Kapitel 11

 

Gegenwart

»Herr Hunter?«

Ich hatte die Stimme am anderen Ende der Leitung noch nie gehört, doch die Anrede und noch mehr der Wiener Dialekt waren unverkennbar.

»Wer sind Sie?«

Es knackte in der Leitung, und es dauerte ein paar Sekunden, ehe die Antwort kam. »Wir kennen uns nicht. Aber wir haben einen gemeinsamen Bekannten, der leider, leider schon seit vielen Jahren nicht mehr unter uns weilt.«

Obwohl der seltsame Anrufer den Namen nicht genannt hatte, ahnte ich dennoch, dass er von Norbert Helnwein sprach. Ich hatte den alten Antiquitätenhändler trotz der langen Zeit, die seit unserer letzten Begegnung vergangen war, noch immer deutlich vor Augen: ein schlanker, schmalschultriger Mann mit O-Beinen und mit einem für einen Siebzigjährigen erstaunlich vollen Haarschopf. Es war fast unnatürlich weiß, und die schwarzen Brauen bildeten dazu einen starken Kontrast, so als wären sie gefärbt.

Norbert Helnwein war ein ganz spezieller Händler gewesen. Er hatte mit okkulten Gegenständen aller Art gehandelt und mir seinerzeit das Henkersschwert beschafft, mit der Folterknecht Equinus einst meiner ersten Existenz als Baron Nicolas de Conde ein Ende gesetzt hatte. Norbert Helnwein hatte mir das Schwert geschenkt und dafür die Bitte geäußert, dass ich Coco mit nach London nahm. Er hatte ihr damit das Leben gerettet. Und ich hatte Helnwein später, nachdem er sich durch den Biss des Thören Rosqvana in einen Blutsauger verwandelt hatte, vernichtet.

»Wer sind Sie?«, wiederholte ich.

»Mein Name ist Gerhard Hofer. Ich erhielt vor Kurzem die Information, dass Sie auf der Suche nach Schriften von oder über einen gewissen Baron Nicolas de Conde seien …«

Ich hatte mir gerade eine Players anzünden wollen – und verharrte. Es gab nur wenige Menschen außer mir, die wussten, dass ich als de Conde seinerzeit einen Pakt mit Asmodi geschlossen hatte, um das ewige Leben zu erlangen. De Conde hatte dafür grausam büßen müssen. Ich konnte mir jedenfalls nicht vorstellen, dass Helnwein diesem Hofer vor Jahren davon erzählt hatte, ohne mich zu informieren.

»Woher wissen Sie davon?«

»Ich bin Antiquar. Herr Helnwein und ich waren miteinander bekannt – so wie Menschen vom selben Gewerbe in einer Stadt wie Wien einander eben kennen. Es war kurz nach Helnweins Tod damals, als mir die Bibliothek eines verstorbenen Sammlers okkulter Schriften angeboten wurde. Der Verstorbene hatte eigentlich verfügt, dass sie an Norbert Helnwein verkauft werden solle – doch da dieser nun ebenfalls verstorben war, fand sich kein weiterer Interessent, und ich erstand die Sammlung zu einem günstigen Preis.«

»Verstehe.« Ich nahm einen tiefen Zug.

»Es kostete mich Monate, die Bücher zu katalogisieren. Eines von ihnen trug den Titel Aus dem Leben einer Inquisitorin Erster Theil / Das ist: Die Beschreibung deß Lebens der Baronesse Charlotte de Conde / genant Clementissima / wo und welcher gestalt Sie nemlich in diese Welt kommen / was sie erduldet / gelernet / erfahren und außgestanden / auch warumb sie der Inquisition beigetreten und gekündigt hat / geschrieben vom Teufel daselbst.«

Ich drückte die Zigarette aus. Meine Hand zitterte. »Haben Sie das Buch vor sich liegen?«

»Nein, ich habe den Titel notiert und lese ihn von einem Blatt ab.«

Bei dem Namen de Conde war ich natürlich alarmiert. Aber wer war Charlotte de Conde? Die Frau des Barons hatte Isabelle geheißen. Und er hatte nur zwei Söhne gehabt, keine Tochter. Und einen dritten, der kurz vor de Condes Pakt mit dem Teufel … Ich rieb mir die Stirn und atmete aus. Fast war mir, als ob meine Erinnerung an diese Ereignisse … lückenhaft war.

War diese Charlotte eine entfernte Verwandte des Barons gewesen?

»Wenn Sie mir Ihre Adresse geben, Herr Hofer, könnte ich das Buch noch heute Abend bei Ihnen abholen.«

»Ah … Es tut mir wirklich sehr leid, aber die Sache ist nicht so einfach.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich gebe zu, der Großteil der Sammlung und auch dieses Buch ist auf dem Fachmarkt nicht allzu viel wert …«

»Nennen Sie einfach einen Preis, und ich akzeptiere ihn.«

»… trotzdem hätte ich Sie wohl längst kontaktiert, hätte ich nur gewusst, dass Sie sich für das Buch interessieren. Tatsächlich habe ich es erst durch den Besuch einer jungen Dame erfahren, die mich vor Kurzem besucht hat, um eine alte Bibel zu erwerben.«

»Eine junge Dame?«

»Sie kam angeblich direkt vom Flughafen und wirkte erschöpft. Also ging ich in die Küche und bereitete den Kaffee. Als ich zurückkam, war sie völlig aufgeregt. ›Woher haben Sie dieses Buch?‹, wollte sie wissen. Es war reiner Zufall, dass das de-Conde-Buch zu dieser Zeit auf dem Tresen lag. Ich hatte meine Regale neu sortiert und in diesem Zuge mein Augenmerk darauf gelegt, dass …«

»Herr Hofer. Wer war diese Kundin?«

»Das will ich Ihnen ja gerade erklären. Sie fragte mich, wie ich in den Besitz des Buches gelangt sei. Ich antwortete ihr wahrheitsgemäß. Als ich den Namen Helnwein erwähnte, unterbrach sie mich und nannte mich einen Lügner. Sie sagte, wenn Helnwein von dem Buch gewusst hätte, hätte er auch Dorian Hunter davon erzählt.«

»Das hat sie gesagt?«

»Das und noch mehr. Sie warf mir vor, mit der Schwarzen Familie in Verbindung zu stehen und noch einiges andere, das ich nicht verstand. Sie war offensichtlich verrückt. Ich verwies sie des Ladens und drohte, die Polizei zu rufen. Da wurde sie handgreiflich, schlug mich nieder … und wenn ich sage, sie schlug mich nieder, dann schwöre ich Ihnen, dass sie auch einen Mann zu Boden gestreckt hätte, der halb so viele Jahre wie ich auf dem Buckel gehabt hätte …«

»Herr Hofer.«

»Äh, wo war ich? Ach ja. Nachdem sie mich außer Gefecht gesetzt hatte, nahm sie das Buch an sich – und ich meine natürlich nicht die Bibel, die interessierte sie überhaupt nicht mehr, sondern das Tagebuch von Charlotte de Conde und rannte davon.«

 

»Sie haben das Buch also nicht mehr?«

»Es war nicht viel wert, wie gesagt. Ein schlechter Druck und noch schlechter erhalten – obwohl er noch nicht mal sehr alt war. Obgleich undatiert, schätze ich, dass er aus dem späten siebzehnten Jahrhundert stammte.«

Das späte siebzehnte Jahrhundert. Das verwunderte mich, denn de Conde hatte dreihundert Jahre früher gelebt.

