Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2019

Copyright der Originalausgabe: © 2017, Lannoo Publishers

Die Originalausgabe ist 2017 unter dem Titel Meer dan intelligent. De vele gezichten van hoogbegaafdheid bij jongeren en volwassenen bei Lannoo erschienen.

www.lannoo.com

Übersetzung: Bärbel Jänicke

Coverfoto: © PolaRocket/Photocase, 2019

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2019

ISBN der Printausgabe: ISBN 978-3-95571-784-1

ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-929-6 (EPUB), 978-3-95571-931-9 (PDF), 978-3-95571-930-2 (MOBI).

Vorwort

Mehr als intelligent ist das Ergebnis einer mehr als intensiven Zusammenarbeit in den vergangenen fünf Jahren. Wir haben auf dem Gebiet der Hochbegabung gemeinsam den Schritt von einem kurativen zu einer präventiven Arbeit vollzogen. Denn Hochbegabung verdient nicht nur bei Sorgen und Problemen die nötige Aufmerksamkeit. Sie muss vor allem als eine Möglichkeit verstanden werden, als ein kraftvolles Instrument, das Chancen bietet, nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die ganze Gesellschaft. Eine 20-jährige Praxis und die Erfahrungen mit Tausenden von Hochbegabten, auf die wir zurückblicken können, haben uns tiefer gehende Einblicke in die komplexen Auswirkungen einer Hochbegabung eröffnet. Im Laufe der Jahre haben wir immer mehr Erkenntnisse über die Möglichkeiten und Schwierigkeiten gewonnen, die sich beim Entwickeln und Nutzen des eigenen Potenzials ergeben.

Wir haben uns dem Ziel verschrieben, etwas Positives zur Entwicklung von Menschen mit einer ausgeprägten intellektuellen Begabung beizutragen. Über viele Jahre hinweg haben wir diese Menschen als scharfsinnige Denker sehen, entdecken und erleben können. Wir glauben an ihr Potenzial und wagen zu behaupten, dass in Flandern in den zurückliegenden 20 Jahren schon einiges erreicht wurde, wozu wir mit großer Freude und Genugtuung die ersten Fundamente gelegt haben.

Gemeinsam mit und dank unserem sich ständig erweiternden Team haben wir schon einige Grenzen verschoben. Wir alle genießen es tagtäglich, an diesem bahnbrechenden Werk mitzuarbeiten und freuen uns über die Dankbarkeit, die wir von „unseren“ Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zurückbekommen.

Die Freundschaft und der Respekt, die zwischen uns beiden entstanden sind, sind für uns das Sahnehäubchen auf dem Kuchen. Ohne die unablässige und stimulierende Unterstützung unserer Familien wäre es uns nicht möglich gewesen, die zahllosen Stunden, die zum Schreiben dieses Buches notwendig waren, freizuschaufeln. Ein dickes Dankeschön gilt daher nicht nur unseren Kindern Jules, Louis, France, Sebastian, Lauren und Yenthe, sondern auch unseren liebevollen Ehemännern Peter und Wim. Unser aufrichtiger Dank geht aber vor allem an alle Hochbegabten, die uns die Möglichkeit gaben, sie besser kennenzulernen, sodass wir die neuen Erkenntnisse dieses Buches nun mit unseren Lesern teilen können.

Kathleen und Tessa

Einleitung

Da Sie dieses Buch in Händen halten, möchten Sie offensichtlich mehr über Intelligenz und Hochbegabung wissen. Wie im ersten Kapitel bereits deutlich werden wird, sind beide Begriffe nicht synonym zu setzen. Denn Hochbegabung umfasst viel mehr als bloß Intelligenz. Hochbegabung ist ein komplexes Gefüge unterschiedlicher Faktoren. Sie hat daher viele Gesichter. Zudem geht jeder Einzelne auf seine eigene Art damit um, sodass von der Hochbegabung keine Rede sein kann.

Einsicht in Hochbegabung zu gewinnen, ist daher auch nicht so einfach. Sie werden im ersten Kapitel sehen, dass wir auf diesem Gebiet in den letzten Jahrzehnten einen weiten Weg zurückgelegt haben. Mehr als hundert Jahre hat es gebraucht, um dahin zu kommen, wo wir heute stehen. Glücklicherweise nimmt gegenwärtig weltweit die Einsicht zu, dass intellektuelles Talent zwar angeboren ist, aber auch entwickelt werden muss. Mit anderen Worten: Talent allein ist keine Erfolgsgarantie.

Denken Sie zum Beispiel an den jamaikanischen Sprinter Usain Bolt. Er ist zweifellos sehr talentiert, aber dennoch wird niemand bezweifeln, dass er – physisch wie mental – einiges durchstehen musste, um so viele Jahre auf Topniveau mithalten zu können. Um durchzuhalten und zu siegen, sind psychosoziale Skills unerlässlich. Denken Sie auch an Amy Winehouse, eine junge Frau, die alles mitbrachte, um uns noch viele Jahre mit ihren wunderbaren Songs und vor allem mit ihren starken, selbst geschriebenen Texten zu erfreuen. Ihr Talent war unübersehbar, aber sie besaß nicht die mentale Kraft, damit umzugehen. Zum Glück ging es dem belgischen Radrennfahrer Wout Van Aert anders. In den Tagen vor der Weltmeisterschaft im Cyclocrossrennen konnte er 2017 wegen einer Knieverletzung nicht trainieren. Gemeinsam mit Mathieu van der Poel gehörte er zu den haushohen Favoriten. In einem Interview sagt Wout Van Aert, dass die Verletzung seine Vorbereitungen stark beeinträchtige. Nicht nur auf physischer Ebene, sondern auch mental. Er sei auf ein ganz anderes Szenario eingestellt gewesen. Aber das Wichtigste sei, gut mit der Lage umzugehen. Er vertraue immer noch darauf, dass es gut gehen werde. Das Resultat ist bekannt: Wout Van Aert wurde Weltmeister und Mathieu van der Poel landete auf dem zweiten Platz …

Die Bedeutung mentaler Stärke ist auch bei Hochbegabung kaum zu überschätzen. Im zweiten Kapitel unternehmen wir daher auch einen Exkurs in die Welt des Sports, um zu sehen, was wir von ihr lernen können. Ebenso wie sportliches Talent keine Garantie auf eine Goldmedaille darstellt, führt auch eine Hochbegabung nicht automatisch zu außergewöhnlichen intellektuellen Leistungen. Nicht jeder Hochbegabte ist (oder wird) ein Einstein. Dazu bedarf es unter anderem eines stimulierenden Umfelds: Ohne gute Anleitung und Begleitung ist das Risiko groß, dass das intellektuelle Potenzial eines Hochbegabten nie zur vollen Entfaltung kommen wird.

