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Über dieses Buch:

England, 1621: Die junge Jasmine ist die uneheliche Tochter eines Herzogs, muss aber als Dienstmagd im Haushalt ihres verstorbenen Vaters arbeiten. Dort trifft sie eines Tages den düsteren Lord Cameron, der ihrer Schönheit und Willensstärke sofort verfallen ist. Zunächst heiratet sie den jungen Lord nur, damit sie ihr altes Leben hinter sich lassen kann. Doch in seinen dunklen Augen lodert ein Feuer des Verlangens, das ihren Widerstand schwinden lässt. Aber auch Lord Cameron hat Pläne, die er vor seiner Angebeteten geheim hält. Werden die junge Jasmine und der geheimnisvolle Lord dennoch zueinander finden können?

Über die Autorin:

Heather Graham wurde 1953 geboren. Die New-York-Times-Bestseller-Autorin hat über zweihundert Romane und Novellen verfasst, die in über dreißig Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurden. Heather Graham lebt mit ihrer Familie in Florida.

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eBook-Neuausgabe Juni 2019

Dieses Buch erschien bereits 1991 unter dem Titel »Die Wildkatze« bei Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1989 Heather Graham

Die amerikanische Originalausgabe erschien 1989 unter dem Titel »Sweet Savage Eden« bei Dell

Copyright © der deutschen Ausgabe 1991 Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/KennStilger47, Phagalley und Mary Chronis Period Images & Dunraven Productions

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (cg)

ISBN 978-3-96148-836-0

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Heather Graham

Der Lord und die ungezähmte Schöne

Roman

Aus dem Amerikanischen von Eva Malsch

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Kapitel 1

Im Gasthof an der Kreuzung, England Winter, im Jahr des Herrn 1621 Unter der Regierung Seiner Königlichen Majestät, König James I.

Kreischend tobte der eisige Wind und drohte, die Deckenbalken der winzigen Dachkammer zu zerreißen. Jassy preßte die geballten Hände an die Brust und spürte die Kälte nicht, während sie die zerbrechliche Schönheit betrachtete, die vor ihr im Bett lag, unter fadenscheinigen Decken. Dann schaute sie sich unglücklich in dem schäbigen Schlafzimmer um, das nur schwach vom Kerzenschein erhellt wurde. Ihr Blick streifte die alte Truhe, die nur wenige Habseligkeiten enthielt. Tränen brannten in ihren Augen.

Einen solchen Tod darf sie nicht finden, gelobte sie sich. Ich werde betteln, Geld leihen oder stehlen, aber – Gott helfe mir – so lasse ich sie nicht sterben.

Der alte Tamsyn starrte sie an, als hätte er ihre Gedanken erraten. Traurig schüttelte er den Kopf. Die Hoffnung, Linnet Dupré könnte noch gerettet werden, hatte er längst aufgegeben. »Chinin, Mädchen. Chinin würde ihre Leiden ein wenig lindern. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«

Jassy wischte ungeduldig die Tränen weg, die über ihre Wangen rollten. Er mußte sich irren. Wer war er denn schon? Ein heruntergekommener Trunkenbold, der im Gasthof an der Kreuzung mühsam sein Dasein fristete. Er behauptete, vor langer Zeit habe er in Oxford Medizin studiert. Doch das mochte eine Lüge sein – eine Lüge wie die Träume, die er für sie gesponnen hatte, von einer besseren Zukunft, fernen Ländern, exotischen Reisen und smaragdgrünen Meeren.

Aber ihre Mutter lag im Sterben, und Jassy hatte keine Zeit für Träume. »Chinin?«

»Chinin«, wiederholte Tamsyn. »Genauso gut könnten Sie sich den Mond wünschen. Selbst geringe Mengen kosten ein Vermögen.«

Verzweifelt biß sie sich auf die Unterlippe. Alles war teuer, denn ihre Mutter verdiente im Gasthaus pro Jahr nur eine Goldmünze und einen Stoffballen. Ihr selbst wurde gar nichts bezahlt. Sie arbeitete als Küchenlehrling, und man würde ihre Bemühungen erst nach einer fünfjährigen Ausbildung entlohnen. »Wenn ich Master John bitte ...«, flüsterte sie.

»Das sollten Sie sich sparen, Mädchen«, warnte Tamsyn. »Er wird Ihnen nichts geben.«

Sie mußte ihm beipflichten. Die Gäste saßen vor üppig gefüllten Tellern, tranken Ale und Wein, aus Frankreich importiert. Oft gab er großzügig Getränkerunden aus. Um so weniger vergönnte er seinen Angestellten.

Trotz seines Geizes und seiner Grausamkeit waren die Duprés hiergeblieben. Nur in diesem Gasthaus, wo sie eine Dachkammer teilten und Jassy ihrer schwachen, anfälligen Mutter fast die ganze Arbeit abnahm, konnten sie ihren Lebensunterhalt bestreiten.

Als die Kranke leise stöhnte, eilte Jassy zu ihr, kniete nieder und umfaßte eine der dünnen, kraftlosen Hände. Linnet war ihr schon immer unwirklich erschienen, wie eine Märchenfee. Auch jetzt, wo der Tod seine knochigen Finger nach ihr ausstreckte, zeigte sich ihre makellose Schönheit. Nein, nicht der Tod, schwor sie sich. Lieber wollte sie am Galgen enden, ehe sie ihre Mutter in dieser erbärmlichen Umgebung sterben sah. Die zauberhafte Linnet – nicht geschaffen für ein Leben im häßlichen Elend ...

Sie öffnete die Augen, die im Fieber glänzten, in einem dunklen Violett, das einen wunderbaren Kontrast zum goldenen Haar und der elfenbeinweißen Haut bildete. Nicht die Jahre hatten das Gesicht, ein vollkommen ebenmäßiges Oval, altern lassen, sondern die Sorgen, die endlosen Kämpfe.

»Mama!« Liebevoll drückte Jassy die schmale Hand. »Ich bin bei dir!«

Und dann stieg panische Angst in ihr auf, denn Linnet erkannte sie nicht. Sie war in die Vergangenheit zurückgekehrt, sprach mit einer Person, die nicht mehr existierte. »Sind Sie das, Malden? Sagen Sie Sheffield, der Vorhang darf noch nicht aufgehen. Ich fühle mich schlecht und muß erst Kräfte sammeln. Diesem Mädchen fehlt es am nötigen Talent, um die Rolle der Lady Macbeth zu spielen.«

Neue Tränen hingen an Jassys Wimpern, tiefer Schmerz krampfte ihr das Herz zusammen. Nur zu deutlich erkannte sie, wie Linnet ihre Beziehung zur Realität verlor, um in früheren Zeiten zu leben, an einem viel schöneren Ort. Ihr Leben war nicht immer so armselig verlaufen. Als unumstrittene Königin hatte sie die Londoner Theaterszene beherrscht, in Paris, Rom und in der übrigen christlichen Welt Triumphe gefeiert, umschwärmt von Herzögen und Grafen, von Luxus umgeben.

Jassy war in Glanz und Reichtum aufgewachsen.

