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LUDWIG
CARDANO

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TEIL I

Die Frau am Fenster

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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1. Auflage 2019

Lektorat: Johann Auer

ISBN e-book (Teil I): 978-3-99200-243-6

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Prolog

Der Schwarzsee ist oval, gleicht einer Ellipse mit Ausbuchtungen, die lange Achse fünf Kilometer, die kurze drei. Ringsum Berge, der Wald reicht bis ans Ufer. An einem Ende eine Insel, tausend Meter vom Ufer entfernt. Zugang zum See nur von Westen über eine schmale Straße. Auf dieser Seite und im Süden ist das Ufer flach. Da gibt es Ferienhäuser. Bootshäuser. Dieses Wasser erscheint fast immer schwarz. Es ist kalt, das ganze Jahr über.

Der See ist bis zu siebzig Meter tief. Am Grund liegen Baumstämme, die die Bäche bei Hochwasser und Murbruch hineinspülen; sie halten sich dort Jahrhunderte, weil in den untersten Wasserschichten der Sauerstoff fehlt. Wer im See ertrinkt, hat gute Chancen, nie mehr aufzutauchen, in den Leichen wird die Gasbildung unterdrückt, dann fehlt der Auftrieb. Der See gibt seine Opfer nicht mehr her.

Diese bedauerlichen physikalischen Gegebenheiten waren früher nicht bekannt, das Verschwinden von Personen wurde mit dem Übernatürlichen erklärt. Die mythogene Schaffenskraft des Volkes hat eine andere Erklärung gefunden: Vor Urzeiten habe sich ein Einsiedler am flachen jenseitigen Ufer eine Klause samt Kapelle gezimmert und dort ein Leben frommer Exerzitien geführt. Den Fischern, durch den natürlichen Reichtum des Sees übermütig und gottlos geworden, habe das nicht gepasst – das Geläute habe die Fische vertrieben –, weshalb sie eines unheiligen Abends hinübergefahren seien, den Klausner aus seiner Klause gezerrt, ihm die Glocke aus der Kapelle an die Beine gebunden und ihn dann in der Mitte des Sees ins Wasser geworfen hätten. Ab und zu höre ein einsamer Fischer oder Wanderer gegen Abend die Glocke aus der schwarzen Tiefe herauftönen und erschauere, ist der hohle Ton doch untrügliches Zeichen eines kommenden Personenverlustes. Tage, maximal ein paar Wochen später verschwindet dann jemand im See.

Und taucht nie wieder auf.

Adolf Segner hat die Mitte des Schwarzsees erreicht und stoppt sein neues Aluboot. Er zieht die Ruder ein, macht allerdings keine Anstalten zu fischen. Stattdessen zieht er ein optisches Gerät aus der Tragetasche und beginnt, den See zu beobachten. Es ist inzwischen völlig dunkel geworden, Adolf schaut nicht durch ein normales Fernglas, sondern durch ein Nachtsichtgerät.

Segner schwenkt seine Sehhilfe von links nach rechts, dann wieder zurück, immer hin und her, etwa einen Viertelkreis beschreibend. Er scheint den See selber abzusuchen, nicht das gegenüberliegende Ufer – etwa, um dort kopulierende Paare zu bespannen. Es ist außerdem Anfang September und zu kühl für so etwas. Nein, Adolf beobachtet die Oberfläche des Sees. Er ist allein.

So sah auch niemand, was Adi Segner zugestoßen ist. Hinterher war die verbreitetste Theorie: Herzinfarkt. Wieso er dann drei Tage später an einem Steilufer im Wasser trieb, erklärt die Infarkttheorie nur unzureichend; bei so einem Ereignis brechen die Leute an Ort und Stelle zusammen, in Adis Fall also im Boot, wie kam er ins Wasser? Und wieso trieb das Boot, das natürlich schon am nächsten Morgen entdeckt wurde, kieloben? Weil er, um Luft ringend, auf das Dollbord gesprungen und so das Gefährt zum Kentern gebracht hat. Hieß es. Wieso hat diese einigermaßen abenteuerliche Konstruktion jemand geglaubt? Weil, das muss man zugeben, bei der Obduktion ein reinrassiger Infarkt gefunden wurde. Allerdings hatte Adolf Segner etwas Wasser in der Lunge. Er muss also noch lebend in den See gelangt sein, gewissermaßen, als das arme Herz zu schlagen aufhörte, mit dem letzten Schnaufer noch das Wasser des Schwarzsees eingesogen haben, der arme Kerl.