Vom dritten Kapitel an möchten wir Sie in die konkrete Arbeit einführen, die erforderlich ist, um das vorhandene Potenzial optimal zu nutzen zu. Wir werden Ihnen darlegen, welche Hindernisse, die wir auch „Embodios“ nennen, Hochbegabte in ihrer Entwicklung hemmen können. Wir interpretieren deren Bedeutung und helfen Ihnen herauszufinden, welche Embodios bei Ihnen selbst, Ihrem Sohn oder Ihrer Tochter, Ihren Schülern, Ihrem Chef, Ihren Mitarbeitern oder Kollegen womöglich vorhanden sind.

Das vierte Kapitel widmet sich der Frage, wie ein hochbegabter Mensch selbst zum Erbringen von Leistung steht. Will er selbst etwas leisten oder lehnt er es ab? Zieht er einen Nutzen daraus? Oder verursacht das Erbringen von Leistung so viel Druck und Spannung, dass er es lieber sein lässt?

In den letzten beiden Kapiteln möchten wir Ihnen einige Tipps und Beispiele mitgeben, damit auch Sie Ihr intellektuelles Talent zum Erfolg führen können. Wir hoffen, so unser Ziel erreichen zu können: dass Sie Ihr Potenzial besser nutzen und mehr Freude daran haben. Denn wir sind überzeugt, dass Hochbegabte selbst viel dazu beitragen können und müssen, ihr Potenzial zu entwickeln und es dann auch zu nutzen. Die Opportunity Box of Giftedness, die wir am Ende des Buches (insbesondere in Kapitel 5) vorstellen, kann hierzu ein Leitfaden sein. Nicht nur für Hochbegabte selbst, sondern auch für Eltern, Lehrer und Führungskräfte, die hochbegabte Jugendliche und Erwachsene besser begleiten möchten.

Wie Sie in diesem Buch erfahren werden, gehört zu einer Hochbegabung eine gehörige Portion intellektuelles Potenzial oder Denkvermögen. Das ist ein unglaubliches Geschenk, kann aber zugleich auch ein Hindernis sein. Ein ungeübtes Denktalent verfügt meistens nicht über genügend Skills und mentale Stärke, um sein volles Potenzial tatsächlich auszuschöpfen. Daher besteht die Gefahr, dass ein hochbegabter Mensch die Chancen, die sich ihm bieten, nur in beschränktem Maße zu ergreifen vermag. Wir stellen uns das bildlich wie eine kleine Schachtel vor, in der nur für eine begrenzte Anzahl von Chancen Platz ist. Um diese Schachtel zu erweitern, sind Wachstum, Entwicklung, Übung und Einsicht, was es bedarf, um ein Denktalent zu entwickeln, absolut unabdingbar. Als geübtes Denktalent verfügt man schließlich über eine größere Box of Opportunity, die Chancen mehr Raum bietet. Hierdurch wird man im Laufe seines Lebens zunehmend in der Lage sein, die Gelegenheiten, die sich einem bieten und einen interessieren, tatsächlich zu ergreifen. Man kann sein Denktalent wirklich genießen und nicht nur für sich selbst, sondern in einem weiteren Sinne auch für die ganze Gesellschaft fruchtbar machen!

1. Was ist Hochbegabung?

Viele Menschen empfinden den Begriff „Hochbegabung“ als problematisch, das bekommen wir tagtäglich mit. Einige, die zunächst nur zögernd den Weg in unser Schulungszentrum fanden, stellen nach einer Weile oft erleichtert fest, dass hochbegabt sein ganz anders ist, als sie eigentlich dachten. In der Hoffnung, die zahlreichen über dieses Thema bestehenden Missverständnisse auszuräumen, halten wir es daher für wichtig, kurz darauf einzugehen, was derzeit über Hochbegabung bekannt ist. Wir beginnen damit, die wissenschaftliche Entwicklung des Denkens über das Thema Intelligenz und Begabung zu skizzieren, um anschließend zu der Frage überzuleiten, was es bedeutet, hochbegabt zu sein.

Wenn Sie sich schon intensiver in das Thema Hochbegabung eingelesen und beispielsweise das Buch Hoogbegaafd. Als je Kind (g)een Einstein is1 (Kieboom, 2015) kennen oder unsere Vorträge besucht haben, wird Ihnen dieses erste Kapitel wahrscheinlich nicht wirklich viel Neues bieten, auch wenn wir darin neben Fällen von Kindern und Jugendlichen auch Fälle von Erwachsenen aufgenommen haben. Wenn Sie also schon sehr gut darüber informiert sind, was Hochbegabung kennzeichnet, und keiner Auffrischung bedürfen, schlagen wir Ihnen vor, gleich mit dem zweiten Kapitel zu beginnen. Für Leser, die sich noch nicht oder kaum über Hochbegabung informiert haben, ist die Lektüre des ersten Kapitels unbedingt zu empfehlen, da wir in unserem Buch immer wieder auf die wesentlichen Aspekte von Hochbegabung, die wir hier schildern, zurückkommen werden.

1.1 Wie die wissenschaftliche Betrachtung von Intelligenz begann

Wir können heute auf mehr als hundert Jahre wissenschaftlicher Erkenntnisse dazu zurückblicken, was Begabung genau auszeichnet. Vor 1900 nannte man einen Menschen, der den damaligen Normen des Zeitgeistes nach ungewöhnliche intellektuelle Leistungen erbrachte, ein „Genie“. Genialität galt jedoch schon bald als Synonym für ein seltsames, krankhaftes Verhalten, sodass der Begriff in Ungnade fiel.

Kaufmann und Sternberg (2008) beschreiben vier Phasen in der Betrachtung von Hochbegabung. Diese reichen von (i) einer statischen Intelligenz über (ii) unterschiedliche Bereiche der Intelligenz und (iii) der Einsicht, dass unterschiedliche zusammenwirkende Faktoren von Bedeutung sind, bis zu (iv) der Erkenntnis, dass Hochbegabung eine Entwicklung durchlaufen muss, um sich voll zu entfalten. Jede dieser Phasen umfasst andere, oft ergänzende Elemente.