Ihre Mutter hatte mehrere Dienstboten beschäftigt und immer gut behandelt. Remington war für Haus und Hof verantwortlich gewesen, die alte Mary für die Küche. Sally Frampton aus dem nahen Waverly hatte ihre Herrin in kostbaren Essenzen gebadet und ihr das Haar nach der neuesten Mode frisiert. Bruder Anthony unterrichtete Jassy in Französisch und Latein, Miß Nellie gab ihr Tanzstunden, und Herr Hofinger aus Deutschland brachte ihr alles bei, was er über die Welt und deren Geschichte wußte. Er berichtete vom großen Entdecker Columbus, von der Neuen Welt und den Kolonien, von den Amerikanern und Indianern; von den Spaniern und der großen Niederlage der Armada, von den Engländern, die auf dem Meer immer noch mit den Spaniern kämpften und Land in Übersee beanspruchten. Und er erzählte auch von vornehmen Häusern und Schlössern in England. In ihren Träumen wurde sie von einem Ritter in goldener Rüstung erobert und residierte mit ihm auf einer herrlichen Burg. In solchen Träumen sah die Mutter niemals erschöpft und überfordert aus. Lächelnd, in Samt und Seide, saß sie in einem eleganten Salon und goß sich Tee aus einer Silberkanne ein.

Doch diese Träume gehörten zu einer anderen Zeit. Plötzlich hatte Linnet keine Bühnenangebote mehr bekommen. An ihrer finanziellen Lage war sie nie interessiert und deshalb völlig unvorbereitet auf die harten Schicksalsschläge gewesen. Bestürzt erfuhr sie, daß sie nicht einmal genug Geld besaß, um in ein kleines Haus zu ziehen, daß ihr wegen der hohen Schulden sogar das Gefängnis drohte. Wunderbarerweise erwies sich ein geheimnisvoller Gönner als Retter in höchster Not.

Linnet kannte ihn, was sie ihrer erst neunjährigen Tochter allerdings verschwieg. Aber mit zehn verstand Jassy das Dienstbotengeschwätz. Die Leute munkelten, der Herzog von Somerfield habe Mrs. Dupré endlich Gerechtigkeit widerfahren lassen.

Sie starrten Jassy an, und der kleine George, ein Sohn der Köchin, erzählte ihr schließlich, sie sei ›illegitim‹ geboren. Alle meinten, der Herzog, mit dem ihre Mutter einmal ›liiert‹ gewesen war, hätte sie schon längst aus ihrer Not erlösen müssen.

Solche Gerüchte versetzten Jassy zunächst in eine wundervolle Traumwelt. Sie malte sich aus, ihr Vater wäre ein hübscher, großer, reicher Mann. Eines Tages würde sie sein Haus betreten und ihn mit ihrer Schönheit entzücken. Er würde sie inniger lieben als seine ehelichen Kinder und sie dem goldenen Ritter vorstellen, ihrem künftigen Gemahl ...

Doch es kam ganz anders. Eines Morgens sprang Linnet vom Frühstückstisch in der kleinen Küche auf, stieß einen Schrei aus und brach ohnmächtig zusammen.

Jassy eilte ihr zu Hilfe, ebenso wie Mary, die erschrocken fragte, was diesen seltsamen Anfall verursacht haben könnte. Im Gegensatz zu der Dienerin konnte Jassy lesen, und so griff sie nach der Zeitung, die auf dem Tisch lag. Hastig überflog sie die aufgeschlagene Seite und erfuhr, der Herzog sei wenig ruhmreich bei einem ungesetzlichen Duell getötet worden.

Jetzt gab es niemanden mehr, der die Miete für das kleine Haus bezahlte. Ein Dienstbote nach dem anderen verließ die Duprés. Letzten Endes mußten sie ihr Heim aufgeben, die restlichen Goldmünzen gingen bald zur Neige. Vergeblich bemühte sich Linnet um ein neues Engagement an einem Londoner Theater. Die rachsüchtige Herzogin sorgte dafür, daß der einst so bewunderten Schauspielerin alle Türen verschlossen blieben.

Wie Jassy sehr schnell erkannte, mußten sie eine andere Verdienstquelle suchen. Auch Linnet sah ein, daß sie sich nur mit körperlicher Arbeit über Wasser halten konnten. Auf jeden, der seine Schulden nicht beglich, wartete das Gefängnis Newgate. Da es ihr an den nötigen Fähigkeiten mangelte, um einer besser bezahlten Tätigkeit nachzugehen, landete sie als Küchenhilfe im Gasthof an der Kreuzung. Aber auch für diese Stelle war ihr schöner, zarter Körper völlig ungeeignet.

Master John hatte sie nur aufgenommen, weil die damals zwölfjährige Jassy kerngesund gewesen war und kräftig genug, um den Vierzehn-Stunden-Tag zu überstehen, der ihre Mutter überforderte.

Als Linnet wieder zu sprechen begann, wurde ihre Tochter in die Gegenwart zurückgeholt. »Sagen Sie ihnen, der Vorhang darf noch nicht aufgehen ...« Dann schien der fiebrig glänzende Schleier von den Augen zu verschwinden. Sie runzelte die Stirn, Tränen rannen über ihre Wangen. »Jassy – Jassy, Jasmine ... Er hat dich so genannt, denn er liebte den Duft von Jasmin. Schon als Baby warst du so schön wie eine Blüte – und so süß. Oh, was für wunderbare Zukunftsträume ich hatte ... Er liebte uns – ja, er liebte uns wirklich. Du hättest eine Lady werden müssen, beschützt und verwöhnt. Aber – deine armen Hände ... O Jassy, was habe ich dir angetan! Dich hier zurückzulassen, an diesem gräßlichen Ort ...«

»Nein, Mutter, nein! Es geht mir gut, und auch du wirst dich bald wieder besser fühlen.« Mühelos kam die Lüge über Jassys Lippen. »Sobald du gesund bist, ziehen wir hier aus. Meine Halbschwester hat mir geschrieben, eine Tochter des Herzogs. Wir sollen auf einem seiner Landgüter leben. Ihre – ihre Mutter ist gestorben, und nun möchte sie wiedergutmachen, was wir durch die Schuld dieser Frau erlitten haben. Endlich werden wieder bessere Zeiten für uns anbrechen, das schwöre ich dir. Aber zuerst mußt du dich erholen.« Sie hatte einen falschen Eid geleistet. Würde der Allmächtige Verständnis dafür zeigen und ihr verzeihen? Doch mit solchen Bedenken konnte sie sich nicht belasten. Gott hatte sie verlassen, sie mußte ihr Schicksal aus eigener Kraft meistern. Natürlich würde Linnet den Meineid entsetzt verurteilen, denn sie war sehr religiös.

