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Für meinen Freund Roberto Cassan –
auch er dachte als Kind, wie er mir
erzählte, dass der Nordpol direkt hinter
dem Monte Raut liegt.

MARZIO G. MIAN

DIE NEUE
ARKTIS

Der Kampf um den hohen Norden

Aus dem Italienischen von Christine Ammann

Mit Fotos von Nanni Fontana

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Inhalt

General Sommer

Rhapsodie der Rentiere

Archipel Putin

Bildteil von Nanni Fontana

Der weiße Drache

Das Reich der Hyperboreer

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Der Bone Arch am Ufer von Barrow

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Entfernungswegweiser im Zentrum von Barrow

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Auf dem Dach des Hauses von Kapitän Ned Aray

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Schädel eines Karibus

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Skin Boat am Ufer von Barrow, mit dem der erste Wal der Saison erlegt wurde.

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Blick auf Barrow

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Kapitän Ned Aray bei der Zerlegung des ersten Wals der Saison

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Larry Okomailak aus Barrow führt vor, wie das Messer traditionell geputzt wird.

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Haus in Barrow

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Eine Inuit mit klassischem Parka wartet auf den Bus, der für die Alten kostenlos ist.

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Packeis gleich hinter dem Strand von Barrow

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Schneestiefel der Forscher am Barrow Arctic Research Center.

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Likörladen in Nome, wo – im Unterschied zu anderen Städten im Norden von Alaska – noch Alkohol verkauft werden darf.

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In der Nähe von Nome

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Zwei Männer beim Verarbeiten einer frisch erlegten Robbe

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Parabolantenne auf dem Campus der University of Alaska in Fairbanks

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Campus des geophysikalischen Instituts an der University of Alaska in Fairbanks

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Der Flughafen von Nome

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Richard Beneville, Bürgermeister von Nome: Schauspieler und Tänzer aus New York, der wegen seiner Alkoholprobleme vor 40 Jahren nach Alaska geflüchtet ist.

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Schwimmbagger an der Hafenbaustelle von Nome

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Hütte zum Fischetrocknen in der Nähe von Nome

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Eingang zum Museum von Anchorage

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Eskimo-Denkmal im Zentrum von Fairbanks

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Roald-Amundsen-Büste in Nome

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Denkmal in Nome für die Schlittenhundestaffeln, die 1925 ein lebenswichtiges Serum gegen die Diphterieepidemie in 5 Tagen über 1085 km brachten.

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Sonnenuntergang um 23.20 Uhr in Nome

Wird kommen die Zeit,

Wo der Ocean lösen

Wird jede Umzäunung;

Wo die unermeßliche

Welt sich aufthut,

Und ein neuer Tiphys

Welten entdecket,

Die niemand geahnt.

Thule bleibt nimmer

Die Markung der Erde.

Seneca, Medea1

Auch der stärkste Adler kann nicht in die Freiheit über den Sternen fliegen.

Inuit-Weisheit

General Sommer

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Wenn Niels Sakariassen einmal in dem Grab bestattet wird, das er in seinem Gemüsegarten ausgehoben hat, dann hat der Baumgeist gewonnen. Und die Minengiganten haben verloren.

