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Mutter. Sein.

Inhalt

Vorwort

1
Auf der Suche nach dem eigenen Mutterbild

Wenn Frauen Mutter werden

Bin ich eine gute Mutter?

Gehört das Kind zur Mutter?

Das Mutterbild in uns

2
Die Steinzeitmutter: Geschichte falsch interpretiert

Das Umsorgen von Kindern in verschiedenen Kulturen

Wie wir »natürliche« Mütter wurden

3
Die Anforderungen einer bindungsorientierten Erziehung

Bedeutung der frühen Kindheit und Bindungsforschung

Attachment Parenting Bewegung

Was Kinder wirklich brauchen

Feinfühligkeit als Bestandteil der sicheren Bindung

Was ist eigentlich Mutterliebe?

Aber die Hormone!

Hormone und ihre Wirkung

Wenn die Mutterliebe fehlt

Bindung ist eine Langzeitaufgabe

Kindstötungen durch ungünstige gesellschaftliche Rahmenbedingungen

Erschwerte Rahmenbedingungen zum Ausbau der Beziehung

Mutterschaft bereuen

Verdrängung von Ablehnung und Ambivalenz

Bindung und Liebe neu denken

4
Die innere Mutterstimme

Unsere innere Wertewelt

Trampelpfade im Gehirn

Framing – wie einfache Worte unsere Gedanken beeinflussen

Die aufgestaute Wut in uns

Was in unserem Gehirn passiert, wenn wir »getriggert« werden

»Es hat mir ja auch nicht geschadet«

Warum wir so oft unsicher sind und unsere Bedürfnisse zurückstellen

Die eigene Kindheit reflektieren

Alles in Stein gemeißelt?

5
Aber wir sind doch so frei!

Als Mütter sind wir alle gleich

Wir alle tragen viele Päckchen

Wenn Besuch uns unter Druck setzt

Aber ich will mit meinem Kind zu Hause bleiben!

Aufgabenverteilung von Anfang an

Alles anders als früher?

Privilegien versus Armut

Alleinerziehende sind noch weniger frei

»Andere« Mütter

Andere Wege zu gehen ist anstrengend, aber wichtig

Der Umgang mit Konflikten

Warum sich Muttermythen so hartnäckig halten

6
Selbstfürsorge – sich Freiheiten erlauben

Meine eigenen Bedürfnisse wahrnehmen und beachten

Eine gute Bindung gelingt nur durch Selbstfürsorge

Schluss mit der Glorifizierung der Überlastung!

7
Mein Körper gehört mir – oder nicht?

Von Anfang an fremdbestimmt

Die Entscheidung, ein Kind zu gebären – oder nicht

»Hauptsache, das Kind ist gesund«

Geburt aus allgemeiner Sicht

Geburt aus individueller Sicht

Im Körperkontakt mit dem Kind

Stillen oder nicht?

Stillen um jeden Preis? Nein danke.

Wer stillen will, braucht Unterstützung

Stillen, bis der Schulbus kommt

Macht Stillen nun eine gute Mutter aus?

Nur eine schöne Mutter ist eine gute Mutter

Die Realität der Frauenkörper

Bodypositivity

Sex – wann und wo eigentlich?

8
Wie viel Pädagogik braucht mein Kind?

Der Bildungsanspruch an Mütter

Einfach auf das Bauchgefühl vertrauen?

Müssen Eltern alles ähnlich machen?

Maternal Gatekeeping

Konfliktfalle Familie

Jedes Kind ist anders

»Ich mache es anders als du«

Bindungsstress

Wie viel Bildung braucht mein Kind?

Das »gute« Kind

Eltern dürfen Fehler machen

9
Distanz und Nähe zwischen Müttern und Kindern

Nicht zu nah, aber auch nicht ohne Mutter!

Wurzeln und Flügel

Lebensinhalt Kind?

Die Angst vor Gefahren

Selbstständige Kinder

Erdrückende Liebe

Hilfe von anderen

Kita kann gelingen

10
Mutterschaft in den (sozialen) Medien

Mutterschaft in den Medien

Der Druck der schönen Bilder und Geschichten

»Mommywars«

Nachwort: Das Glück des eigenen Wegs

Danksagung

Anmerkungen

1 Auf der Suche nach dem eigenen Mutterbild

2 Die Steinzeitmutter: Geschichte falsch interpretiert

3 Die Anforderungen einer bindungsorientierten Erziehung

4 Die innere Mutterstimme

5 Aber wir sind doch so frei!

6 Selbstfürsorge – sich Freiheiten erlauben

7 Mein Körper gehört mir – oder nicht?

8 Wie viel Pädagogik braucht mein Kind?

9 Distanz und Nähe zwischen Müttern und Kindern

10 Mutterschaft in den (sozialen) Medien

Ausgewählte Literatur

Vorwort

Wenn wir Mutter werden, haben die meisten unter uns das Bedürfnis, eine »gute Mutter« zu werden. Und auch in den späteren Jahren des Elternseins wird dieser Gedanke uns immer wieder beschäftigen. Aber was genau das bedeutet, »gut« oder »Mutter« zu sein, ist uns häufig nicht klar und auch nicht, ob wir nun eine gute Mutter sind oder wie wir es werden. Mutterschaft wird oft als der Beginn eines neuen Weges bezeichnet. Eigentlich aber ist es die hochkomplexe Aufgabe, zugleich voran- und rückwärtszugehen. Während wir nämlich vorwärtsgehen in der Begleitung des kleinen Menschen, der nun in unser Leben getreten ist, und den für unsere Familie individuell richtigen Weg suchen, befinden wir uns zeitgleich auf einer Reise zurück: Denn der Weg, den wir für unsere gemeinsame Zukunft suchen, führt uns immer wieder in die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Mutterschaft zu leben bedeutet, sich mit den Anforderungen für die Zukunft und den Einflüssen der Vergangenheit auf die Gegenwart auseinanderzusetzen – jeden Tag.