Aber die Kranke hatte gar nicht zugehört. »Niemand hat die Julia in so würdevoller Haltung gespielt, mit so reiner Unschuld. Das sagten alle Kritiker. Und genauso werde ich wieder auf der Bühne stehen.« Sie starrte ihre Tochter an, dann schob sie deren Hand schwungvoll beiseite. »Beeilen Sie sich jetzt! Der Vorhang soll aufgehen!«

Plötzlich öffnete sich die Tür der Dachkammer. »Tamsyn!« Master John stand auf der Schwelle. »Wofür bezahle ich Sie eigentlich, Mann? Ich brauche zwei Fässer im Schankraum – sofort! Jassy, wenn sie morgen früh nicht auf den Beinen ist und wieder arbeitet, fliegt ihr alle beide raus!« Er brach in Gelächter aus und verneigte sich spöttisch. »Mylady!« Dann gab er Tamsyn eine Kopfnuß. »Beeilen Sie sich, Mann! Gerade ist die Postkutsche aus Norwood eingetroffen. Und Sie, Lady Dachkammerratte, gehen besser nach unten und bedienen die Leute!«

»Ich kann meine kranke Mutter nicht allein lassen!« Schon im nächsten Moment bereute Jassy ihre unbedachten Worte. Master John mußte so schnell wie möglich besänftigt werden. Sie richtete sich aus ihrer knienden Haltung auf, ging zu ihm und ließ demütig den Kopf hängen. »Sir, ich möchte Sie um Hilfe bitten. Ich brauche dringend Geld, um Chinin für meine Mutter zu kaufen, und .«

Sie verstummte, als er einen Finger unter ihr Kinn legte und sie zwang, ihn anzuschauen. Lächelnd entblößte er seine gelben Zähne, sein übelriechender Atem stieg ihr in die Nase. »Ich habe Ihnen schon erklärt, wie Sie sich ein bißchen Extrageld verdienen können, Mädchen.«

Der Raum begann sich zu drehen, und sie fürchtete, ihr kärgliches Mittagessen zu erbrechen, wenn Master John noch näher kommen würde. Nur zu gut wußte sie, was er meinte. Molly, die Kellnerin, ließ sich oft auf Liebschaften ein und hatte Jassy in die Dinge eingeweiht, die zwischen Mann und Frau geschahen. Oft hatte sie ihr zugezwinkert und behauptet, es sei grauenhaft, wenn ein grunzender, keuchender Kerl auf einem liege und – nun ja, einen seiner Körperteile in sie hineinschiebe. »Mit einem hübschen Jungen ist es nicht so schlimm. Dann kann's sogar himmlisch sein.« Wenn kein netter Junge zur Verfügung stand, tröstete sie sich mit dem Geld, das ihr die anderen für gewisse Dienste zahlten.

Jassy biß die Zähne zusammen und senkte den Blick. Sie würde alles tun, um ihre Mutter am Leben zu erhalten – und mochte es noch so abscheulich sein. Und eines Tages werde ich Master John umbringen, nahm sie sich vor.

»John!« Der schrille Ruf drang vom Erdgeschoß herauf, und der Gastwirt schien zu schrumpfen. Er hatte eine Heidenangst vor seiner Frau, nicht ohne Grund, denn sie wog zweihundert Pfund und setzte ihre ganzen Körperkräfte ein, wenn sie wütend das Nudelholz schwang.

»Schon gut, Mädchen, heute habe ich kein Geld«, murmelte er und wandte sich ab. Er warf einen Blick auf Tamsyn und entschied, daß der Mann noch eine Kopfnuß verdiente, dann eilte er aus der Kammer.

Tamsyn strich sich stöhnend über das graue Haar. Er war klein und dünn, aber drahtig und stark. »Jassy, um Himmels willen!« Beschwörend ergriff er den Arm des Mädchens. »An so etwas dürfen Sie nicht einmal denken. Ihre Mutter wird so oder so ...«« Doch dann verstummte er verlegen, denn er brachte es nicht übers Herz, offen auszusprechen, was er dachte – daß Linnet nur mehr wenige Stunden zu leben hatte. »Glauben Sie mir, Ihre Mutter würde lieber sterben, als Sie in den Armen dieses stinkenden Tölpels zu wissen.«

Bei dieser Vorstellung erschauerte er. Was Jassy nicht ahnte – sie war noch viel schöner als Linnet, der sie auf frappante Weise glich. Aber aus ihren tiefvioletten, schrägstehenden Augen strahlte ein unbezwingbarer, rebellischer Geist, wie ihn die schwächliche Schauspielerin nie besessen hatte.

»Irgend etwas muß ich doch tun!« Ungeduldig schüttelte sie seine Hand ab.

Tamsyn schluckte und wünschte, er wäre kein wertloser Trunkenbold, der alles verloren hatte außer einem ebenso wertlosen Überlebensinstinkt. »Jetzt muß ich nach unten gehen, Mädchen. Waschen Sie ihr das Gesicht und reden Sie mit ihr. Und wenn sie schläft, kommen Sie hinunter und machen Sie sich an die Arbeit, sonst setzt Sie der gemeine alte John wirklich alle beide auf die Straße.«

Sie nickte, und als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, kniete sie wieder neben ihrer Mutter nieder. Mit einem feuchten Lappen kühlte sie ihr die fieberheiße Stirn. »Bald wirst du gesund, Mama«, flüsterte sie, »und dann bleiben wir nicht mehr hier, das verspreche ich dir.«

Schließlich schlief Linnet ein, schön und ätherisch wie ein zarter Schmetterling. Jassy erhob sich, küßte die Wange ihrer Mutter und verließ hastig die Kammer.

Sie rannte die Treppe hinab und wollte in die Küche gehen. Aber Jake, Johns widerwärtiger Schankkellner, rief ihr zu, sie solle schleunigst Ale servieren.

In der Gaststube schlugen ihr Lärm und verrauchte Luft entgegen. Alle blankgescheuerten Tische waren besetzt, mit Aristokraten und gewöhnlichen Leuten.

Jassy haßte die Schankstube, wo sich ständig Männer von Master Johns Kaliber tummelten, ihr lasziv zugrinsten und versuchten, sie ins Hinterteil zu kneifen. Und sie durfte nicht einmal die Hände wegstoßen, die nach ihr griffen. Das hatte ihr der Wirt ausdrücklich verboten.

Immer wieder eilte sie zwischen der Küche und dem Gastraum hin und her, schleppte schwere Platten voller Roastbeef und Bratenten und unzählige Ale-Krüge. Ihre Schultern und Arme schmerzten von der harten Arbeit.

Einmal traf sie Molly im Flur, der zur Küche führte. Die Kellnerin tätschelte ihr freundlich die Wange. »Wie blaß Sie sind, Mädchen! Ich weiß, Sie machen sich Sorgen um Ihre Mama. Aber ich habe eine gute Nachricht für Sie. Gerade hat mir die Köchin etwas Wein und eine gute Suppe gegeben. Ich hab' alles beim Sideboard versteckt. Später können Sie's Miß Linnet hinaufbringen ...«

»Was ist denn da los?« Plötzlich stand Master John hinter ihnen. »Ah, Ihre Majestät, Lady Jasmine!« Wieder verbeugte er sich höhnisch. »Wenn ich Sie noch mal hier herumstehen und tratschen sehe, setze ich Sie mitsamt Ihrer Ma vor die Tür!« Warnend hob er einen Zeigefinger.