»Es ist nicht meine Art, wegen einer Nichtigkeit die Polizei zu alarmieren. Deshalb beschloss ich, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Aber dann dachte ich daran, dass Norbert Helnwein ein überaus ehrenwerter Mann war und dass es mit der Verfügung des Sammlers vielleicht etwas auf sich gehabt habe. Ich recherchierte also Ihren Namen, Herr Hunter, und stieß auf einige Zeitungsartikel, die Sie vor Jahren für die …«

»Sie haben also keine Idee, wie ich die Frau finden kann?«

»Ich habe mehr als nur eine Idee. Ich habe eine Adresse. Sie ist ja eine Stammkundin von mir.«

»Eine Stammkundin?«

»Mehr oder weniger. Sie bestellte nicht viel, aber stets waren ihre Wünsche außergewöhnlich, manchmal sogar extravagant. Deshalb hat es mich ja so überrascht, dass sie auf einmal so …«

»Geben Sie mir ihre Telefonnummer!«

»Die Dame hat leider kein Telefon. Ich habe wirklich nur die Adresse. Charlotte Weimar, wohnhaft in Hamburg, in der Alsterdorferstraße 384.«

Ich notierte mir die Adresse und kam gerade noch dazu, mich zu bedanken und Hofer zu verabschieden, bevor die Tür aufgerissen wurde und Phillip in mein Arbeitszimmer stürzte. Er hatte die Arme ausgebreitet und gab ein misstönendes Summen von sich. Zwei Mal umrundete er meinen Schreibtisch, bis ich begriff, was er damit ausdrücken wollte: »Ein Flugzeug?«

Phillip hielt mitten im »Flug« inne und versank in dumpfes Brüten. »Gesicht … Narben …«, murmelte er. Ich verstand nicht, was er damit sagen wollte, merkte mir die Worte aber, denn Phillip tat nie etwas ohne Grund.

Er war ein Hermaphrodit, ein Zwittergeschöpf. Mal kehrten die männlichen, mal die weiblichen Attribute stärker bei ihm hervor. Er lebte in einer Traumwelt und hatte seherische Fähigkeiten. Seine Botschaften waren jedoch stets verschlüsselt und nicht immer einfach zu erraten.

Nach der dritten Runde schien seine Geduld am Ende. Er hielt vor meinem Schreibtisch, griff nach der Times, die ungelesen auf meinem Schreibtisch lag, und faltete das Titelblatt in Windeseile. Heraus kam ein Papierflieger. Er warf ihn in meine Richtung.

»Ist ja gut. Ich hab schon verstanden.«

Coco betrat das Zimmer. Zusammen mit ihr kümmerte ich mich um Phillip. Schon vor Jahren hatte ich mich als sein Vormund eintragen lassen und dadurch ganz nebenbei die Jugendstilvilla übernommen, nachdem die vorigen Besitzer, Phillips Pflegeeltern, von Dämonen getötet worden waren. Seit Miss Pickfords Tod waren Coco und ich Phillips Bezugspunkte – Coco vielleicht noch mehr als ich.

»Hier steckst du also«, sagte sie zu Phillip. »Ich habe dich überall im Haus gesucht.«

»Vielleicht interessiert dich auch noch etwas anderes als Phillip«, sagte ich.

Amüsiert sah sie zu mir herüber: »Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?«

Ich wollte das Thema nicht vertiefen und erzählte ihr stattdessen von Gerhard Hofers Anruf. Phillip hatte sich im Schneidersitz auf dem Teppich niedergelassen und faltete weitere Papierflieger.

»Und was hast du jetzt vor?«

»Ich werde nach Hamburg fliegen und herausfinden, wer sich hinter dem Namen Charlotte Weimar verbirgt.«

 

Der Flug dauerte gerade mal eineinhalb Stunden. In Hamburg erwartete mich, ungewöhnlich genug für die Stadt, strahlender Sonnenschein. Ich hatte nur eine kleine Reisetasche dabei, also hängte ich mir meine Jacke über die Schulter.

Am Hamburg Airport Helmut Schmidt nahm ich mir ein Taxi und gab dem wortkargen Fahrer die Adresse an. Die Alsterdorferstraße lag nicht weit entfernt, nur ein paar Straßen abseits des Ohlsdorfer Friedhofs, der, wie ich gelesen hatte, der größte Parkfriedhof der Welt war. Vor dem Grundstück mit der Nummer 384 stoppte das Taxi. Ich bezahlte, schnappte mir Tasche und Jacke und stieg aus.

Das Grundstück wirkte verwildert. Das schmiedeeiserne Tor war verrostet und hing schief in den Angeln. Als ich es öffnete, gab es ein helles Quietschen von sich.

Das Haus selbst war eine dreigeschossige Villa aus dem Anfang des letzten Jahrhunderts, wie man sie in den Nebenstraßen dieses Stadtteils des Öfteren zu sehen bekam. Farbe blätterte von der Fassade. Das Gebäude machte ebenso wie der Garten einen vernachlässigten Eindruck. So als wohne hier schon lange keiner mehr.

Und doch fühlte ich mich beobachtet. Mein Blick huschte über die Fenster, aber in dem Glas spiegelten sich nur die Bäume.

Ich ging den Pfad entlang und erreichte die Haustür. Auf den verbeulten Briefkästen stand nur auf einem ein Name, ebenso auf den Klingelschildern:

Charlotte Weimar.

Ich drückte auf die Klingel.

Nichts tat sich.

Ich klingelte ein zweites Mal.

War niemand zu Hause, oder wollte sie nur nicht aufmachen?

Ich wartete noch eine Weile ab und zog dann mein Spezialwerkzeug hervor. Nach einer Minute hatte ich das Schloss geknackt.

Im Treppenhaus blieb ich stehen und lauschte. Es war totenstill.

Hatte ich mir nur eingebildet, dass mich jemand beobachtete?

Ich ging den Flur entlang auf die Wohnungstür im Erdgeschoss zu. Wieder ebnete mir mein Werkzeug den Weg.

Der Fußboden des Korridors war mit dicken Teppichen belegt. Meine Schritte waren darauf nicht zu hören.

Ich ging weiter und drückte die Tür zum nächsten Zimmer auf. Es war über und über mit Büchern gefüllt. Auf den Sesseln, den Tischen, selbst auf dem Boden und auf dem Fensterbrett lagen Stapel von Büchern. Darunter riesige Folianten mit abgewetzten Lederrücken ebenso wie alte Quart- oder Oktavbände und sogar einige halbzerfallene Ausgaben im Duodez-Format. Ihnen allen gemein war, dass sie mindestens aus dem vorvorletzten Jahrhundert stammten.

Jetzt wusste ich auch, woher der modrige Geruch kam, der mir schon beim Eintreten in die Wohnung aufgefallen war.

Die Rollläden waren fast bis unten heruntergezogen, sodass nur wenig Licht hereindrang.

Ich machte ein paar Schritte in den Raum hinein, als mich mein Instinkt warnte. Ich fuhr herum und sah gerade noch ein Schwert auf mich zurasen.