Im Jahr 2009 hatte Niels sein Häuschen gerade fertig gebaut, als die australische Greenland Minerals and Energy (GME) bei Kernbohrungen auf der Kvanefjeld-Hochebene die weltweit größte Lagerstätte für Uran und Seltene Erden entdeckte – die achtzehn chemischen Elemente, die die globalisierte Welt für Supraleiter, Magnete, Handys, Glasfaser- und militärische Hochtechnologie so dringend braucht. Niels’ Haus fällt unter den roten, blauen, gelben und grünen Holzfertighäuschen, die wie zufällig zwischen den Felsen hingestreut sind, auf. Es ist das einzige in Narsaq aus Betonblocksteinen. Es steht am Ortsrand, auf einer Anhöhe, die sanft zum Meer hin abfällt und einen spektakulären Ausblick auf eine der erhabensten, unberührtesten Landschaften unserer Erde bietet. Auf eine Landschaft von unfassbarer, schwindelerregender Schönheit, die mich geradezu verwirrt. Kann das Stendhal-Syndrom etwa auch durch Naturerlebnisse ausgelöst werden? Vielleicht rührt mein Unwohlsein aber auch nur daher, dass sich kein passendes Gefühl für diese Landschaft einstellen will. Der Hang endet an einer Bucht nordöstlich von Narsaq, mit Hunderten von Eisbergen, die sich vom Inlandeis gelöst haben und mit unerbittlicher, sturer Trägheit in den indigoblauen Golf treiben, wo sie sich zu einer Art tiefgefrorenen Megastadt übereinanderschieben: Wolkenkratzer, Fabriken, Minarette und Kathedralen aus Eis. Immer wieder wird die Stille von Dröhnen und Donnern zerrissen: Dann brechen ganze Eiswände ab, die in der Ferne so riesig aussehen wie die Kreidefelsen von Dover oder die Pfeiler von Notre-Dame. Die einstürzenden Klippen lösen kleine Tsunamis aus und bei Tausenden Vögeln einen Sturm der Entrüstung. Dann suchen die gekalbten Eisberge nach einem neuen Gleichgewicht; sie überschlagen sich manchmal oder schwanken stundenlang hin und her. Dabei verändern sie ihre Form; wo das Eis schmilzt, entstehen türkisfarbene und an der Schwimmlinie aquamarinblaue Risse, die vor der grauweißen Wand, die sich über ihnen erhebt, umso stärker leuchten. Schließlich zieht das Gewölk weiter westwärts, Richtung Horizont. In der Dämmerung liegen die Eisberge zartrosa da; der Lichtkranz, der sie umgibt, erzählt vom Leben. Von Vergänglichkeit. Und auch Gewalt. „Grönland!“, rief der Maler Rockwell Kent, als er in einem ähnlichen Eisfjord Schiffbruch erlitt, „mein Gott, wie ist die Welt so schön!“

Niels hat in sein Haus ein besonders großes Fenster eingebaut. Wenn er zu Hause an Walross-Stoßzähnen schnitzt, möchte er den Ausblick genießen. Nördlich der großen Bucht endet die grönländische Eiskappe, als weißer Keil am bergigen Horizont, ein massiges, strahlendes Etwas, ein weißer Lavastrom, der aus einem bröckelnden Krater quillt. Dahinter erstrecken sich Tausende Quadratkilometer Eis: bis zum Nordpol, dem Nabel der Arktis im Reich des Kleinen Bären. „Auch meine Kinder und Kindeskinder sollen hier noch leben können“, sagt Niels. „Es ist ein glückliches Leben voll unbezahlbarer Momente. Kein anderes Leben könnte erfüllter und niemand zufriedener sein als ich.“ Der Blick aus den schmalen Augen verrät, wie sehr er sich nach einer Bestätigung sehnt.

Seit der Klimawandel in Grönland deutlich zu spüren ist, hat Niels schon sechs verschiedene Kartoffelsorten angebaut. Jährlich erntet er bis zu 600 Kilo, genug für Familie und Verwandte. Außerdem pflanzt er Rhabarber, Broccoli und Kohl. Und vor allem kleine Bäume, eine Miniaturbaumschule mit niedrigen Koniferen und Sträuchern aus der Familie der Weidengewächse, wie sie heute hauptsächlich in der amerikanischen Tundra wachsen. Hier in der Gegend wurde der Bestand ab der Zeit um 900 von einer Wikinger-Siedlung geplündert, um fünfhundert Jahre später mit der letzten Glazialzeit ebenso endgültig zu verschwinden wie sie. In Grönland gibt es heute keine Bäume mehr – bislang. Aber er denke vorausschauend, sagt Niels, er könne den Atem des Ortes spüren, mit dem Wind sprechen, das Licht entziffern. „Statt Bauholz aus Dänemark zu importieren, könnten wir selber Bäume anpflanzen, besonders hier im Süden. In zwanzig Jahren könnten wir autonom sein.“ Während er das sagt, läuft er aufgebracht über den abschüssigen, unebenen Boden zwischen seinen Bäumen und streicht über das spärliche Blattwerk, als verabschiede er sich von einer Herde auf dem Weg zur Schlachtbank. Ganz offensichtlich besteht zwischen den Blättern und seinen erdverschmierten Händen eine tiefe, bedrohte Verbundenheit. Nervös, mit hängenden Schultern geht der Inuit vor mir her, dreht sich ab und zu um und blickt mich aufgewühlt an. Seine gutturale Sprache klingt beinah wie ein Röcheln. „Alle denken nur an die Minen und sagen, dass wir nur durch sie schnell von Dänemark unabhängig werden können. Doch wozu, wenn unser Leben dann von den Minenkonzernen diktiert wird, wir Gifte einatmen und unsere Seele verlieren?“