»Ah, Master John!« Mollys Wimpern flatterten verführerisch. »Bitte, Sir, das Mädchen hat doch ...««

»Das Mädchen ist arbeitsscheu!« brüllte er. »Und wenn sie heute vor Mitternacht nach oben läuft, kann sie sich ihr Abendessen woanders suchen!« Grob packte er sie bei den Schultern und schob sie zur Küche. Beinahe hätte sie empört aufgeschrien, aber genausogut hätte sie ihrer Mutter den Todesstoß versetzen können. Und so preßte sie mühsam die Lippen zusammen.

Molly folgte ihr. »Ich geh' selber mit der Suppe und dem Wein zu Miß Linnet, das verspreche ich Ihnen. Passen Sie bloß auf, daß Sie den alten John nicht noch mehr ärgern.«

Dankbar nickte Jassy. »Gott segne Sie.«

Später befahl ihr Jake, den beiden Gentlemen am Kamin noch einen Krug Ale zu servieren. »Und tragen Sie nur nicht die Nase zu hoch, Miß!« ermahnte er sie. »Das sind vornehme Gäste, die anständig bedient werden müssen.«

Sie wußte, was eine ›anständige Bedienung‹ bedeutete, und fragte sich, warum er nicht Molly zu diesen zwei Gästen schickte. Die würde neckisch erröten und genau die richtigen Worte finden, wenn man sie lachend in die Kehrseite zwickte.

Als Jassy den vollen Krug zu dem Tisch beim Kamin brachte, sah sie, daß die beiden Männer tatsächlich der gehobenen Gesellschaftsschicht angehörten, nach der gediegenen Kleidung zu urteilen. Der eine sah besonders hübsch aus, blond und schlank wie der ritterliche Held ihrer Träume, mit funkelnden Blauaugen. Er schenkte ihr ein Lächeln, das ihr Herz schneller schlagen ließ. »Ah, Mädchen, wo haben Sie denn mein Leben lang gesteckt?«

Das Blut stieg ihr in die Wangen. Er war freundlich und nett, genauso, wie sie sich den Mann immer vorgestellt hatte, den sie einmal lieben würde. Auf einem schönen Hengst würde er zu ihr reiten, sie zu sich in den Sattel heben und in ein wundervolles Schloß führen. Dort würde eine neue Welt auf sie warten, voller Dienstboten, die ihr jeden Wunsch von den Augen ablasen, mit herrlichen Kleidern und Bettwäsche aus feinem Leinen und üppigen Mahlzeiten. Und sie würde die Herrin in diesem Haus sein, angebetet von ihrem Gatten, dem sie schöne, gesunde Kinder schenkte ...

Verwirrt senkte sie die Wimpern. Was bildete sie sich da ein? Männer von Stand kamen nicht in diese Kneipe, um eine Kellnerin als Braut zu erwählen, sondern um sich mit ihr ›im Heu zu wälzen‹, wie Molly es ausdrückte.

Plötzlich warf sie stolz den Kopf in den Nacken. Eines Tages würde sie dieser erniedrigenden Armut entrinnen, im Wohlstand leben und alle verachten, die glaubten, sie stünden hoch über Jasmine Dupré.

Der junge blonde Mann bedankte sich für das Ale und betrachtete sie aufmerksam. Offenbar wollte er nicht mehr mit ihr schäkern, und sein Blick gefiel ihr. Jetzt schien er mehr in ihr zu sehen als eine gewöhnliche Kellnerin.

Unwillkürlich lächelte sie, und während sie das Ale einzuschenken begann, streiften die Finger des Mannes ihre Hand.

»Robert, starr dieses Mädchen nicht so an und hör mir zu! Was ich zu sagen habe, ist wirklich wichtig.«

Er erwiderte Jassys Lächeln so bewundernd, daß sie die Worte seines Gefährten kaum wahrnahm.

»Ich weiß, du willst mir von den Indianern erzählen, Jamie.«

»Robert!«

Eine Hand fuhr hoch und stieß gegen Jassys Arm. Der Henkel des Krugs entglitt ihren Fingern, Ale rann über den Tisch. Erschrocken hielt sie das Gefäß fest und stellte es ab.

»Verdammt, Mädchen, passen Sie doch auf!«

Nicht der schimmernde goldene Ritter stieß den zornigen Fluch hervor, sondern der andere Mann, den sie bisher kaum angeschaut hatte. Jetzt sah sie ihn um so deutlicher, denn er sprang erbost auf. Das Ale war nicht nur auf sein elegantes weißes Spitzenhemd geflossen, sondern auch auf Dokumente, die er studiert hatte.

Er war überdurchschnittlich groß, mit breiten Schultern und schmalen Hüften. Seine muskulösen Schenkel wurden von einer engen Reithose umspannt, die in hohen, blankpolierten Stiefeln steckte.

Das Haar, ebenso schwarz wie die Stiefel, wirkte kaum dunkler als die blitzenden Augen in seinem tiefgebräunten Gesicht. Er schien nicht viel älter zu sein als der freundliche blonde Mann, weckte aber den Eindruck, er wäre seinem Gefährten um einige Jahre voraus. Vielleicht lag das an der starken Persönlichkeit, die er ausstrahlte, an seiner spürbaren Arroganz und vitalen Energie.

Aus seinem Blick, der sich auf Jassy heftete, sprach keine Bewunderung, sondern Ärger – und noch etwas anderes, das ihren Stolz viel mehr verletzte – deutliche Mißachtung. Ohne an ihre niedrige Stellung zu denken, verteidigte sie sich gegen den ungerechten Angriff. »Sir, es war nicht meine Schuld. Sie haben mich angestoßen.«

»Beherrsch dich, Jamie«, bat der blonde Mann leise. »Der Wirt in dieser Kneipe ist ein wahrer Tyrann. Womöglich wird er das Mädchen schlagen.«

Jamie antwortete nicht. Sein nasses Hemd interessierte ihn offenbar nicht. Um so eifriger versuchte er, die Dokumente zu retten. Unsanft zerrte er Jassys Röcke zu sich heran, um das Pergament damit abzutrocknen.

»Wagen Sie es nicht, mich anzurühren!« Mit beiden Fäusten trommelte sie gegen seine Schulter. Und plötzlich stieg Angst in ihr auf, denn die sonderbaren dunklen Augen schienen sie zu durchbohren.

»Hören Sie auf!« Mühelos wehrte er ihre Attacke ab, indem er ihre Handgelenke packte. Er setzte sich wieder und zog sie neben sich auf die Bank.

»Bastard!« zischte sie. »Lassen Sie mich los!«

Er lachte belustigt, und sie versuchte, ihm ihre Hände zu entziehen. Und plötzlich merkte sie, daß sein arrogantes Selbstvertrauen nicht von ungefähr kam. Er war ungeheuer stark, nicht nur körperlich, sondern auch in seinem Wesen. Das merkte sie an der vibrierenden Hitze, die von seinem Schenkel ausging und ihre Röcke durchdrang, am festen Griff seiner Finger. Ungeniert musterte er sie. Der Blick seiner dunklen, satanischen Augen wanderte über ihr Gesicht, ihre Brüste.

Eine seltsame Wärme breitete sich in ihr aus, ihr Herz schlug wie rasend. Wieder wollte sie sich losreißen, kannte nur noch einen einzigen Wunsch – vor diesem Mann zu fliehen.