Blitzschnell warf ich mich zur Seite. Die Schneide hätte mich trotzdem am Arm erwischt, wenn ich nicht zufällig die Jacke darübergelegt hätte. Die Klinge zerteilte den Stoff beinahe lautlos.

Ich packte die Hand, die den Schwertknauf hielt, und drückte zu. Mehrere Sekunden lang war es ein Kräftemessen zwischen mir und meinem unbekannten Gegner. Dann ließ er mit einem Aufschrei das Schwert fallen.

Es war eine ›Sie‹.

Im Zwielicht konnte ich die Frau noch immer nicht gut erkennen. Wohl aber, dass sie sich nicht geschlagen gab. Gewandt bückte sie sich nach dem Schwert.

Ich war schneller und verpasste ihr einen Schlag in den Nacken. Sie knallte mit dem Hinterkopf gegen eine Regalwand und verlor das Bewusstsein.

Besorgt untersuchte ich sie, aber die Verletzung war harmlos. Eine stattliche Beule war alles, was zurückbleiben würde. Sie würde bald wieder zu sich kommen.

In der Zwischenzeit nahm ich das Schwert an mich und zog die Rollläden hoch. Bei Licht betrachtet, erwies sich das Schwert als ein Meisterwerk. Der Knauf war mit Edelsteinen und Intarsien besetzt, die Klinge bestand aus Damaszenerstahl und war rasierklingenscharf zugeschnitten. Das war sicherlich keine alltägliche Waffe. Schon gar keine, mit der man einen Besucher empfing – auch wenn er wie ich nicht angemeldet war.

Ich setzte mich auf einen Stuhl und wartete darauf, dass die Frau die Augen aufschlagen würde. In der Zwischenzeit betrachtete ich sie genauer. Sie hatte einen roten Kurzhaarschnitt, was erklärte, dass ich sie im Halbdunkel zunächst für einen Mann gehalten hatte. Die herben Gesichtszüge wirkten … verschoben. Sie waren von Narben durchzogen, wie nach einem schweren Unfall.

Ich dachte an Phillips Worte.

Obwohl sie einen Kopf kleiner als ich war, erschien sie mir doch erstaunlich kräftig. Unter dem schlichten Shirt zeichneten sich die Muskeln ab.

Endlich kam sie zu sich. Nach einem Moment der Irritation tasteten ihre Hände über den Boden.

»Suchen Sie das hier?« Ich hielt das Schwert mit beiden Händen und stützte mich darauf.

Wütend funkelte sie mich an. »Was wollen Sie? Warum sind Sie in mein Haus eingebrochen?«

»Gehen Sie immer mit einem Schwert auf Ihre Besucher los?«

»Ich hab Sie nicht eingeladen!«

»Und ich habe mehrmals geklingelt!«

»Na und? Ich hatte eben keine Lust zu öffnen!«

Sie setzte sich auf, verschränkte die Arme vor der Brust und blickte sehnsüchtig nach der Waffe. Ich blieb darauf gefasst, dass sie aufspringen und mich erneut angreifen würde – aber sie blieb sitzen.

»Sie sind Charlotte Weimar?«

»Was Sie nicht sagen! Mein Name steht auf dem Klingelschild.«

»Ich heiße Dorian Hunter.«

Sie zuckte zusammen und hob den Blick, der jetzt so durchdringend war, als wolle sie mich sezieren.

»Gerhard Hofer sagte, Sie kennen mich.«

Sie nickte. »Schon möglich.«

»Können wir uns unterhalten, ohne dass Sie die erstbeste Gelegenheit nutzen werden, um mich umzubringen?«

Sie musterte mich … und nickte schließlich.

Kurze Zeit später saßen wir uns am Küchentisch gegenüber. Sie hatte einen Kaffee aufgesetzt. Rauchen durfte ich nicht. Wegen der Bücher, wie sie sagte.

»Woher kennen Sie mich, Frau Weimar?«

»Sagen Sie ruhig Charlotte. Ich habe Erkundigungen über Sie eingezogen. Sie führen ein bewegtes Leben, aber aus irgendeinem Grund gelingt es Ihnen meist, im Verborgenen zu bleiben – fast, als wären Sie ein Mitglied der Schwarzen Familie.«

»Dasselbe könnte ich wohl von Ihnen sagen.«

»Ich bin kein Dämon. Auch wenn ich vielleicht wie einer aussehe.«

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«

»Muss ich das?«

»Warum haben Sie Hofer das Buch gestohlen?«

»Ich habe es nicht gestohlen. Es gehört mir.«

Jetzt war es an mir, überrascht zu sein.

Wieder betrachtete sie mich in einer Weise, als versuchte sie zu ergründen, ob sie mir wirklich trauen konnte. Ich ahnte, dass es nicht an mir lag. Sondern daran, dass es seit Jahren, vielleicht seit sie denken konnte, keinen Menschen gegeben hatte, den sie wirklich ins Vertrauen gezogen hatte.

»Es gibt ein zweites Buch – ganz ähnlich dem, von dem Sie behaupten, dass es Ihnen gehört.«

»Ich weiß. Es ist eine Fälschung.«

»Und wie kommen Sie darauf?«

»Weil darin steht, dass de Conde zwei Söhne hatte.«

Ich nickte. »Zwei Söhne und …«

… und …

… ein weiteres Kind!

Gerome!

Aber mir sagte der Name nichts.

Oder?

Dabei musste ich es doch wissen!

»Erinnern Sie sich an den Moloch?«, fragte sie, und ihr Blick schien mich dabei zu sezieren. »Jenes Monstrum, das die Jacht von Jeff Parker erobert und die Besatzung getötet hat.«

Natürlich erinnerte ich mich. Obwohl es Jahre her war. Jede Szene auf dem Schiff stand mir vor Augen, als ob es gestern gewesen wäre – und es gab jetzt wirklich nichts, was ich lieber gehabt hätte als eine Players.

»Sie haben die Kinder vor sich gesehen. Sie mussten sie töten, weil Asmodi glaubte, damit den Fluch brechen zu können.«

Die Kinder …

Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie der Moloch ihre Körper formte. Zwei Jungen.

Nein.

Einen Jungen und … ein Mädchen …

»Trauen Sie nur Ihrer Wahrnehmung, Dorian. Es waren ein Junge und ein Mädchen, die Sie gesehen haben.«

»Woher …?«

»Woher ich das weiß? Ich hatte viel Zeit zu lesen.«

Ich nickte in Richtung Türrahmen, der einen Blick hinüber ins Arbeitszimmer gestattete. »Offensichtlich.«

»Sie möchten sicherlich wissen, was in dem Buch steht, das von Charlotte de Conde erzählt – und um wen es sich bei Charlotte handelt.«

»Tatsächlich habe ich da schon so eine Vermutung.«

»Leider besitze ich das Buch nicht mehr. Gestern Nacht sind drei Männer eingedrungen, haben mich überwältigt und mir das Buch zum zweiten Mal geraubt. Als Sie kamen, hielt ich Sie darum zunächst ebenfalls für einen – Dämon.«

Ich lehnte mich zurück und atmete tief ein. »Sie sagten, der erste Diebstahl fand vor über einem Jahrhundert statt?«

»Das ist die Wahrheit, Dorian. Denn genau wie du besitze ich das ewige Leben.«

Ohne darüber nachzudenken, warum ich es tat, ging ich ebenfalls zum vertrauten Du über. »Du hast also … ebenfalls einen Pakt mit Asmodi geschlossen?«

»Mit Asmodi?« Sie lachte, und die Narben in ihrem Gesicht lachten auf schauerliche Weise mit. »Nein. Mit Gott.«

 

 

ENDE

 

Die Inquisitorin

Hexenhammer-Logo

 

 

Die Inquisitorin

 

von Uwe Voehl

 

 

HEXENHAMMER

Malleus maleficarum

 

Band 1

 

 

© Zaubermond Verlag 2019

© "Hexenhammer"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

 

Titelbild: Mark Freier

E-Book-Erstellung: Die eBook-Manufaktur

 

www.Zaubermond.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

 

Asmodi unser in der Hölle, geheiligt werde dein Name.