Man könnte hier tüpfelscheißerisch darauf hinweisen, dass Adi auch zuerst ins Wasser gefallen sein und dann einen Infarkt erlitten haben könnte. Quasi beim Ersaufen. Tatsächlich hat sich das der eine oder andere Mitbürger auch überlegt, weil der merkwürdige Ablauf mit einem über das Dollbord in den See aussteigenden und das Boot solcherart zum Umschlagen bringenden Adi eben schwer zu glauben war. Wenn Adi ins Wasser fiel, weil das Boot umgekippt ist, wird der Hergang verständlicher. Er fällt hinein, Schock durch das kalte Wasser, Ertrinken und Infarkt kommen als Paar, finito. Diese Interpretation erfordert aber eine äußere Ursache, vulgo Fremdverschulden. Das hört man bei den Seeanrainern nicht gern. Denn es hieße, ein anderes Wasserfahrzeug wäre involviert gewesen, es gibt aber sonst nur Fischerboote auf dem Schwarzsee …

Für die Klärung des Falles zuständig war Major Segner – mit Adi um drei Ecken verwandt, der Name ist häufig in der Gegend. Dieser Major Werner Segner untersuchte natürlich auch das soziale Umfeld des Verunglückten und fand dort – nichts.

Segner musste seine Ermittlungen letztlich einstellen.

Er hatte eine Ahnung, dass er von den Fischern an der Nase herumgeführt wurde; sie wussten etwas, das ihm unbekannt bleiben würde. Aber es gab kein Indiz und keine Handhabe, dieses Schweigen aufzubrechen. An organisierte Kriminalität brauchte man hier nicht zu denken, es gab ja kaum unorganisierte. Da war etwas anderes, etwas Tieferes – es war etwas, auf das er nicht von selber kommen würde, das wusste er. Nach ein paar Monaten legte er den Fall zu den Akten. Aber er behielt die Fischer im Auge.

Mit den Ferienhausbesitzern war nichts anzufangen, die waren zum Zeitpunkt des Unglücks nicht da. Es kursierten Gerüchte. Das sei, hieß es, wieder die versunkene Glocke. Wie im Fall des Hirten Alois Huber, den sie im Jahre achtzehnhundertvierundfünfzig gerufen hatte – an einem lichten Junimorgen sei er an den See gekommen und zum Entsetzen einiger zufällig anwesender Personen in den See gesprungen, wobei er gerufen habe: „Die Glocke! Die Glocke!“ Er tauchte nie mehr auf. Die Zuschauer hatten natürlich keinen Glockenton gehört. Die Verbindung der Sage mit dem Fall des Adolf Segner erschien nicht nur dem Major schwach; er machte, wie viele andere, darauf aufmerksam, dass Adi im Unterschied zum Hirten wieder aufgetaucht sei; die Erwähnung ist nötig, um dem Eindruck vorzubeugen, um den Schwarzsee wohnten nur abergläubische Hinterwäldler. Dem war nicht so, die meisten hielten nichts von unheimlichen Erzählungen, das Licht der Aufklärung war unstreitig in die entlegensten Bergregionen vorgedrungen. In Hinterach gab es zum Beispiel zwei Supermärkte und einen Handyladen, in Vorderach einen Filmkulturclub und ein Jazzseminar.