Und dann hörte sie zu ihrer Bestürzung Master Johns Stimme. »Was gibt's denn hier für Schwierigkeiten, Gentlemen? Verzeihen Sie der Kleinen, sie arbeitet noch nicht lange bei mir und ist ziemlich ungeschickt. Aber sie soll bestraft werden, das verspreche ich Ihnen.«

Er packte Jassys Arm, um sie von der Bank hochzuzerren, aber der hübsche blonde Mann kam ihr zu Hilfe. »Tun Sie ihr nicht weh, Master John!« Der gebieterische Klang dieser Worte ließ keinen Zweifel an Roberts aristokratischer Abstammung. »Sollte ich den Verdacht schöpfen, daß Sie Ihre Angestellten allzu streng züchtigen, werde ich meine Freunde und Bekannten auffordern, Ihren Gasthof in Zukunft zu meiden.«

Jetzt schaute auch Jamie den Wirt an, nachdem sein blonder Begleiter ihn offenbar unter dem Tisch gegen das Schienbein getreten hatte, und seufzte ungeduldig. »In der Tat, Sir, dann sähe ich mich gleichermaßen gezwungen, die Leute vor diesem Lokal zu warnen. Und dabei habe ich hier immer so gern mein Ale am Kaminfeuer getrunken.«

Master John schien kurz vor einem Schlaganfall zu stehen. Sein Gesicht lief dunkelrot an.

Der schwarzhaarige Mann ließ Jassy los, erhob sich zu seiner vollen Größe und stemmte die Hände in die Hüften. »Falls mir zu Ohren kommt, daß diesem Mädchen ein Leid geschehen ist, kehre ich zurück und breche Ihnen beide Beine. Verstanden?«

»Aye«, flüsterte John atemlos.

»Sehr gut.« Jamie setzte sich wieder.

Der Wirt wandte sich zu Jassy. »Gehen Sie wieder an die Arbeit!«

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Nicht nur Master John wollte sie möglichst schnell entrinnen, sondern auch dem dunkeläugigen Fremden.

Rasch holte der Wirt sie ein. »Sie bilden sich wohl ein, Sie wären was Besonderes, Lady Jasmine aus der Dachkammer?« fauchte er. »Aber für mich sind Sie das keineswegs! Und damit Sie's wissen – ich werde das Gehalt Ihrer Mutter kürzen!«

Noch weniger Geld? Obwohl Linnet ohnehin nur einen Hungerlohn bekam? Und das alles wegen dieses arroganten Gastes! »Ach, lassen Sie mich doch in Ruhe!« stöhnte sie.

»Marsch in die Küche! Servieren Sie den Soldaten Seiner Majestät, die soeben eingetroffen sind, das Essen!«

In der Küche eilte ihr Molly entgegen. »Gerade war ich bei Ihrer Ma, Liebes. Sie hat ein bißchen Brühe getrunken.«

»Ich bin Ihnen so dankbar ...« Während die Köchin ein schweres Tablett auf Jassys Schulter lud, vergaß sie den Zwischenfall mit den vornehmen Gästen, und ihre Sorgen kehrten zurück.

Chinin, hatte Tamsyn erklärt. Linnet mußte Chinin nehmen, um das Fieber zu bekämpfen.

Beim Apotheker auf der anderen Straßenseite könnte Jassy das Mittel kaufen – wenn sie genug Geld hätte.

Die Köchin schwatzte mit einem der kürzlich angekommenen Kutscher, und dabei stellte sie volle Teller auf Jassys Tablett. Der Mann saß am Küchentisch, tippte sich an den Hut und grinste Jassy freundlich an.

»Großer Gott, davon glaube ich kein einziges Wort, Matthew!« rief die Köchin lachend.

»Es stimmt aber. Jassy, das sollten Sie auch hören.«

»Matthew, sie ist doch noch ein unschuldiges junges Ding!« protestierte die Köchin streng.

»Eine wundervolle Geschichte – von Joel Higgins, der im Londoner Mietstall gearbeitet hat. So ein hübscher, strammer Bursche! Er erzählte mir von dieser Alten, die ihn für seine Dienste im Bett bezahlen wollte. Aber er brachte es einfach nicht fertig. Also tat er so, als wäre er zu allem bereit. Die Vettel zog sich aus, und da schnappte er sich ihre Börse. Er sagte, er müsse sich vorher waschen, und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Stellt euch das vor! Da lag sie und wartete, und er war mit dem gestohlenen Geld längst über alle Berge.« Matthew lachte schallend. »Diesem Drachen hat er's gegeben, was?«

»Dafür wird er am Galgen baumeln«, prophezeite die Köchin düster. »Und hüten Sie lieber Ihre Zunge, wenn meine blutjunge Küchenhilfe in der Nähe ist, Matthew. Ach, Jassy, ich brauche Sie so dringend hier bei mir, und er läßt Sie draußen im Schankraum schuften. Und dann beklagt er sich, wenn sein Braten nicht genauso schmeckt, wie er's haben will. Übrigens, tut mir leid, daß es Ihrer Ma so schlecht geht.«

»Danke.« Mühsam hielt Jassy das schwere Tablett auf ihrer Schulter fest. »Könnten Sie mir vielleicht zufällig ...«

»Du lieber Himmel, Mädchen, ich gäbe Ihnen gern eine Münze, wenn ich eine hätte! Mein letztes Geld habe ich nach Hause geschickt, für meine alte Mutter. Aber ich will für Ihre Ma beten. Sicher wird der Allmächtige einen Ausweg finden.«

Der Kutscher kicherte. »Der hilft nur denen, die sich selber helfen.«

Jassy hatte es längst aufgegeben, göttlichen Beistand zu erhoffen. Um unter dem vollbeladenen Tablett nicht zusammenzubrechen, lächelte sie der Köchin nur noch kurz zu und eilte dann aus der Küche.

Der Abend schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, doch dann konnte sie endlich in die Dachkammer zurückkehren. Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie die keuchenden, mühevollen Atemzüge ihrer Mutter hörte. Wenn sie doch bloß Chinin kaufen könnte, um ihr die Qualen zu erleichtern ...

Ein leises Klopfen unterbrach ihre Gedanken. »Ich bin's – Molly!« Jassy öffnete die Tür, und die Kellnerin blickte mitfühlend auf die Kranke. »Geht's ihr noch immer nicht besser?«

»Eher schlechter.«

»Oh, mein Gott ...« Nachdenklich betrachtete Molly das Mädchen. Sie fand, genauso wie die Köchin und die Zimmermädchen, daß Jassy ein besseres Leben verdient hätte. Was viel Besseres, als kalte Steinböden schrubben zu müssen, Schwielen an den Händen zu bekommen und Lumpen zu tragen. Alle träumten von einem Prinzen, der die kleine Jassy eines Tages heimführen würde. Sie sah ja auch schön genug aus, trotz ihrer schäbigen Kleidung, trotz des häßlichen Haarnetzes, in dem ihre goldenen Locken steckten. Eine Rose unter Dornen, eine Frühlingsblüte mitten im Winter ...