1.1.1 Der G-Faktor

Es war Charles Spearman, der 1904 den sogenannten G-Faktor beschrieb, wobei „G“ für „generelle“ bzw. allgemeine Intelligenz steht. Begabung wird zu dieser Zeit als ein eindimensionaler, erblicher und angeborener Faktor betrachtet. Im selben Jahr wurde in Frankreich die Schulpflicht eingeführt, jedes Kind musste von da an zur Schule gehen. Um das Lernniveau jedes Kindes besser einschätzen zu können, entwickelten Alfred Binet und Theodore Simon 1916 einen Test, in dem Kinder Probleme lösen mussten, die Fertigkeiten erforderten, über die sie in unterschiedlichen Altersstufen verfügen sollten (Schrover, 2015). Der Test vermittelte kein Bild der angeborenen Intelligenz des Kindes, sondern ein Bild der Leistungen, die ein Kind in einem bestimmten Alter erbringen konnte. Binet und Simon arbeiteten mit Durchschnittswerten, sodass sie einen Vergleich zwischen dem mentalen Alter des Kindes (dem Leistungsniveau des Kindes) und seinem kalendarischen Alter ziehen konnten. Einfacher gesagt: Ein Kind kann sechs Jahre alt sein, aber schon über Fertigkeiten verfügen, die man von einem älteren Kind erwartet. Der Unterschied zwischen dem mentalen und dem kalendarischen Alter des Kindes bildet die Grundlage für den Intelligenzquotienten (IQ). Dieser Maßstab wurde in die späteren Modelle zur Hochbegabung aufgenommen.

1.1.2 Intelligenz zeigt sich in unterschiedlichen Bereichen

Anfangs waren (Hoch-)Begabung, Intelligenz und außergewöhnliche Leistungen also unauflöslich miteinander verbunden. Allmählich gab man diesen eindimensionalen Ansatz auf, und es entstand eine differenziertere Vorstellung von Hochbegabung und Intelligenz (Van Gerven, 2016). Einer der wichtigsten Umschwünge bei der Betrachtung von Begabung wurde durch die Langzeitstudie von Lewis Terman (1925; 1959) angestoßen. In dieser Studie untersuchte er mehr als 1500 hochbegabte Kinder (mit einem IQ über 140) über ihr ganzes Leben hinweg. Zu Anfang der Studie wurden diese Kinder als „Wunderkinder“ betrachtet. Man erwartete, dass sie innerhalb der Gesellschaft aufsteigen würden. Doch das bewahrheitete sich ganz und gar nicht. Die Probanden kamen im Laufe ihres Lebens jedoch gut zurecht und waren mit ihrer Arbeit, ihrem Gehalt und oft auch mit ihren Beziehungen eher zufrieden. Außerdem waren sie mit ihrem Leben und ihrer Gesundheit im Durchschnitt glücklicher als der Durchschnittsamerikaner. Aber außergewöhnliche Leistungen erbrachten sie nicht (Schrover, 2015). Daher stellte sich schon bald die Frage, ob zum Erbringen großer Leistungen nicht mehr nötig sei als Intelligenz.

1983 stellte Howard Gardner sein Modell der multiplen Intelligenzen vor, in dem er unterschiedliche Bereiche unterschied, in denen ein Mensch über Stärken verfügen kann. Diese Bereiche betrachtete Gardner als unabhängig voneinander; man konnte in einem oder mehreren Bereichen hoch oder niedriger punkten. Diese Theorie der multiplen Intelligenzen umfasst mittlerweile bereits zehn Bereiche: sprachliche Intelligenz, logisch-mathematische Intelligenz, bildlich-räumliche Intelligenz (räumliches Auffassungsvermögen), körperlich-motorische Intelligenz, musikalisch-rhythmische Intelligenz, intrapersonelle Intelligenz (wie geht man mit sich selbst um), interpersonale (wie geht man mit anderen um), klassifizierende und ordnende Intelligenz, ethische Intelligenz und biologische Intelligenz. Der Einfluss, der von dieser Theorie ausging, ist beträchtlich: Intelligenz wird heute auf eine viel differenziertere Weise betrachtet. Denken Sie nur daran, wie heute zwischen mathematisch und sprachlich begabten Kindern unterschieden und im schulischen Bereich entsprechend differenziert wird. Eine derartige Interpretation der Begabung von Kindern geht also auf Gardner zurück.

1.1.3 Hochbegabung ist mehr als Intelligenz

Neben Gardner gibt es in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts noch andere Wissenschaftler, die Hochbegabung als Forschungsgebiet beleuchten. Joseph Renzulli stellt 1977 sein triadisches Modell vor, in dem Intelligenz nicht mehr als alleiniger Erklärungsfaktor für Hochbegabung angeführt wird. Er beschreibt Hochbegabung als ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren wie Intelligenz, Motivation und Kreativität.

Kreativität ist bei Renzulli ein sehr wichtiger Faktor, und Simonton (2009) zufolge kann sie möglicherweise erklären, warum die „Termiten“ (wie die Teilnehmer an Van Termans Studie mit der Zeit genannt wurden) in ihrem späteren Leben nicht die erwarteten Leistungen erbracht haben. Die Kinder, die an der Studie teilnahmen, wurden vorwiegend von ihren Lehrern ausgewählt. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass diese vor allem Schüler und Schülerinnen benannt haben, die gute schulische Leistungen aufwiesen. Kreativen Geistern sagt man hingegen oft nach, dass sie nicht immer den geraden Weg gehen, in ihrem Verhalten schwierig sein können und sich am Unterricht nur sporadisch intensiv beteiligen. Sie gehören sicherlich nicht durchgängig zu den Klassenbesten. Daher sind Schüler mit diesem Profil möglicherweise gar nicht oder in geringerer Zahl in Termans Studie aufgenommen worden.

Neben Kreativität ist auch Motivation zur Entfaltung von Hochbegabung unentbehrlich. Der australische Professor Andrew Martin (2008) charakterisiert Motivation als die Energie und den Antrieb, der notwendig ist, um sich für etwas zu engagieren, um zu lernen, effektiv zu arbeiten und seine Möglichkeiten leistungsmäßig auszuschöpfen. Man ist sich weitgehend darüber einig, dass Motivation den Unterschied zwischen Potenzial und Leistung ausmacht (Hoogeveen, 2016), mit anderen Worten: zwischen Können und wirklichem Tun.

1.1.4 Hochbegabung kann sich entwickeln

Eine weitere bedeutsame neuere Erkenntnis liegt darin, dass man nicht als hochbegabter Mensch zur Welt kommt. Hochbegabung ist etwas, das sich entfalten muss. Wissenschaftler, die für diese wichtige Erkenntnis eine Vorreiterrolle gespielt haben, sind Franz Mönks und François Gagné. In ihren Modellen betrachten sie Hochbegabung nicht als ein statisches Faktum, sondern als ein dynamisches Konzept (vgl. Abbildung 1.1). Hochbegabung lässt sich also entwickeln. Das Umfeld spielt hierbei eine wichtige Rolle.