Als Niels von den Minenplänen erfuhr, pflanzte er sofort ein Wäldchen und beschwor die Baumgeister. Das Grün sollte den Blick auf den Kvanefjeld-Berg verstellen, ein schamanischer Ritus, um die drohende Realität, den Beginn der Förderung, zu vertreiben. Und die Bäume haben gehorcht: Steht man hinter den Zweigen, kann man den Berg nicht mehr sehen. Ähnlich verhielten sich die Menschen bei der Belagerung von Sarajewo, als sie es vermieden, zum Jahorina-Gebirge hinaufzuschauen, um nicht von den serbischen Scharfschützen bemerkt zu werden. Wenn man das Böse nicht anblickt, hofften sie, würde es einen übersehen.

Doch die Investitionen und logistischen Vorarbeiten von GME sind gewaltig. So erstreckt sich zwischen Bucht und Talanfang mittlerweile ein vier Fußballfelder großer Hangar, und zudem ist die Regierung in der Liliput-Hauptstadt Nuuk (sechzehntausend Einwohner) entschlossen, den „historischen Schritt zu wagen“. Darum hat Niels die Baumgeister noch bei einer anderen Angelegenheit um Hilfe gebeten. Gemeinsam mit seinen Söhnen machte er ein weiteres handtuchgroßes Gartenstück urbar und hob es drei Meter tief aus. „Wenn ich eines Tages hier begraben werde, habe ich gewonnen und liege in meiner geliebten Erde. Wenn sie aber wirklich mit den Förderarbeiten beginnen, verlassen wir Narsaq – und Grönland. Dann werde ich in der Fremde sterben. Ich kann nicht zusehen, wie unser Planet ausgerechnet von meinem Land weiter vergiftet wird.“ Wie viele andere könnte Niels Narsaq schon bald verlassen, denn die Unterschrift unter den Vertrag scheint so gut wie ausgemacht. Auch, weil die grönländische Regierung GME erlaubte, die Umweltverträglichkeitskriterien mehrfach nachzubessern, um die Genehmigung und Konzessionsvergabe gegenüber einer allerdings ohnehin schwachen Opposition durchzusetzen. Laut Unterlagen der GME, die im September 2018 von der Tageszeitung The West Australian veröffentlicht wurden, hält Grönland die Mine mittlerweile für umweltverträglich: Sie soll 2020 in Betrieb gehen. Die Aussicht auf die Freigabe des Kvanefjeld-Komplexes hat die chinesische Shenghe Resources Holding, selbst bereits ein Gigant beim Abbau Seltener Erden, dazu bewogen, im Sommer 2018 die Mehrheit an der ursprünglich australischen GME zu erwerben, die nun als Greenland Minerals firmiert. Nach den Plänen der Gesellschaft soll an der dann eisfreien Bucht zudem ein Hafen entstehen, von dem aus riesige Schüttgutfrachter mit radioaktiver Ladung in Richtung China auslaufen.

In Narsaq geht es um nicht mehr und nicht weniger als den weltgrößten Uran-Tagebau, ausgerechnet in Grönland, der „letzten Welt“. Doch was in dem malerischen Örtchen passiert, steht für weit mehr. Grönland würde endgültig seine Einzigartigkeit und seine Unschuld verlieren, die es fernab der Menschheitsgeschichte über Jahrmillionen bewahren konnte. Lange war Grönland fast so weit weg wie der Mond. Doch jetzt könnte es zu einem neuen Afrika werden, zum Kongo des Nordens.

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Der Nordpol zieht mit seiner magnetischen Anziehungskraft anscheinend auch die eklatantesten Widersprüche der Moderne an. Einerseits muss dieser Landstrich am teuersten für den Klimawandel bezahlen, andererseits eröffnen sich genau dadurch gigantische Möglichkeiten: neue Eroberungsgebiete, Machtchancen und Seehandelsrouten, ausgefallene Tourismusziele, ambitionierte Erschließungsprojekte, die Wohlstand versprechen, unendliche, noch unergründete Forschungsfelder auf dem Weg zum Fortschritt. Die Folgen der menschlichen Hybris sind hier besonders deutlich zu spüren: Der dramatische Kampf mit dem unvermeidlichen Gegenspieler wird genau hier ausgetragen. Und es geht um viel. Laut United States Geological Survey liegen in der Arktis Öl- und Gasvorräte im Wert von 18 Billionen Dollar, das entspricht der Gesamtwirtschaftsleistung der USA; 40 Prozent aller fossilen Brennstoffe und 30 Prozent aller natürlichen Ressourcen der Welt lagern dort. Aber klimatische Veränderungen, so eine Nature Climate Change-Studie vom März 2017, sind nur zu 30 bis 50 Prozent dafür verantwortlich, dass das Eis dort schmilzt. Den Rest besorgt der Mensch durch den Verbrauch fossiler Brennstoffe. Der Wettlauf um die vom schmelzenden Eis freigelegten Schätze wird mittlerweile mit einer halsbrecherischen Geschwindigkeit ausgetragen. Und das Eis wird immer dünner; es bröckelt, zieht sich zurück und verschwindet.

