe, Horte der Hoffnung, Sehnsüchte und eben vermeintlicher Möglichkeiten.

»Das Internet ist die ideale Technik für die Idee der unbegrenzten Möglichkeiten. Es ist Massenmedium, nicht nur, weil es Massen erreicht, sondern vor allem, weil es Massen sichtbar macht, selbst erzeugt. Das Internet vollendet den Übergang von der Epoche der Wahl zur Epoche der Auswahl«, so die Analyse des Soziologen Hillenkamp.

Parship-Berater und Psychotherapeut Eric Hegmann dagegen findet es überaus praktisch, dass wir dort, wo wir uns 24/7 aufhalten, nämlich online, auch die Liebe finden können.

Allerdings macht das Internet das Ghosting auch sichtbarer. Ein schöner Widerspruch, denn im Netz taucht der Geist ab, ist aber gleichzeitig auf vielen Plattformen immer noch sichtbar. Ghosting ist auch deshalb so irritierend und kränkend. Und dadurch, dass wir heutzutage sehr viele Möglichkeiten haben, in Kontakt zu treten, fällt es besonders auf, wenn sämtliche Kanäle ignoriert werden. Zurück bleiben digitale Geister.

Die Dating-Plattformen, die sicher auch ihre Berechtigung haben und für manchen die einzige Möglichkeit bieten, mit potentiellen Partnern in Kontakt zu kommen, erleichtern gleichzeitig einen unverbindlichen und auch verantwortungslosen Umgang miteinander. Wir lassen einen Laufsteg der Möglichkeiten an uns vorbei ziehen. Gefällt eine nicht, wird weiter geklickt. So endet mit einem »Weg«, was mit einem »Wisch« begonnen hat.

Die Funkstille ist salonfähig geworden – Das hätte ich nicht für möglich gehalten, als ich anfing, mich mit dem Phänomen zu beschäftigen. Die Funkstille: Nährboden für eine neue Epidemie unserer Zeit?

Nun muss ich gestehen, dass ich zuvor niemals auf einer Dating-Plattform war und daher bei den Recherchen zu diesem Buch fassungslos das virtuelle Treiben auf den Single-Börsen betrachtet habe. Das Vokabular, etwa wenn von »Marktwert« gesprochen wird, verstärkt das Gefühl, dass es bei der Partnersuche um ein Geschäft geht, um eine Investition, eben um eine Börse. Das Überangebot erschwert die Auswahl und täuscht vermeintliche Verfügbarkeit vor. Ist den Suchenden und denen, die gefunden werden wollen, eigentlich bewusst, dass sie nur eine Option unter vielen sind und der Laufsteg der potentiellen Partner extrem lang ist? Das Wartezimmer ist voll!

Und was passiert letztendlich, wenn wir nicht mehr direkt in Konkurrenz zu anderen treten und uns der Konfrontation nicht mehr aussetzen? Wenn wir, sobald es etwas komplizierter wird, verschwinden, wie konfliktfähig sind wir dann noch?

Die unvermeidliche Frage: Hat die Technologie das alles noch schlimmer gemacht? – Ja! Ghosting gilt als das Lösungsmittel im technologischen Zeitalter. Das Schweigen ist der unüberhörbare Sound einer Ära der Kommunikationsexplosion.

Was aber passiert, wenn wir uns auf diese Art lösen? Auflösen? – »Ghosting«, schaut man unter die Oberfläche, ist eine Form, die das Zerrissen-Individuelle, das Schwankende, das Ambivalente in uns, in unseren Wahrnehmungen und Empfindungen, beschreibt. Es offenbart das Problem zu vieler – vermeintlicher – Optionen, des andauernden Hin und Hers und damit der Unsicherheit, Unentschiedenheit und Zweifel. Und es zeigt, wie unheimlich es wird, wenn alles zwischen Fakt und Fiktion schaukelt wie auf hoher See, wenn der Horizont bei Wellengang verschwindet, und wie gefährlich es ist, wenn Geschichtsschreibung – die des Einzelnen wie die einer ganzen Gesellschaft – im Ungefähren hängen bleibt.