Seit Beginn des 21. Jahrhunderts nimmt das Umfeld im Denken über Hochbegabung einen prominenten Platz ein. Denken Sie nur an die Fortbildungen für Eltern, die wir bei Exentra, dem Zentrum für Hochbegabung in Antwerpen, anbieten, oder die Lerninterventionen, die immer mehr Schulen einsetzen, um starke und hochbegabte Schüler zu fördern. Darüber hinaus ist auch die Bedeutung des Kontakts mit Jugendlichen auf gleichem Entwicklungsniveau immer stärker herausgearbeitet worden (Neihart, 2008). Im letzten Kapitel werden wir auf diesen wichtigen Faktor detaillierter eingehen.

Abbildung 1.1: Das Multifaktorenmodell von Mönks (2012), in dem sowohl die Familie als auch die Schule und die Gleichaltrigen (Entwicklungsgleiche) einen Einfluss ausüben

1.1.5 Talent muss man coachen

In diesem einleitenden Kapitel möchten wir auch auf die Forschungsergebnisse von Maureen Neihart (2002; 2008) und Rena Subotnik (2014) hinweisen. Sie besagen, dass hochbegabte Kinder, Jugendliche und Erwachsene ein Coaching ihrer intellektuellen Begabung brauchen. In ihrer Argumentation werfen sie dazu einen Seitenblick auf sportliche und musikalische Talente. Diese benötigen nicht nur intensives sportliches Training oder eingehenden Musikunterricht, sondern müssen auch begleitet werden, damit sie mit den spezifischen, mit dem Erbringen von Spitzenleistungen einhergehenden Problemen umzugehen lernen. Denn sie müssen stressresistent sein, wissen, wie sie mit dem Druck, etwas leisten zu „müssen“, umgehen, und lernen, vor großem Publikum Ruhe zu bewahren … Auch intellektuell begabte Menschen bedürfen eines mentalen Coachings und entsprechender psychosozialer Skills, um die Herausforderungen zu meistern, die ihre Hochbegabung mit sich bringt. Nur dann werden sie ihr Potenzial voll ausschöpfen können. Dazu möchten wir mit diesem Buch einen wesentlichen Beitrag leisten.

1.2 Mehr als ein magischer IQ-Wert

Bei Exentra bauen wir einen Ansatz aus, der nicht nur auf den schon erwähnten und in ständiger Fortentwicklung begriffenen wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht, sondern auch auf der Expertise, die wir in jahrelanger Praxiserfahrung mit Tausenden hochbegabten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen erworben haben. Dabei drängt sich uns die Frage auf, was es bedeutet, hochbegabt zu sein. Wir erleben immer wieder, dass wir der Hochbegabung nicht gerecht werden, wenn wir sie nur von einem kognitiven Standpunkt aus betrachten.

In den vergangenen zwanzig Jahren kreuzten Tausende Hochbegabte unseren Weg. Wenn uns dabei eines deutlich geworden ist, dann ist es die Tatsache, dass sich Hochbegabung unmöglich durch eine Zahl ausdrücken lässt. Hochbegabung wirkt sich schließlich auch unverkennbar auf das Sein eines Menschen aus. Diese „Seinskomponente“ nimmt daher in unserem Denken zum Thema Hochbegabung einen ihrer Bedeutung gebührenden Raum ein. Und das gilt nicht nur für uns: Eine zunehmende Anzahl von Menschen nimmt diese „Seinskomponente“ als das fehlende Puzzlestück wahr. Was vor allem daran liegt, dass sie ihre Bedeutung in der Praxis ständig unter Beweis stellt.

Die Seinskomponente beschreibt einerseits Charakteristika, die Menschen, die am Leben Hochbegabter teilhaben (wie Eltern, Lehrern, Führungskräften, Kollegen), mehr Einsicht in deren Denken und Handeln vermitteln können. Andererseits ist die Seinskomponente auch den Hochbegabten selbst eine Hilfe, um sich besser kennenzulernen und die Unterschiede zu anderen, die sie manchmal verspüren, besser einordnen können. In dem oben bereits genannten Buch Hoogbegaafd. Als je Kind (g)een Einstein is gehen wir ausführlich auf die Seinskomponente ein. Das Buch wurde in den Niederlanden mittlerweile mehr als 25.000 Mal verkauft, und noch immer lassen uns Menschen wissen, wie gut sie sich in der Beschreibung der Seinskomponente getroffen fühlen. Für diejenigen, die das Buch nicht gelesen haben, gehen wir kurz darauf ein.

Wie erwähnt, entfaltete sich die Seinskomponente für uns immer deutlicher, je intensiver wir uns in die Frage vertieften, was es nun genau bedeutet, hochbegabt zu sein. Was sollen wir uns unter einem IQ von 130 oder mehr vorstellen? Das scheint gelegentlich eine fast magische Zahl oder ein ultimativ erstrebenswertes Ziel zu sein: Es hängt entsetzlich viel von ihr ab, aber es ist alles in allem schwierig, etwas Inhaltliches damit zu verbinden. Lassen Sie uns daher kurz auf die Normalverteilung der Intelligenz eingehen (Abbildung 1.2).

Abbildung 1.2: Normalverteilung der Intelligenz

Auf der Gaußkurve, die in Abbildung 1.2 dargestellt ist, gilt ein IQ von 100 mit einer Bandbreite zwischen 85 und 115, wie ihn die Mehrheit der Bevölkerung hat, als durchschnittlich. Stellen Sie sich nun aber einmal vor, dass Sie mit einem Gesprächspartner mit einem IQ von 62 ein Gespräch über die „Formen des Terrors im Laufe der Jahrhunderte“ führen würden. Ihnen ist sofort klar, dass das ein sehr kurzes Gespräch sein wird, um nicht zu sagen, dass von einem Gespräch eigentlich gar nicht die Rede sein kann. Aufgrund der geistigen Begrenztheit dieser Person ist es nicht möglich, dieses Thema mit ihr inhaltlich zu besprechen. Stellen Sie sich nun weiterhin vor, sie würden dasselbe Thema im Gespräch mit einer durchschnittlich intelligenten Person anschneiden. Zweifellos verliefe das Gespräch dann wesentlich reibungsloser und es wäre um einiges intensiver. Sie würden feststellen, dass sich diese Person tatsächlich des Ernstes eines Themas wie Terror bewusst ist. Beginnen Sie ein solches Gespräch jedoch mit einer Person mit einem IQ von 138 – also mit derselben Abweichung von 100 wie bei der ersten Person, nun allerdings in die andere Richtung –, werden sie gewiss in ein anregendes und möglicherweise tiefgehendes Gespräch verwickelt. Sie werden innerhalb kürzester Zeit über reale Terrorgefahren sprechen, über historische Ereignisse, die bei näherer Betrachtung möglicherweise auch einen terroristischen Hintergrund hatten, über die langfristige und kurzfristige Entwicklung in Sachen Terror, über die Risiken dauerhafter Traumata bei Menschen, die unmittelbar mit Terror konfrontiert wurden, und darüber, was Terror und die dadurch möglicherweise hervorgerufene Angst bei uns als Menschen anrichten. Kurzum, die Wahrscheinlichkeit, dass man ein Buch mit den Fragen, Sorgen, Bedenken und möglichen Lösungen für das gestellte Problem füllen könnte, ist groß.