Das Epizentrum der Vorgänge, die derzeit das Gleichgewicht unserer Erde bedrohen, liegt in Grönland, in Kalaallit Nunaat. Das Land der Kalaallit ist zwei Millionen Quadratkilometer groß, zu 85 Prozent von Inlandeis bedeckt, und seine sechsundfünfzigtausend Einwohner fänden alle in einem größeren Fußballstadion Platz. Es ist das neue Eldorado, verschwindet jedoch immer schneller. „Wenn das Eis bricht, erkennt man, wer Freund und wer Feind ist“, sagte Angu zu mir, ein junger Robbenfänger aus Upernavik, im Nordosten des Landes, wo man jetzt schon im März nicht mehr mit Hundeschlitten fahren kann, weil sich das Packeis in unpassierbaren Morast verwandelt.

Die Arktis, ein Ort nackter, erbarmungsloser Wahrheiten, verrät viel über uns. Sie erzählt von unserer Heuchelei und Überheblichkeit, ist aber auch spektakulärer Schauplatz unseres unaufhaltsamen Eroberungs- und Machtwillens: Die letzte Schlacht unseres langen, leidenschaftlich geführten und blutigen Kriegs gegen die Natur könnte hier geschlagen werden. Doch obwohl sich diese Region doppelt so schnell erwärmt wie die übrige Welt und die zerstörerische Kraft der Erderwärmung sich dort gerade mit voller Wucht entfaltet, hört und liest man davon seltsamerweise wenig. Man sollte eigentlich meinen, dass sich dort alle Ingredienzien für einen spannenden Abenteuerroman über unser Leben auf dieser Erde finden, doch Daten und Fakten dringen nur bruchstückhaft und nebulös zu den Betroffenen durch. Das gab es nicht einmal bei den Punischen Kriegen. Vielleicht hört sich das Ganze zu sehr nach Fantasterei, nach einem Ereignis vom anderen Stern an, scheint zu weit weg, um uns überhaupt etwas anzugehen. Wir haben doch ganz andere Probleme, glauben wir, Probleme direkt vor unserer Haustür wie die Flüchtlinge, die über unser altes, mitgenommenes Mittelmeer kommen. Wieso sollte denn ausgerechnet eine Eiswüste, eine für die Menschheitsgeschichte bislang völlig unerhebliche Fläche am Rande der Welt, eine Landschaft ohne Raum und Zeit plötzlich Geschichte schreiben und die Weltbühne betreten? Und wenn das Nordpolarmeer das neue Mittelmeer wäre, an dem sich das Schicksal entscheidet, mit dem alles steht oder fällt?

Die Arktis ruft, die Erde antwortet. Und umgekehrt. Forscher amerikanischer, britischer, dänischer und norwegischer Universitäten haben, wie sie kürzlich in einer Gemeinschaftspublikation erläuterten, durch Bohrungen in Zentralgrönland jetzt den Umfang der Bleiemissionen bestimmt, die zwischen 1100 v. Chr. und 800 n. Chr. an die Luft abgegeben wurden. Die Spitzenwerte fielen in die Blüteperioden des Römischen Reichs, in die Zeit also, als die für die Geldherstellung erforderlichen Bergwerke und Silberschmieden besonders aktiv waren. Unter Augustus kam es zur Pax Romana, aber auch zur ersten Welle von Schwermetallen in der Atmosphäre.

Jeder Eiswürfel, der in Grönland schmilzt, trifft unsere Zivilisation wie ein Stein, wird zur tödlichen Wassergranate auf Europas Feldern, zum glühenden Staub in unseren Städten und zur Feuersbrunst in unseren Wäldern. Die Arktis ruft, die Ozeane antworten.