Und nichts anderes ist Ghosting: ein Verweilen im Ungefähren, im Unklaren, im Status des Nicht-Seins – im Nichts. Ein Sprung ins Ungewisse. Es fehlen die Orientierungspunkte. Der Psychologe und Paartherapeut Wolfgang Hantel-Quitmann assoziiert im ersten Moment Ghosting mit Demenz! Bei der Demenz verschwindet die Person und bleibt nur noch als Körper. Ghosting ist die gewollte Demenz, nur dass hier der Körper verschwindet und der Geist des anderen bleibt. Die permanente Anwesenheit der Abwesenheit quält. Es ist für den Ge-Ghosteten hochgradig problematisch, wenn der andere sich in Luft aufzulösen scheint. Fast ein Substanzverlust. Als löse sich ein Teil des Selbst auf. Als verliere man eine Kraft, die sich auflöst.

Beziehungen werden abgebrochen, bevor sie begonnen haben. Die ungeklärten Dinge beschäftigen uns mehr als begründete Entscheidungen. Wir brauchen geradezu Information, um Unsicherheit zu reduzieren! Wenn Informationen unterbunden werden, schafft dies größte Unsicherheit!

Doch auf die Frage: »Was ist passiert?«, gibt es keine Antwort. Vielleicht wäre die treffendere Frage: Was ist nicht passiert? Und ist es vielleicht sogar das, was so trifft?

Und: Was wollen wir überhaupt? Ein Happy-End schon zu Beginn? – Das Happy-End ist eine Erfindung, um sich vom (Er-)Leben zu verabschieden, um gleich zum Ende vorzuspringen.

Der Geist ist aus der Flasche: Ghosting als Kulturphänomen »Die freien Menschen fragen sich jeden Tag, ob sie ihre Beziehung – so sie eine haben – nicht abbrechen sollten. Sie fragen sich jeden Tag, ob sie ihre Freundschaften nicht abbrechen sollten. Sie fragen sich auch, ob ihr Partner, ihre Freunde sich nicht gerade fragen, ob sie die Beziehung, die Freundschaft abbrechen sollten. Sie fragen sich, ob eine andere Beziehung, andere Freundschaften sie nicht mehr erfüllen würden«, so der Soziologe Sven Hillenkamp.

Trennungsträume statt Träume vom Glück – Laut Studien haben 80 Prozent aller Millenials (Singles zwischen 18 und 33) die Erfahrung des Ghostings bereits einmal gemacht. Für etwa 95 Prozent der Bevölkerung ist Ghosting als Methode, um eine – längerfristige – Beziehung zu beenden, allerdings völlig inakzeptabel. Den Kontakt per Ghosting abzubrechen gilt als eine der am wenigsten wünschenswerten Möglichkeiten, eine Beziehung zu beenden.

Bei ›reiferen‹ Paaren taucht ein ›Partner‹ etwa in einem Drittel der Beziehungen plötzlich ab. In Freundschaften ereignet sich Ghosting mittlerweile sogar in 50 Prozent aller Verbindungen.

Wertvolle, jahrzehntelange Freundschaften werden – nicht selten schlagartig – beendet, weil eine andere Meinung, ein anderer Lebensstil offenbar zu sehr verunsichern oder weil man sich für Menschen keine Zeit mehr nehmen will, die »einem nichts mehr bringen«. Freundschaften werden nach dem Maßstab der Effektivität beurteilt – aber auch hier geht es um Angst, Scham, Freiheit, Autonomie, Unverbindlichkeit und Bequemlichkeit. Das sind die Kernbegriffe, die beim Ghosting immer eine Rolle spielen, und davon handelt dieses Buch.

Die paradoxe Korrelation: Die Abbruchmentalität hängt eng mit heftiger Abbruchangst zusammen – Die »Funkstille«, der Kontaktabbruch ohne Erklärung, ist also ein »Zeichen der Zeit«. Wie Menschen miteinander kommunizieren, hat das Internet grundlegend verändert. Die neue Internetkommunikation ist »disruptiv«, hat Branchen, von der Unterhaltung bis zum Einzelhandel, auf den Kopf gestellt. Doch den emotional heftigsten, den »disruptivsten« Effekt hat das Internet dank der Dating-und Partnerschaftsvermittlungs-Plattformen auf die Wahl des Partners.