Dass das Bewusstsein beschränkter ist, je geringer die Intelligenz ist, versteht sich von selbst und ist nichts Neues. Dass das in umgekehrter Richtung auch seinen Effekt hat, bedenken wir allerdings viel weniger. Doch das Bewusstsein verstärkt sich durchaus mit zunehmender Intelligenz. Gerade dieses verstärkte Bewusstsein wirkt sich auf die Seinskomponente der Hochbegabung aus.

Tom (22) nahm an einem Mental-Coaching-Programm teil, das auf hochbegabte Studierende zugeschnitten war. Er gibt an, nach den Ausführungen zum verstärkten Bewusstsein erleichtert gewesen zu sein. „Ich habe ziemlich viele gute Freunde“, erzählt er uns, „mit denen ich mich gut verstehe und mit denen ich auch gerne etwas unternehme oder ein Bier trinken gehe, aber hin und wieder kriselt es zwischen uns. Ich kann mich nämlich nur selten mit ihnen über etwas unterhalten, was mich fesselt und wirklich interessiert. Ich kann stundenlang über die französische oder amerikanische Politik, über die Entwicklung der Politik in den letzten Jahren und deren möglichen Folgen für unsere Gesellschaft reden. Doch während ich mich Stunden damit befassen kann, ist für die anderen nach fünf Minuten alles darüber gesagt.“

Tine (15) nimmt schon längere Zeit jede Woche an einem Programm für hochbegabte Jugendliche bei Exentra teil. Freitags geht sie nicht zur Schule, sondern arbeitet bei uns gemeinsam mit anderen Jugendlichen. Tine ist der Meinung, hochbegabt zu sein habe eine Menge angenehmer Seiten. So braucht sie beispielsweise weniger für die Schule zu lernen und hat trotzdem gute Noten. Sie kann sich gut in Menschen einfühlen und weiß auch, was sie sagen kann, um eine ganze Gruppe für sich zu gewinnen. „Aber manchmal ist das für mich auch sehr schwierig“, erzählt sie, „weil ich mich so einsam fühle. Ich weiß erst seit einigen Monaten, dass ich hochbegabt bin, aber ich habe mich immer schon anders als die anderen gefühlt, obwohl ich viele Freunde habe und sehr gesellig sein kann. Doch wenn ich einmal wirklich über etwas reden und auf Dinge tiefer eingehen will, sagen meine Freunde so etwas wie: ‚Darüber hast du sicherlich schon wieder länger nachgedacht?‘ Und sie bitten mich, damit aufzuhören, weil es sie nicht interessiert. Sie finden auch, dass ich mir einfach immer über Dinge Sorgen mache, die eigentlich kein Grund zur Sorge sind. Während der Präsidentschaftswahlen in den USA wollte ich mit ihnen darüber reden, wie wahrscheinlich es ist, dass Donald Trump Präsident wird, und welche Konsequenzen das haben könnte, aber ihre Reaktion darauf war, dass es sich nicht lohne, sich damit zu beschäftigen, denn das sei von uns viel zu weit weg, und mögliche Probleme würden sich doch von selbst lösen.“ Tine hat immer wieder Schwierigkeiten mit solchen Situationen und regt sich auch oft darüber auf. „Ich versuche zu verstehen, dass es sie nicht interessiert, das finde ich eigentlich nicht einmal so schlimm, aber das Argument, dass es uns nichts angeht, ist falsch. Die Kurzsichtigkeit meiner Freunde gibt mir manchmal das Gefühl, völlig einsam zu sein, und macht mich oft unglücklich, weil ich mich in meinem tiefsten Inneren unverstanden fühle.“

Sowohl Tom als auch Tine beschreiben das verstärkte Bewusstsein von hochbegabten Menschen. Es sorgt auch dafür, dass eine Reihe von Persönlichkeitsmerkmalen stärker hervortritt. Es sind genau die Charakteristika, die wir in der sogenannten Seinskomponente der Hochbegabung (Abbildung 1.3) zusammengefasst haben und die wir auch als den wahren Kern einer Hochbegabung betrachten.

Abbildung 1.3: Das kognitive Modell und das Modell der Seinskomponente der Begabung

Die Seinskomponente besteht aus vier bemerkenswerten Eigenschaften, die das Leben und Handeln hochbegabter oder intellektuell talentierter Menschen zu einem wesentlichen Teil prägen: Sie verfügen über ein starkes Gerechtigkeitsgefühl, sie sind sensibel, sie sind ausgesprochen kritisch eingestellt und legen (unbewusst) von Natur aus für sich und / oder ihre Umgebung die Latte besonders hoch.

Gerade weil Hochbegabte über ein deutlich höheres Bewusstseinsniveau verfügen, bestimmt dieses mit, wie hoch sie die Messlatte legen, wie stark ihr Gerechtigkeitsgefühl ist und in welchem Maße sie kritisch oder sensibel eingestellt sind. Mit anderen Worten, mit dem verstärkten Bewusstsein stoßen wir in das absolute Zentrum der Hochbegabung vor.