Grönland verliert seit 2011 jährlich 375 Milliarden Tonnen Eis – einen Würfel von acht Kilometern Kantenlänge oder 400 Millionen olympische Schwimmbecken. Wenn nur die beiden größten, am stärksten schmelzenden Gletscher im Nordosten, Zachariae Isstrom und Nioghalvfjerdsfjorden, zu Wasser würden, stiegen die Meeresspiegel schon um einen Meter. Wenn ganz Grönland abschmilzt, um acht.

Die größte Insel der Welt besteht aus gefrorenem Süßwasser, dem einzigen Überbleibsel der letzten Eiszeit. Einst war nicht nur Grönland von kilometerhohen Gletschern bedeckt, sondern ein Großteil der nördlichen Erdhalbkugel. Vor zehntausend Jahren schmolz das meiste Eis – in Kanada, Skandinavien, Neuengland und im Norden des amerikanischen Mittelwestens. Nur Grönland blieb bis heute eisbedeckt. Das Land hat die Form einer Schüssel, mit Bergen ringsherum und Innen einem Gefrierschrank voller Eis. Wie es darunter aussieht, ist noch immer ein Rätsel: Grönland ist möglicherweise gar keine Insel, sondern nur eine Inselgruppe, die vom Eis zusammengehalten wird. Vielleicht besteht der Schüsselboden hauptsächlich aus Meerwasser.

Das grönländische Inlandeis hat sich seit hundertfünfzigtausend Jahren Schicht für Schicht durch Schneefall aufgebaut: Unter enormem Druck wird aus Schnee Eis. Wie mir Wissenschaftler einer amerikanischen Klimastation der Gegend erzählten, stammen die Bäche, die ich in der Region Thule mit Jägern durchquerte, von Eis, das beinah bis zur Zeit von Julius Cäsar zurückreicht, als der Norden noch am Ärmelkanal begann. In seiner Mitte ist das Inlandeis über drei Kilometer tief und so schwer, dass sich darunter die Erde verformt hat und das felsige Grundgestein mehrere Tausend Meter in den Erdmantel gedrückt wird. Das Inlandeis beeinflusst durch seine Anziehungskraft die Verteilung der Weltmeere. Doch in den letzten Jahren ist es aus seinem nacheiszeitlichen Winterschlaf erwacht. Zu Weihnachten 2016 war es im abgelegenen, unbewohnten äußersten Nordosten Grönlands leicht über 0 Grad. Und in Mailand 3 Grad minus. Als diese Daten im Überwachungszentrum der NASA in Goddard, Maryland, eingingen, hat man die Wissenschaftler aus ihrem Weihnachtsurlaub geholt und eine Notstandssitzung einberufen. Es galt allerdings weniger zu erklären, als erst einmal zu verstehen. „Ohne den menschengemachten Klimawandel lässt sich dieses Ausnahmeereignis nicht erklären“, sagte Friederike E. L. Otto von der Universität Oxford. Im Jahr 2017 lagen die Arktistemperaturen der warmen Jahreszeit an vierzig Tagen über dem Durchschnitt, 2016 gab es fünfundzwanzig „Ausnahme“-Tage.

Wenn ein Gletscher von der Größe Grönlands schmilzt, macht das alle bisherigen Erkenntnisse zu Makulatur. Das Inlandeis verändert sich auf eine für uns unvorhersehbare Weise, mit bislang noch nie beobachteten Mechanismen, ein Neuland für Glaziologen, Geologen, Ozeanografen und Meteorologen. Wir wissen zwar fast alles über das Ende der Dinosaurier, aber die Verflüssigung einer Insel der Größe von Texas, obwohl von zweihundert Satelliten in Echtzeit und von zigtausend Wissenschaftlern, davon allein viertausend in den USA, genauestens beobachtet, gibt uns Rätsel auf. Die dort wirksamen Mechanismen sind entweder selbsttragend oder werden stets aufs Neue in Gang gesetzt. Einiges weiß man allerdings schon: Wenn sich auf der Eisoberfläche Wasser sammelt, wird mehr Sonnenlicht absorbiert und ergo weiteres Eis abgeschmolzen. Das Eis frisst sich sozusagen selber auf: Wasser dringt ins Inlandeis ein, sucht sich seinen Weg und lässt Strudel und unterirdische Flüsse entstehen, die sich unter den größten, bis zur Küste reichenden Gletschern schließlich ins Meer ergießen. Und je tiefer das Meer, desto leichter kann auch Salzwasser ins Eis eindringen, weil es durch einen „Kamin“-Effekt vom Gletscher angesaugt wird. Je ausgedehnter und dicker das Eis, desto schneller löst es sich also auf. Am Gletscherboden wirkt das Wasser zudem als Schmiermittel, das den Gletscher schneller in Richtung Meer „fließen“ und stärker kalben lässt: Es stürzen immer größere Eisberge ins Meer.