Der emeritierte Volkskundler Prof. Hieronymus Neumann verfasste nach dem Unfall Segners eine kleine Schrift: „Die Glocke im Schwarzsee. Tiefenstruktur und Camouflage in der Sage.“ Neumann verglich die Sage mit anderen aus dem Alpenraum, verglich die verschiedenen Versionen des Narrativs und entdeckte einen Widerspruch zur üblichen Überlieferung: Die Glocke ist allgemein mit Heilserwartung konnotiert, am Gründonnerstag fliegen die Glocken nach Rom, um am Ostersonntag zurückgekehrt die Heilsbotschaft zu verkünden; sie sind ein Zeichen für die Allmacht Gottes. Aber nie locken sie Menschen ins Verderben – dazu dienen im Bereich des Akustischen andere Instrumente, besonders Pfeifen, die seit jeher mit dem Teufel zusammen gedacht wurden. Eine „böse“, verführende Glocke ist ein Unikum, weshalb Professor Neumann die Sage als Deckerzählung für ein anderes Geschehen einschätzte, das verdrängt wurde. Vielleicht ein heidnischer Hintergrund, Opfergefäße, die zu einer Glocke umgeschmolzen wurden, etwas in dieser Art, klären werde sich das nicht mehr lassen, meinte der Professor in seiner Abhandlung.

Der Professor hatte recht. Das mit der Glocke war Blödsinn. Tatsächlich hatte Adolf Segner in jener Nacht auch nicht den Ton einer Glocke gehört, sondern etwas ganz anderes. Zuerst kräuselte sich an der Oberfläche das Wasser, es bildeten sich winzige, spitze Wellen, von denen Tropfen in die Höhe spritzten, dann wurden die Wellen größer und steiler, und irgendetwas geschah mit dem Boot, eine Art Bewegung.

Und dann kam der Ton. Nicht der einer Glocke. Ein tiefes, sich verstärkendes Brummen. Technisch. Das ging auch Adi Segner durch den Kopf.

Als Letztes.

1

Das Haus lag auf einer Halbinsel, die von Westen in den See hineinragte. Er trat auf den Balkon, der vor den beiden großen Fenstern im ersten Stock verlief und die Schlafzimmer miteinander verband. Der Blick auf das verschilfte Südufer, dort gab es nur eine Anlegestelle, ein in den See gebauter Steg. Einen Kilometer entfernt, vielleicht mehr. Zur Linken die Insel, eine bewaldete Kuppe, vielleicht auch einen Kilometer weit weg; am Ufer ebenfalls ein Anlegesteg.

Auf der Insel ein Haus.

Der untere Teil durch Gebüsch verdeckt, auf die Entfernung konnte er nicht entscheiden, was das war, es sah künstlich aus, ein verwilderter Park. Der obere Teil des Hauses in hellem Beige mit hohen Fenstern. Steiles, verwinkeltes Dach, schiefergedeckt. Frau Schwarz hatte die Insel erwähnt, aber nicht die Villa, die als einziges Gebäude darauf stand. Michael Manolis ließ den viel zu schweren Koffer aufs Bett fallen. Frau Schwarz hatte angerufen und ihm das Domizil an diesem See angeboten, er müsse sich aber sofort entscheiden, ob er das Angebot annehmen wolle. Vier Wochen mietfrei! An einem Alpensee! Da konnte es kein Zögern geben, das konnte die Schwarz eh nicht leiden, mit so was durfte er ihr nicht kommen. Frau Schwarz war seine Agentin.

Michael Manolis schrieb Romane, die sich auch verkauften. Allerdings nicht so, wie Michael und Frau Schwarz das gern gehabt hätten. Sondern eher mau. Er unterrichtete Geschichte und Geografie an einem Gymnasium. Das war in Ordnung, aber nicht seine Berufung. Michael Manolis wollte Romane schreiben. Richtige Literatur eben. Seit er vor Zeiten ein Nachwuchsstipendium für Literatur gewonnen hatte, setzte er sich selbst den Floh ins Ohr, er sei zum Romancier erkoren – und sogenannte „Freunde“ und „Kulturaffine“ hatten diesen Floh durch schmeichelhafte Bemerkungen gefüttert, ja, gemästet.

Frau Schwarz tröstete ihn mit dem Hinweis auf die Romanflut, da sei es eben schwerer, sich durchzusetzen. Frau Schwarz hatte recht, trotzdem glaubte er ihr nicht. Glauben tat er verschiedene andere Erklärungen je nach aktueller seelischer Verfassung. Manchmal glaubte er, dass seine Romane sich nicht verkauften, weil sie mittelmäßig waren. Nicht schlecht – dann hätten sie sich gar nicht verkauft –, aber auch nicht gut genug für einen richtigen Erfolg. Mittelmäßig eben. Er verdrängte den Gedanken. Er wollte sein Domizil nicht schon am ersten Tag mit solchen Gedanken vergiften.