Das Smartphone ist die virtuelle Bar in der Hosentasche – »Digital Dating« wirkt wie ein riesiges soziales Experiment. Die akuten Folgen sind ein sich völlig veränderndes soziales Verhalten. Ghosting ist nicht zufällig in Zeiten größter Kommunikationsmöglichkeiten entstanden, und Ghosting trifft umso mehr, weil es so viele Möglichkeiten gibt zu sehen, wie dieser »Geist« weiter mit immer neuen und anderen Menschen interagiert – den Verlassenen jedoch ignoriert.

Darauf gehe ich in diesem Buch intensiv ein. Sie finden hier Gespräche, die ich mit Psychologen, Therapeuten, Soziologen und Beratern von Partnervermittlungs-Plattformen geführt habe. Sie alle machen »wesentliche Veränderungen, und nicht nur erfreuliche« im Miteinander ausfindig. Wie sich Menschen heutzutage kennenlernen könnten und wie die Auswahl vollzogen werde, verstärke die Bindungsangst und die Angst vor Kontrollverlust und dem Verlust der Eigenständigkeit.

Hinzu kommt eine Praxis des Miteinanders, die aus der Warenwelt in die Welt der Beziehungen übergegriffen hat. Welche Sorte soll ich nehmen? Was ist das Besondere? Darf’s etwas mehr sein? Ein digitaler Fleischmarkt. Es scheint, als sei die Suche der Sinn. Da muss es doch etwas Besseres geben? Permanente Wiederholung lässt jedoch alles fade werden. Ist ein Zuviel nicht das Gleiche wie ein Zuwenig? Der Mangel, der unzufrieden macht, bleibt.

Verstärkt suchen viele nach dem Perfekten und schließen dabei aus, was den Anderen einzigartig macht. Unvollkommenheiten, Spleens oder auch Neurosen. Eigenarten sind in der von Algorithmen kalkulierten Annäherung nicht vorgesehen. Doch Liebesbeziehungen beruhen auch auf einer Basis, unabhängig von Kritik und Akzeptanz: bedingungslose Annahme. Werden Beziehungen kalkuliert eingefädelt, fehlt genau diese bedingungslose Annahme.

Die Algorithmen bilden den möglichen Kandidaten für die Partnerschaftsbildung ab. Mehr nicht. Alles andere könnte man den Kandidaten überlassen, denn sicherlich gäbe es bei näherem Kennenlernen einiges zu entdecken. Allein Zeit und Geduld scheinen dafür zu fehlen. Nach den ersten Begegnungen wird der Kontakt häufig abgebrochen. Der Andere hält nicht, was er versprach, oder der Suchende ist nicht derjenige, als der er sich auf der Vermarktungsoberfläche im Netz präsentiert hat.

Die Partnervermittlungsplattform »Parship« wirbt großflächig damit, dass sich »alle elf Minuten ein Single über Parship verliebt«. Paare kommen über diese Plattformen tatsächlich zusammen und werden glücklich. Das Versprechen hält der Psychologe Wolfgang Hantel-Quitmann jedoch für völlig nichtssagend: »Wenn Parship damit wirbt, dass sie sagen, alle elf Minuten verliebt sich einer. Was ist denn das für ein Kriterium? Für mich gibt es einen Riesenunterschied zwischen Verlieben und Liebe! Verlieben kann jeder! Es ist das Einfachste der Welt, weil Verlieben, psychologisch gesehen, nichts anderes als eine Idealisierung oder Projektion von Liebes-Sehnsüchten ist. Im Grunde genommen muss der Andere nur stillhalten und das aushalten und versuchen, halbwegs glaubwürdig alles zuzulassen an Projektionen und keine Störfaktoren einzubauen.« So viel zur Oberfläche der Verliebtheit.

Wie eine Beziehung beginnt, so wird sie später oft beendet. Findet die Begegnung ihren Anfang auf einer Dating-Plattform, ist es viel wahrscheinlicher, »ge-ghostet« zu werden oder abzutauchen.

Denn »der Geist ist ja schon aus der Flasche, wenn man damit anfängt, seine Liebessehnsüchte auf Internet-Plattformen zu parken. Das Ganze ist ein Riesengeschäft rund um die Liebes-Sehnsüchte von Menschen und ihre Idealisierung. Da werden Geister sozusagen geschaffen. Ich schaffe den Geist – den von mir selber oder einen idealisierten Geist –, den ich in die Vitrine dieser Datenbanken stelle«, kritisiert Psychologe Hantel-Quitmann.