Ständig sind wir mit Bildern und Erwartungen an Mütter konfrontiert. Sei es durch Werbung, Ratgeber, durch das »Vorbildverhalten« von prominenten Müttern, durch Traditionen und Empfehlungen für die Erziehung von Kindern. Es sind Sätze von Familienmitgliedern, Freund*innen, Tipps von Pädagog*innen und Ärzt*innen oder auch nur Blicke von Fremden an öffentlichen Orten, die über uns richten, Wohlwollen oder Ablehnung bekunden. Durch den Dschungel all dieser Einflüsse versuchen wir, unseren Weg zu finden, und fragen uns nicht selten: Ist das hier eigentlich mein Weg, oder gehe ich nur nach, was von mir erwartet wird? Und was ist das eigentlich, was erwartet wird, und warum? Mutterschaft ist nämlich nicht, wie wir es so oft hören und lesen, eine individuelle Entscheidung, und wir sind nicht per se frei darin, wie wir sie leben. Kein Mutterbild ist naturgegeben, es ist keine feststehende und natürliche Komponente des Lebens. Es ist kulturell geformt, angepasst an die jeweilige Gesellschaft und die darin gewachsenen Strukturen.

Zudem ist jedes Mutterbild geprägt von unseren ganz persönlichen Erfahrungen: Ein Kind im Aufwachsen zu begleiten ist auch eine Reise zurück in die eigene Kindheit und Kultur und zu der Frage danach, welche Erfahrungen und Werte heute in unser Leben einfließen dürfen und sollen und welche nicht – und wie wir den überflüssigen Ballast überhaupt loswerden können, um wirklich unseren eigenen Weg zu finden. Das eigene Vorankommen kann durch diesen Blick zurück, durch das Band der Vergangenheit, behindert werden. Sosehr wir in unseren Gedanken neue Rollenbilder leben wollen, so schwer ist es manchmal, dieses Voranschreiten auch zu gestalten. Wir werden in die eine oder andere Richtung gedrängt und stellen uns jedes Mal die Frage: Bin ich eine gute Mutter?

Nicht selten kommt es in dieser Lebensphase zu einer Art Identitätskrise: Während wir denken und erfahren, dass wir heute freie und autonome Erwachsene sind, bringt das Kind nicht nur seine Bedürfnisse in unser Leben mit ein, die mit unseren eigenen Wünschen in Einklang gebracht werden müssen, sondern wir stoßen an Rahmenbedingungen, gesellschaftliche oder familiäre Vorstellungen und innere Zweifel, die unseren Glauben an Autonomie ins Wanken bringen – und nicht selten umstürzen. Unsere bisher gelebte Individualität kollidiert auf einmal mit einer ganzen Reihe von Anforderungen, Empfehlungen und Druck. Zum Glück des Kinderhabens gesellen sich nicht selten das Leid aus Überforderung und die Unsicherheit, ob der scheinbar selbst gewählte Weg richtig ist oder ob er die kindliche, persönliche oder gar beide Entwicklungen nicht doch eher negativ beeinflusst. Mutterschaft ist komplex. In ihr bilden sich die aktuellen Themen unserer Gesellschaft geballt ab: Vereinbarkeit von Mutterschaft und Erwerbstätigkeit, Rollenverteilung und Familienmodelle, Gleichstellung, Fortpflanzung, Sexualität, Mode, Körperbewusstsein, Pflege und Freizeit(stress).

In diesem Buch wollen wir all diesen Themen nachgehen. Zunächst einmal wollen wir erkunden, warum das »richtige Bemuttern« uns heute so wichtig ist: Woher kommt dieser Gedanke? Ist Mutterliebe angeboren und können Frauen daher ihre Kinder besser und richtig umsorgen? Wenn wir herausgefunden haben, wie sich das Mutterbild ausgebildet hat, können wir im nächsten Schritt betrachten, wie sich die gesellschaftliche Vorstellung der guten Mutter direkt in unseren Köpfen verankert hat und wie uns diese Vorstellungen (unbewusst) leiten. Selbst wir Frauen im 21. Jahrhundert sind weniger frei, als wir oft denken oder gesagt bekommen. Aber mit diesem Wissen fällt es uns leichter, mit den aktuellen Herausforderungen umzugehen: Ob Geburt, Körperbild, Sexualität, außerfamiliäre Kinderbetreuung oder Druck durch soziale Medien – wenn wir die Hintergründe unseres persönlichen Mutterbildes kennen, können wir entspannt eigene Wege gehen, weil wir wissen, dass es keine pauschale Definition von Mutterschaft gibt. Wir können loslassen, durchatmen und uns auf unseren eigenen Weg einlassen.

Die Herausforderungen von Mutterschaft habe ich in den vielen Jahren meiner Arbeit als Familienbegleiterin bei vielen Müttern miterlebt und ihre individuellen Wege begleitet. Einige Frauen, die mir ihre Erfahrungen nach Aufrufen auf Instagram und Twitter haben zukommen lassen, kommen in diesem Buch zu Wort. Und auch ich selbst habe meine Erfahrungen mit Mutterschaft gemacht.

Bevor mein erstes Kind geboren wurde, wusste auch ich bereits, dass Mutterschaft nicht nur rosarot ist, kein ausschließlich einfacher Weg, sondern auch Anstrengungen und Herausforderungen mit sich bringen würde. Ich war scheinbar auf alles vorbereitet, hatte Kurse besucht, war ausgebildete Pädagogin, hatte schon in der Elternarbeit gearbeitet. Und dennoch wusste ich nicht wirklich, was es bedeuten würde, Mutter zu sein. Ich wusste nicht wirklich, welche komplexen Anforderungen mein zukünftiges Leben für mich bereithalten würde, welche Anspannungen, welche Erschöpfung und welche Last es manchmal bedeutet, Mutter zu sein – neben der unbändigen Liebe. Mir war nicht klar gewesen, dass Mutterschaft nicht nur eine Reise vorwärts in ein neues Leben sein würde, sondern auch eine Reise rückwärts in meine eigene Geschichte, in meine Kindheit und in unser aller Geschichte. Ich habe nicht geahnt, wie es sich anfühlt, auf einmal die Stimme der eigenen Mutter, die ich doch gar nicht sein wollte, aus mir sprechen zu hören. Oder den Druck zu spüren, nach schlaflosen Nächten dennoch erfolgreich meine Arbeit zu erledigen. Ich hatte nicht gewusst, welch abschätzige Blicke so manches Mal auf mir lasten würden – sei es wegen meiner Figur, des Umgangs mit meinen Kindern oder des immerwährenden Vorwurfs, es nicht richtig zu machen. Mutterschaft, so erfuhr ich in den letzten zehn Jahren noch einmal am eigenen Leib und an der eigenen Psyche, ist wirklich nicht einfach.