Dein Reich komme.

Dein Wille geschehe, wie in der Nacht, so auch am Tage.

Unser trocken Brot gib uns heute.

Und bestrafe uns für unsere Schuld, so wie wir bald strafen unsere Schuldiger.

Und führe uns in Versuchung, so wie du führest uns zu dem Bösen!

Denn dein ist die Welt und die Macht und die Herrlichkeit in Ewigkeit!

 

Nema.

 

 

Kapitel 1

 

Vergangenheit

Anno Domini 1485

Letzte Nacht habe ich den Teufel erneut angerufen. Es war noch nicht lange her, dass wir uns gegenüberstanden, und Asmodi erkannte mich sofort wieder. Er erschien in der Gestalt des Papstes Sixtus IV., der erst im August letzten Jahres gestorben war. Natürlich machte sich Asmodi einen Spaß daraus, ihn noch nach dem Tode zu verhöhnen, indem er statt einer Krone zwei Bockshörner zur Schau trug, die ihm aus der Stirn erwuchsen. Auch war das goldene Kreuz, das er an einer Kette um den Hals trug, ein auf den Kopf gestelltes. Zu guter Letzt trug er in der linken Armbeuge einen toten Knaben mit einer roten Kardinalsmütze auf dem Kopf – sicherlich ein Hinweis darauf, dass dem Papst nachgesagt worden war, seine Lustknaben zu Kardinälen zu erheben.

Voller Hass starrte ich Asmodi an. Mich konnte er mit seinem Auftritt nicht mehr schockieren. Dazu hatte ich mich durch mein Tun selbst zu weit vom ehrenhaften Pfad entfernt. Wäre er ein normaler Mensch gewesen, ich wäre ihm an die Gurgel gesprungen und hätte ihn auf der Stelle erwürgt. Er hatte mein Leben zerstört, indem er meine Familie getötet und mir meine geliebte Frau und meine nicht minder geliebten Kinder genommen hatte … Erhofft hatte ich mir das ewige Leben. Bekommen hatte ich ewiges Leid.

Meine Wut war Labsal auf seiner schwarzen Seele, denn der Fürst der Finsternis grinste mich an, während er um den Bannkreis, den ich zu meinem Schutze gezogen hatte, herumtänzelte.

»Womit kann ich dir diesmal dienen?«, fragte er mit falscher Höflichkeit. »Reicht dir nicht das ewige Leben, das ich dir geschenkt habe? Dürstet dir nach Gold und Geschmeide? Nach schönen Frauen oder hübschen Knaben gar? Nach Prunk und Macht und …?«

»Schweig!«, fuhr ich ihn an. »Nichts hast du mir geschenkt. Für alles, was du mir gabst, habe ich mehr als genug bezahlt!«

Er lachte dröhnend. »Hast du dich nicht einen gelehrten Mann geschimpft? Hättest du die Schriften sorgfältig studiert, so hättest du gewusst, worauf du dich einlässt. Also, weshalb störst du mich diesmal, Baron Nicolas de Conde?«

Auch wenn er Eindruck zu schinden versuchte, wusste ich es doch besser. Indem ich ihn herbeizitiert hatte, war er in meiner Gewalt – nicht umgekehrt. Und doch fühlte ich keinen Triumph, wusste ich doch nur zu gut, dass das, was ich von ihm begehrte, mich erneut in seine Fänge trieb. Und auch er wusste es. Denn wer den Teufel herbeiruft, tut dies nicht ohne triftigen Grund. Und mag sein Begehren aus noch so reinem Herzen kommen, so weiß der Teufel es doch zu vergiften. Gewiss, der freie Menschenwille neigt zum Guten wie zum Bösen, aber um zum sündigen Handeln zu schreiten, ist es nötig, dass er von etwas zum Bösen bestimmt werde. Und wer ist dafür besser geschaffen als der Teufel selbst? Insofern, so er sich mit dem Teufel und seinen Heerscharen einlässt, ist der Mensch stets der Verlierer.

Und wieder stellte ich mir die Frage: Hatte ich nicht schon genug verloren?

»Ich will meine Familie wiederhaben. Meine Frau und meine Kinder will ich wieder in die Arme schließen.« Es fiel mir schwer, bei der Nennung des Wunsches nicht laut aufzuschluchzen, sondern ihn mit fester Stimme vorzutragen. War es Asmodis Tun oder meine eigenen schrecklichen Erinnerungen, dass ich mein schlimmstes Verbrechen wieder vor Augen sah?

Ich sah mich selbst auf dem Eulenberg inmitten eines Schwarzen Sabbats, umgeben von Hexen und anderen schauerlichen Gestalten. Ich sah Asmodi, wie er vor mir stand und forderte: »Wirst du deine Frau und die Kinder deines eigenen Fleisches und Blutes verstoßen und die aus der Schwarzen Familie als deine Brüder und Schwestern anerkennen?« Und ich hörte mich sagen, wenngleich mit einem Kloß im Hals: »Das will ich tun«, und wie damals spürte ich die Schmach und die Schande nach all den Abscheulichkeiten, nach den erlittenen Demütigungen und ungeheuerlichen Exzessen, die mich erneut schier zu überschwemmen drohten.

Doch diese Erinnerungen währten nur Sekunden, dann schob ich sie wie einen Vorhang zur Seite. Ich klammerte mich an die Erkenntnis, die ich ebenfalls anlässlich des Schwarzen Sabbats auf dem Eulenberg gewonnen hatte: Ja, ich hatte mir dort oben den Tod gewünscht, aber ich hatte auch erkannt, dass ich mich nie zum Bösen bekennen und nie ein vollwertiges Mitglied der Schwarzen Familie werden würde. Dieser Gedanke gab mir überhaupt erst die Kraft und die Zuversicht, Asmodi erneut zu beschwören, und darauf zu hoffen, dass es diesmal besser für mich ausgehen würde. Allein schon deshalb, weil ich ja nun seine Hinterlist und Tücke kannte und auf der Hut war.

Als ich mein Begehren geäußert hatte, verspottete er mich nicht. Vielmehr schien er einen Moment lang überrascht und schließlich gar irritiert bis ratlos. Am Ende schüttelte er das gehörnte Haupt. »Das ist unmöglich! Mag ich noch so mächtig sein, so ist ein Pakt ein Pakt und nicht mehr rückgängig zu machen. Das hättest du dir überlegen müssen, als du mich das erste Mal gerufen hast.«

»Dann schließen wir eben einen neuen Pakt, der den alten ungültig macht!«, beharrte ich.