Der Ilulissat-Gletscher war schon immer eine Eisberg-Fabrik und hat wohl auch den Rieseneisberg produziert, mit dem die „Titanic“ im Nordatlantik kollidierte. Zehn Prozent der Masse, die das Inlandeis verliert, gehen heute auf sein Konto. Vor achttausend Jahren erstreckte er sich noch über den gesamten Fjord bis zur Moräne, im gesamten Zeitraum bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zog sich die Kalbungsfront dann um 15 und in den darauffolgenden nur hundertfünfzig Jahren um weitere 20 Kilometer zurück. Aus dem Zurückweichen wurde gegen Ende der 1990er-Jahre schließlich ein blitzartiger Rückzug. Allein von 2001 bis 2006 wanderte die Gletscherfront um 14 Kilometer landeinwärts und hat somit in den letzten fünfzehn Jahren mehr Gelände preisgegeben als im gesamten Jahrhundert davor. Die Fließgeschwindigkeit des Ilulissat-Gletschers hat sich seit den 1990er-Jahre quasi verdreifacht: Im Sommer 2012, dem ersten „Rekordsommer“ seit Beginn der Aufzeichnungen, zog sich der Gletscher Tag für Tag um 45 Meter zurück, ungefähr zwei Meter pro Stunde. Was wir heute beobachten, ist ein Countdown, eine Sanduhr, durch die statt Sand Eis fließt, das zu Wasser wird. Weniger Grönland, dafür mehr Ozean, weniger Weiß, dafür mehr Sonnenenergie, die absorbiert statt reflektiert wird und die Erwärmung noch steigert.

Und wie man auch weiß, verschwinden mit jedem Flecken Grönland gleichzeitig Inseln im Pazifik, Eskimodörfer* in Alaska und Strandhäuser in Florida. Und in den nächsten Jahrzehnten wird die Reihe an Venedig, Miami und New York sein … Doch einige Meeres- und Klimaforscher suchen in dem neuen Süßwassermeer, das nun Teil des globalen Wasserkreislaufs wird, noch nach anderem. Sie erkunden die Region zwischen Ostgrönland und Westspitzbergen mit demselben Abenteuergeist wie die deutschen Archäologen, die auf den Spuren Homers nach den Anfängen der abendländischen Zivilisation gruben. Heute trägt man allerdings Thermoanzüge und wühlt in den Geheimnissen der Meeresströmungen: in dem kreisenden Energiefluss, der Leben in die Meere pumpt und Wind und Wolken bewegt. Auf der italienischen Forschungsstation „Dirigibile Italia“ (Luftschiff Italia) auf Spitzbergen bin ich morgens mit den Forschern zusammen aufgestanden. Ein Duft nach Kaffee, Toastbrot, in einer gusseisernen Pfanne brutzelt der Speck. Draußen tauchen aus dem Dunkel ein paar perlgraue Streifen auf, das Eis des Ny-Alesund-Fjords, des kältesten Fjords Spitzbergens, scheint mattblau herüber. Mit einer Tasse dampfendem Kaffee in der Hand planen die Wissenschaftler ihren Tag. Die Atmosphärenphysiker brechen zum meteorologischen Climate Change Tower auf, die Chemiker zum Gruvebadet-Luftverschmutzungs-Messlabor und die Geologen zur Feldforschung. Die Meeresforscher steigen in ihren Überlebensanzug und machen sich weiter ins Innere des Kongsfjords auf. Die Lufttemperatur dort beträgt durchschnittlich minus 30 Grad. Die Wasseroberfläche ist bitterkalt, mit minus 2 Grad nahe am Gefrierpunkt. Doch nur etwas tiefer liegt eine Schicht, die bis zu 6 Grad warm wird. Erleichtert tauchen die beiden Forscher die Hände ins Wasser. „Eigentlich müsste das warme Wasser oben schwimmen“ erklären sie mir, „weil es normalerweise weniger dicht und darum leichter ist.“ Doch die Dichte hängt auch von den im Wasser gelösten Salzen ab. Das warme Wasser im Kongsfjord, so die Forscher, ist Salzwasser und darum schwerer, das kältere, leichtere Wasser hingegen Süßwasser von den grönländischen Gletschern. Das Gletscherwasser zieht den warmen Westspitzbergenstrom an, der außerhalb des Fjords an der Nordküste Spitzbergens entlangfließt und der nördlichste Ausläufer des Nordatlantikstroms ist, der am Golf von Mexiko beginnt, die europäischen Küsten streift und sich schließlich, eben am Kongsfjord vorbei, in das Nordpolarmeer ergießt. Der Strom wird hier also abgelenkt. Die Gletscherschmelze in Grönland verändert seinen Verlauf, wodurch die Gletscherschmelze wiederum selbst beschleunigt wird.