In diesem Buch werden wir uns auf eine Reise durch alle Facetten der Mutterschaft begeben. Ich bin fest davon überzeugt, dass es uns leichter fällt, uns von dem Druck und der Last zu befreien, die die Anforderungen des Mutterseins heute und hier mit sich bringen, wenn wir das in uns verwurzelte Mutterbild kennen, seinen Ursprung nachvollziehen können. Auch wenn Sie und mich vielleicht einige Jahre trennen, können wir diesen Weg zusammen gehen. Es ist für jede von uns ein ganz persönlicher Weg, der uns hineinführt in unsere Vergangenheit, unsere inneren Stimmen und Bilder. Sie können neue Wege finden, die sich für Sie und Ihre Familie nicht nur richtig anfühlen, sondern die richtig sind, weil sie individuell zu Ihnen und Ihrem Familienleben passen. Oder Sie gehen einen bereits gewählten Weg voller Vertrauen und selbstbewusst weiter, weil Sie nicht nur fühlen, sondern wissen, dass er genau so richtig ist – egal, was die anderen sagen.

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Auf der Suche nach dem eigenen Mutterbild

Ich erinnere mich noch gut an den Moment vor zehn Jahren, als ich mit meinem ersten Kind schwanger war, mein Mann und ich uns gegenübersaßen und wir gemeinsam über die Elternzeit sprachen. Er lächelte mich schief an und fragte, wissend, dass mein Job alles andere als familienfreundlich war: »Und nach dem einen Jahr gehst du dann in deinen alten Job zurück?« Für mich lag, anders als für ihn, der Schwerpunkt der Frage aber nicht bei meinem »alten Job«, sondern bei der Zeit, die er da nannte: »Wie jetzt, ein Jahr?« Verständnislos schauten wir uns an. Während ich nämlich im Westberlin der 1980er-Jahre aufgewachsen bin, mit einer Mutter, die die ersten fünfzehn Jahre meines Lebens bis auf kleine Putztätigkeiten in anderen Haushalten zu Hause blieb, ist er auf der anderen Seite der Mauer groß geworden, in Ostberlin, mit vollzeiterwerbstätiger Mutter, Krippe und Wohnungsschlüssel ab dem sechsten Lebensjahr. Das war der Moment, an dem unsere Mutterbilder kollidierten und wir uns fragten: Welcher Weg ist eigentlich der richtige gewesen? Wie viel Mutter brauchen Kinder? Und wie soll das bei uns laufen?

Doch dies war erst der Anfang einer langen Liste von Erwartungen und Fragen zum Thema Mutterschaft, dazu, wie Mutterschaft gelebt werden solle und wie ich sie leben wollen würde. Es war der Anfang, mich mit dem »wie man das macht« im Vergleich zu dem »wie ich das machen will« auseinanderzusetzen, und der Anfang davon, auf das Gefühl zu stoßen, es vielleicht irgendwie falsch zu machen. Wobei mir gar nicht so recht klar war, was eigentlich erwartet wird und was ich von mir selbst erwarte. Denn, so merkte ich schon bald: Die Liste der Erwartungen war groß und nicht selten widersprüchlich: Neben dem Umstand, alles richtig machen zu wollen – und das hieß für mich, lange zu Hause zu bleiben –, gab es die Erwartungen an mich als Frau und zukünftige Mutter, meine gerade erst begonnene Karriere nicht hinzuwerfen: »Mach dich nicht abhängig von Kindern und Ehe!«, erklärte mir mein Vater. »Dir steht eine wissenschaftliche Karriere bevor, da darfst du nicht zu lange aussetzen!«, erklärte mir mein Chef. Es gab Richtlinien, wie viel ich zunehmen dürfe, ohne »aus dem Leim« zu gehen, und Empfehlungen, wie ich mich gesund ernähre; Gebote, welche Untersuchungen ich machen müsse; welche Kurse ich besuchen solle und welche Musik für die Entwicklung des Kindes empfehlenswerte sei. Und es gab den eigenen inneren Druck, es unbedingt anders machen zu wollen als meine eigenen Eltern – denn aus pädagogischer Sicht wissen wir schließlich, welche Erziehungsmethoden der früheren Generationen den Kindern schaden –, ohne jedoch so richtig zu wissen, wie das ohne Vorbilder gehen sollte. Über all diesen Fragen, Anregungen und Richtlinien hing auf einmal das Damoklesschwert der »guten Mutter«: Wenn du dieses und jenes tust, bist du eine gute Mutter. Wenn du dieses und jenes nicht tust, bist du es nicht. Nur wurde von verschiedenen Personen und Gruppen ganz unterschiedlich bewertet, was eigentlich »gut« sei. Ich fand einen Dschungel an Muttermythen und Muttermärchen vor, durch den es einen Weg zu finden galt. Es gab ausgesprochene, gefühlte und aus dem Inneren kommende Ermahnungen und Wegweiser und die Fragen: Was muss ich tun, um »gut« zu sein, was bedeutet »gut« sein überhaupt, und warum hängt die Verantwortung für die kindliche Entwicklung eigentlich ganz besonders an mir als Mutter? Und warum ist mein Mann so viel entspannter als ich und scheint nicht unter einem solchen Druck zu leiden? Woher kommen all die Tipps und Richtlinien, und welchen Wahrheitsgehalt haben sie? Mit diesen Fragen im Gepäck, die in den vergangenen zehn Jahren und drei Geburten immer wieder auftauchten, begab ich mich auf die Suche nach dem Ursprung der Muttermythen und nach dem, was Kinder und Familie wirklich brauchen. Um zunächst meinen eigenen Weg zu finden und dann andere dazu zu ermutigen, auch ihren jeweils ganz eigenen Weg zu gehen.