»Jeder Mensch besitzt nur eine Seele, das macht sie so wertvoll, und die deine hast du mir schon verkauft.«

»Dann nimm mein Leben, es ist eh nichts mehr wert!«

»Eben! Was soll es dann mir bedeuten?«

Verzweiflung ergriff mich, zeigte sich doch, dass ich dem Teufel tatsächlich meinen für ihn wertvollsten Besitz bereits überschrieben hatte. »Nimm mein Schloss und mein Gut! Meine Reichtümer und meinen ganzen Besitz!«

»Nichts wert, nichts wert«, meckerte er, wobei die Worte nicht aus seinem Munde drangen, sondern aus dem des toten Knaben auf seinem Arm. Entsetzt schaute ich auf das Kind, dessen blutige Lippen sich zu einem bösartigen Grinsen verzogen, während in der Tiefe der pechschwarzen Augäpfel das Höllenfeuer aufloderte – als würde man in einen finsteren See blicken, auf dessen Grund blutrote Lava ausbricht.

Seit meinen schrecklichen Erlebnissen auf dem Eulenberg war ich einiges gewohnt, und auch Asmodi selbst war zum Fürchten, doch beim Anblick des untoten Teufelskindes gefror mir das Blut in den Adern.

»Es sei denn …«, sinnierte Asmodi und machte eine Pause, um mich zu quälen.

»Es sei denn, was?«, drängte ich ihn. »Sprich rasch, sonst greife ich zu anderen Mitteln!«

Diesmal quoll meckerndes Lachen gleich aus zwei Mündern – aus Asmodis Maul und dem des Knaben. Zudem hallte es nun schaurig von den steinernen Wänden wider, sodass ich bald meinte, hundert Gelächter gleichzeitig würden meine Ohren malträtieren. Ich hielt sie mir zu, doch es wurde lauter und lauter, bis ich glaubte, ich befände mich statt in meinem Schloss nahe Nancy in der ehrwürdigen Kathedrale von Notre Dame unterhalb der größten Glocke im Nordturm, die den Namen des Erzengels Gabriel trägt, und die Trommelfelle würden mir platzen.

Halb ohnmächtig wankte ich in meinem Schutzkreis, dem höllischen Lärm schutzlos ausgeliefert.

Doch unvermittelt verstummte er. »Ich hoffe, du begreifst, dass deine Drohungen ebenso sinnlos wie lächerlich sind«, sagte Asmodi, und diesmal sprach er nur wieder mit einer Stimme. »Beim ersten Mal hast du mich mithilfe des Schlüssels Salomonis gerufen, wie es die meisten Anfänger probieren. Ich gebe zu, er verfehlt seine Wirkung nicht. Doch um mir mit Bestrafung zu drohen, müsstest du jene anbeten, deren widerwärtige Namen auch dir nicht mehr über die Lippen kommen.«

Ich wusste, dass er die Wahrheit sagte. Ich hatte in der Tat versucht, ihn auch dieses Mal mit dem Schlüssel Salomonis zu beschwören, doch mir waren die Namen des lebendigen Gottes, des Sohnes und des Heiligen Geistes nicht über die Lippen gekommen. Stattdessen war mir allein bei dem Gedanken schlecht geworden, während mich gleichzeitig ein Schüttelfrost ergriffen hatte. So hatte ich zu einem schwarzmagischen Ritual gegriffen, auf das ich in einem alten Folianten gestoßen war. Damit konnte ich Asmodi beschwören, ihn aber nicht zu irgendetwas zwingen. Und niemand wusste es besser als Asmodi selbst, dass ich ihm keinen Schaden zufügen konnte.

»So sprich endlich!«, forderte ich. »Gibt es einen Weg, meine Familie von den Toten auferstehen zu lassen? Ich will ihn gehen, auch wenn es meinen eigenen Tod bedeutet und tausend Höllenqualen noch dazu!«

»Ich sagte schon, dass das nicht möglich ist. Alles hat seinen Preis, auch der niederste Wunsch.«

»So nenn ihn mir!«

»Dein holdes Weibchen kann ich dir nicht zurückgeben, sie ist tot, auf immerdar. Immerhin hast du sie selbst geopfert.«

Bei seinen Worten musste ich an mich halten, um nicht aufzuschluchzen.

»Doch deine Brut ist nicht allein durch Magie ums Leben gekommen, sondern nur infolge dieser.«

Meine Kinder! Tatsächlich waren sie durch den Wald geflohen, nachdem das Rad der Kutsche, mit der ich meine Familie hatte in Sicherheit schicken wollen, gebrochen war. Während ich auf dem Eulenberg den Sabbat feierte, wurden meine Liebsten im finsteren Wald von den Wölfen zerrissen! Wieder konnte ich nicht verhindern, dass die schrecklichen Bilder meiner Wahnsinnstat vor mir aufstiegen.

»Verfluche deine Frau!«, soufflierte mir der dämonische Chor, während mich die Gestalten umtanzten. »Du hast ihren Kopf in Händen. Wirf ihn weg!«

Sie hatten mir einen Eselskopf in die Hände gedrückt. Als würde mich eine böse Macht dazu zwingen, verkrallte ich die Hände in seinem Fell.

Ich ließ ihn fallen.

»Das sind die Arme deiner Frau!«

Jemand drückte mir zwei Eselsbeine in die Hand.

»Zerbrich sie!«

Ich schleuderte die abscheulichen Reliquien von mir.

»Hier sind ihre Augen. Zerquetsche sie!«

Ich übergab mich beinahe, als ich etwas Glitschiges in den Händen fühlte.

»Ihr Herz! Bring es zum Stillstand!« …

»Nein!«, schrie ich nun. »Nein!« Wimmernd brach ich zusammen, fiel auf die Knie, während mir einmal mehr bewusst wurde, dass ich es war, der ihren Tod zu verantworten hatte. Ich war nicht mehr wert als der gemeinste Mörder. Ich stand sogar noch unter diesem, weil ich meine eigene Familie aus Habgier ermordet hatte.

»Willst du nun hören, was ich dir vorzuschlagen habe oder nicht?«, unterbrach Asmodi mein Gewimmer, das mir umso deutlicher vor Augen führte, dass ich dem Bösen geweiht war, weil keine Tränen flossen.

Eigentlich hätte nun eine scharfe Antwort erfolgen müssen, doch ich war nur mehr imstande zu nicken.

»Ich gewähre dir deinen Wunsch. Nun, zumindest teilweise. Es steht in meiner Macht, beide Bälger zu erwecken. Doch eines wird mir gehören und fortan auf der dunklen Seite wandeln. Das andere mag selbst entscheiden …«

»Nie und nimmer werde ich einem solchen Handel zustimmen!«, begehrte ich auf und wusste doch jetzt schon, dass ich zu schwach war, nicht den dunklen Weg einzuschlagen, den er mir wies.