Wie eine neuere Studie zeigt, so erklärt man mir weiter, verlangsamt sich durch das Süßwasser aus Grönland die Fließgeschwindigkeit des zirkularen Stroms im Südatlantik. Normalerweise steigt das Äquatorwasser an die Oberfläche, kühlt sich ab und kehrt dann in einer Kreisbewegung wieder zurück. Das setzt die atlantische atmosphärische Zirkulation in Gang, die Klima und Landwirtschaft bestimmt. Doch mittlerweile, so die Forscher, ist der Mechanismus ins Straucheln geraten. Die Folge: Dürre und Wüstenbildungen in der Sahelzone von Mauretanien bis zum Sudan, was für die Zukunft Millionen von Klimaflüchtlingen und Migration bedeutet. Doch die Wissenschaftler am Kongsfjord beschäftigt noch ein anderes, ein Tabu-Szenario. Schon seit Jahrmillionen verliert der Golfstrom in der Framstraße, zwischen Spitzbergen und Grönland, an Antrieb und speist in südlicher Richtung den Austausch kalter Gewässer im Atlantik. Das geschieht dank einem Wirbel aus Eis, Wasser und Wind, dem Beaufortwirbel. Wie ein braver Verkehrspolizist reguliert diese arktische Herzkammer westlich von Grönland den Kreislauf der Meere und der Tiefdruckgebiete unserer Erde. Doch die Framstraße ist heute zum Schauplatz einer ungewöhnlichen Begegnung geworden: Westspitzbergenstrom und Ostgrönlandstrom stoßen dort zusammen und lenken so warmes Wasser zu den Gletschern in Südostgrönland. Ein weiterer Hinweis darauf, dass sich der Golfstrom abschwächt und verzweigt. Könnte er gar ganz zum Erliegen kommen?, fragen sich die Forscher. Eine erste Folge für Europa wäre, dass es kein kontinentales Klima mehr gäbe. Auch wenn seriöse Wissenschaftler dies nur ungern sagen: In einem Worst-Case-Szenario wie in dem Film „The Day after Tomorrow“ schwächt sich der Golfstrom, der sich übrigens auch durch Hochdruckwinde entwickelt, so weit ab, dass der Motor der Meeresmaschine und des globalen Klimas, der Beaufortwirbel, zu pumpen aufhört. Das wäre dann das Ende nicht nur der abendländischen Zivilisation.