Wenn Frauen Mutter werden

Wenn wir Mutter werden, stellen wir auf einmal fest, dass es in unserer Gesellschaft eine ziemlich konkrete Vorstellung davon gibt, was Muttersein bedeutet und wie es gelebt wird. Und wir merken, dass unsere eigene Vorstellung vielleicht gar nicht dazu passt oder dass wir unter ihr leiden, weil sie uns in ein Korsett zwängt, von dem wir Atemnot bekommen. Die Beschäftigung mit dem Mutterbild in unserer Gesellschaft ist nicht einfach. Vereinfacht ausgedrückt, kann man aber sagen: Frausein, Muttersein, Mutterliebe und Kinderversorgung nebst Haushalt gehören natürlicherweise zusammen. Es scheint selbstverständlich, dass ich als Frau Mutter werde und dann ganz selbstverständlich meine Kinder (alle gleich) liebe und meinen Lebensschwerpunkt auf diese Mutterschaft ausrichte. Das bringt viele Erwartungen an unser Verhalten und unsere Gefühlswelt mit sich. Nathalie beschreibt ihr Mutterwerden so:

»Natürlich habe ich auch gelesen, wie schwer, anstrengend und verändernd das Muttersein werden wird. Ich habe gedacht,: meine Tochter kommt auf die Welt, und ich weiß, wie es läuft. Oh, wie hart bin ich auf den Boden der Tatsachen aufgeschlagen. Viele Tränen, verzweifelte Anrufe bei meiner Hebamme, Sorgen und Ängste später bin ich nun nach drei Monaten im Muttersein angekommen. Was mir die ersten Monate so schwer gemacht hat war, dass einem niemand sagt, WIE schlimm und schwer und verändernd alles sein würde. Und damit meine ich nicht die Veränderung der Ehe. Sondern in einem selbst. Selbstzweifel, Ängste und Sorgen. Bekommt mein Kind genug Liebe?! Bin ich achtsam genug? Habe ich eine gute und gesunde Bindung zu meinem Kind? Wird mein Baby satt? Fühlt es sich gut? Bin ich genug da? Am liebsten hätte ich ein Rezept für meine Tochter gehabt. Eine To-do-Liste, an die ich mich halten kann. Leider musste ich auf die tränenreiche Tour lernen, dass es so etwas einfach nicht gibt. Denn ich als Mutter erstelle mir meine eigene Liste, mein eigenes Rezept.«

Diese Gedanken kennen wahrscheinlich viele Mütter. Selbstzweifel, Angst und das Gefühl, dass es irgendwie doch gar nicht so einfach ist wie gedacht. Aber es ist doch alles in uns angelegt, denken wir. Wir müssen es doch »einfach« richtig machen können, weil das für uns die passende Aufgabe ist. Warum ist es jetzt so schwer, Mutter zu sein?

Erlauben wir uns ein Gedankenexperiment: Was, wenn Mutterschaft weniger natürlich in uns angelegt ist als gedacht? Woher käme die Mutterliebe, wenn sie nicht naturgegeben sein sollte? Jahrzehntelang wuchsen wir mit der Vorstellung auf, dass Mutterliebe, Kinderversorgung und Mutterschaft ein Kern des Selbst von zu Müttern gewordenen Frauen ist und wir deswegen unser Leben darauf ausrichten sollen, anstatt Mutterschaft, wenn sie eintritt, in unser bereits bestehendes Leben einzubetten. 1904 umschrieb der Arzt Joseph Gérard die Rolle der Mutter folgendermaßen: »Wenn eine Henne ein Ei bebrütet, bildet sie sich deshalb nicht ein, Mutter zu sein. Brüten bedeutet gar nichts … Das Verdienst der Henne beginnt jedoch, wenn sie mit Bewusstsein brütet, wenn sie ihre teure Freiheit aufgibt … Kurz, wenn sie ihre Pflichten als Mutter erfüllt, hat sie diesen Namen wahrhaft verdient.«1 Oder in den Worten des BILD-Journalisten Franz Josef Wagner zum Frauentag 2019: »Für mich ist eine Frau eine Mutter.«2 Frausein ist in den Gedanken vieler Menschen in unserer Gesellschaft auch heute noch mit Mutterschaft und der Begleitung von Kindern verknüpft. Wenn aber »Mutterliebe« gar keine natürliche Gegebenheit ist, was bestimmt dann unseren Wert als Frau und Mutter? Was bedeutet es für uns, wenn diese natürliche Bestimmung auf einmal wegfällt? Und wenn Muttersein gar nicht so natürlich ist, wie können wir es dann eigentlich »gut« machen? Gibt es ein absolutes »gut« überhaupt?

Schmerzhaft kann die Auseinandersetzung mit dem Mutterbild auch dann werden, wenn sie uns nicht nur zu uns und unserer eigenen Mutterschaft führt, sondern auch unsere Kindheit in Erinnerung ruft. Wir alle wünschen uns, von unseren Eltern geliebt und angenommen zu werden, so wie wir sind. Doch die Frage nach dem Mutterbild und der Mutterliebe führt uns auch zur Auseinandersetzung damit, ob wir selbst als Kind geliebt wurden. Wenn Mutterliebe nicht in allen Müttern per se angelegt ist, dann war das auch nicht in unserer Familie zwangsweise so. Wie hat sich Liebe in unserer eigenen Kindheit geäußert – und hat sie das? Wurde ich geliebt und wenn ja, wie?

Wenn wir uns in diese Auseinandersetzung mit dem zeitgeschichtlichen und persönlichen Mutterbild hineinbewegen, werden wir mitunter auf Widerstände in uns stoßen. Diese Widerstände und auch das Gefühl der Ablehnung sind in Ordnung, denn das Aufspüren der Geschichte(n) um Mutterliebe und Mutterschaft kann unser Weltbild und die in unserem Gehirn angelegten inneren Bilder ins Wanken bringen – bevor sich neue Wege eröffnen.

Bin ich eine gute Mutter?

Wer Kinder geboren hat und/oder im Wachsen begleitet, wird an dieser Frage kaum vorbeikommen – und dies ganz besonders nicht heute, in einer Zeit, in der wir einen großen Wert auf das richtige Aufwachsen unserer Kinder legen. Wir wägen ab, planen, treffen schon in Bezug auf Schwangerschaft und Geburt sorgsam Entscheidungen, um unseren Kindern einen guten Start in ein glückliches und erfolgreiches Leben zu ermöglichen. Wir sind verantwortliche Mütter und Eltern, denn wir wissen um die Bedeutung der frühen Jahre für die kindliche Entwicklung und deren Einfluss auf das Erwachsenenleben. Kein Zeitfenster soll übersehen werden, keine Chance ungenutzt bleiben. Sosehr wir uns auch vor Augen führen, dass wir uns (und andere) nicht bewerten wollen, tun wir es doch immer wieder. Zumindest in unseren Köpfen stellen wir uns von Zeit zu Zeit die Frage, vor allem in den schwierigen Momenten des Familienlebens: Bin ich eine gute Mutter für mein(e) Kind(er)?