Und sie war zu diesem armseligen Schicksal verurteilt, zu einer Hölle auf Erden.

Molly seufzte. »Ich weiß, Ihre Ma will nicht, daß Sie's so treiben wie wir. Aber – nun ja, der große, hübsche Lord hat nach Ihnen gefragt. Er sagt, er wohnt im Towergate, jenseits der Straße, und er wird heute nacht lange aufbleiben.«

Bittere Enttäuschung schnürte Jassys Kehle zu. Der freundliche blonde Mann begehrte sie, wollte eine Hure für die Nacht haben. Und er war ihr wie der goldene Ritter aus ihrer Märchenwelt erschienen ...

Plötzlich hörte sie Linnets schwache Stimme. »Jassy!«

Sie rannte zum Bett und kniete nieder. »Da bin ich, Mutter.« Sanft berührte sie die glühend heiße Stirn der Kranken.

»Hilf mir – so hilf mir doch ...« Die Augen, die sich für wenige Sekunden geöffnet hatten, fielen wieder zu.

Tränenblind stand Jassy auf. Nein, so qualvoll soll sie nicht sterben, nahm sie sich vor. Ich werde betteln – oder stehlen – ja, stehlen ... Der Allmächtige würde es sicher verstehen. Und Er war der einzige Richter, auf den es ankam. Sie hatte zwar ihr Vertrauen in Gott verloren. Aber vielleicht würde Er ihr helfen, wenn sie sich selber half – so wie es der Kutscher Matthew gesagt hatte.

Womöglich würde der blonde Mann den Diebstahl gar nicht bemerken. Und wenn er sie ertappte? Grimmig preßte sie die Lippen zusammen. Dann konnte sie ihm immer noch verkaufen, was er sich wünschte. So oder so, Linnet durfte nicht länger leiden.

»Oh, vielen Dank, Molly.«

Die Kellnerin räusperte sich. »Ein aufregender Bursche, was?« meinte sie und versuchte ihrer Stimme einen fröhlichen Klang zu geben. Dann wurde sie rot. »Ich habe mich angeboten, an Ihrer Stelle. Das Geld hätte ich Ihnen gern gegeben. Aber er möchte Sie haben, sonst keine.«

»Ich verstehe ...«

»Soll ich inzwischen bei Ihrer Ma bleiben?«

»O Molly, das würden Sie für mich tun?«

»Klar.«

Jassy rannte zur Waschschüssel und spritzte sich das restliche Wasser ins verweinte Gesicht.

»Beeilen Sie sich, Kindchen«, riet Molly und sank auf einen Stuhl.

Hastig warf sich Jassy ihren abgetragenen Umhang um die Schultern und rannte zur Tür. Ehe sie die Kammer verließ, drehte sie sich noch einmal zu ihrer Mutter um. »Nein, so lasse ich dich nicht sterben. Um keinen Preis.«

Kapitel 2

Eiseskälte hüllte sie ein, als sie dem Weg folgte, der vom Gasthof an der Kreuzung zum Towergate führte. Die beiden Gebäude lagen nicht weit auseinander, denn in diese Stadt, an der Straße von London nach Süden, kamen viele Reisende und Kaufleute, und deshalb hätte sogar noch ein dritter Wirt gute Geschäfte machen können.

Man behauptete, Master John würde ein besseres Essen servieren, aber das Towergate habe komfortablere Zimmer zu bieten. Deshalb speisten die vornehmeren Leute bei John, um dann im anderen Etablissement zu übernachten, während sich das einfache Volk mit den billigen Quartieren im Gasthaus an der Kreuzung begnügte.

Jassys Zähne klapperten. Der fadenscheinige Umhang schützte sie nur unzulänglich vor dem Winterwind, ihre Füße in den dünnen Schuhen froren erbärmlich auf dem vereisten Schneematsch, durch den sich die Radspuren zahlloser Fahrzeuge zogen. Doch sie war dankbar für die Kälte, die ihre angstvollen Gedanken ein wenig betäubte. Aber als sie das Tor des Towergate erreichte, zitterte sie nicht nur vor Kälte.

Eine heftige Bö wehte hinter ihr in die Schankstube, und sie schloß hastig das Tor. Dienstboten und Hunde dösten vor dem sterbenden Kaminfeuer. Um diese späte Stunde herrschte kaum noch Betrieb, nur an einer Wand saßen noch zwei Gäste und unterhielten sich leise.

Eine vollbusige Kellnerin kam mit wiegenden runden Hüften auf Jassy zu. »Was wollen Sie denn, Mädchen?«

»Ich – bin eingeladen worden.«

»Oh!« Die Kellnerin hob neugierig die Brauen. »Dann werden Sie wohl von Seiner Lordschaft erwartet?« Sie zeigte zur Treppe. »Die dritte Tür, das beste Zimmer im ganzen Haus.«

Auf dem Weg zu den Stufen hörte Jassy, wie die Frau dem Schankkellner vernehmlich zuflüsterte: »Das ist die kleine Dupré. Die hat sich immer für was Besseres gehalten. Und jetzt hurt sie genauso herum wie unsereins.«

Der Schankkellner lachte, und Jassy glaubte seinen Blick im Rücken zu spüren. »Dann ist es mit ihr also auch soweit gekommen? Na, wenigstens wird sie in Zukunft nicht mehr auf dem hohen Roß sitzen.«

Das höhnische Gelächter der beiden verfolgte sie bis in den Oberstock hinauf. Sie erreichte die dritte Tür und öffnete sie rasch, ohne anzuklopfen. Dann lehnte sie sich dagegen und rang nach Atem. Da war sie nun – im Schlafzimmer eines Mannes, der sich mit ihr amüsieren wollte.

Nicht irgendeiner, sagte sie sich, sondern Robert, der nette blonde Gentleman. Wenn er sie anfaßte, würde sie sicher nicht sterben. Und wenn sie wegging, würde Geld in ihrer Tasche stecken, schmachvoll verdientes Geld – der gestohlenes, falls sie ihre Jungfräulichkeit retten konnte.

Es war angenehm warm im Zimmer, aber dunkel, denn im Kamin lag nur noch glühende Asche. Als Jassys Augen sich an die Finsternis gewöhnt hatten, entdeckte sie vor dem rötlichen Schein eine Sitzbadewanne aus Metall, aus der Dampf emporwehte. Niemand saß darin.

Offensichtlich war das Bad für sie bestimmt. Natürlich, ein Gentleman gab sich nur mit einer Dienstmagd ab, wenn sie sauber war. Aber wie sollte sie das Geld aus seiner Börse einstecken, wenn sie ihre Kleider ablegen mußte?

Jassy ging unsicher auf die Wanne zu. Wo war der Mann, dem sie – dienen sollte? Plötzlich schnappte sie entsetzt nach Luft. Von hinten hatten sich große Hände auf ihre Schultern gelegt. Reglos stand sie da.

»Darf ich Ihnen den Umhang abnehmen, Mistreß?« fragte eine rauhe Männerstimme.