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Der Geländewagen fährt über eine breite Piste bergaufwärts. Schneeregen, die Wolken hängen tief. In der Ferne, auf einem Felsband, die buckligen Silhouetten von Moschusochsen. Im Radio Meldungen aus Nahost. „Das hier war einmal ein Pfad, den die Leute hochgestiegen sind, um Pilze und Mineralien, vor allem Rubine, zu suchen. Jetzt können hier Lkws fahren, irgendwann werden es zweihundert Fahrten am Tag sein“, sagt Ib Laursen, der charmante dänische Betriebsleiter der Mine. Angesichts der geradezu klischeehaft erbarmungslosen Ödnis, die uns umgibt, wirkt seine entwaffnende Offenheit beinah naiv. So naiv, dass es fast glaubwürdig klingt, als er mit genauso viel Charme sagt, für bestimmte Informationen wie die schlagzeilenträchtige Übernahme von GME durch die chinesische Shenghe Resources Holding sei er nicht der richtige Ansprechpartner. Ib redet sehr behutsam, denn die aufgerissenen Gräben sind tief, er steht mit schweren Bergschuhen auf radioaktivem Fels. Er könnte ebenso gut der joviale Leiter einer Kalksteingrube sein, aber er muss es hier richten, globale Interessen vertreten und kann es kaum erwarten, bis der weltgrößte Uran-Tagebau endlich in Betrieb geht. Als er auf dem Gipfel des Vulkangebildes steht, schaut er sich um. Die Geröllhalden, Überbleibsel jahrelanger Kernbohrungen, bereiten auch ihm ein gewisses Unbehagen: „Manchmal hat man besser keinen Geigerzähler dabei. Wenn man die Anzeige hochspringen sieht, fällt es schwer, die Ruhe zu bewahren.“ Am Talende, in nur sechs Kilometer Entfernung, liegen die bunten Häuschen von Narsaq. Sogar Niels’ Bäume sind zu erkennen. „Die Leute können ja nicht im Museum leben“, sagt Ib. „Es gibt für Grönland keine Alternative. Das Land muss seine Schatzkammern aufschließen. So kann es außerdem beweisen, dass man durch Bergbau nicht zwangsläufig zum Kongo des dritten Jahrtausends wird. Grönland ist ja keine Bananenrepublik, hier gibt es Institutionen, Transparenz. Die Pläne von Greenland Minerals werden von einer neuen unabhängigen wissenschaftlichen und juristischen Körperschaft unter allen erdenklichen Gesichtspunkten geprüft.“ Die Firma hat bereits 70 Millionen Euro in die Erkundung und Präsentation des Minenprojekts gesteckt. Ein komplexes Vorhaben. Im Tal ist ein Dorf für tausend Arbeiter geplant, achthundert ausländische und zweihundert einheimische. Die Bucht soll zum strategischen Arktis-Hafen werden, von dem aus chinesische Schüttgutfrachter die Meeresstraßen zwischen Nord- und Südpol befahren. „Und um es noch einmal deutlich zu sagen“, so Ib, „hier wird kein Uran abgebaut, es geht vor allem um Seltene Erden. Das Uran macht nur zehn Prozent des Gesamtwerts aus. Aber um radioaktiven Müll kommen wir leider nicht herum. Wo gehobelt wird, fallen Späne.“ Er räumt ein, dass China beim Abbau und Handel mit Seltenen Erden schon heute eine weltweite Monopolstellung einnimmt „und zudem als einziges Land ein Verfahren für die chemische Trennung der siebzehn Elemente besitzt, die wir für unsere Elektronik brauchen, zum Beispiel für die auch bei Umweltaktivisten so beliebten Handys“. Mithilfe der in Kvanefjeld abgebauten Mineralien, so Ib, würden schließlich Supermagnete für Windturbinen und Batterien für Hybridautos gebaut. „Grönland muss die globale Erderwärmung also nicht passiv hinnehmen, sondern kann zu einer grünen Technologie beitragen.“ Der Slogan von Greenland Minerals lautet denn auch: Mining for Greenland. Genial, um für eine hochriskante Mine zu werben, die eine Symbolregion der globalen Erderwärmung radioaktiv zu verseuchen droht. Wo soll der Abraum entsorgt werden? Der dänische Manager nimmt sich in Narsaq sehr viel Zeit für mich und ist so offen, dass ich ihn für sein unerschütterliches Festhalten an der Sache des Profits schon fast bewundere. Er hat etwas von Charles Gould aus Joseph Conrads Nostromo: Wie der englische Verwalter der Silbermine von Sulaco besitzt er einen „ansteckenden Glauben“ an die goldene Zukunft von Kvanefjeld. Die Ängste wegen des radioaktiven Mülls seien absurd, erklärt er mir, man werde einen Tunnelkomplex bauen, durch den der Abraum direkt zum Taseq-See auf der Hochebene an einem anderen Fjord befördert werde. „Mindestens hundert Jahre lang wird er 38 Meter tief am Seegrund lagern. Das Radon wird durch das Wasser langsam beseitigt“, garantiert Ib Laursen. „Tief unten bauen wir einen Damm, damit der Abraum nicht von der Strömung herausgespült wird, und den Tagebau besprühen wir mit Wasser, damit kein giftiger Fluorstaub in die Luft gelangt. Hier haben alle Angst um ihre Trinkwasserquellen, um Weiden und Fische. So ein Quatsch. Die Bewohner von Narsaq müssen sich überhaupt keine Sorgen machen, das Trinkwasser ist sicher, die Mine ist sicher. Und Greenland Minerals wird jährlich mehr als 160 Millionen Euro Steuern an Grönland zahlen; das Land muss seine verdammte Schatzkammer endlich aufschließen.“ Ib tritt gegen einen Stein und lächelt gequält in Richtung Berg. Niemand weiß besser als er, auf welch teuflische Weise Uran und Freiheit miteinander verknüpft sind.

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