Doch woran sollen wir messen, ob wir gut sind? Welches »Ergebnis« wollen wir am Ende sehen? Ob unsere Kinder vorzeigbare Karrieren haben? Ob sie gesund aufgewachsen sind? Ob sie selbst Familien gegründet haben? Oder ob sie glücklich sind? Und was bedeutet individuelles Glück – heute und in der Zukunft? Wenn wir diese möglichen Zukunftsprognosen unserer Kinder betrachten, fällt auf: Alle diese Ergebnisse sind nicht allein durch uns beeinflussbar. Wie fühlen wir uns, wenn trotz aller persönlichen Bemühungen der Arbeitsmarkt keine Karriere hergibt, das Kind keine Familie gründen möchte oder kann oder die Kinder im Laufe des Lebens Einflüssen ausgesetzt waren, die ihre psychische Gesundheit so beeinträchtigt haben, dass sie vielleicht nicht in dem Maße glücklich sind, in dem wir es uns gewünscht hätten? Haben wir dann als Mutter versagt? Nein, ich denke, das haben wir nicht. Das Ziel einer guten Mutterschaft am späteren Leben des Kindes auszurichten ist keine sinnvolle Idee. Wir können nicht festlegen, was individuell für unsere Kinder richtig ist und welches Ziel sie in der Zukunft erreicht haben sollten.

Was aber gibt uns dann das Gefühl, es »gut« und richtig zu machen? Diese Frage wird heute eher mit der Erfüllung der kindlichen Bedürfnisse in der unmittelbaren Gegenwart beantwortet. Wie alle Menschen haben auch Kinder Grundbedürfnisse, die erfüllt werden wollen: das Bedürfnis nach Schutz, nach Nähe, Nahrung, Schlaf, Pflege, emotionaler Nähe und Verbundenheit, Wertschätzung und Selbstverwirklichung. Die Befriedigung dieser Grundbedürfnisse gilt als Voraussetzung dafür, dass Kinder sich körperlich, geistig und seelisch gut entwickeln können. Wir machen unsere Sache gut, wenn wir unseren Teil dazu beitragen, dass unsere Kinder gute Startchancen haben. Machen wir zu wenig (zumindest in den Augen anderer), sind wir keine gute, sondern eine Rabenmutter. Machen wir zu viel, sind wir eine Glucke.

Die kindlichen Bedürfnisse zu erfüllen, das klingt eigentlich recht einfach, kann in der konkreten Umsetzung aber auch schwierig werden. Die Gründe dafür können vielfältig sein: Es fällt uns mitunter schwer, bestimmte Bedürfnisse zu erfüllen, weil die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen vielleicht nicht gut genug sind und es an Unterstützung oder Information fehlt. Wenn das Baby Hunger hat, schämen wir uns vielleicht, in der Öffentlichkeit zu stillen. Und Mütter, die nicht stillen, schämen sich, die Flasche zu geben, weil sie von anderen genau deswegen kritisch beäugt werden. So stehen wir im Café eher auf, tragen das weinende Baby umher und hoffen auf Beruhigung oder gehen ganz hinaus, stillen oder füttern auf dem Klo oder irgendwo anders, machen uns unsichtbar. Im schlimmsten Fall meiden wir öffentliche Orte, um nicht in die Situation des Stillens oder Fläschchengebens kommen zu müssen. Die Erfüllung der Bedürfnisse des Kindes ist plötzlich alles andere als einfach.

Es kann auch sein, dass es uns an Erfahrung mangelt oder dass eigene negative Erfahrungen uns daran hindern, auf die kindlichen Wünsche angemessen eingehen zu können. Zudem steht das Wohlergehen unseres Kindes auch in Verbindung mit unserem eigenen. Wenn das Baby nur bewegt in Körperkontakt – zum Beispiel auf dem Arm –, schläft, wird das auf Dauer unseren eigenen Schlaf beeinflussen. Der fehlende Schlaf wirkt sich wiederum auf unsere Reaktion auf die kindlichen Bedürfnisse aus. Wir sind müde, überfordert, lustlos, wollen unsere Ruhe. Kinderbedürfnisse können nicht ohne Berücksichtigung der Eltern- und Mutterbedürfnisse betrachtet und erfüllt werden. Und schon kommen wir an unsere Grenzen, was das Gutsein nach dieser Definition betrifft.

Wenn eine Mutter erkennt, dass sie die Bedürfnisse des Kindes nicht durchgängig befriedigen kann oder will und die Fürsorge für das Kind zeitweise an eine andere Person abgibt, die diese Bedürfnisse erfüllen kann: Ist sie dann nicht auch eine gute Mutter, weil sie sich um deren Erfüllung gekümmert hat, auch wenn nicht sie selbst die Erfüllerin ist? Sind Mütter, die ihre Kinder bewusst in die Obhut anderer geben, nicht genauso gute Mütter, weil sie die Bedürfnisse des Kindes erkannt haben und eine passende Lösung suchen? Und was ist mit Müttern, die nicht lieben können, aber Menschen finden, die ihren Kindern Liebe geben? Wenn wir die Bedürfnisbefriedigung der Kinder als Grundlage nehmen, dann handeln auch sie verantwortungsvoll. Aber wenn das Kind später spürt, dass es doch gerne von der eigenen Mutter geliebt und angenommen worden wäre und die Reflexion des Verlustes Schmerzen hinterlässt, ist auch das wieder hinfällig. Wir sehen: Auch wenn wir uns beständig fragen, ob wir es »gut« machen, gibt es für dieses »gut« gar keine richtige Definition.

Gehört das Kind zur Mutter?