Kalte Panik drohte sie zu überwältigen. Es zerrte schmerzhaft an ihren Nerven, ihn direkt hinter ihrem Rücken zu spüren. Der Raum schien sich zu drehen, aber sie riß sich zusammen, bekämpfte ihre Furcht, und das Schwindelgefühl ließ langsam nach.

Sie nickte und versuchte sich mit dem Gedanken zu beruhigen, daß dies der nette blonde Mann war, der sie im Gasthaus bei jenem Mißgeschick vor seinem grausamen dunkelhaarigen Freund in Schutz genommen hatte. Und weil sie sich noch deutlicher an die Bewunderung in seinem Blick erinnern wollte, kniff sie die Augen zusammen.

»Sie frieren, Mistreß. Das Bad wird Sie wärmen.« Obwohl er leise sprach, beinahe flüsternd, machten ihr seine Wort Angst. Ein seltsamer Unterton schwang darin mit, eine gewisse Spannung. Natürlich, sagte sie sich, er hat eine Hure in sein Zimmer bestellt, und jetzt freut er sich auf das Vergnügen, das ihn erwartet.

Als er den Umhang von ihren Schultern gestreift hatte, trat sie rasch vor, um aus der beklemmenden Nähe des Mannes zu fliehen. »Das Bad ist also für mich vorgesehen?«

Nach einer kleinen Pause bestätigte er: »Aye, Mistreß, für Sie.« Nun nahm seine Stimme einen ironischen Klang an. Er folgte ihr, seine Finger berührten ihren Rücken und begannen die Knöpfe ihres schäbigen Wollkleids zu öffnen. Jassy zwang sich, stillzustehen. Damit hatte sie nicht gerechnet – mit diesem verwirrenden Gefühl, ihre Haut würde unter seinen Händen brennen.

Ihre Augen verengten sich. Sie beobachtete, wie der Dampf aus der Wanne hochstieg, wie die Asche im Kamin glühte. Wenn sie doch alles andere auch so sehen könnte – durch einen roten Nebel ...

Er zog das Kleid von ihren Schultern nach unten, und dann hätte sie beinahe einen Schrei ausgestoßen, denn seine Lippen preßten sich auf ihren Nacken. Der Kuß entfachte ein fremdartiges Feuer in ihren Adern. Ihr Körper, eben noch halb betäubt von der Kälte, erwachte zu zitterndem Leben. Empfindungen, die sie nie zuvor gekannt hatte, schienen ihr Gehirn zu lähmen. Aber sie mußte einen klaren Kopf behalten, wenn sie ihren Stolz und ihre Unschuld bewahren – und mit dem Geld entkommen wollte, das sie so dringend brauchte.

Seine Hände liebkosten ihre Schultern, das Kleid fiel über ihre Arme und die dürftigen Unterröcke zu Boden. Instinktiv stieg sie heraus – entfernte sich erneut von dem Mann, der sie immer mehr verwirrte.

Ihr Blick schweifte zu einem Sessel zwischen der Wanne und dem Kamin. Ordentlich zusammengefaltet, hing ein Gehrock über der Lehne. Wenn sie doch in die Taschen greifen könnte ... Wenn sie lange genug unbeobachtet bliebe ...

Doch das war unwahrscheinlich. Sie wagte noch immer nicht, sich zu dem Mann umzudrehen, aber sie hörte ein leises Rascheln, als er ihr Kleid beiseite räumte. Dann kam er wieder zu ihr, suchte und fand die Häkchen ihrer Unterröcke, die wenig später am Boden landeten. In ihrem dünnen Hemd spürte sie die Kälte wieder. Schau ihn an, mahnte eine innere Stimme, sink in seine Arme. Er ist ein guter, freundlicher Mensch. Wenn du mit einem Lächeln sein Herz rührst, wird er dich gehenlassen, ohne dir die Ehre zu rauben ...

Aber sie konnte sich nicht zu ihm wenden, obwohl sie es wollte, und sie wagte nicht einmal, in seine sanften blauen Augen zu blicken. Noch nicht ... Plötzlich fand sie es beschämend, so spärlich bekleidet vor ihm zu stehen, nur im Hemd und in Strümpfen.

Sie erschauerte, als sie wieder eine Bewegung hinter sich spürte, den Hauch eines warmen Atems. Er ergriff ihre Schultern, drückte ihren Rücken an seine Brust, und sie fühlte seine harten Muskeln, seine wachsende Erregung. Dann sah sie, wie seine langen, gebräunten Finger über ihre Arme glitten und ihre Brüste umfaßten. Zum zweitenmal mußte sie einen Schrei zurückhalten, als er mit seinen Daumen die Knospen durch das dünne Hemd berührte, das scheinbar gar nicht vorhanden war. Jassy biß die Zähne zusammen, kämpfte verzweifelt gegen den Impuls, sich loszureißen und davonzulaufen.

Seine Atemzüge beschleunigten sich. Er zog ihr das Haarnetz vom Kopf, wollte die Nadeln aus dem lockigen Knoten zupfen.

Jassy trat wieder einen Schritt vor. »Bitte ... Ich will mein Haar nicht naß machen. Sonst friere ich, wenn ich ins Freie gehe.«

Sie hörte ein leises Lachen und wünschte beinahe, er würde nicht länger in der Finsternis hinter ihr bleiben und sich endlich zeigen, ihr mit sanften, ausdrucksvollen Augen zulächeln.

Andererseits wollte sie ihn nicht sehen. Noch nicht. Nicht in diesem Augenblick, wo sie ihre Hemmungen und ihre Erziehung vergessen mußte, das höhnische Getuschel über die hochnäsige Miß Dupré, die gar nicht so unnahbar war, wie sie sich gab, sondern eine Hure, die sich willig verkaufte ...

»Also gut, ich werde Ihr Haar nicht anrühren, obwohl ich es gern offen sehen würde. Baden Sie jetzt und lassen Sie sich Zeit.«

Sie preßte die Lippen zusammen und wollte ihn bitten, ihr den Rücken zuzukehren, während sie ihre restliche Kleidung ablegte. Doch das wäre sicher sinnlos gewesen.

Nun, wenigstens blieb er außerhalb des schwachen Lichtscheins, den die schwelende Asche verbreitete. Sie bemühte sich, die Strümpfe möglichst anmutig von ihren Beinen zu ziehen, und hielt unsicher inne, ehe sie aus dem Hemd schlüpfte. Dabei wußte sie nicht, wie sinnlich und aufreizend sie sich bewegte.

Jetzt kam es darauf an, das Hemd in der Nähe des Gehrocks abzulegen, damit sie später so tun konnte, als würde sie danach suchen, wenn sie die Börse durchwühlte.

Sobald sie nackt war, stieg sie hastig in die Wanne und sank ins warme Wasser hinab. Sie schloß die Augen und schlug sie sofort wieder auf, weil etwas auf ihren Bauch fiel. Doch sie sah nichts, denn der Mann stand hinter ihr, wie zuvor.

»Ein Stück Seife, meine Liebe«, erklärte er, und sie hörte leichten Spott aus seiner Stimme heraus. Vielleicht war er gar nicht so freundlich, wie sie glaubte. Um so besser. Wenn er sich unhöflich benahm, würde es ihr leichter fallen, ihn zu betrügen, ihm etwas zu rauben, was sie sich nicht verdienen wollte.