Er lachte auf. Auch das tote Kind in seinem Arm lachte meckernd. »Überlege es dir. Du hast bis morgen um Mitternacht Zeit. Danach wage es nicht mehr, mich anzurufen!«

Sein Gesicht verwandelte sich in eine grimmige Fratze, die vor meinen Augen wie Kerzenwachs zerfloss, sodass am Ende nur der Halsstumpf übrigblieb. Da hinein stopfte er nun das noch immer lachende Kind, bis nur noch der Kopf herausschaute.

Entsetzt ob der grausigen Demonstration seiner abartigen Künste wandte ich den Blick ab. Ein gewaltiger Donnerhall ließ mich jedoch wieder aufschauen. Asmodi war in einer gelben Wolke verschwunden. Der Gestank von Schwefel füllte den Raum.

Als sich der Rauch lichtete, schien es, als würde auch mein Verstand zurückkehren. Nein, so schwor ich mir. Nie und nimmer würde ich Asmodi ein zweites Mal auf den Leim gehen und den Handel besiegeln.

Stattdessen würde ich mich rächen, auch wenn ich dadurch das ewige Leben verspielte.

Ach, wenn ich doch nur eine Idee gehabt hätte, wie die Rache aussehen sollte, die ich mir so sehr erwünschte!

 

 

Einige Jahre später

AUFSTEHEN. Antreten. Asmodi unser, der du wandelst auf Erden. Trocken Brot und Haferschleim. Asmodi unser …

Gott war böse.

Halb im Traum noch vernahm sie den Gong, tief und misstönend, so wie jeden Morgen. Aufstehen … Rasch, rasch, bevor die Ratten kamen. Sie hörte bereits das leise Rascheln ihrer winzigen Zehen, das begierige Fiepen, mit dem sie kamen, um sie oder eines der anderen Kinder zu bestrafen … Mädchen wie Angela zum Beispiel, Angela, die im Fieber lag, weil sie viel zu lange in der Kälte hatte arbeiten müssen. Die Nonnen mochten Angela nicht. Warum, das wusste Lotte nicht. Vielleicht weil sie zarter und schwächlicher war als die anderen Mädchen im haus zur heiligen dreieinigkeit. Schwäche war Sünde. Wie so vieles andere.

Drei Ratten huschten in das Dormitorium. Gerade noch rechtzeitig waren die meisten Mädchen von ihren harten Lagern gesprungen und standen nun mit nackten Füßen auf dem kalten Steinboden.

Die meisten Mädchen, nur Angela nicht. Sie teilte sich das Lager mit Lotte und ein paar anderen. Diese waren in der Nacht immer weiter von ihr weggerückt, während Lotte sich an das von Fieberkrämpfen geschüttelte Mädchen geschmiegt hatte, um Trost zu schenken.

Sie hatte sich schmutzig dabei gefühlt, denn Trost zu geben war Sünde. Sie würde es beichten müssen und würde bestraft werden. Bestrafung bedeutete Vergebung. Vergebung bedeutete, nicht in den Himmel zu kommen. Im Himmel lauerte Gott auf einen.

Und Gott war böse.

Die drei Ratten hatten Angela bereits ins Visier genommen, so wie jedes Mal während der letzten Tage, wenn sie in den Morgenstunden kamen. Aufrecht wie Menschen wieselten sie heran. Ihre schwarzen Knopfaugen blitzten vor Bosheit. Auf dem Kopf trugen sie eine schwarze Haube, sodass sie fast wie kleine Nonnen aussahen.

Die Ratten hatten Namen. Die älteren Mädchen hatten sie ihnen verliehen. Ingrid war die mit dem kürzesten Schwanz. Irene war die Fetteste. Und Ida die Grausamste. Sie liebte es, die Mädchen an besonders empfindlichen Stellen zu beißen. Und selbst dann nicht loszulassen, wenn ihr Opfer sich vor Schmerzen die Seele aus dem Leibe schrie.

Die letzten Tage hatten sie sich alle auf Angela gestürzt. Ihr kleiner, schmächtiger Körper war mit Bissspuren übersät, manche waren entzündet und schürten noch das Fieber.

Auch jetzt huschten die Ratten auf Angela zu.

Gestern noch hatte Lotte hilflos die Augen geschlossen, nun jedoch hielt sie es nicht länger aus und stellte sich ihnen in den Weg.

Ein erstauntes Raunen ging durch die Reihen der anderen Mädchen.

»Lasst sie in Frieden«, bat Lotte. »Seht ihr denn nicht, dass Angela nicht aufstehen kann?«

»Aus dem Weg, sonst melden wir dich der Schwester Oberin!«, drohte die kurzschwänzige Ingrid mit hoher Fistelstimme. Die Haube auf ihrem Kopf wackelte vor Entrüstung. Nie zuvor hatte ein Kind es gewagt, ihnen gegenüber die Stimme zu erheben.

»Bestrafen wir das Balg doch gleich mit«, kreischte die fette Irene. Ihre Stimme überschlug sich fast. »Beißen wir ihr einen Zeh ab!«

»Aber nein, ich habe eine bessere Idee«, flüsterte die grausame Ida. Ihre Stimme klang wie das sirrende Geräusch, wenn die dicke Köchin ihre Messer aneinanderrieb, um sie zu schärfen.

Alle hielten gespannt den Atem an, als Ida eine kunstvolle Pause machte, bevor sie ihr Urteil verkündete: »Wir töten sie!«

»Nein, bitte …« Lotte schnürte es die Kehle zu. »Ihr könnt mich doch nicht …«

»Doch, wir können«, sagte Ida und grinste bösartig. »Aber nicht sofort. Wir töten dich dann, wenn du nicht damit rechnest. Vielleicht heute Nacht. Vielleicht aber auch erst in einer Woche.«

»Ja, wir töten dich!«, wiederholten Ingrid und Irene im Chor. Und immer wieder: »Wir töten dich!«

Lotte hielt sich die Ohren zu. Aber es half nichts. Das Kreischen der Ratten ging ihr durch Mark und Bein. Wie ein scharfes Messer wühlte es sich durch ihren Kopf.

Nein, wie zwei scharfe Messer. Sie schnitten und schnitten, von beiden Seiten, und jedes neue »Wir töten dich« bereitete ihr schlimmere Qual.

Da tat sie etwas, was sie noch nie gemacht hatte. Es kam tief aus ihr heraus, wie ein Reflex, der seit jeher unerkannt in ihr geschlummert hatte und nun geweckt wurde.

Ein Schrei löste sich aus ihrer Brust. Dann ein zweiter und dritter.

Lotte kreischte, und ihr Kreischen übertönte sogar das der Ratten. Die fette Irene wankte zurück. Sie flüchtete Richtung Tür, stieß mit dem Kopf gegen den Rahmen und fiel zu Boden.

Die kurzschwänzige Ingrid war nicht so schnell. Blut schoss ihr aus den pelzigen Ohren und der Nase. Nun war sie es, die sich vergeblich die Ohren zuhielt.

Ida wehrte sich bis zuletzt. Ihr Kreischen dauerte an, grub sich in Lottes Hirn, tiefer und tiefer …

… bis auch sie mit einem letzten Aufschrei auf die Knie fiel.