1.2.1 Ein starkes Gerechtigkeitsgefühl

Ein erstes augenfälliges Merkmal, das die Seinskomponente der Hochbegabung kennzeichnet, ist ein stark ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl. Bei Hochbegabten ist das schon von klein auf gut erkennbar. Es gibt Kinder, die sehr darauf achten, was fair ist und was nicht, was verabredet wurde und was nicht, was versprochen wurde und was nicht, und die daher Erwachsene ziemlich oft kritisch hinterfragen oder wegen ihres Handelns zur Rede stellen: „Hält sich dieser Erwachsene eigentlich selbst an die Regeln, die mir auferlegt werden?“ ist eine Überlegung, die viele hochbegabte Kinder gegenüber ihren Eltern oder Lehrern anstellen. Was ihrem Gerechtigkeitsgefühl auch oft zuwiderläuft, ist die Gepflogenheit, in der Hitze eines Streits oder einer Diskussion schnell eine neue Regel aus dem Hut zu ziehen. Ein hochbegabtes Kind wird bis in das kleinste Detail wissen wollen, warum man eine neue Regel einführt oder eine andere Absprache trifft; und wenn man keine abschließende Erklärung dafür hat, wird es sich damit nicht zufriedengeben. Fairness und Authentizität stehen bei Hochbegabten hoch im Kurs. Wenn sie diese Eigenschaften bei ihren Mitmenschen wahrnehmen oder spüren, lassen sie sich voll und ganz auf sie ein.

Auch bei hochbegabten Erwachsenen bleibt dieses starke Gerechtigkeitsgefühl in hohem Maße erhalten. Vereinbarungen sind ihnen heilig, aber auch was Normen und Werte angeht, sind sie sehr empfindlich, sie müssen das Gefühl haben, hinter den Normen und Werten einer Person stehen zu können, um wirklich eine Verbindung zu ihr aufzubauen. Das kann am Arbeitsplatz zu Problemen führen.

Ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl ist sicherlich eine vortreffliche Eigenschaft, solange es dem eigenen Funktionieren nicht im Wege steht.

Anton (38): „Ich weiß, dass ich eigentlich eine höhere Position als meine jetzige bekleiden könnte, aber auf einer bestimmten Organisationsebene wird man mit politischen Spielchen konfrontiert. Plötzlich geht es nicht mehr in erster Linie um den Inhalt, sondern um Networking und Socialising. Darum, sich selbst gut zu verkaufen und dafür zu sorgen, dass man überall wohlgelitten ist. Das fällt mir sehr schwer. Ich bin der Meinung, dass kompetente Mitarbeiter die Möglichkeit haben sollten aufzusteigen, und nicht diejenigen, die einfach sehr geschickt diese politischen Spielchen mitspielen. Nur Kompetenz kann ein Unternehmen weiterbringen und dafür sorgen, dass es auch langfristig erfolgreich bleibt. Wenn ich sehe, dass manche Kollegen immer zuerst an ihren persönlichen Gewinn denken, dreht sich mir buchstäblich der Magen um. Ehrlich gesagt, halte ich mich darin auch für ziemlich naiv: Ich würde mich immer für die Option einsetzen, die für das Unternehmen am günstigsten ist, ich kann einfach nicht anders. Natürlich hadere ich damit. Wenn ich klüger taktieren würde, wäre ich schon längst auf einer höheren Position. Aber ich finde es wichtiger, mir im Spiegel selbst in die Augen schauen zu können.“

1.2.2 Eine kritische Einstellung

Ein zweites Element, das die Seinskomponente Hochbegabter kennzeichnet, ist eine kritische Einstellung. Aufgrund ihres großen Denkvermögens und ihrer Fähigkeit, komplexe Situationen schnell zu durchschauen, können hochbegabte Menschen Lücken erkennen und auch Möglichkeiten aufspüren. Ihr äußerst ausgeprägtes Wahrnehmungsvermögen erlaubt es ihnen oft, – in der Regel mit den besten Absichten – messerscharfe Analysen zu formulieren. Warum sollen wir diesen Weg gehen, ist jene Richtung nicht interessanter? Warum seht ihr das so? Gibt es keine anderen Möglichkeiten? Habt ihr schon daran gedacht, dass …? Wie positiv und aufbauend diese kritische Einstellung ihrer Natur nach auch ist, sie hat ihre Schattenseite. Wer eine kritische Haltung an den Tag legt, wird von anderen oft als besserwisserisch und arrogant oder sogar als ernsthafte Bedrohung wahrgenommen.

Michèle (29): „Meine Kollegen empfinden mich oft als Bedrohung. Für mich ist das unbegreiflich, ich will das Wissen, das ich habe, gerne mit ihnen teilen, damit wir gemeinsam besser werden. Wenn ich eine Idee habe, äußere ich sie. Aber entweder kopieren sie sie einfach oder sie verstehen sie nicht und reagieren mit Ablehnung darauf.“

Menschen, die diesen kritischen Blick schätzen, werden ihn als sehr ehrlich und authentisch empfinden. In diesem Fall kann die Zusammenarbeit fruchtbar sein.

Andreas (17) bekommt in seinem ersten Jahr an der Universität hervorragende Noten. Er studiert Tiermedizin und hat ein großes Faible für die Pathologie. Von dem Professor, der dieses Fach unterrichtet, hält er große Stücke. Bei jeder seiner Vorlesungen hängt Andreas förmlich an seinen Lippen und saugt alles, was er vorträgt, auf wie ein Schwamm. Der Dozent führt jedes neue Element mit einem klinischen Beispiel ein, das als Bezugspunkt dient, woraufhin Andreas begierig alle möglichen Fragen stellt. Außerhalb der Vorlesung versucht er beim Lernen für dieses Thema Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Krankheitsbildern auszumachen und nach möglichen Erklärungen für die Beispiele zu suchen, die der Dozent in der Vorlesung angeführt und interpretiert hat. Andreas weist seinen Professor auf Lücken hin, die er erkannt zu haben glaubt, und dieser findet das fantastisch. Nie zuvor habe er einen so interessierten und motivierten Studenten gehabt, sagt er, und er sei überaus dankbar, denn durch die Fragen, die ihm Andreas stellt, und die Bemerkungen, die er macht, gewinne er auch selbst noch mehr und neue Einsichten in sein eigenes Fachgebiet.

1.2.3 Hohe Sensibilität

Ein drittes Element, das zur Seinskomponente der Hochbegabung gehört, ist eine ausgeprägte Sensibilität.2 Diese Sensibilität infolge des Hochbegabtseins zeigt sich vor allem in zwei Bereichen. Einerseits machen sich intellektuell begabte Menschen oft Sorgen. Ihr verstärktes Bewusstsein führt dazu, dass sie potenzielle Probleme und mögliche Gefahren intensiver wahrnehmen. Andererseits sind sie auch sehr sensibel für „die Botschaft hinter der Botschaft“. Sie spüren sofort, wenn es zwischen Menschen oder in bestimmten Situationen an Aufrichtigkeit und Authentizität mangelt. Wenn sie Menschen begegnen, die etwas anderes sagen, als sie eigentlich denken oder fühlen, empfinden sie das als einen enormen Vertrauensbruch. Zum Glück gilt aber auch das Umgekehrte. In einem Umfeld, in dem sie viel aufbauendes und aufrichtiges Feedback und viele Zeichen der Ermutigung erhalten, wächst ihre Loyalität zusehends und sie entwickeln eine unbändige Energie. Hochbegabte erleben das als bereichernd und inspirierend und scheuen sich nicht, sich ganz offen und mit Inbrunst für eine Sache einzusetzen.