Um zu verstehen, warum es Müttern wie Nathalie oder mir so schwerfiel, sich in die Mutterrolle einzufinden, müssen wir das »Gutsein« nicht nur aus der individuellen Sicht des Kindes betrachten, sondern auch die Erwartungen der Gesellschaft mit dem abgleichen, was wir tun und fühlen. Denn die Gedanken »Bin ich achtsam genug?«, »Habe ich eine gute und gesunde Bindung zu meinem Kind?«, »Wird mein Baby satt?«, »Bin ich genug da?« kommen nicht von irgendwoher, sondern speisen sich aus den Vorstellungen, die wir über Mutterschaft haben.

Sehen wir also genauer hin: Mutter und Kind, diese Worte hängen per Definition bereits zusammen: Laut Duden ist »Mutter« die »Frau, die ein oder mehrere Kinder geboren hat« und auch die »Frau, die in der Rolle einer Mutter ein oder mehrere Kinder versorgt, erzieht«.3 Mutter beinhaltet also nicht zwangsläufig das Gebären, sondern bezieht sich vor allem auf die Beziehung zum Kind, auf die Rolle der Versorgung und Erziehung: Damit Kinder gut wachsen und sich entwickeln können, sind sie viele Jahre auf Beziehung und Versorgung durch andere angewiesen: Schließlich kommen unsere Kinder weder als Nestflüchter noch als Nesthocker zu uns, sondern als sogenannte Traglinge: Sie fordern Nähe und Zuwendung beständig ein. Hierfür brauchen sie Menschen, die diesem Bedürfnis entgegenkommen. In unserer Gesellschaft wird dieses Umsorgen denjenigen zugeschrieben, die als Mutter und/oder Vater dem Kind zugeordnet sind, ganz besonders aber den Müttern, denn dafür scheinen sie bestimmt zu sein: Das Bild der Mutter geht nicht selten mit Assoziationen wie »naturgegeben«, »natürlich« oder »vorherbestimmt« einher. Mutterschaft, so wird suggeriert, sei etwas, das die Natur so eingerichtet habe. Der weibliche Körper sei qua seiner Funktionen dafür vorgesehen, Kinder zu bekommen, zu nähren, und als logische Konsequenz daraus müssten wir Mütter auch sonst hormonell und durch die sogenannten weiblichen Persönlichkeitseigenschaften dafür bestimmt sein, Kinder zu betreuen und beim Aufwachsen zu unterstützen. Dieses Konzept der »Mutterliebe« herrscht laut Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung besonders in den alten Bundesländern vor.4

Mutterschaft kann aber nicht nur biologisch, sondern auch sozial gegeben sein – losgelöst vom Gebären oder von weiblichen Geschlechtsorganen. Es gibt eine Vielzahl möglicher Arten von Mutterschaft: biologische Mütter, soziale Mütter im Sinne von Stiefmüttern, Pflegemüttern oder Adpotivmüttern, es gibt Transgender-Mütter und intersexuelle Mütter. Es gibt traditionelle Familien, Patchworkfamilien oder polyamouröse Familienkonstellationen mit mehreren Müttern. Mutter ist, wer sich als Mutter fühlt und/oder geboren hat: Mutterschaft ist nicht eine rein körperliche Tatsache, sondern (auch) eine Art Funktion, eine zwischenmenschliche Beziehung mit besonderen Eigenschaften der Fürsorge – wenn diese übernommen werden.

Sprechen wir mit (werdenden) Eltern über die Planungen der Elternzeit, so ist es normal, dass die meisten Mütter erst einmal zu Hause bleiben5 – es ist eine Erwartung, die kein großes »Ah« oder »Oh« hervorruft. Teilen hingegen Männer mit, dass sie in Elternzeit gehen und dies vielleicht sogar mehr als die in der Mehrheit in Anspruch genommenen zwei »Vätermonate«, ruft das nicht selten Verwunderung, ja sogar Beifall hervor. Vielleicht haben Sie es selbst schon erlebt, wie positiv väterliches Engagement kommentiert und bewertet wird und wie dasselbe Verhalten von Müttern als ganz natürlich, zumindest selbstverständlich, betrachtet wird: Ein Vater, der sein Baby auf der Straße im Tragetuch trägt? Zauberhaft. Ein Vater, der sein Baby öffentlich wickelt? Sehr engagiert. Eine Mutter, die diese Verhaltensweisen zeigt, wird nicht besonders beachtet, denn es erscheint uns normal. Daniel Eich, der Mann der Astronautin Dr. Insa Thiele-Eich, bekam 2019 den mit 5 000 Euro dotierten Preis »Spitzenvater des Jahres«, weil er ein Jahr Elternzeit nahm, um sich um die drei Kinder zu kümmern, während die Astronautin ihrer Arbeit nachging.6 Warum gibt es für die gegenteilige Aufteilung von Elternzeit und Erwerbstätigkeit keine Preise?

Mutterschaft ist mit Geborgenheit, Häuslichkeit, Liebe und Fürsorge verbunden – in unseren Köpfen, aber auch in den Repräsentationen von Mutterschaft in unserem Alltag, die für die Aufrechterhaltung und Ergänzung dieses bestehenden inneren Bildes weiter sorgen, wie wir später noch sehen werden: Die glückliche, entspannte und gleichzeitig schöne Mutter lächelt uns von Werbetafeln mit Spülmittel in der Hand entgegen, sie umarmt die frisch gewaschenen Kinder, hält Familienmomente mit dem Handy fest und bestellt per App Fotoalben, um ihr Glück zu konservieren. Die Mutter als Hausfrau und »Familienmanagerin« hat sich nicht zuletzt durch den bekannten Werbespot des Haushaltsprodukteherstellers Vorwerk aus dem Jahr 2014 etabliert: »Oder sind Sie nur …?« beginnt der Spot mit der Frage des Personalverantwortlichen nach der vormaligen Hausfrauentätigkeit der Bewerberin, die sogleich durch die Auflistung der vielen einzelnen Tätigkeiten, die die sich bewerbende Mutter im Alltag ausführt und die scheinbar zu verschiedenen Qualifikationen führen, unterbrochen wird.7 Damit wird die Mutter als einzige verantwortliche Person für den Haushalt und die »Nachwuchsförderung« gezeigt. Dabei ist sie natürlich gepflegt und entspricht dem gängigen Schönheitsideal. Ein Werbespot, der den aktuellen Blick auf Mütter in 21 Sekunden zusammenfasst.