›Wie man geht‹, ist das überragende Thema auf Dating-Plattformen. Die Menschen suchen eine Anleitung für den Abschied, und gleichzeitig scheint Ghosting auf das Scheitern einer Auseinandersetzung – die nie wirklich stattfand – zu folgen. Fand keine Auseinandersetzung statt, kann das massive Folgen haben – und zwar für den Abbrecher, so der Psychologe Hantel-Quitmann. Am Ende bleibt meist er alleine zurück, oder es entstehen langfristig »Schuldgefühle, die für die verschwundene Person schwer zu verarbeiten sind«.

Auseinandersetzungen sind unangenehm, entlarven eigene Schwächen und kosten außerdem Zeit, die scheinbar effektiver genutzt werden kann – zum Beispiel für die weitere Suche. Und genau diesen Konflikt scheut man: »Ghosting ist einfach und effektiv. Ich verschwende keine Zeit mit Menschen, die mir nicht hundertprozentig zusagen«, so formuliert es ein 50-jähriger Unternehmensberater. Hundertprozentig? Gibt es das? Und muss man nicht Zeit verwenden, um jemanden besser kennenzulernen?

Das Aufkommen von Plattformen wie Tinder und der Eindruck, dass immer jemand anderes – buchstäblich – hinter der nächsten Ecke steht, ermutigt die Menschen, eilig zum Nächsten zu ziehen. Sie reagieren so schnell auf den Anderen, dass ein Kennenlernen verpasst wird. Was kaum begann, ist schon vorbei. Die schnelle visuelle Bewertung ist der Treiber.

Wohin das ›Eilig weiter‹ und die ewige Suche nach dem Perfekten führen und warum in Beziehungen ein Umgang wie in der Warenwelt zerstörerisch ist, dazu später ausführlich.

Doch es gibt nicht nur das Ghosting, das plötzliche Abtauchen aus einer Freundschaft oder einer Paar-Beziehung – Heutzutage gibt es zahlreiche Begriffe für hippe »Verabschiedungsformen«, sogenannte »virtual vanishing acts«. Früher sprach man von »jemanden hinhalten« oder sich »jemanden warm halten«. Heute nennt man das »Benching« (jemanden auf die lange Bank schieben). Es gibt das »Breadcrumbing« (immer mal wieder Brotkrumen zuwerfen) oder das »Stashing« (verstecken, niemand soll es wissen, dass man eine Beziehung hat). Man zeigt sich nicht mit dem Partner in der Öffentlichkeit und auch nicht auf den Social Media Accounts. Es ist, als ob es den Anderen nicht gäbe. Der Grund: sich weitere Optionen offenhalten.

Das sogenannte »Orbiting« beschreibt wie beim Ghosting einen plötzlichen Kontaktabbruch, doch der Abbrecher bleibt über die »sozialen Netzwerke« mit dem Anderen verbunden, hält sich weiterhin in der »Umlaufbahn« des Anderen auf und »liked« sogar dessen Fotos oder Postings. Ein Trend, der ohne Social Media nicht denkbar gewesen wäre. Außerdem gibt es noch das »Submarining« (Verschwinden, um irgendwann wieder aufzutauchen) und das »Love Bombing«, eigentlich eine Phase des Kennenlernens einer Person mit meist narzisstischen Persönlichkeitsstrukturen. Der neue Kontakt wird auf den Sockel gestellt, bis dieser eigene Wünsche anmeldet. Der Narzisst wird kontrollierend, einnehmend und ziemlich bestimmend. Anfänglich: Zu schön, um wahr zu sein. Dann das reinste Schlachtfeld. Schließlich gibt es noch das beliebte »Cushioning«. Man hält sich mehrere Optionen offen und fällt weich, wenn eine Möglichkeit sich nicht als Volltreffer entpuppt. Es gibt das sogenannte »Firedooring«, das einseitige Beziehungen beschreibt, »das Cloaking«, das Verbergen jeglicher Kontaktmöglichkeiten und Löschen vergangener Kommunikation auf verschiedenen Apps. Die Person verschwindet auf allen Kommunikationswegen, sodass der Andere nicht einmal nachfragen kann usw. Die Liste könnte noch Seiten füllen.