Vor allem, da es jetzt diese Idee gab, die ihn reich machen würde. Und Frau Schwarz auch. Die Idee, von der sie so überzeugt war, dass er dafür sogar eine Auszeit, ein Sabbatical, beantragt hatte. Denn: Zur Ausarbeitung brauchte er Ruhe, Ruhe und nochmals Ruhe. Daran hatte es in den letzten Monaten gefehlt, was auf das Konto seiner Exfrau ging. Odabella.

Wenn er an sie dachte, war die Ruhe weg. Dabei hatten sie vereinbart, sich gütlich zu trennen, kein Scheidungstheater, kein Rosenkrieg. Aber dann lief nichts so wie vereinbart. Jedenfalls behauptete sie das. Oder ihr Anwalt. Es wurde kompliziert und einigermaßen unerfreulich. Er vermied es, an sie zu denken. Wenn sie ihm in den Sinn kam, legte sich ein Schatten auf sein Gemüt, alles wurde grau. Der Ausweg bestand darin, die Gegenwart zu leben, die Vergangenheit zu meiden, und nur so weit in die Zukunft zu planen wie unbedingt nötig. Am einfachsten schien das in einer neuen Umgebung. Darum hatte er das Angebot von Frau Schwarz angenommen, ohne lang nachzudenken. Das hätte er sonst getan. Was zum Beispiel veranlasste jemanden, sein Haus vier Wochen mietfrei einem Unbekannten zu überlassen? Ein Freund von Frau Schwarz. Was bezweckte die Agentin mit dieser großzügigen Geste? Er hätte es als bloße Freundlichkeit auffassen können, oder als Interesse an seinem Fortkommen, von dem sie ja auch etwas hatte, aber das erschien ihm naiv. Seit der Scheidung traute er niemandem mehr.

Aber jetzt war er hier, an möglichen Teufeleien der Frau Schwarz konnte er nichts mehr ändern. Jetzt war es ihm egal.

Er war hier und es gefiel ihm.

Er holte das Glas aus dem Koffer, 15 mal 45. Fünfzehnfache Vergrößerung – zu viel für freihändiges Beobachten, das kleinste Zittern wurde mitvergrößert; man konnte es gut verwenden, wenn man sich irgendwo abstützte. Er nahm den Stuhl aus dem Zimmer, setzte sich, stützte die Ellenbogen auf das Geländer und hob das Glas an die Augen. Das Haus auf der Insel sprang ihm entgegen.

Zu sehen war nichts. Nichts. Die Fenster im oberen Stock blieben dunkel, mattschwarz wie alle Scheiben im hellen Tageslicht. Er war enttäuscht. Was hatte er erwartet? Er dachte darüber nach. Was war so Besonderes an diesem Haus? Was ging ihn das überhaupt an? Zweimal: nichts. Er riss sich von dem Haus los und ließ das Glas über die Insel gleiten. Von hier aus konnte man nicht einmal erkennen, dass es eine Insel war. Warum hatte sie nichts von dem Haus erzählt? Er setzte das Glas ab, ging ins Zimmer zurück und widmete sich dem Koffer.

Zwei Schlafzimmer im ersten Stock, darüber im spitzen Giebel noch eine Dachkammer, die man über eine Klappleiter erreichte. Unten das große Wohnzimmer, in dem er arbeiten würde. An dem Tisch in der Mitte. Fenster nach Süden und Osten, davor die Terrasse. Auf der Westseite anschließend eine geräumige Küche, im Norden Diele, Klo und Bad. Der Herd mit Flaschengas betrieben, ebenso der Boiler. Die Propanflaschen seien voll, hatte die Agentin gesagt, sparen müsse er nicht mit dem Gas. Er sollte sich inspirieren lassen, hatte Frau Schwarz gesagt, die „Atmosphäre des Ortes in sich aufsaugen“. Manchmal fragte er sich, wie jemand mit diesem Gefühl für die deutsche Sprache Literaturagentin hatte werden können. Atmosphäre aufsaugen! Aber sie lektorierte ja nicht, das taten Angestellte, ausschließlich Frauen, Frau Schwarz kümmerte sich ums Geschäft.