Ein Waschlappen folgte der Seife ins Badewasser. Nervös tastete Jassy nach beiden Gegenständen und wünschte bedrückt, der Mann würde nicht hinter ihr stehenbleiben. Plötzlich bezweifelte sie, daß er ihre Dienste bezahlen würde. Deshalb mußte sie unbedingt an den Gehrock herankommen.

Sie hörte, wie er hinter der Wanne auf und ab ging. Offenbar verlor er allmählich die Geduld. Wenn er sich doch endlich entfernen würde ... Wie sollte sie ihn dazu veranlassen?

Glücklicherweise sorgte er selbst für eine Lösung dieses Problems. »Möchten Sie etwas trinken?« fragte er.

»Aye, sehr gern«, flüsterte sie.

Da eilte er zur Tür, stieß sie auf und rief nach der Bedienung.

Blitzschnell warf Jassy den Lappen und die Seife ins Wasser, beugte sich über den Wannenrand und griff in eine Tasche des Gehrocks, die voller Münzen steckte. Wenn ich eine stehle, wird er sie bestimmt nicht vermissen, dachte sie bitter. Welch eine traurige Welt, in der ein reicher Mann eine Frau kaufen konnte, ohne zu merken, wieviel er bezahlte ... Rasch versank sie wieder im Badewasser. Sie hörte, wie er jemandem dankte, der offenbar zur Tür gekommen war. Und dann sah sie ihn, allerdings nur undeutlich, weil er sich im Schatten bewegte. Er stellte ein Tablett auf den Tisch und füllte zwei Gläser, den Rücken zu ihr gewandt, nur mit Hemd und Hose bekleidet, barfuß. Deshalb war es ihm vorhin gelungen, lautlos an sie heranzuschleichen.

Jassy starrte auf seine breiten Schultern, Robert ... Könnte sie doch endlich seine sanften Augen sehen ... Nein, es war besser, wenn er sich nicht zu ihr wandte, denn sie umklammerte seine Münze, und die durfte er nicht finden.

Sie tauchte ihr Gesicht ins Wasser, und dann zuckte sie erschrocken zusammen, denn er kauerte plötzlich hinter ihr, einen Arm um ihre Schultern gelegt. Das Glas, das er ihr anbot, enthielt eine bernsteinfarbene Flüssigkeit. »Rum aus der Karibik, rein und golden. Sonst gibt's hier nur minderwertiges Ale.«

Sie nahm das Glas, leerte es in einem Zug, hustete und schnappte nach Luft. Lachend klopfte er ihr auf den Rücken. »Ich hätte lieber doch Ale bestellen sollen.«

»Nein, nein, der Rum schmeckt mir sehr gut.« Und das war die reine Wahrheit, denn der Alkohol brannte wie ein kräftespendendes Feuer in ihrem Körper und nahm dieser Nacht zumindest einen Teil des Grauens.

»Möchten Sie noch einen Schluck?«

»O ja, bitte.« Jassy senkte den Blick und überlegte, daß der Rum vermutlich teurer war als der Durchschnittspreis für eine Dirne.

Doch das spielt jetzt keine Rolle mehr, sagte sie sich, denn sie hielt die Münze in der Hand. Bald würde sie den Mann schluchzend anflehen, sie gehen zu lassen, weil sie einfach unfähig sei, seine Wünsche zu erfüllen. Mit einer überzeugenden Szene wollte sie beweisen, daß sie die Tochter der grandiosen Schauspielerin Linnet Dupré war.

Danach könnte sie dieses Zimmer verlassen und ihren Traum vom goldenen Ritter retten. Vielleicht würde sie dem blonden Mann eines Tages wieder begegnen, als ehrbare Dame in Samt und Seide, und wie durch ein Wunder seine Liebe erringen ...

Er gab ihr das gefüllte Glas zurück, kniete hinter ihr nieder, und seine Finger streichelten ihren Nacken, ein Ohrläppchen. Es war gar nicht so schlimm. Der Rum half ihr, das alles zu ertragen.

»Sie sind ein sonderbares Mädchen«, bemerkte er. »So schlank und zierlich. Das Gesicht einer Aristokratin – und die rauhen Hände einer Küchenmagd. Der Körper einer Verführerin – und die arroganten, schlauen Augen eines durchtriebenen Biests.«

Seine Worte überraschten Jassy. Sie klangen irgendwie entzückt – und trotzdem nahm sie noch einen anderen Tonfall wahr, eine schneidende Schärfe. Sie erschauerte, denn diese Stimme paßte ganz und gar nicht zu dem freundlichen blonden Mann mit den sanften blauen Augen.

»Mistreß ...«

Die Anrede glich dem Wispern eines magischen Windhauchs, der ihre Haut berührte und wieder dieses fremdartige Feuer entzündete. Er griff nach der Seife und dem Lappen. Und als er Jassy zu waschen begann, konnte sie sich nicht wehren, weil sie in einer Hand das Rumglas und in der anderen die Münze hielt. Wie selbstverständlich wanderte seine Hand über ihren Körper – als hätte sie das Recht dazu, als würden sie sich schon lange kennen, und sie saß einfach da und erlaubte diese schockierenden Intimitäten.

Der Lappen strich über ihren Hals, die Schultern und Brüste. Sie fröstelte und fühlte sich wie ein in die Enge getriebener Hase. Eine magische Macht ging von dieser Berührung aus. Verwirrt schloß Jassy die Augen, und da spürte sie seinen Mund auf ihrem.

So warm, so fordernd, so zwingend ... Ein Zittern durchlief Jassys Glieder. Wie von selbst öffnete sie die Lippen, seine Zunge spielte mit ihrer. Während sie gegen überwältigende Emotionen kämpfte, verfluchte sie den Rum. Denn das ermutigende Feuer des Alkohols verstärkte jetzt die Hitze, die durch ihre Adern raste, schürte die panische Angst vor der Macht, die dieser Mann auf sie ausübte. Hilflos war sie ihm ausgeliefert.

Nie hätte sie sich träumen lassen, welche Empfindungen der erste Kuß ihres Lebens wecken würde. Und dann ... Seine Lippen wanderten über ihren Hals, seine Hände tauchten ins Wasser und liebkosten die Schenkel, die sich, von der schmalen Wanne beengt, fest zusammenpreßten. Sie mußte diesen Wahnsinn beenden, sofort, sonst wäre alles verloren.

Seine Arme umfingen ihren Körper und hoben sie aus der Wanne. Unwillkürlich schrie sie auf und klammerte sich instinktiv an ihn, um nicht zu fallen. Seinem Lachen entnahm sie, daß er ihr Gewicht kaum spürte – und immer noch ironische Spottlust verspürte. Ihre Angst wuchs.

»Bitte, Sir!« Ihre atemlose Stimme hatte genau das richtige bebende Pathos. Sie sank auf ein breites Bett, der Mann kniete über ihr, sein dunkler Kopf näherte sich ihren Brüsten, ein heißer, begieriger Kuß drohte eine rosige Spitze zu versengen.