Es gibt also unendlich viele Einordnungs-Versuche mittels dieser Anglizismen. Und weil mit diesen Umgangsformen niemand glücklich ist, hat sich bereits eine nettere und etwas respektvollere Form des Ghostings ausgebreitet, die im Netz fast schon als Lösung zelebriert wird: Das sogenannte Caspering – die spaßig-freundliche Form des Verabschiedens, die nicht ganz so wehtun soll.

Natürlich sind das Etiketten, dem Hang folgend, trendige Begriffe zu kreieren, die man nicht überbewerten sollte. Stillosigkeit und Empathiemangel werden durch hippe Labels ersetzt. Geschmacklosigkeit wird so zu einer besonderen Art, Geschmack zu beweisen.

Manches davon sind neu verpackte Spielarten der ›Funkstille‹. Gleichzeitig versucht man, ein Phänomen zu benennen, das vor 15 Jahren noch nicht einmal in den Praxen der Psychologen und Therapeuten als Problem erkannt wurde oder im besten Fall als »Zigaretten holen« bekannt war. Es geht um wesentlich mehr als um Phänomene, die längst bekanntes Verhalten in hippe Worte kleiden, denn diese neuen digitalisierten Verabschiedungsformen sind zunehmend alltäglich und viel bequemer geworden. Dies ist auch möglich, weil es ohne ein gemeinsames soziales Umfeld und gemeinsame Freunde wesentlich einfacher geworden ist zu verschwinden, ohne Rechenschaft über sein Handeln geben zu müssen. Im Gegenzug ist es im 21. Jahrhundert fast unmöglich, restlos zu verschwinden: Wir alle hinterlassen mediale Spuren, die sich nicht tilgen lassen.

Dating-Phänomene sind Schutzreaktionen vor Verletzungen – »Diese Dating-Phänomene sind Schutzreaktionen vor Verletzungen«, erklärt Eric Hegmann, Parship-Berater: »Die Täter sind Opfer der eigenen Unsicherheit und ihres Bindungsverhaltens. Sie handeln nicht immer vorsätzlich, doch auch Fahrlässigkeit schützt nicht jene, die auf der Wartebank sitzen. ›Cushioning‹ und ›Benching‹ sind, wie alle bekannten Dating-Phänomene, von Furcht geprägt. Entweder von Bindungsangst oder von Verlustangst. Bindungsangst und Verlustangst sind zwei Seiten derselben Medaille: Es geht dabei um verletzten Selbstwert. Bindungsangst sucht Schutz vor Verletzungen, die durch Nähe entstehen könnten, und Verlustangst sucht Schutz durch einen vermeintlich starken Partner. Nach meiner Beobachtung in der Praxis haben die Verhaltensweisen, die durch verletzten Selbstwert geprägt werden, in den vergangenen 20 Jahren deutlich zugenommen«, so der Therapeut. Sind wir sensibler, ängstlicher, aber auch rücksichtsloser geworden, weil wir enge Beziehungen und vertraute Nähe fürchten? Auch dazu später mehr.

Funkstille ist Überlebensinstinkt und stille Rebellion, Ghosting Abstand ohne Auflehnung – Die »Funkstille«, wie ich sie bisher verstand, war eher ein Impuls, ein Überlebensinstinkt. Eine stille Rebellion. Ghosting dagegen ist Abstand ohne Auflehnung. Beim Ghosting gibt es oft den einen Auslöser, der auch eigentlicher Grund für den Bruch sein kann, bei der Funkstille ist der Abbruch dagegen nur der Moment der Entladung.

Die apokalyptischen Reiter einer drohenden Trennung – Verschwinden in der Beziehung, auf Abstand gehen, sich zurückziehen – das sind die Hauptprobleme in Beziehungen. Der US-Psychologe John Gottman spricht von den vier Kommunikationssünden, die zur Trennung innerhalb einer Partnerschaft führen, von den sogenannten apokalyptischen Reitern, als da wären:

  1. Kritik: Schuldzuweisungen und Anklagen, die ihren Höhepunkt in einer generellen Verurteilung des Partners finden.

  2. Abwehr/Verteidigung mit Rechtfertigung (und Verleugnung der eigenen Anteile), die den Konflikt aufrechterhalten.

  3. Verachtung und Geringschätzung des Partners.

  4. Mauern ist nach Einschätzung von John Gottman der schlimmste apokalyptische Reiter, die vierte »Sünde«. »Mauern« bedeutet, die Schotten zu schließen und ein kommunikatives U-Boot zu werden, das auf der Oberfläche der Beziehung nicht mehr zu sehen ist, aber die Beziehung torpediert, meist schweigend. Mauern bedeutet Rückzug und Schweigen.