Leider wirkt sich ein Umfeld, dessen Einflüsse und Atmosphäre sie als sehr negativ erfahren, ebenfalls stark auf ihr Handeln und Denken aus. Es kann sie unverkennbar lähmen, wodurch die Wahrscheinlichkeit, dass sie resignieren, sehr groß ist, selbst wenn sie ihre Arbeit oder die Aufgabe an sich als überaus inspirierend empfinden.

Hanne (35): „Es hat mich einige Mühe gekostet, aber nun habe ich endlich das Gefühl, dass ich in dem Job, den ich mache, den Bogen raushabe. Ich bin für das Sekretariat einer Gemeinschaftspraxis von drei Gynäkologen verantwortlich. Ich habe viel zu tun, aber es macht auch viel Spaß, vor allem, weil ich merke, dass ,meine‘ Gynäkologen mir mit den Jahren wirklich vertrauen und mich schätzen. Als Sekretärin hatte ich hier ziemlich viele Vorgängerinnen, die dem Job nicht gewachsen waren, daher verstehe ich, dass meine Chefs zunächst etwas zurückhaltend waren. In den ersten Tagen fühlte ich mich nicht besonders wohl, ihre Zurückhaltung verunsicherte mich. Nach einer Woche dachte ich schon darüber nach zu kündigen. Sie waren nicht unfreundlich, unhöflich oder so, aber sie wirkten recht distanziert. Ich zwang mich dazu, mich durchzubeißen. Nach drei Wochen begriff ich, dass ihr hektisches und manchmal kühles Verhalten vor allem etwas mit ihren unglaublich vollen Terminkalendern zu tun hatte. Ich musste mir also meinen eigenen Weg suchen. Aber das hatte für mich auch den Vorteil, dass ich Freiraum hatte, an meinem Arbeitsplatz die Dinge selbst zu ordnen und ein eigenes System zu entwickeln. Und das war auch wirklich nötig, denn meine Vorgängerinnen hatten ein ziemliches Chaos hinterlassen. Ich finde es großartig zu sehen, dass die Praxis nun wächst, blüht und gedeiht und alles funktioniert, während ich unauffällig die Strippen ziehe, denn so empfinde ich es nach drei Jahren schon ein wenig. Das klingt vielleicht ein bisschen angeberisch, aber mittlerweile tragen mich meine drei Chefs alle auf Händen, das merke ich ständig. Der Älteste von ihnen hat die Praxis vor 20 Jahren gegründet. An meinem Geburtstag hatte er mir eine Karte geschrieben, auf der stand: ,Warum habe ich dich nicht schon vor 20 Jahren eingestellt?‘ Wenn ich mir diese Karte ansehe, bekomme ich manchmal immer noch einen Kloß im Hals. Die Ärzte wissen, ehrlich gesagt, nicht wirklich, was ich alles so den ganzen Tag mache, aber sie sind einfach dankbar, dass sie sich über bestimmte Dinge wie die Buchhaltung, die Telefoniererei, die Termine, ihren Kaffee oder das Chaos im Wartezimmer keine Sorgen machen müssen. Sie lassen mich mein Ding machen und haben mir auch schon mal spontan eine Lohnerhöhung oder ein kleines Geschenk zum ,Sekretärinnentag‘ gegeben. Aber das ist nicht einmal das Entscheidende; alle drei ziehen mich auch manchmal ins Vertrauen, zum Beispiel, wenn sie zu Hause Probleme haben oder wenn bei einem Patienten etwas wirklich Schwerwiegendes schiefgegangen ist. Ich fühle mich von allen dreien geschätzt, sie respektieren mich und machen mir regelmäßig Komplimente, vor allem, wenn wir wieder mal extrem hektische Tage hatten. In meinen vorherigen Jobs habe ich es nie lange ausgehalten, meistens weil ich wie ‚das dumme Blondchen am Telefon‘ behandelt wurde. Zum ersten Mal in meinem Berufsleben habe ich das Gefühl, von meiner Arbeit begeistert zu sein. Sie erfüllt mich mit Energie, und ich glaube, das könnte etwas sein, was ich mein Leben lang weiter tun möchte.“

1.2.4 Die Latte hochlegen

Eine der tiefgreifendsten, aber häufig auch unbewusstesten Eigenschaften Hochbegabter ist zweifellos ihr Vermögen, die Messlatte hochzulegen. Wenn man über ein sehr gutes Denkvermögen verfügt und daher zu komplexen Argumentationen in der Lage ist, legt man die Latte für sich selbst oft spontan und unbewusst hoch. Wenn man divergent zu denken vermag, ist es nur logisch, dass man eine Aufgabe oft komplexer gestaltet, als sie ursprünglich gedacht war.

Angenommen, man bittet einen Vierjährigen, ein Auto zu zeichnen. Die meisten Kinder würden dann ein Rechteck mit ein paar Kreisen darunter zeichnen, fertig! Ein hochbegabtes Kind will ein perfektes „Foto von einem Auto“ zu Papier bringen. Aber dieser Anspruch ist natürlich nicht realistisch. Wenn die Eigenschaft, die Latte hochzulegen, dazu führt, dass man unrealistische Forderungen an sich selbst stellt, dann hat das als Kehrseite der Medaille manchmal zur Folge, dass man resigniert, gar nicht erst eine Aufgabe angeht, mit den erzielten Ergebnissen unzufrieden ist, sich überengagiert und Versagensängste entwickelt.