Erschrocken über sich selbst, brach Lotte ab. Sie konnte es nicht fassen, dass sie selbst es gewesen war, die geschrien hatte. Ihre zur Faust geballte Hand fuhr zum Mund, presste dagegen, als wollte sie die Lippen für immer verschließen, als wollte sie nicht dulden, dass noch einmal ein Schrei darüber kam.

Ida sah sie hasserfüllt an, wagte aber nichts zu sagen. Doch in ihren Augen las Lotte, dass sie ihre Drohung wahrmachen würde. Sie würde sie töten.

Nicht hier und jetzt. Aber vielleicht in der Nacht, wenn sie wehrlos auf ihrem Lager kauerte und wenn …

… wenn ich nicht schnell genug schreien kann.

Sie sah sie vor sich: Wie sie über sie herfielen, ihr einen schmutzigen Lumpen tief in den Rachen steckten, mit ihren scharfen Krallen die Augen ausschabten und …

Fast hätte sie erneut aufgeschrien, diesmal vor Grauen, aber die Faust auf ihren Lippen verhinderte es.

Die fette Irene war längst aus der Tür, die kurzschwänzige Ingrid folgte ihr fast panisch. Auch die grausame Ida trat den Rückzug an. Sie bemühte sich um einen halbwegs aufrechten Gang und schaute nicht zurück.

Dann waren sie verschwunden.

»Was hast du getan?«

Wie aus weiter Ferne drang die Stimme zu ihr. Erst allmählich kam Lotte zur Besinnung, begriff, was passiert war.

Ja, was habe ich getan?

Kundula hatte sich als erstes der Mädchen von ihrem Schrecken erholt. Die Schwarzhaarige mit den traurigen Augen war die Älteste. Nun stand sie vor Lotte und sah sie mit noch traurigerem Blick an. »Dafür werden sie uns alle bestrafen.«

Lotte nickte schuldbewusst und hielt den Kopf gesenkt.

»Ich weiß«, murmelte sie. Und: »Es tut mir leid.«

»O Asmodi, sie werden es der Schwester Oberin erzählen«, sagte ein anderes Mädchen mit schriller Stimme. Tränen schossen ihr in die Augen.

»Sie werden sich hüten, es der Schwester Oberin zu verraten«, mischte sich die stämmige Melisende ein, welche die Vernünftigste von ihnen war. Wenn Kundula keinen Rat wusste, war es Melisende, die das Kommando übernahm.

Lotte hob vorsichtig den Kopf. »Aber warum nicht?« Sie wünschte, auch sie könnte weinen, aber diese Gabe war ihr nicht vergönnt.

»Weil die Ratten dann ihre Niederlage zugeben müssten«, erklärte Melisende. »Die Schwester Oberin würde auch sie bestrafen.«

Das leuchtete auch Lotte ein. Dennoch spürte sie keine Erleichterung.

Wir töten dich.

Wir töten dich …

Fast hätte sie sich erneut die Ohren zugehalten, aber die Drohung hallte nur im Chaos ihrer Gedanken nach.

»Wir müssen uns sputen!«, rief Kundula. »Wir kommen sonst zu spät zum …«

 

Aufstehen. Antreten.

Der Winter war streng in diesem Jahr. Der Schnee rieselte durch die Fensternischen herein, und der Eiswind pfiff Tag und Nacht hindurch. Vor den Mündern ballte sich der Atem zu Wolken zusammen, und Hände und Füße waren blaugefroren. Dennoch trugen die Mädchen nur ihre dünnen Nachthemden am Leib, als sie in Reih und Glied vor dem Dormitorium antraten.

Der Boden unter Lottes nackten Fußsohlen fühlte sich an wie Eis. Aber wenigstens fühlte sie etwas. Irgendetwas.

Ergeben, mit gesenktem Kopf, erwartete die Mädchenschar die Schwester Oberin.

Wie jeden Morgen kam sie in Begleitung zweier Schwestern. Schwester Adelheid und Schwester Gertrud. Beide hatten sie den Rang von Zirkulatorinnen, die über die Einhaltung der Regeln wachten. Und jeden Verstoß bestraften.

Schwester Adelheid trug stets einen Haselnusszweig bei sich, den sie auch gern und häufig einsetzte. Schwester Gertrud bediente sich ausgefeilterer Strafen. Sie war eine Kräuterkundige, und schon mancher Zögling hatte von ihren Tränken Albträume und Schlimmeres erfahren. Viel Schlimmeres …

Die Schwester Oberin inspizierte die Mädchen sorgfältig. Ein jedes hielt den Kopf gesenkt, bis es die Erlaubnis bekam, ihn zu heben.

»Agnes, du bist zu dürr. Du bestehst nur noch aus Knochen«, sagte sie mit strenger Stimme, während sie das scheue, dürre Mädchen begutachtete. »Du wirst heute Morgen zwei Scheiben Brot bekommen.«

Agnes’ Augen, die in tiefen Schatten lagen, leuchteten gierig auf.

Die Schwester Oberin wandte sich Melisende zu: »Und du bist zu fett. Du frisst uns wohl die Haare vom Kopf, was?«

»Aber nein, ich …«

Schwester Adelheid hob bereits drohend die Gerte, und Melisende duckte sich schuldbewusst. »Jawohl«, sagte sie schnell. »Ich bin zu fett!«

»Es sind deine Gedanken«, erkannte die Schwester Oberin.

»Ja, ich gebe es zu: Ich träume die ganzen Nächte von üppigem Essen. Von Fleisch und …«

»Genug!«, befahl die Schwester Oberin. »Ich weiß, was mit dir los ist. Du wirst deine Gedanken zügeln, sonst setze ich einen Nachtalben auf dich an. Außerdem wirst du heute kein Brot erhalten.«

»Aber ich …«

Diesmal war Schwester Adelheid schneller. Die Gerte fuhr wie eine Peitsche über Melisendes Lippen, die sofort aufsprangen und bluteten. Melisende verbiss sich den Schmerzensschrei, denn sie wusste, dass dann eine weitere Strafe folgen würde.

»Deine Scheibe Brot bekommt …« Die Schwester Oberin schaute auf die anderen Mädchen. Jedes von ihnen hoffte, die Auserwählte zu sein. Bis auf Lotte. Die hoffte nur, dass die Ratten sie nicht verraten hatten.

»… niemand. Ihr seid es alle nicht wert!«

Wie jeden Morgen ergoss sich eine wahre Schimpfkanonade über die Köpfe der Mädchen. Die eine war zu schmutzig, die andere hatte nicht ehrfürchtig genug zu Asmodi gebetet, eine andere hatte zu schlechte Gedanken, eine weitere war zu faul. Sie alle bekamen ihr Fett weg.

Nur vor Kundula blieb sie zufrieden lächelnd stehen.

»Schau mich an, Kundula.«

Kundula gehorchte.

»Du bist schön, das wird dem Herrn gefallen. Nur deine Haare sind zu stumpf, und deine Haut ist zu teigig. Auch musst du lernen, fröhlicher zu schauen, wenn der Herr dich erwählt.«

Kundula nickte ergeben, doch in ihren Augen lag nach wie vor die Trauer wie ein Flor.

Die Schwester Oberin wandte sich an Schwester Gertrud. »Du wirst dich um sie kümmern, damit sie rechtzeitig erblüht und bereit ist für den großen Sabbat. Und etwas mehr Speck auf den Rippen täte ihrer Schönheit keinen Abbruch.«

»Ich werde mein Bestes tun, Herrin«, versprach Schwester Gertrud, und es klang wie eine finstere Drohung.