Er fing jetzt an. Er setzte sich an den Tisch und schaltete das Notebook ein. Öffnete den Ordner „La Donna del Lago“. Der enthielt ein File mit dem Titel „Notizen“. Drei Seiten. Mehr hatte er noch nicht. Das meiste stammte auch nicht von ihm, sondern aus Datenbanken. La Donna del Lago. Die Dame vom See. So hieß eine Opera seria von Rossini. Nach einem Versepos von Walter Scott. Das hatte er sich ausdrucken lassen, ebenso das Libretto der Oper. Und was wollte er damit? Einen Roman schreiben. Neu interpretieren. Neu interpretieren, zeitgemäß … Er betrachtete die beiden Papierstöße, die vor ihm lagen, im Vordergrund gewissermaßen, während im Hintergrund der Cursor nach dem letzten Wort des Files „Notizen“ vor sich hin blinkte. Drei Seiten.

Was tat er hier? War das nun wirklich und wahrhaftig er selber, Michael Manolis, der einen Roman über „Die Dame vom See“ schreiben sollte? Liebe, Intrigen, große Gefühle, Schottland – da spießte es sich schon. In Schottland konnte das nicht spielen, mit Schottland hatten sie nichts zu tun, hatte Frau Schwarz gesagt. Frau Schwarz kannte viele Leute und ein paar davon hatten gemeint, es wäre eine gute Idee für einen Film. Adaptiert natürlich. Von Schottland in die Alpen versetzt und aus dem sechzehnten Jahrhundert in die Gegenwart. Warum die Alpen? Wegen der Förderungen, Land, Bund, Filminstitut und dies und das. Michael kannte keine solche Leute, wusste aber, dass man denen, die Frau Schwarz kannte, gut zuhören sollte, wenn sie etwas für eine gute Idee hielten. Und er wiederum hatte gelernt, Frau Schwarz zuzuhören, wenn sie einen „Vorschlag unterbreitete“. So nannte sie das immer. Er würde also einen Plot ausarbeiten. Für einen Film. Es gab darüber einen Vertrag. Wenn der Plot gefiel, würde ein professioneller Drehbuchautor daraus ein Drehbuch erstellen. Michael würde den Plot in einen Roman umwandeln, nicht „das Buch zum Film“, sondern was Seriöses, also keine untere Schublade, sondern ein, zwei Schubladen höher, kulturell halt. In dem Falle nämlich würde auch die Landesregierung fördern. Und eine Limonaden- und Süßwarendynastie aus der Gegend. Voraussetzung war eben diese: Die Gegend als Ort der Handlung. Berge, Seen (einer oder mehrere), Einheimische. Aber bitte kein Bauernklamauk, sondern etwas „Richtiges“. Hatte Frau Schwarz ihm bedeutet.

Michael war Feuer und Flamme gewesen. Etwas „Richtiges“ konnte er zustande bringen, das traute er sich zu. Keine Schmonzette, aber doch mit einer Liebesgeschichte, keine Nabelschau, aber doch mit Anspruch, kein Dokudrama, aber doch mit einer Portion (oder Prise) Sozialkritik. Und mit Humor natürlich. Ja, klar. All das würde er aus einer Geschichte herausdestillieren, die der herausragende Vertreter der englischen Romantik im frühen neunzehnten Jahrhundert über einen Stoff aus dem frühen sechzehnten Jahrhundert geschrieben hatte.

Das Ganze war so daneben, wie etwas nur daneben sein konnte. Er schlug die erste Seite der „Lady of the Lake“ auf. Das Englisch war grauenhaft – für ihn. Wie hatte er annehmen können, den guten Walter Scott einfach so runterzulesen. Achtzehnhundertzehn. Außerdem hatte er seine Englischkenntnisse überschätzt. Da kamen Worte vor, die er noch nie irgendwo gelesen hatte. Stag zum Beispiel. Heißt Hirsch. Nichts Ausgefallenes. Kein Begriff aus der Atomphysik oder Neurochirurgie. Hirsch … verdammt, er hatte einfach kein Vokabular!