Ghosting ist Mauern, der schlimmste apokalyptische Reiter – Man baut Mauern auf, nichts dringt mehr durch, nichts kommt mehr an. Schweigen mag manchmal vielleicht die effektivere, wenn auch brutalere Art sein mitzuteilen, dass die Beziehung gestört ist. Ghosting hingegen teilt mit, die Beziehung – der Andere oder gar man selbst – habe gar nie existiert! Was in unseren Wahrnehmungen und Empfindungen schwanken lässt, was in uns ambivalent ist, was uns zerreißt, dieses dauernde Hin und Her unserer Gefühlswelten, versuche ich auf den folgenden Seiten zu erhellen.

Ghosting und die Folgen – Posttraumatische Verbitterungsstörung – Auch für dieses Buch hatte ich Gelegenheit, mit vielen Betroffenen zu sprechen, den Verlassenen, die darunter leiden, dass der Andere sich geradezu vaporisiert hat. Ich treffe Zurückgebliebene, die sich künftig vor solchen Erfahrungen schützen wollen, indem sie sich nicht mehr in Beziehungen wagen. Fachleute sprechen dann von einer Posttraumatischen Verbitterungsstörung. Im 5. Kapitel »Wie uns das Leben unter die Haut geht« erkläre ich dieses Phänomen genauer.

Ghosting, Ghoster und die große Beziehungsangst – Ich treffe aber auch die sogenannten »Geister«, die offen über ihr Innenleben berichten. Die Interviews mit den »Geistern« erhellen, warum jemand sich plötzlich »in Luft auflöst«. Es sind meist Geschichten vom Verlieren und Suchen, seltener vom Finden. Dabei suchen viele nicht nur die große Liebe, sondern, so Hantel-Quitmann: »Sie wollen als große Liebe des Lebens erkannt werden. Sie wollen selber eine sein!« Dass Liebe und Leid zusammen gehören, will niemand sehen. Und: Die Abwehr des Einen nährt die Leidenschaft des Anderen. Sich auf dieses Spiel einzulassen scheint vielen zu riskant. Man will ja auf keinen Fall Verlierer sein. Also: Vorsicht!

»Paarbeziehungen: der wesentlichste Motor für unsere persönliche Entwicklung« – »Es scheint, als lebten wir heute in einer Gesellschaft, die kollektiv zwischenmenschliches Agieren extrem schwierig macht, obwohl wir wissen, dass das Wunder der Nähe im Hinblick auf die Verbesserung unserer Lebensqualität wirkt«, so der italienische Molekularbiologe Giovanni Frazetto, der wie seine Landsfrau Michela Marzano, Philosophin, in den folgenden Kapiteln noch einige Male zu Wort kommen wird. Auch der Paar- und Familienpsychologe Professsor Hantel-Quitmann hilft, wie schon in meinen vorherigen Büchern, das Phänomen einzuordnen und darüber hinaus das schwierige Geflecht der Beziehungen zu entwirren. Er betont, dass »Paarbeziehungen der wesentlichste Motor für unsere persönliche Entwicklung« sind und hält Ghosting, wie viele seiner Kollegen, für eine »Bewältigungsstrategie von Ängsten«.

Lisa Fischbach, Psychologin, ElitePartner-Beraterin und Autorin der Studie »So liebt Deutschland«, kann erkennen, dass Frauen genauso häufig »ghosten« wie Männer und Jüngere häufiger »ghosten« als Ältere. Zwar sei das Ideal, mit einem Partner ein Leben lang zusammen zu bleiben, auch bei den jüngeren Menschen ungebrochen, doch die Erwartungen an Beziehungen seien gestiegen. Der Partner müsse alle Rollen abdecken, solle etwa ein guter Freund, ein Förderer sein, emotional wie finanziell unterstützend, aber auch erotische Bedürfnisse erfüllen. Eine idealisierte Phantasiegestalt.