Aufzugeben oder eine bestimmte Aufgabe gar nicht erst anzugehen, sind meistens unauffällige Mechanismen. Oftmals führen Hochbegabte sehr plausible Gründe und Erklärungen dafür an, warum sie etwas nicht (mehr) tun müssen. Leider führt das in der Praxis immer wieder dazu, dass viele überaus kompetente Erwachsene spannenden Herausforderungen aus dem Weg gehen, Beförderungen ablehnen, nie wirklich die Initiative ergreifen, sich doch nicht als Kandidaten zur Wahl stellen, beim ersten Anflug von Kritik aufgeben, keinen Zulassungstest machen, sich schließlich doch nicht für ihren Traumjob bewerben usw. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Sie können mit den Erwartungen, die mit den Herausforderungen verbunden sind, nicht umgehen. Erwartungen, die sie allerdings vor allem selbst an sich stellen und denen sie selbst entsprechen zu müssen glauben. Meistens sehen sie nicht ein, dass das nicht per se die Erwartungen sind, die auch tatsächlich an sie gestellt werden. Die Latte hochzulegen, kann lähmend sein und dazu führen, dass man sein Potenzial nicht nutzt, Burn-out oder Bore-out erleidet und Depressionen bekommt. Wenn Hochbegabte glauben, die hohen Normen, die sie sich selbst auferlegt haben, nicht zu erfüllen, entwickeln sie oft eine extreme Versagensangst. Man kann das nicht selten schon bei hochbegabten Kindern beobachten. Sie haben das Gefühl, absolut keine Fehler machen zu dürfen, was leider oft dazu führt, dass sie gewisse Dinge (urplötzlich) überhaupt nicht mehr tun möchten oder vorzeitig aufgeben. Sie leisten weniger, als ihnen möglich ist. Viele hochbegabte Erwachsene haben irgendwann jegliche beruflichen Ambitionen aufgegeben und sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Tag für Tag am Fließband stehen? Kein Problem, einfach den Verstand abschalten. Aber zu Hause widmen sie sich dann doch hingebungsvoll der Gestaltung komplizierter Websites oder entwickeln geniale Computerprogramme, alles nur zur Kompensation.

An sich selbst Erwartungen zu stellen, die nicht besonders realistisch oder sogar völlig unerfüllbar sind, kann auch die gegenteilige Wirkung haben. Für manche ist es nämlich genau „diese hochgelegte Messlatte“, die sie ständig dazu treibt, ihre Grenzen immer wieder neu abzustecken und nie einmal kurz innezuhalten, auch wenn sie sich viel zu sehr reinsteigern. Oft sind es gerade diese Menschen, die – ganz gleich ob sie nun gewisse Diplome haben oder nicht – früher oder später berufliche Probleme bekommen, weil sie einfach niemals mit ihrer eigenen Arbeit oder ihrer erbrachten Leistung zufrieden sind. Aus ihrer Sicht müssten sie es immer noch besser machen.

Mirthe (41): „Schon mein Leben lang lege ich für mich selbst die Messlatte hoch. Als Kind reiste ich regelmäßig mit meinen Eltern und meinen älteren Schwestern in die Berge. Jeden Tag unternahmen wir anstrengende Wanderungen, und ich durfte mich immer entscheiden, ob ich mitkommen oder lieber einen Tag mit Mama schwimmen gehen wollte. Natürlich fand ich beides schön, aber ich entschied mich immer für die Wanderungen, obwohl ich wusste, dass ich im Schwimmbad sehr viele nette Kinder treffen würde und dort schöne Aktivitäten organisiert wurden. Etwas in mir zwang mich, mich an diesen strapaziösen Wanderungen zu beteiligen, auch wenn ich mit meinen acht Jahren eigentlich für solche schweren Touren noch zu klein war. In der Schule war ich immer die Klassenbeste, zum einen ging das wie von selbst, zum anderen gab ich aber auch mein Bestes, um gute Noten zu bekommen. Wenn ich einmal nur eine Zwei bekam, war ich damit einfach nicht zufrieden und legte noch einen Zahn zu. Musik war mein Hobby, und auch dort legte ich ein gehöriges Tempo vor. Bestimmte Stücke wollte ich unbedingt spielen, ohne dabei auch nur einen einzigen Fehler zu machen. Auch dafür ging ich ziemlich weit. Wenn mir meine Lehrerin ein Stück aufgab, suchte ich auf YouTube einen professionellen Pianisten, der dieses Stück spielte. Ich hörte es mir an, bis es mir zu den Ohren rauskam, ich wollte jedes Detail mitbekommen: An welcher Stelle er genau zum Forte überging, wie sein Anschlag war, welches Gefühl er in jeden Ton oder Anschlag hineinlegte usw. Meine eigenen Vorbereitungen und Übungen waren erst abgeschlossen, wenn ich jedes Detail in mich aufgesogen hatte und das ganze Stück fehlerfrei nachspielen konnte. Das führte zu endlosen Übungsstunden, immer und immer wieder dieselben Passagen, dieselben paar Takte … Das sorgte bei mir für eine ungesunde Dosis an Stress, zum Beispiel wenn ich öffentliche Prüfungen ablegen oder auftreten musste. Doch die Kommentare danach waren immer einhellig lobend und danach war ich süchtig.

Als ich erwachsen war, wollte ich am liebsten mit demselben Elan weitermachen, aber das wurde immer schwieriger. Allmählich wurde mir bewusst, dass es zwei unterschiedliche Tempi gab, mein eigenes und das meiner Umgebung. Natürlich kam es da zu Zusammenstößen. Ich neige dazu, nicht nur für mich selbst, sondern auch für die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, die Latte hochzulegen. Ich engagiere mich, bis alles bis ins kleinste Detail stimmt, dadurch werden Projekte schnell umfangreicher und zeitintensiver als ursprünglich geplant. Ich habe dann auch immer die Tendenz, alles selbst zu machen; das geht schneller und entspricht dann auch den von mir gestellten Normen. Jeden Tag zu arbeiten und die Ferien auszulassen, ist für mich eher die Regel als die Ausnahme. Im Teamzusammenhang funktioniert das nicht so gut, denn es erzeugt bei den Kollegen oft Frust und Widerstand, und für mich selbst ist es vor allem mit viel Stress und Versagensangst verbunden. Letztes Jahr erhielt ich die Chance, ein sehr anspruchsvolles Projekt zu übernehmen. Obwohl es mich sehr reizte, habe ich den Auftrag dankend abgelehnt. Ich weiß genau, warum ich absagte: Ich sah in diesem Projekt so viele Möglichkeiten, dass ich mich einfach nicht dazu in der Lage fühlte, es innerhalb des gesetzten Zeitrahmens zu einem ‚guten‘ Abschluss zu bringen.“

Die Latte hochzulegen, hat natürlich oft auch sehr positive Auswirkungen. Im Zusammenspiel mit einem guten Denkvermögen und der Fähigkeit, komplex zu argumentieren, bringen es Hochbegabte oft zu einzigartigen Leistungen. Solange ihre Erwartungen realistisch und erfüllbar sind und sie imstande sind, nötigenfalls ihren Kurs zu korrigieren, hat diese Eigenschaft eigentlich mehr Vor- als Nachteile.