Er schloss das Fenster und suchte eine deutsche Übersetzung. Da gab es mehrere aus dem 19. Jahrhundert, Namen, die er noch nie gehört hatte. Was sind das für Menschen gewesen, die sich an eine solche Aufgabe gewagt haben, als ob es eine Fingerübung wäre? Wer könnte das heute?

Er fuhr den Computer runter. Der Anfang einer Arbeit muss stimmen, sonst wird es nichts. Er hatte falsch angefangen und wusste aus Erfahrung, dass dann Murks entsteht. Besser war es, eine Nacht darüber zu schlafen und am nächsten Tag neu zu beginnen. Er nahm das Fernglas und verließ das Haus. Spazieren gehen, den Kopf durchlüften. Nicht an die Arbeit denken. Das fiel ihm leicht, sobald er im Freien war. Die Umgebung absorbierte alle Sinne. Schauen, riechen, fühlen. An etwas Abstraktes zu denken wurde unmöglich. Deshalb konnte er nie in der Natur arbeiten, jedes im Wind schaukelnde Blättchen, jedes summende Insekt lenkte ihn ab, jedes Geräusch sowieso. Stimmen, mochten sie noch so weit entfernt sein, an der Hörbarkeitsgrenze, Hämmern, Sägen, alles Gescharre und Getümmel in den Gärten der Vorstadtsiedlung, wo er wohnte – alles ließ ihn abschweifen.

Ihm fiel auf, wie ruhig es hier war. Es ging auch kein Wind, nicht der sanfteste Hauch war zu spüren, aus der Ferne kam kein Ton. Auch kein Vogellaut. War das normal? Hörbar seine Schritte auf dem schmalen Fußweg zum Ufer. Der See lag unbewegt wie eine Scheibe aus Glas. Keine Wellen, kein Kräuseln des Wassers. Es sah wie etwas Technisches aus, monströs und unlebendig. Rundum die Berge, bis oben hin bewaldet, da und dort helle Flecken, Lichtungen. Oder Alpweiden, Michael kannte sich da nicht so aus, er war eine Stadtpflanze. Natur war schön … war das schon Anzeichen beginnender Erholung? Aber zum Erholen war er ja nicht hier, sondern zum Arbeiten. Der Gedanke verdross ihn. Ich bin durch das protestantische Arbeitsethos verdorben, kann nicht einmal die Gegend anschauen, einfach nur anschauen wie jeder schlichte Tourist, ohne schlechtes Gewissen zu provozieren! Das war lächerlich und beschämend.

Der schmale Pfad führte in ein paar Windungen hinunter zum See, endete am Bootshaus. Die landseitige Tür war nicht verschlossen. Er trat ein. Links und rechts an den Längsseiten Bretterboden, dazwischen offenes Wasser und zwei Ruderboote. Er lief zur Vorderseite, machte das Tor auf. Es wurde heller in der Hütte, er stieg in das Boot ein, löste die Kette am Heck und stieß sich mit den Armen am Laufsteg ab. Das Boot glitt auf den See hinaus. Er hängte die Ruder ein.

Es ging leicht. Als Kind war er mit seinem Vater oft an einem kleinen See gewesen, dort konnte man sich ein Boot ausleihen und rudern. Eine Stunde um zehn Schilling, das wusste er noch. Relativ teuer, aber sie hatten das oft gemacht. Einen Mopedausflug zum See, Bootfahren. Man sagte Bootfahren. Erst eine Limonade an der Jausenstation, dann Bootfahren. Als sie später den R4 hatten, kam auch die Mutter mit. Alle drei in einem Boot. Er durfte so lang rudern, wie er wollte, und er ruderte, bis er die Riemen kaum noch halten konnte.

Nun war die Insel das naheliegende Ziel. Er hielt darauf zu. Ab und zu drehte er sich um, den Kurs zu korrigieren, und staunte, wie gut ihm das gelang. Er war viele Jahre nicht mehr in einem Ruderboot gesessen, Anfänger fahren Zickzackkurs, weil sie mit dem Rücken zum Ziel sitzen und mit jedem dritten Ruderschlag eine Kreisfahrt einleiten. Der Erfolg hob seine Laune, Lady of the Lake hatte er vergessen. Rudern, dachte er, ist wie Radfahren, so muss es sein; man verlernt es nicht.