Dieses Bild der umsorgenden Mutter ist tief in uns verankert: Passend zu der mütterlichen Nachwuchsförderung der Vorwerk-Mutter gibt es eine Studie zu Familienleitbildern aus dem Jahr 2012: 77 Prozent der Befragten finden, dass Mütter nachmittags Zeit haben sollten, um ihren Kindern beim Lernen zu helfen, und 87 Prozent der Befragten glauben, dass das eine allgemeine gesellschaftliche Annahme ist.8 Mütter »bemuttern« eben – ein vergleichbares Verb für andere Familienangehörige gibt es in unserer Sprache erstaunlicherweise nicht. Und wenn wir Mütter es ein wenig übertreiben, dann »beglucken« wir unsere Kinder. Vermutlich ist es kein Zufall, dass der Frauenfernsehsender Sixx mit der Kernzielgruppe 20- bis 39-jähriger Frauen ein Huhn als Testimonial hat. Auch ein anderes Forschungsergebnis zeigt, dass Frauen prinzipiell eher Erziehungskompetenz zugeschrieben bekommen: Das Internationale Social Survey Program zeigt in einer Umfrage, dass eher zwei Frauen als zwei Männer im Vergleich zu heterosexuellen Elternpaaren als gleich »gute« Eltern betrachtet werden.9 Und auch die Tatsache, dass das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) die »Mutter« als erste Bezugsperson vor dem Vater betrachtet und in nicht verheirateten Elternschaftsverhältnissen der Mutter von Geburt an das alleinige Sorgerecht zuteilt, unterstützt die These, dass Mutterschaft mit Kindererziehung stärker verbunden ist als Vaterschaft.

Sind Mütter also die besseren Kinderversorgerinnen? Wie wir oben gesehen haben, gehen viele Menschen davon aus, dass Kinder von Müttern intuitiver und besser versorgt werden können. Aber auch wenn wir das von allen Seiten erfahren und von klein auf gelernt haben, stimmt das so pauschal nicht. Natürlich können wir Mütter uns unter passenden Rahmenbedingungen um unsere Kinder kümmern, sie umsorgen, lieben und für sie da sein. Aber deswegen sind wir nicht per se die besseren Versorgerinnen, und es ist auch nicht unsere alleinige, naturgegebene Aufgabe. Auch Sabrina musste sich mit Erwartungen an Mutterschaft und Mutterbilder auseinandersetzen: Sie arbeitet als Pastorin und hat keine Elternzeit genommen, sondern sich mit ihrem Mann eine Stelle geteilt und dementsprechend auch die Kinderbegleitung aufgeteilt.

»Einer Mutter sagte ich einmal, es sei für mich so schwer, zu arbeiten, weil ich innerlich doch diesen Wahrheitssatz in mir habe, ein Kind gehöre zu seiner Mutter. ›Ist ja auch so‹, sagte sie nur. Das finde ich eigentlich das Schwerste. Das ewige schlechte Gewissen, nicht genug für mein Kind da zu sein, als würde ich es ›abgeben‹, wenn ich es bei seinem Vater lasse. Allein die Formulierung! Eigentlich lasse ich es nirgendwo. Es ist einfach beim Vater. Fertig. Aber diese Sätze sitzen tief. Ein Kind gehört zu seiner Mutter. Eine gute Hausfrau saugt jede Woche Staub. Eine gute Mutter geht jeden Tag mit ihren Kindern raus. Und auf jeden Fall ist eine gute Mutter die ganze Zeit bei den Kindern und geht nicht egoistischerweise arbeiten.«

Die international bekannte Expertin für Bindung und Beziehung, Professor Lieselotte Ahnert, findet in ihrem Buch Wieviel Mutter braucht ein Kind eine sehr deutliche Antwort auf die Frage, ob Mütter generell besser seien für ihre Kinder: »Mit Ausnahme des Stillens gibt es kaum Hinweise, dass Frauen darauf vorbereitet sind, der befähigtere Elternteil zu werden.«10 Schreit ein Baby, steigen bei Frauen und Männern Herzschlag, Blutdruck und Hauttemperatur an, so Ahnert weiter. »Mütter wie Väter verfügen auch über ein annähernd gleiches intuitives (unbewusstes) Handlungswissen für den Umgang mit Säuglingen.« Die Anthropologin Sarah Blaffer-Hrdy hat ergänzend festgestellt: »Wissenschaftler müssen die hormonellen Veränderungen bei beiden Geschlechtern mit Hilfe unterschiedlicher Bezugswerte bestimmen, und anders als Frauen können Männer nicht auf mit der Schwangerschaft und dem Geburtsvorgang verbundene innere Stimuli reagieren, sondern sind vielmehr auf bislang noch nicht identifizierte sensorische Signale der Mutter oder des Babys angewiesen. Darüber hinaus sind die Schwellen für Reaktionen auf das Wimmern eines Kleinkinds bei frischgebackenen Müttern niedriger als bei den entsprechenden Vätern. Dennoch zeigt sich immer deutlicher, dass eine biologische Anlage für fürsorgliche Verhaltensweisen bei einigen, wenn nicht bei allen Männern vorhanden ist.«11

Wovon Kinder profitieren, sind unterschiedliche Arten der Fürsorge von Eltern: eine Person reguliert mehr die innere Gefühlswelt, die andere mehr das Explorationsverhalten: Ein Elternteil nimmt das Kind bevorzugt hoch, tröstet, streichelt, begleitet durch Wutanfälle, der andere Elternteil regt mehr zum Entdecken an, zur Entfaltung und zum Ausleben der Neugierde. In Studien wird das an Müttern und Vätern festgemacht: Das Bindungshormon Oxytocin wird in gleichem Maße bei Vätern und Müttern ausgeschüttet, es wird nur durch unterschiedliche Interaktionen hervorgerufen: Bei Mutter-Kind-Interaktionen insbesondere durch die Motherese-Sprache, im Augenkontakt und bei positiven Berührungen, bei Vater-Kind-Interaktionen beispielsweise durch körperbetontes Spiel.12 Ob dies aber wirklich am Geschlecht festgemacht werden kann und nicht vielmehr an der kulturellen Prägung, die wir zeit unseres Lebens erfahren, kann bezweifelt werden: »Väter sind weder schlechtere noch bessere Mütter. Sie gehen einfach anders mit ihren Kindern um«, weiß Ahnert dementsprechend. Sie bestätigt damit, was Sabrina – und viele andere Mütter, deren Partner Elternzeit genommen haben – selbst erfahren hat: Väter machen Dinge anders, aber sie sind deswegen keine schlechteren Bezugspersonen.