Die Schwester Oberin nickte, als sei dieser Punkt abgehakt. Sie ging zum nächsten Mädchen, und das war Lotte.

»Sieh mich an!«

Lotte hob schüchtern den Kopf.

Wir töten dich!

»In deinem Kopf ist Chaos«, erkannte die Schwester. »So wie meistens. Ich schreibe es deinem jungen Alter zu, doch …«

Sie horchte, als könnte sie Lottes Gedanken hören.

Lotte verschloss sich. Das beherrschte sie gut. Es war wie ein Reflex, sobald sie die Schwester Oberin in ihrem Kopf spürte.

Jene lächelte grausam. »Sollte ich herauskriegen, dass du dich bewusst vor mir verschließt, wirst du es bereuen, Lotte.«

Lotte sah sie mit ihrem unschuldigsten Blick an. »Das tue ich ganz bestimmt nicht, Schwester Oberin«, schwindelte sie.

»Soll ich …?« Schwester Adelheid hob die Rute, doch die Schwester Oberin schüttelte den Kopf. »Nein, sie ist bestraft genug. Mit ihrer Hässlichkeit wird sie niemand jemals erwählen.«

Mit ihrer Hässlichkeit …

Morgen für Morgen erinnerte die Schwester sie daran. Es war wie eine Wunde, in der sie wieder und wieder wühlten. Nur die anderen Kinder hatten sich längst an sie gewöhnt und zuckten nur noch manchmal zusammen, wenn sie Lotte unverhofft auf den dunklen Gängen trafen.

Es war hauptsächlich Lotte selbst, die sich vor ihrem Anblick fürchtete. Sie vermied es, in eine Pfütze zu blicken oder sich im Glanz eines polierten Kessels zu betrachten. Selbst sich zu waschen, bereitete ihr Pein, denn allein wenn sie das Gesicht berührte, wurde ihr bewusst, wie hässlich sie war.

Doch vor dem Anblick ihres Leibes konnte sie die Augen nicht verschließen. Wenn sie an sich hinabblickte, sah sie die Narben und Wülste, die kreuz und quer über die Haut liefen. Als hätte jemand ihren Körper aus verschiedenen Stücken zusammengesetzt. Wie ein Schöpfer, der mitten in der Arbeit verschwunden war und sie unvollendet zurückgelassen hatte. Ihre Arme waren unterschiedlich lang, genau wie ihre Beine, sodass sie leicht humpelte.

»Geht und zieht euch etwas über!«, befahl die Schwester Oberin nun und schreckte damit Lotte aus ihren Gedanken. »Nicht, dass ihr euch noch den Tod holt.«

Plötzlich stutzte sie. »Ihr seid nur zu zwölft! Wer fehlt?«

»Angela, Schwester Oberin«, sagte Kundula, der es als Einziger erlaubt war zu antworten. »Sie hat wieder Fieber.«

»Haben die Ratten ihr denn nicht Beine machen können?«

Lotte senkte den Kopf noch tiefer und betete inständig, dass nicht ans Licht kam, welche Dreistigkeit sie sich erlaubt hatte. Noch mehr versteckte sie ihre Gedanken vor der Schwester Oberin, aber diese dachte zum Glück nicht daran, nachzuhaken oder eines der anderen Mädchen zu befragen. Keines von ihnen hätte es gewagt, ihr die Unwahrheit zu sagen, und anders als bei Lotte vermochte die Schwester Oberin in ihren Gedanken zu lesen wie in einem Buch.

Stattdessen drehte sie sich nur zu den beiden Schwestern um und befahl: »Schwester Gertrud. Sieh zu, dass unser kleiner Engel wieder auf die Beine kommt. Und du, Schwester Adelheid, bestrafe sie für ihre Schwäche, die sie sich zu zeigen erdreistet.«

Die beiden Schwestern nickten.

»Und jetzt trödelt nicht länger herum!«, rief die Schwester Oberin mit scharfer Stimme. »Es liegt viel Arbeit an.«

Arbeit lag immer an. Selbst im Winter mussten sie auf blanken Knien den Steinboden schrubben, mit steifgefrorenen Fingern Näharbeiten verrichten und die Ställe ausmisten.

Die Vormittage waren den Lehrstunden vorbehalten. Ansonsten wurden die Arbeiten nur von den Andachtsgebeten unterbrochen.

Während sich Lotte ihr sackähnliches, grobes Gewand überstülpte, schaute sie noch einmal nach Angela. Das Mädchen murmelte im Fiebertraum. Lotte bückte sich zu ihr hinab und flüsterte ihr ins Ohr: »Schwester Gertrud wird dich gesundmachen, ganz bestimmt.«

Sie hoffte, dass ihre tröstenden Worte bis in Angelas Bewusstsein drangen. Absichtlich verschwieg sie, was die Fiebernde erwartete, wenn Schwester Adelheid sich ihrer annahm …

Nachdem die Mädchen sich angekleidet hatten, marschierten sie in einer Reihe hintereinander aus dem Dormitorium durch die verwinkelten Klostergänge hinab ins Refektorium, in dem die Jungen bereits an ihrem langen Tisch Platz genommen hatten. Stumm, den Kopf gesenkt, wirkten sie wie eingefrorene Statuen, die erst dann zum Leben erwachten, wenn eine der Schwestern Brot und Wasser verteilte.

Nur einer von ihnen hob den Kopf ein wenig, als die Mädchen das Refektorium betraten. Lotte wusste nicht, wie er hieß, aber er war ihr von Anfang an aufgefallen. Seit einem Jahr war er im Kloster. Seitdem war er kaum gewachsen. Er wirkte noch schwächlicher und kümmerlicher als die anderen Jungen. Manchmal bildete sich Lotte ein, durch ihn hindurchsehen zu können, so blass war seine Haut, die sich wie Pergament über die Knochen spannte.

Aber nicht deswegen fühlte sie sich ihm wesensverwandt. Sondern weil er genauso hässlich und unfertig war wie sie selbst. Sein narbenübersätes Gesicht war geradezu furchterregend. Es ähnelte eher einer Holzpuppe, an der sich ein unbegabter Schnitzer versucht hatte. Eine schlecht verheilte Narbe zerteilte sein Gesicht in zwei Hälften, wobei das linke Auge tiefer hing als das rechte, die Nase in der linken Hälfte der eines Schweins glich und der lippenlose Mund der rechten Seite Lotte wie ein klaffendes Loch vorkam. Auch schien er von den anderen Jungen nicht nur gemieden, sondern gleichzeitig gehänselt und schikaniert zu werden. Mehr als einmal hatte sie beobachtet, wie er heimlich getreten wurde, einen Schlag auf den missgestalteten Hinterkopf erhielt oder man ihm ein Bein stellte.

Lotte hatte ihm in der letzten Zeit des Öfteren ein heimliches Lächeln geschenkt, um ihn aufzumuntern. Seitdem suchte er ihren Blick, wenn sie das Refektorium betrat. Sie hoffte nur, dass eine der Schwestern sie nicht irgendwann dabei beobachtete.