Betrachten wir die Definition des Vaters, sehen wir, dass auch er den fürsorgenden Anteil der Beziehung zum Kind in sich trägt: »Mann, der in der Rolle eines Vaters ein oder mehrere Kinder versorgt, erzieht.«13 Warum aber werden Männer nicht auch in einer solchen Symbiose mit dem Kind gedacht, wie es bei Müttern der Fall ist? Nur weil sie nicht schwanger sein, nicht gebären und nicht stillen können?

Dennoch kennen wir wahrscheinlich alle auch jenes Szenario: Das Kind ist untröstlich, weil es sich verletzt hat und von der Mutter getröstet werden will. Oder es möchte abends ausschließlich von der Mutter ins Bett gebracht werden und akzeptiert den Vater nicht als Einschlafbegleitung. Schnell könnten wir nun denken: »Ja, Mama ist eben doch nicht ersetzbar«, oder: »Die Mutter hat natürlicherweise bessere Fähigkeiten, das Kind zu beruhigen.« Dieser Gedanke lässt viele Eltern verzweifeln und Gedanken an das Mamakind aufkommen. Die Ursache für das Verhalten liegt aber nicht bei der jeweiligen Mutter- oder Vaterrolle, sondern darin, dass das Kind mit der Zeit eine Vorliebe für diejenige Bindungsperson ausbildet, die die Bedürfnisse besonders häufig und prompt erfüllt – nach dieser Person verlangt es dann insbesondere in schwierigen Situationen und lässt sich weniger leicht von anderen beruhigen.

Wir können die Bevorzugung von Personen in unserer Kultur wie in einer »Bindungspyramide« betrachten: An der Spitze steht die Person, die besonders häufig und zuverlässig tröstet und umsorgt. Hierzulande ist das zumeist die Mutter, aber es kann auch eine andere Person sein, wenn sie sich von Anfang an intensiv eingebracht hat. Hat das Kind Angst oder Stress, fordert es zunächst diese Hauptbindungsperson ein, aber auch andere »rangniedrigere« Bindungspersonen können trösten, wenn sie eine Beziehung zum Kind aufgebaut haben und die Hauptperson nicht anwesend ist.14

Was bedeutet das also in Bezug auf die Frage, ob »nur Mama trösten kann«? Es bedeutet vor allem, dass es wichtig ist, dass der Vater (oder jede andere Elternperson) von Anfang an eine enge Beziehung zum Kind aufbaut, anwesend sein sollte und das Kind auch umsorgt. Es bedeutet auch, dass das Kind vielleicht – verständlicherweise und nachvollziehbar – nach der Mutter verlangt, wenn diese sonst vorwiegend tröstet, dass aber der Vater das Kind auch beruhigen kann – auch wenn es vielleicht anders funktioniert oder länger dauert. Das ist in Ordnung, und wir sollten den Ausbau dieser Trostkompetenz durch den anderen Elternteil voller Vertrauen unterstützen. Letztlich entlastet uns diese Fähigkeit.

Wie bereits erwähnt, ist die Befriedigung der Grundbedürfnisse von Kindern die Voraussetzung dafür, dass sie sich körperlich, geistig und seelisch gut entwickeln können. Es gibt aber kein Grundbedürfnis nach mütterlichem Schutz, nach mütterlicher Nahrung, nach mütterlich unterstütztem Schlaf. Die Erfüllung der Grundbedürfnisse ist von großer Bedeutung, aber sie hängt nicht allein und per se am Geschlecht oder der Rolle der Bezugsperson. Wie es scheint, sind wir Mütter also nicht natürlicherweise die besseren Versorger*innen unserer Kinder. Was nicht bedeutet, dass wir nicht auch gut und wichtig für sie wären oder uns gerne um sie kümmern können. Doch dass wir uns um sie kümmern müssen, nur weil wir Mütter sind oder es unserer Natur oder dem Kern unserer Selbst entspricht, ist wohl ein Mythos, dem wir hier weiter auf die Spur kommen wollen.

Das Mutterbild in uns

»Geboren wird nicht nur das Kind durch die Mutter, sondern auch die Mutter durch das Kind«, schrieb die deutsche Schriftstellerin Gertrud von le Fort so romantisch über den Beginn der Mutterschaft. Ein Zitat, das uns auch heute noch oft begegnet auf Glückwunschkarten zur Geburt, als Quote geteilt auf Facebook oder Instagram. Der Kern dieser Aussage ist nicht ganz falsch, denn erst mit dem Kind erleben wir die Verantwortung, den Alltag, die Umstellung von einem Tag auf den anderen. Aber die Mutter verbirgt sich auch schon vor dem Kind in uns: Es ist ein Bild von Mutterschaft, das im Laufe der eigenen Kindheit, in der späteren Auseinandersetzung mit uns umgebenden Müttern und durch den Einfluss von gesellschaftlichen Leitbildern in uns entstanden ist. Ein Bild, das wir, auch ohne zu gebären, in uns tragen, unabhängig davon, ob wir ein Kind im Wachsen begleiten oder nicht. Dieses innere Bild von Mutterschaft ist nicht an ein Geschlecht gebunden und auch nicht an einen bestimmten Familienstatus. Es sagt uns, wie wir uns eine Mutter vorstellen, und begleitet den eigenen Weg, wenn wir Mutter werden oder sind. Es kann den Wunsch, Mutter zu werden, bestärken oder abschwächen. Es generiert Erwartungen an uns selbst oder an andere Mütter.

Um unser eigenes Mutterbild zu verstehen und gegebenenfalls sogar zu überarbeiten, ist es zunächst wichtig, zu verstehen, wie es sich überhaupt entwickelt hat. Denn wie auch immer sich die Mutterbilder zwischen uns unterscheiden mögen, gibt es doch Gemeinsamkeiten.

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Die Steinzeitmutter: Geschichte falsch interpretiert

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